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Klaus Naumann

Der blinde Spiegel

Deutschland im afghanischen
Transformationskrieg

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© E-Book 2013 by Hamburger Edition
E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-86854-605-7

© der Printausgabe 2013 by Hamburger Edition
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns
Satz aus der Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Einleitung: Das afghanische Spiegelkabinett

I. Sicherheitsvorsorge in Afghanistan: starke politische Intentionen, schwache normative Grammatik

Stabilisierung am Hindukusch: die Implikationen des »erweiterten« Sicherheitsbegriffs

Demokratie-Export nach Kabul: Grenzen und Chancen externer Transformationsprojekte

Sterben für Kunduz? Rechtfertigungsprobleme des Einsatzes

II. Strukturversagen im Einsatz: bewährte Institutionen, begrenzte Resultate

Der Primat der Politik in alternden Institutionen

Transferprobleme zwischen Politik und Taktik

Graveyard of doctrines? Das Fallbeispiel Aufstandsbekämpfung

Synergie oder Stückwerk? Das Fallbeispiel Provincial Reconstruction Teams

»So zivil wie möglich, so militärisch wie nötig«. Das Fallbeispiel Polizeiausbildung

III. Nach Afghanistan: sicherheits- und militärpolitischer Transformationsbedarf zu Hause

Dissonanzen

Balanceprobleme

Institutioneller Wandel

Hinter den Spiegeln: Ausblick

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Einleitung: Das afghanische Spiegelkabinett

Nicht jeder Blick in den Spiegel enthüllt die Wahrheit oder offenbart das ganze Bild. Im Falle des Afghanistaneinsatzes ist der Spiegel sogar voller blinder Flecken; in ihm zeichnen sich die Phänomene oft nur schemenhaft ab, Leerstellen verdecken ganze Partien, Unschärfen verwischen die Konturen. Was tun, wenn man sich darin nicht oder nur mit Schwierigkeiten erkennt: den Spiegel zerschlagen – oder nur jene Ausschnitte zur Kenntnis nehmen, die unseren Erwartungen entsprechen?

Vor dieser peinlichen Wahl standen beispielsweise die Verfasser der seit Dezember 2010 vorgelegten »Fortschrittsberichte« der Bundesregierung.1 Die unter Beteiligung von gut hundert Mitarbeitern erarbeiteten Darstellungen sollen über die durch den deutschen Beitrag beförderten Entwicklungen differenziert und solide Auskunft geben. Doch die Autoren stehen vor dem Dilemma eines zwiespältigen Auftrags: gemäß dem suggestiven Titel der Berichte »Fortschritte« zu dokumentieren, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, es laufe alles glatt und unproblematisch, denn schließlich soll kundgetan werden, dass die Unzulänglichkeiten zu einem große Teil dem afghanischen Partner geschuldet sind. Übertreibt man jedoch auch nur einen Aspekt, gerät der Zweck der ganzen Veranstaltung in Gefahr. Denn die für 2014 beschlossene »Übergabe in Verantwortung« wird dann unglaubwürdig und zweifelhaft. Sie soll aber das Ende der ISAF-Mission besiegeln und die wesentlich reduziertere International Training Advisory and Assistance Mission (ITAAM) einleiten. Noch irritierender als dieser Eiertanz zwischen Auslassungen über die deutschen Aktivitäten, die afghanischen Schwächen und geschmeidigen Bewertungen von Ergebnissen, für die es keinerlei Ausgangs- und Vergleichsparameter gibt,2 ist, was in den Berichten gar nicht erst thematisiert wird. Analysen und Befunde, denen sich entnehmen ließe, dass auch die deutsche »vernetzte« Sicherheitsapparatur nicht reibungslos funktioniert, was sich auf den Verlauf des Einsatzes nachteilig ausgewirkt hat, sucht man vergebens. Die Autoren bemühen sich vielmehr, den Anschein zu erwecken, als gebe es ein konsistentes politisches Narrativ für diesen langwierigen Einsatz. Doch dem, so wird hier deutlich werden, ist nicht so.

Ob die deutsche Politik anfangs darauf gedrängt hatte, an der Mission teilzunehmen, oder nicht – die institutionelle Ausstattung der Missionsführung, der Sicherheits- und der Militärpolitik blieb unzulänglich. Ad hoc und en détail wurde zwar nachgebessert, aber nicht ausreichend, um selbsttragende und dauerhafte Strukturen zu erschaffen, die über den Anlass hinausweisen und Zeichen für die künftige Sicherheitspolitik hätten setzen können. Kein Wunder, dass sich unter Beobachtern die Sorge breitgemacht hat, der abnehmende Handlungsdruck in Afghanistan könne zugleich weitere Wartungsarbeiten an der Sicherheitsmaschinerie überflüssig erscheinen lassen. Kurzum, was an institutioneller Selbstreflexion aus dem Afghanistaneinsatz folgt, ist unklar. Gewiss, die Bundeswehrreform ist einmal mehr in eine neue Phase (»Neuausrichtung«) getreten, die einschlägigen Ministerien haben sich inzwischen zu »ressortgemeinsamen Leitlinien« über den Umgang mit fragilen Staaten zusammengerauft – aber eine Bestandsaufnahme der hier erprobten »erweiterten« und »vernetzten« Politik globaler Sicherheitsvorsorge, ihrer Innenausstattung, des strategischen Geschäfts, der politisch-militärischen Einsatzführung und der zivilen Mission fehlt bisher, und sie ist auch nicht angekündigt. Hier bleibt der Spiegel blind.3

Dabei böte der Afghanistaneinsatz für die deutsche Sicherheitspolitik eine einmalige Chance, die eigenen Bestände und Instrumente, Normen und Verfahren zu überprüfen. Wenn man nur wollte, ließe sich anhand dieser langwierigen und umstrittenen Mission sehr genau beobachten, ob und wie die Staats- und Militärmaschinerie unter Belastungsbedingungen funktioniert. Immerhin dauert der Einsatz länger als der Zweite Weltkrieg, 53 gefallene Soldaten sind zu beklagen, und mit geschätzten 17 Milliarden Euro waren die bisherigen Kosten (Stand 2010) beträchtlich. Deutschland übernahm Verantwortung für eine ganze Region Afghanistans und hinterließ dort seine Spuren, ob in der Sicherung der Region, in der Polizeiausbildung oder bei Aufbauhilfen. Zugleich beteiligte sich die Bundesrepublik damit an der globalen Sicherheitsvorsorge, und wie immer man das deutsche Auftreten auf dieser Bühne bewerten mag, es war ein beträchtlicher politischer Rollenwandel damit verbunden. Innenpolitisch war die wohl markanteste Zäsur erreicht, als sich die Politik nach langem Zögern entschloss, von einem »Krieg« beziehungsweise von einem »bewaffneten innerstaatlichen Konflikt« zu sprechen. Das ging nicht ohne Brüche, Enttäuschungen und Rückschläge, nicht ohne Nachkorrekturen und Anpassungen ab. Doch dem Zeitungsleser blieb nicht verborgen, wie spät und wie schwerfällig die Einsatzpolitik und die Missionsführung auf die Lageveränderungen am Hindukusch reagierten. Gleichsam zwischen den Zeilen ließ sich besichtigen, was geschieht, wenn ein Großprojekt vom Range dieses Dauereinsatzes in das Räderwerk politisch-militärischer Kleinarbeit gerät. Dabei ging es um die defensive oder offensive Ausrichtung der militärischen Operationen, um die Details der zivil-militärischen Zusammenarbeit von den Ministerien bis hinunter ins Einsatzgebiet, um Zeitrahmen, Truppenstärken und Zielkonzepte, aber auch um bürokratische Banalitäten wie jene, ob die Inlandsgebote der Mülltrennung oder der Verkehrsordnung auch im Operationsgebiet gelten. Das ist keinesfalls despektierlich gemeint; vielmehr bot die Alltagsroutine des Staatshandelns den besten Einblick in dessen innere Funktionsweise.

Kurzum, die Laborsituation des Einsatzes fordert zur Durchführung eines Leistungstestes geradezu auf. Doch das stößt angesichts der Unpopularität des Afghanistanunternehmens auf wenig Begeisterung. Zwar wurde und wird einer jeden Neumandatierung pflichtschuldig Reverenz erwiesen, um der Truppe zu signalisieren, »die Politik« stehe hinter ihr, und um der Welt zu beweisen, dass »wir Afghanistan nicht alleinlassen«. Aber diese Zuwendung reicht nicht aus, um zu Hause Remedur zu schaffen, Evaluierungen vorzunehmen und die künftige Sicherheits- und Militärpolitik nach dieser Maßgabe auch institutionell »neu auszurichten«. Stattdessen beschränkt man sich auf die ganz großen Worte und die ganz kleinen Schritte. Das eine besorgen die Hochglanzbroschüren der Berichte, das andere findet sich in den elementaren Lessons Learned. Hier wird der Schwarze Peter dann weitergereicht. Unwillkürlich landet nämlich der unleugbare Veränderungsdruck irgendwann bei den unteren und sogenannten Arbeitsebenen, obwohl sich kaum jemand darüber täuschen kann, dass der Teufel nicht (nur) im Detail steckt, sondern im großen Ganzen.

Die Selbsttäuschungen des »Post-Interventionismus«

Die inzwischen anhebende Post-Afghanistan-Diskussion, die bereits die Dimension einer »post-interventionistischen« Fachdebatte angenommen hat, ist nicht durchweg geeignet, mit dem Trend zu brechen.4 Während sich in Politik und Publikum eine »Nie wieder«-Stimmung breitmacht, die eine weitere Beschäftigung mit der Materie ohnehin überflüssig erscheinen lässt, arbeiten Planer und Expertenkreise an Anleitungen für künftige »schlanke« Operationen eines Interventionismus »light« oder malen eine »Ära der Special Forces« an die Wand. Die öffentliche Enttäuschung, die Delegitimation des Einsatzes, der Druck auf den Staatshaushalt sowie das amerikanische Disengagement tun ein Übriges, um »Afghanistan« von der Tagesordnung abzusetzen.

Wenn aber unterschwellig suggeriert wird, mit dem Abschied vom »Interventionismus« habe sich eine detaillierte Auseinandersetzung damit, wie die Afghanistanintervention geplant und geführt worden ist, erübrigt, dann ist dies eine Selbsttäuschung. Denn immer wieder wird sich mit Blick auf Räume schwacher Staatlichkeit und instabiler Ordnungen – Syrien und Mali sind nur die Vorboten – die Frage stellen, ob und wie der Westen, die supranationalen Organisationen und Bündnisse und damit auch die einzelnen staatlichen Akteure handeln wollen. Der neueste Vorsatz lautet nun, »weniger, aber besser« zu operieren. Doch diese Versicherung trägt nur, wenn zuerst eine Verständigung über das »Weniger« und das »Besser« stattgefunden hat: Wie viel weniger ist wie viel besser? Und wie viel besser ist gut genug? Mit anderen Worten: Die Politik wird nicht aus dem entlassen werden, was Wilfried von Bredow das »Interventionsdilemma« genannt hat.5 Es bleiben die Entscheidungs- und Verantwortungsprobleme angesichts von Krisen- und Konfliktherden, es bleiben die normativen Spannungen zwischen Wertvorstellungen und Interessenkalkülen. Auch künftig wird man sich bei einer jeglichen Option dem politischen Kerngeschäft des »management of dilemmas« (Paris/Sisk) stellen müssen. Dann gilt es abzuwägen, zu entscheiden, nachzusteuern und die dann angestrebten »zweitbesten Lösungen« zu rechtfertigen.6 Nirgendwo ist dieser Problembogen weiter gespannt worden als in den elf Jahren des Afghanistaneinsatzes. Wer also die Irrtümer, Fehler und Schwächen von damals nicht wiederholen will, ist angehalten, sich mit dieser Erfahrung auseinanderzusetzen.

Aber vielleicht liegt das Heil in einem Interventionismus light? Man stütze sich auf kleine, aber hocheffektive Einsatz- und Spezialkontingente, stelle militärische Ausbildungshilfen bereit, gewähre zivile und humanitäre Not- und Aufbauhilfen und übe regionale Kontrolle durch Drohnenflüge aus. Damit werden sich Kosten sparen, Opfer vermeiden, Konflikte dämpfen und zu einem gewissen Grade kontrollieren lassen. Aber wer nutzt die Zeit, die diese Einsätze »erkaufen« werden? Wie können fragile Strukturen, korrupte Netzwerke oder Kriegsökonomien zurückgedrängt und überwunden werden? Will man diese Aufgaben in die Hände lokaler Machthaber und Warlords legen? Und was wäre dann das Erfolgskriterium – denn von »Sieg« kann in diesem Metier ohnehin nicht mehr gesprochen werden? Je weiter man solche Anschlussfragen verfolgt, desto mehr wird man unwillkürlich mit den größten Schwächen des Afghanistaneinsatzes konfrontiert, insbesondere was den von den Vereinigten Staaten deklarierten »War on Terror« und die »Counter Terrorism«-Operationen angeht, die nicht wenig dazu beitrugen, die ohnehin mühsamen Fortschritte der Mission zu untergraben und ihr die afghanische wie internationale Legitimation zu entziehen. Das operative Gleichgewicht zwischen Terror- und Aufstandsbekämpfung sowie zwischen Sicherheits- und Stabilisierungsleistungen strategisch zu kalkulieren, das kann man teils im Guten, teils im Schlechten am afghanischen Beispiel lernen.

Doch eine letzte Ausflucht steht noch offen: Wenn schon Intervention sein muss, dann bitte ohne Statebuilding, Demokratie-Export und Menschenrechtsrhetorik! Abgesehen von den normativen und Legitimationsproblemen, die eine solche Option aufwerfen würde – wie wollte man in solchen Kampagnen auf die Frage nach den Bedingungen von legitimer Ordnung, dauerhafter Stabilität und aussichtsreicher Entwicklung antworten? Wer wären die Partner und Protagonisten? Oder ganz einfach: Wie können die erforderlichen Hilfszuwendungen und Unterstützungsleistungen überhaupt an die Adressaten gebracht werden? Will man auf Dauer postkoloniale NGO-Infrastrukturen auf der Basis externer Mittelzuflüsse und fassadenstaatlicher Verteilungskartelle etablieren, die von der Gnade der Geberländer leben? Das mag für Übergangsfristen hinnehmbar sein, doch eine Perspektive liegt darin weder für die Empfängergesellschaften noch für die Entsendestaaten. Und wieder ist die Problembeschreibung aus dem afghanischen Fall hinreichend bekannt. So verständlich der realistische Reflex ist, von überzogenen Erwartungen und Zielkatalogen Abstand zu nehmen, die Frage, was es heißen kann, mittels externer Akteure eine erfolgversprechende Krisen- und Konfliktbewältigung zu betreiben, ist damit noch nicht beantwortet. Auch hier lohnt der Blick auf das breite Spektrum der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die das afghanische Exempel anbietet.

Würde man in Zukunft nicht alles anders, aber vieles besser machen, blieben die Grundprobleme globaler Sicherheitsvorsorge dennoch virulent, die aus dem Afghanistaneinsatz bekannt geworden und dort in einmaliger Verdichtung zu besichtigen sind. Wie in einem Konvexspiegel sind in dieser langwierigen Mission die Schwächen und Fehler, die Herausforderungen und die Chancen, aber auch die unvermeidlichen Dilemmata einer Politik komprimiert, die als »Sicherheitspolitik« nur unzureichend umschrieben wird. Denn bereits ein flüchtiger Blick auf die Strukturen und Komponenten der Mission zeigt, wie vielgestaltig die mitwirkenden Kräfte waren, wie heterogen das Akteurs- und Organisationsspektrum, wie komplex die formulierten Aufgabenstellungen, kurzum, wie voraussetzungsreich das Kollektivgut »Sicherheit« ist.

An diesem Punkt setzt die nachfolgende Untersuchung des deutschen Afghanistaneinsatzes ein. Trotz aller Besonderheiten, die die deutsche Sicherheitspolitik und ihre strategische Kultur prägen, mit ähnlichen Herausforderungen sind alle westlichen Interventionsmächte konfrontiert. Afghanistan als einen Fall zu betrachten, der zu Analyse, Diagnose und Schlussfolgerungen auffordert, bedeutet, die blinden Flecken bei der Betrachtung dieses Einsatzes aufzuhellen und sich detailliert mit der Staats- und Militärmaschinerie, ihren Institutionen, Prozeduren und Normenordnungen, ihren Funktionsweisen und Störungen zu befassen. Was dabei zutage tritt, ist nicht weniger als eine institutionelle Krise. Der Krisenbegriff wird hier wohlgemerkt nicht im umgangssprachlichen oder medial abgenutzten Sinne verstanden, sondern als eine Irritation, die dann eintritt, wenn die bislang unterstellte (und immer noch gern beteuerte) Handlungs- und Gestaltungsmacht an ihre Grenzen stößt. Diese Grenzen zeigen sich im innerstaatlichen und innergesellschaftlichen Betrieb an verschiedenen Orten; zum Teil scheinen sie unverbunden zu sein, gelegentlich überlappen und verstärken sie einander. In der Gesamtschau lassen sie – als Indikatoren für Krisenmomente – jedoch erkennen, dass die Geltungsansprüche der überkommenen institutionellen Arrangements durch die dramatischen Veränderungen seit den 1990er Jahren fraglich geworden sind.

Nimmt man die Irritationen und Dissonanzen ernst, die das sicherheitspolitisch motivierte Großexperiment Afghanistan offenbart, so bekommt man es mit einem regelrechten Spiegelkabinett zu tun, das die Konturen der Interventionsmacht in vielfachen Brechungen und aus unterschiedlichen Perspektiven zurückwirft. Die Afghanistanmission in allen ihren Aspekten gleicht einer Selbstbegegnung der Sicherheitspolitik mit ihren eigenen Normen, Projektionen, Fähigkeiten, Mitteln und Instrumenten. Schlechthin alle betroffenen Instanzen waren einem Dauertest ausgesetzt, so dass der Einsatz einem Belastungs-EKG der deutschen Sicherheitspolitik entsprach. Das ist der Fall, um den es hier geht, und deshalb liegt hiermit kein »Afghanistan-Buch« vor, sondern eine fallbezogene Auseinandersetzung mit dem sicherheits- und militärpolitischen Staatshandeln. Der im Folgenden gelegentlich verwendete Begriff der »Transformation« verweist daher nicht allein auf die Forderungen nach Stabilität und Wandel auf dem afghanischen Schauplatz, sondern indirekt auch auf die Bestands- und Funktionsbedingungen des sicherheitspolitischen Instrumentariums der Entsendestaaten und auf den Veränderungsdruck, der auf ihnen lastet.

Wegweisende Dissonanzen

Vieles, was dem Leser in dieser Untersuchung begegnen wird, kennt er aus der tagespolitischen und Hintergrundberichterstattung. Verborgen sind die Stärken und Schwächen der Einsatzpolitik nicht geblieben, dafür liefern die regelmäßig erhobenen Bevölkerungsbefragungen genügend Anhaltspunkte. Ein genauerer Blick hinter die Kulissen enthüllt also nichts, was man nicht schon wissen konnte (»Ich sehe was, was du nicht siehst«); vielmehr wird hier der Versuch unternommen, durch Verknüpfungen und Deutungen das zu zeigen, was jeder »sieht und spürt, aber nicht bemerken will«.7 Folgt man dieser Spur, stößt man auf zahlreiche Dissonanzen, die erklärungsbedürftig sind.

So ist es doch ein merkwürdiges Missverhältnis, dass mit dem Übergang von der traditionellen Politik der Landesverteidigung zur globalen Sicherheitsvorsorge zwar alles Mögliche infrage gestellt wird, jedoch in den Zielprojektionen des Afghanistaneinsatzes, der nicht zuletzt darauf ausgerichtet war (und ist), »Sicherheit« am Hindukusch »zu schaffen«, ein auffälliger ideenpolitischer Immobilismus vorherrscht. Der Wechsel zum Sicherheitsparadigma hat einen tiefgreifenden Wandel in den Normen und Institutionen, Verfahren und Rechtfertigungen in Gang gesetzt, ein Prozess, der längst nicht abgeschlossen ist. In den letzten zwanzig Jahren verschaffte sich allmählich die Einsicht Geltung, dass mit den alten Zwecksetzungen, Zielprojektionen und Mitteleinsätzen das definitionsbedürftige Kollektivgut »Sicherheit« nicht zu bekommen ist. Normen wurden überprüft (was sagt die Verfassung zum »Einsatzfall«?), neue Leitideen propagiert (»vernetzte« und »erweiterte« Politik), die Akteursanteile neu verhandelt (zivil-militärische Relationen), institutionelle Mechanismen adjustiert (das »konstitutive Mandat« des Bundestages) und organisatorische Strukturen reformiert (die Reformanläufe in der Bundeswehr).

Das alles ist, langsam genug, in Bewegung gekommen. Aber sobald von den Zielprojektionen für das Einsatzland die Rede war und strategische Schwerpunkte definiert wurden, obsiegte ein atemberaubender Strukturkonservatismus. Diese Haltung, darüber sollte man sich keine Illusionen machen, überstand auch die Zurücknahme der anfänglich allzu ambitioniert angesetzten Ziele. Denn nach wie vor lautete der Glaubenssatz: Man addiere Sicherheit, Entwicklung und Governance, dann kommt am Ende die gewünschte selbsttragende Stabilität dabei heraus. Bei der Implementierung dieser Komponenten zeigte sich jedoch, dass diese oft unverträglich sind und miteinander konfligieren. Das Problem lag nicht allein darin, dass man es nicht verstand, sich auf die besonderen Bedingungen eines speziellen Landes einzulassen (das ist das meistgebrauchte Standardargument). Viel subtiler und schwerer ersichtlich war der Umstand, dass man die Bedingungen der Möglichkeit von Ordnung, Staatlichkeit und Repräsentation gar nicht begriffen zu haben schien. Was als Aufruf zum Statebuilding in Afghanistan begann, endet – konzeptionell gesprochen – in der offenen Frage nach den Existenz- und Stabilitätsprämissen unserer eigenen Staatlichkeit. Oder, anders formuliert: Während man auszog, für »good« oder »good enough« Governance am Hindukusch zu sorgen, herrschte in eigenen Hause ein handfestes Governance-Versagen. Denn hier summierten sich die Fehlleistungen. Da man sich über die Geheimnisse angewandter Krisenkonsolidierung und Konfliktbereinigung keine ausreichende Rechenschaft abgelegt hatte, sondern gleichsam nach Rezept vorging, kam es zu Fehlallokationen der Mittel, Kräfte und Ressourcen; es mangelte an Kohärenz und Feinabstimmung. Die dadurch aufgebaute Spannung entlud sich im Legitimationsproblem des Einsatzes: Wofür sollte das alles gut sein? Was hieß »gut genug«? Wenn schon von »Sieg« und »Entscheidung«, »Durchbruch« und »Nachhaltigkeit« nicht die Rede sein konnte, worin bestand dann der Maßstab für Erfolg oder Scheitern? Und wie war der Tod von Einsatzsoldaten, Aufbauhelfern und Afghanen zu rechtfertigen?

Zu diesen Dissonanzen gesellt sich eine zweite Gruppe von Unstimmigkeiten. Während die Politik nicht müde wurde, die Komplexität ihrer Einsatz- und Aufbauanstrengungen zu betonen, verblüffte sie mit einem Handlungsinstrumentarium, das dieser Komplexität hohnsprach. Weder die ministerialen und Regierungsstrukturen noch die der militärischen Organisation waren auf die eben noch verkündeten ausgreifenden Zwecke und Ziele hinlänglich ausgerichtet. Verfolgt man, wie der propagierte »vernetzte Ansatz« (»comprehensive approach«) im Alltag des Regierungshandelns und der militärischen Performanz gehandhabt wurde, stößt man auf gravierende Defizite. Zwischen den involvierten Behörden und Agenturen sowie zwischen den Zentralen und den Ausführungsebenen kam es zu Abstimmungsproblemen; Ministerien arbeiteten nebeneinanderher; eine gebündelte Arbeits- und Beratungsstruktur fehlte; gemeinsame Lagebilder gab es nicht; Strategiekonzepte blieben unverbindlich und wurden daher kaum operationalisiert; die Weisungs- und Meldestränge der unterschiedlichen Agenturen liefen nebeneinanderher; die strategische Kommunikation der Exekutive mit Parlament, Bundeswehr, Auftragsorganisationen, Medien und Publikum ließ zu wünschen übrig. In einem so langwierigen Unternehmen wie dem Afghanistaneinsatz, in dem alles von der strategischen Geduld und von konsistenten Erfolgskriterien abhing, trug das institutionelle Arrangement seinen Teil dazu bei, dass die gestellten Anforderungen nicht erfüllt wurden. Obwohl verbürgt und verfahrensgerecht praktiziert, war der Primat der Politik in eine Krise geraten, denn der Transfer des politischen Willens (wo er denn eindeutig greifbar war) in praktisches, zielgerichtetes und koordiniertes Handeln gelang nur mangelhaft.

Eine Fortsetzung findet diese Problematik auf der militärischen Ebene. Hier, wo seit zwanzig Jahren an Strukturveränderungen laboriert wird, die einer Um- und Neugründung der Streitkräfte gleichkommen, gerieten die Einsatzkontingente an Herausforderungen, die vieles von dem infrage stellten, was gerade erst oder immer noch nicht reformiert worden war. Veränderungsdruck ergab sich vor allem »von unten«: Das Militär war in dieser komplexen Mission unmittelbar in die Gestaltung und Strukturierung der politischen Prozesse einbezogen worden. Nur wenn es gelang, dieser Zwecksetzung zu genügen, konnte davon die Rede sein, dass der politische Wille ungeschmälert Ausdruck im militärischen Handeln gefunden hatte. Dafür waren jedoch nicht allein strategische Klarheit und Flexibilität der politischen Vorgaben vonnöten, sondern ebenso sehr operative Fantasie und ein bewegliches Rollenverständnis der Militärs.

Mochten sich die politischen Mandate mit der Aufforderung an die Einsatzkräfte begnügen, ein »sicheres Umfeld« für den Aufbau und die Stabilisierung der Verhältnisse zu schaffen und – allerdings erst seit 2010 – für den »Schutz der Bevölkerung« zu sorgen, so ergab sich daraus für die Einsatzkontingente eine ganze Reihe operativ und taktisch brisanter Fragen: In welchem strategischen Kontext standen die eigenen militärischen Beiträge? Wie kompatibel waren die operativen Konzepte der Terrorismus- und der Aufstandsbekämpfung? Wie wirkten sich die lokalen Bedingungen auf die übergeordneten Ziele aus? Wo lagen die Grenzen des militärischen Gewalteinsatzes, wenn man »hearts and minds« der afghanischen Bevölkerung erreichen wollte? Wie waren die Einsatzplanungen mit den örtlichen Behörden und den internationalen zivilen Koakteuren abzustimmen? Wie ließ sich überhaupt der militärische Denk- und Handlungsstil mit seinen fixierten Parametern (Strategie – Operation – Taktik) mit den ganz anders strukturierten Handlungsmustern der zivilen Koakteure vereinbaren? Im Grunde ging es um nichts weniger als um die Streitkräfte- und Führungsstrukturen, den militärischen Kernauftrag und seine mögliche Anreicherung, die zivil-militärischen Beziehungen sowie um das soldatische Berufs- und Selbstverständnis.

Einsatz ohne Regierungskunst

Wer auf den Afghanistaneinsatz zurückblickt, der sieht enorme Aufwendungen neben Verschwendungen und Verlusten, Engagement neben Routine, große Versprechen neben ernüchternden Resultaten, beachtliche Fortschritte bei einer labilen Gesamtlage. Doch wie scharf auch immer die Kritik an der Mission ausfallen mag, man wird nicht umhinkönnen einzuräumen, dass die Uneindeutigkeit der Ergebnisse nicht allein einem Versagen geschuldet, sondern auch in der Sache selbst begründet ist. Bei Licht besehen waren hier keine klaren Resultate, endgültigen Siege oder irreversiblen Errungenschaften zu erwarten. Eine Lösung vom Reißbrett stand nicht zur Verfügung. Indem sich die Interventionsgemeinschaft jedoch dieser Grundeinsicht versagte, geriet sie binnen kurzem ins Schlingern. Nachbesserungen bestanden vor allem darin, »mehr vom Gleichen« zu verabreichen.8 Man sah nicht oder wollte nicht sehen, dass die Bestimmung von »Road Maps« und »Endzuständen« schwierig wird, sobald Fragen der »Sicherheit«, der »Stabilität«, der »Ordnung« und eines anspruchsvollen Begriffs von Frieden tangiert sind. Allzu komplex sind die Voraussetzungen und Bedingungen, allzu bunt ist die Schar der Akteure, allzu fragil die Balance zwischen unterschiedlichen Kräften und Tendenzen. Da konnte es nur um ausbaufähige Zwischenlösungen gehen, die Stabilität gewährleisteten, Legitimität erzeugten und Entwicklungschancen zumindest nicht ausschlossen.

Diese Ambiguität des Einsatzes teilte sich den Entsendestaaten auf mannigfache Weise mit. Wo die Öffentlichkeit über Dissonanzen und Debakel stolperte, mühten sich die Regierenden, ein nachvollziehbares Narrativ der Zwecke, Ziele und Verläufe des Einsatzes zu entwerfen. Sie wären gut beraten gewesen, diese Aufgabe so ernst zu nehmen, wie sie ist. Denn die Suche nach den Legitimationsformeln führt nicht nur mitten hinein in die verwirrenden und widersprüchlichen Entwicklungen »vor Ort« (das ist das Problem der »Fortschrittsberichte«); die Fähigkeit, überhaupt eine konsistente Erzählung zu entwickeln, die den Unwägbarkeiten der Realverläufe gewachsen ist, setzt voraus, dass man sich darüber Rechenschaft ablegt, »was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind«.9 Dazu gehören vier Bedingungen, die zusammengenommen die Kernfragen einer Staatskunst des Einsatzes und damit die Grundlagen sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit ausmachen: eine tragfähige Definition des politischen Zwecks; eine stabile Koordination und Kooperation der international und national Beteiligten; eine gelungene strategische Kommunikation, um der militärischen Intervention nach innen und außen dauerhaft Legitimität zu verschaffen; Veränderungs- und Modernisierungsbereitschaft auf allen Ebenen, um sich wandelnden Herausforderungen begegnen zu können. Wie war es um diese Bedingungen im Afghanistaneinsatz bestellt?

1. Im Afghanistaneinsatz war es ausgesprochen problematisch, den politischen Zwecks des Unternehmens konsistent zu bestimmen: Handelte es sich um einen »Krieg gegen den Terror« von al-Qaida (und den Taliban?), eine Unterstützungsmission für die entstehende afghanische Staatsordnung, einen auswärtigen Beitrag zur Beendigung eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (vulgo: Bürgerkrieg) – oder um alles drei zusammen in wechselnder Abfolge und Intensität? Die Schwierigkeiten resultierten nicht allein aus illusionären Zielen und Erwartungen; darunter lag das Strukturproblem, dass die Instrumente und Verfahren zur Klärung dieser und anderer Ungewissheiten unzureichend waren. Mit anderen Worten: Was sich als »strategischer Prozess« beschreiben lässt, stockte oder lief sogar ins Leere.10 Das begann mit dem teils übereilten, teils zögerlichen Aushandeln und Formulieren des politischen Willens, setzte sich fort bei dessen weithin unkonkreter Übersetzung in Absichtserklärungen (»Afghanistan-Konzept der Bundesregierung«) und in die defensiv ausgerichteten Einsatzaufträge (Bundestagsmandate), um dann im Zwiespalt zwischen einer innerpolitisch motivierten Engführung des Einsatzes (»Mikromanagement«) und einer bündnispolitisch inspirierten Folgebereitschaft gegenüber den militärischen Angeboten der Operationsführung (»counterinsurgency«) zu enden. Von einer eigenen beständigen und zugleich flexiblen Einsatzstrategie konnte nicht die Rede sein; schlimmer noch, sie hatte einfach keinen systematischen »Ort« in der Sicherheitsapparatur.

2. Dieser Mangel wog umso schwerer, als es sich im Fall Afghanistan erklärtermaßen um eine komplexe Mission handelte, in der sehr unterschiedliche Kräfte, Organisationen und Akteursgruppen zusammenwirkten. In solchen Missionen hängt alles davon ab, ob und wie die unterschiedlichen Komponenten des Unternehmens zusammenwirken, ob sie sich auf einheitliche Zielstellungen (»unity of purpose«) oder auf einheitliche Anstrengungen (»unity of effort«) verständigen können. Das war schon im Einsatzland zwischen der International Security Assistance Force (ISAF) und der United Nation Assistance Mission Afghanistan (UNAMA) schwierig. Im Entsendestaat Deutschland wiederholten sich diese Defizite. Ein gemeinsames Dach, unter dem sich die verschiedenen Kräfte sammeln, unter dem sie sich abstimmen oder sogar auf gemeinsame Konzepte einigen konnten, gab es nicht. Im Mittelpunkt des Koordinations- und Kooperationsproblems standen zwei Desiderate. Auf ein funktionierendes, aktives und arbeitsfähiges Führungszentrum konnte – abgesehen von der militärischen Einsatzführung – nicht zurückgegriffen werden; eine solche Zentralinstanz war auch nicht gewollt, weder bei dem laufenden Einsatz noch als Dauereinrichtung. Damit beraubte sich die Politik jedoch eines Instruments zur Klärung, Steuerung und – nicht zuletzt – zur Auswertung der Mission. Dementsprechend fanden Verständigungen über den zweiten brisanten Problempunkt vorwiegend auf nachgeordneter und das hieß vor allem auf Einsatzebene statt. Dabei ging es um die zivil-militärischen Beziehungen im Einsatz. Sie betrafen nicht allein die Abstimmung von Arbeitsvorhaben oder die wechselseitige Lageinformation, sondern auch die Ausrichtung und Dosierung des militärischen Handelns nach Maßgabe der Angemessenheit, der Wirksamkeit und der Verhältnismäßigkeit. Wer konnte darüber entscheiden, wer durfte mitreden? Das war nicht nur ein pragmatisches Problem. Letztlich stand hier nicht weniger zur Debatte als die militärische Autonomie und Alleinverantwortung für das Einsatzbeziehungsweise das Gefechtsfeld.

3. Wenn denn nach etlichen Jahren klar geworden war, dass eine Mission von der Dimension und Komplexität des afghanischen Falls weder auf dem Reißbrett konzipiert noch mit handlichen Zielformeln (»Sieg«) beendet werden konnte, dass realistische Zielsetzungen immer wieder einem lagebedingten Anpassungsprozess und einer strategischen Bewertung unterworfen werden mussten und dass es dafür eine stimmige Erzählung geben musste, dann stand die Einsatzpolitik vor einer gleich fünffachen Herausforderung, mit den daraus entstehenden Handlungs- und Legitimationsdilemmata fertig zu werden. Jegliche Entscheidung und Bewertung musste sich rechtfertigen lassen: vor der deutschen Politik, dem Publikum, den Einsatzkräften, der afghanischen Öffentlichkeit und auch vor den »gegnerischen Kräften« (Aufständische, Taliban), an denen vorbei keine politische Lösung denkbar war. Verlangt war also die Fähigkeit zu einer strategischen Kommunikation, die Einzelentwicklungen erklären, Zusammenhänge aufdecken, Kohärenz nachweisen und Sinn vermitteln konnte. Das war umso dringlicher, als die tatsächlichen Auswirkungen und Ergebnisse des jahrelangen Einsatzes teils unbekannt, teils umstritten und teils ungesichert waren. Da jedoch ein strategisches Einsatzzentrum fehlte, die Kooperationsstrukturen nur locker geknüpft waren und auf eine regelmäßige Berichterstattung über den Einsatzverlauf – mit Ausnahme der dürren und unergiebigen Unterrichtungen des Parlaments – ganz verzichtet wurde, mussten die offiziellen Rechtfertigungen unvermeidlich in den Sog der »Bad News« geraten; denn berichtet und Stellung genommen wurde (außer bei den Mandatsdebatten) vorwiegend zu den »Zwischenfällen« und Verlustmeldungen. Ein konsistentes Bild vom Einsatzverlauf ließ sich damit nicht entwerfen. Und genauso gering war der Spielraum bei der Begründung von Umorientierungen, Truppenverstärkungen oder Einsatzvorbehalten. Damit entstand ein zweiter Sogeffekt: Die Einsatzpolitik geriet in den Verdacht partei- oder wahlpolitischer Finesse und Camouflage. Die »Übergabe in Verantwortung«, die seit 2010 ins Werk gesetzt wird, drohte als Etikettenschwindel wahrgenommen zu werden, bei dem man die Erfolgskriterien nach Maßgabe des Exit-Termins zurechtbiegt. Was es bedeutete, in einem Einsatz strategische Geduld zu entwickeln, das war dem Kommunikationsverhalten der politischen Instanzen nicht zu entnehmen.

4. Die Politik, das machen die hier dargelegten Defizite deutlich, hatte ein nur mäßig modernisiertes Instrumentarium benutzt, um eine komplexe und ergebnisoffene Aufgabenstellung zu bewältigen. Das konnte zunächst gar nicht anders sein, und dieser Umstand war auch nicht auf Deutschland beschränkt. Problematisch wurde es erst, als sich zeigte, wie schlecht es um die Anpassungs- und Selbstheilungskräfte der sicherheitspolitischen Strukturen bestellt ist. Damit sind die vielfältigen Veränderungen im politischen wie im militärischen Bereich nicht in Abrede gestellt. Doch ihre Reichweite blieb begrenzt. Die Transformation, die man dem afghanischen Partner verordnet hatte, blieb zu Hause aus. Darin offenbarte sich eine der gravierendsten Konsequenzen der zeitgenössischen Praxis, an kriegerischen Konflikten fern der Heimat teilzunehmen (»wars of choice«), von denen keine existenzielle Bedrohung für das eigene Territorium die eigene Bevölkerung oder die eigene Lebensordnung ausgeht. Potenzielle Risiken sollen »auf Distanz« gehalten werden – und so fern, wie die akuten Gefährdungen sind, so verhalten fiel die institutionelle Resonanz aus. Der Krieg war »weit weg«, also konnte man ihn gleichsam mit der linken Hand führen. Auch in dieser Hinsicht gibt es blinde Flecken auf dem Spiegel, so dass sich die strukturellen Rück- und Tiefenwirkungen auf die sicherheitspolitische Apparatur nur schemenhaft abzeichnen.11 Sieht man indessen genauer hin, ist zu bemerken, dass Risse das politische Gebäude und die militärische Organisationswelt durchziehen. Gewiss, nichts davon ist einsturzgefährdet; aber die traditionelle Balance- und Stabilitätsordnung, auf der der Primat der Politik und die entsprechende Staatsmonopolisierung der Gewalt beruhen, hat Schlagseite bekommen.12 Die Gewichte zwischen Exekutive und Legislative, zwischen politischer Leitung und militärischer Führung oder zwischen Staatsbürgerlichkeit und Soldatenberuf sind neu auszutarieren. Das lässt sich weder mit behördlich-bürokratischen Korrekturen noch mit militärischen Lessons Learned allein bewerkstelligen. Denn hier sind unter der Hand institutionelle Geltungsansprüche berührt, die auf lange Traditionen zurückgehen, mit bewährten Erfolgsnarrativen versehen sind und daher als unangreifbar und unhinterfragbar gelten. Wer will sich schon mit dem Ressortprinzip des Kabinetts oder dem Hierarchieprinzip des Militärs anlegen?

Genau solche institutionellen Handlungsprämissen stehen zur Debatte, wenn eine Staatskunst der Einsätze diskutiert wird. Denn deren Tun oder Lassen richtet sich nach institutionellen Ordnungsmustern, und für den analytischen Blick ist die Erkenntnis aufschlussreich, inwieweit diese Ordnungsmuster von Kontextbedingungen abhängig sind, die in rapidem Wandel begriffen sind. Das ist nicht allein von akademischem Interesse; vielmehr informiert die Diagnose auch darüber, an welchen strategischen Punkten sinnvoll und konstruktiv ins institutionelle Räderwerk eingegriffen werden kann, um den Handlungsschwächen der Apparate mit einem aufgeklärten Pragmatismus abzuhelfen. Folgt man dieser Einsicht, so schließt sich der Kreis: Denn eine strategisch informierte Selbsttransformation der Sicherheits- und Militärpolitik würde in reflexiver Manier genau das tun, was hier als Dilemmamanagement beschrieben und gefordert worden ist. Gelingt es, den Spiegel, in dem wir die Afghanistanerfahrung betrachten, von seinen blinden Flecken zu befreien, erscheint darin das Konterfei unserer eigenen Staatlichkeit – mit allen ihren Stärken, aber eben auch mit den Schwächen, die dieser Auslandseinsatz offenbart hat.

1 Erstellt unter Federführung von Auswärtigen Amtes (AA) unter Zuarbeit des Verteidigungsministeriums (BMVg) und des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Zu den Ambivalenzen der Berichte vgl. Janzen, » ›Durchbruch‹ zur ›Trendwende‹?«.

2 Vgl. Tettweiler, Lernen in Interventionen?; Nachtwei, Ehrlichkeit mit blinden Flecken.

3 Die titelgebende Formulierung »Der blinde Spiegel« wurde bereits 1925 von Joseph Roth benutzt. Eine Anspielung darauf ist hier nicht beabsichtigt. Vielmehr halte ich es wie Julian Barnes, dessen Romantitel »The Sense of an Ending« (2011) einer literaturwissenschaftlichen Studie von Frank Kermode (1967) entlehnt ist. Danach befragt, gab Barnes kund, ihn verbinde mit diesem Werk nichts, aber dieses sei inzwischen so alt, dass er den Titel unbedenklich für seine Zwecke übernehmen könne.

4 Weiterführend dagegen Giegerich/Kümmel (Hg.), The Armed Forces; vgl. auch die Einwände bei Bittner u. a., Germany’s Dishonest Foreign Policy; Kaim/Major, »Nicht ohne uns!«.

5 Bredow, »Searching for Minimalist Humanitarian Intervention«.

6 Paris/Sisk, »Managing Contradictions«.

7 Bude, »Auf der Suche«, S. 376.

8 Vgl. Suhrke, When More is Less.

9 In Anlehnung an die Fragestellung von Hannah Arendt, Vita activa, S. 12.

10 Das war kein Problem deutscher Politik allein. Vgl. Strachan, »The Lost Meaning«; ders., »Making Strategy«.

11 Michael Ignatieff spricht deshalb metaphorisch von »virtuellen Kriegen«. Vgl. Ignatieff, Virtueller Krieg.

12 Vgl. Naumann, »Monopolisierung der Gewalt«.

I. Sicherheitsvorsorge in Afghanistan:
starke politische Intentionen,
schwache normative Grammatik

Der Afghanistaneinsatz ist im Laufe der Jahre zum Exerzierfeld starker Behauptungen und schwacher Begründungen geworden. Deutlich wurde das an drei politischen Verlautbarungen. Sprichwörtlich ist inzwischen die Formulierung des damaligen Verteidigungsminister Peter Struck, am Hindukusch werde die »Sicherheit Deutschlands verteidigt«.1 Ebenso erinnerlich sind die politischen Aussagen, man werde im Rahmen der Mission grundlegende soziale Umgestaltungen in Gang setzen, wirtschaftliche Impulse geben und – nicht zuletzt! – für demokratisch-rechtsstaatliche Strukturen sorgen, um eine gefestigte und legitime Staatlichkeit zu etablieren. Einer der Standardsätze dazu lautete: »Keine Sicherheit ohne Wiederaufbau und Entwicklung – Kein Wiederaufbau und keine Entwicklung ohne Sicherheit.«2 Und Verteidigungsminister Thomas de Maizière benutzte in einer Rede anlässlich der Totenfeiern von gefallenen Einsatzsoldaten die einprägsame Redewendung: »Opfer dürfen nicht vergeblich sein.«3 Alle diese Äußerungen bewegen sich auf problematischer Grundlage. Sie taugen als alltagspraktische Konsens- und Beruhigungsformeln, aber halten sie auch einer gründlichen Überprüfung stand? Hinter der Formelsprache der Politik verbergen sich gravierende normative Herausforderungen, die sich an die moderne Politik globaler Sicherheitsvorsorge insgesamt richten.

Stabilisierung am Hindukusch:
die Implikationen des »erweiterten«
Sicherheitsbegriffs

Im Grunde war die Struck-Formel der gut gemeinte Versuch, die auseinanderdriftenden Konzepte der Verteidigung und der Sicherheit noch einmal zusammenzubringen, um damit Plausibilität und Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Mehr noch, es war der Versuch, die diffusen Weiterungen der Sicherheitspolitik in das Korsett der allbekannten Terminologie der Landesverteidigung zu zwängen. Denn wenn die Projektion von Sicherheit so zu verstehen sein sollte wie die herkömmliche Verteidigung deutschen Grund und Bodens, was könnte daran problematisch sein? Mit dem Begriffsapparat der Bonner Republik wurde treuherzig die globale Sicherheitsvorsorge einer neuen Zeit beschrieben.

Allerdings reichte die Formel von der Verteidigung Deutschlands am Hindukusch nur für einen Verblüffungserfolg. Denn der Afghanistaneinsatz sollte, so hieß es von Anfang an, etwas ganz anderes sein als ein »Verteidigungsfall« (Art. 87a GG), und auch an einen »bewaffneten Konflikt« war dabei zunächst gar nicht gedacht worden. Vielmehr wurde die Mission als Stabilisierungsauftrag verstanden, der lediglich dazu dienen sollte, den zivilen Kräften des Aufbaus ein »sicheres Umfeld« zu schaffen. Der Schutz der afghanischen Bevölkerung war damals noch längst nicht in Erwägung gezogen worden; das geschah erst im deutschen ISAF-Mandat von 2010. Während der ersten Jahre wurde die Vorstellung gepflegt, bei den deutschen Soldaten im Einsatz handele es sich um »bewaffnete Sozialarbeiter«. Das war nicht bloße Rhetorik. Diesem Bild entsprachen die restriktiven Einsatzvorschriften, die den Radius klassisch-militärischer Maßnahmen auf ein defensives Mindestmaß beschränkten. Hinzu kam, dass die Unterstützungs- und Stabilisierungsmission keinesfalls das anstrebte, was bei einem »Verteidigungsfall« oder einem »bewaffneten Konflikt« gewöhnlich im Vordergrund steht: die Wiederherstellung des Status quo ante, die Rückkehr zu einem durch Taliban und al-Qaida gestörten Ausgangszustand. Im Gegenteil, durch die Wirrungen der afghanischen Geschichte, die dreißig Jahre dauernden Bürgerkriege und eine schwächliche Staatlichkeit war diese Rückkehr verbaut. An die Stelle eines islamistisch ausgerichteten Regimes, das Terroristen Unterschlupf bot, musste etwas anderes treten – und das sollte so beschaffen sein, dass es Stabilität und Sicherheit versprach. Das war mit militärischen Mitteln allein nicht zu bewerkstelligen – und darin lag ein weiterer gravierender Unterschied zur herkömmlichen Konstellation der (Landes-)Verteidigung. Bei dieser würde der militärische Beitrag im Normalfall ausreichen, die defensive Zweckbestimmung zu erfüllen. In Afghanistan aber zeigte sich, dass der militärische Beitrag – wie vielfach betont – nur zu den Bedingungen der Ermöglichung der intendierten Ziele zählt.

Anders als die Landesverteidigung litt der Afghanistaneinsatz an einem Evidenzproblem, das sich vor 1990 in dieser Form noch nicht gestellt hatte. Niemand hätte damals bestritten, dass die Verteidigung von »Heim und Herd« im vitalen Interesse von Nation und Staat liegt, selbst wenn man die dafür ergriffenen konkreten Mittel infrage stellte. Aber was waren die vitalen Interessen an und in Afghanistan, für die es sich zu kämpfen und zu sterben lohnte? Warum und wie kommt ausgerechnet der Einsatz im fernen Afghanistan unserer Sicherheit zugute? Sind die dafür ins Feld geführten komplexen Maßnahmen, die Fristen, die Kräfte, die Kosten und die Verluste angemessen und zu rechtfertigen? Hier ging es ja nicht um das Bewahren des Vorhandenen, sondern um das Gestalten – und damit um einen grundsätzlich offenen Prozess. War man im Falle der Verteidigung geneigt, in der repräsentativen Autorität von Parlament und Regierung die legitimen Sachwalter eines legitimen Zwecks zu sehen, drohte sich nun in Fällen der globalen Sicherheitsprojektion eine Repräsentationslücke aufzutun. Diese verlangt der Bundesregierung überzeugendere Begründungen ab als die Rechtfertigung einer kollektiven Notwehraktion.

Die Struck-Formel warf also mehr Fragen als Antworten auf. Wenn das, was herkömmlicherweise als »Verteidigung unserer Sicherheit« verstanden wird – Landesverteidigung, bewaffneter Konflikt zwecks Wiederherstellung des Status quo ante – nicht gemeint war, man die Widersprüche aber nicht nur als Produkt von Wunschdenken oder Selbstberuhigung werten wollte, war man auf etwas anderes verwiesen: auf das Konzept der Sicherheit. Aber was bedeutet dieser Begriff? Worin unterscheidet er sich vom herkömmlichen Wehrauftrag der Verteidigung? Welche Konsequenzen zeichnen sich für Politik, Militär und Öffentlichkeit ab? Und um welche beziehungsweise wessen Sicherheit geht es im Afghanistaneinsatz?

Die Implikationen des Sicherheitskonzepts, das seit den 1990er Jahren an die Stelle des Verteidigungsauftrags getreten ist, werden deutlich, wenn man sich die Unterschiede zwischen beiden Konzepten vor Augen führt.4 Wer früher von Landesverteidigung sprach, meinte den Schutz des Territoriums und seiner Bewohner, die Integrität des Staatsgebietes sowie den Erhalt der etablierten Lebensform. Angesichts der modernen Massenvernichtungswaffen ging es bei der Landesverteidigung in der zurückliegenden Epoche des Kalten Krieges zwar um einen existenziellen Konflikt, der Zivilbevölkerung und Militär in vergleichbarem Maße in Mitleidenschaft zu ziehen drohte und deshalb problematisch war; gleichwohl war das Legitimationsmuster der Landesverteidigung, die als eine kollektive Notwehrsituation begriffen wird, dadurch nicht widerlegt. Sie erfolgte – im klassischen Fall – defensiv, reaktiv und war auf die Wiederherstellung des Ausgangszustandes gerichtet. Damit stand die Konstellation der Bedrohungen relativ fest: Die Gefahr ging von Nachbarstaaten, Großmächten oder gegnerischen Bündnissen aus, und das Umfeld war trotz Wettrüsten oder Säbelrasseln, Krisen und Konflikten vergleichsweise stabil und berechenbar; die Standards gegenseitiger Sicherheit (Gleichgewicht, Vertrauensbildung) waren nicht immer beruhigend, aber nachvollziehbar.

Die Sicherheitspolitik ist sich ihrer Sache nicht sicher

Diese Eindeutigkeiten gewährt das sicherheitspolitische Denken von heute nicht mehr,5