Prolog

Wie schon bei meinen ersten beiden Büchern handelt es sich auch hier um Texte, die sadomasochistische Sexualität darstellen. Mein Anliegen ist es, das sexuelle Empfinden des Menschen als integralen Bestandteil seiner Psyche aufzuzeigen, welcher sich nicht losgelöst von seiner Gesamtpersönlichkeit und seinem soziokulturellen Hintergrund betrachten lässt. Aus diesem Grunde bin ich in meinen drei Bänden sehr intensiv auf den Lebenshintergrund und die Geschichte der jeweiligen Figuren eingegangen. Es kommen teilweise Szenen vor, welche in der Kindheit spielen, und ich bin mir absolut bewusst, wie heikel die Darstellung derartiger Inhalte ist; ich habe mich bemüht, alles zu vermeiden, was in irgendeiner Form auf einen Missbrauch hindeuten könnte. Aus zahlreichen Unterhaltungen mit älteren und teilweise auch gleichaltrigen Menschen habe ich erfahren, dass Dinge, wie sie an einigen Stellen hier beschrieben werden, sich, vor allem in der schon ferneren Vergangenheit, durchaus so zugetragen haben. Selbstverständlich sind meine Bücher kein Plädoyer für die Anwendung der Prügelstrafe, und ich habe mich bemüht das hinreichend zum Ausdruck zu bringen. Die entsprechenden Szenen sind um des angestrebten Gesamtbildes willen mit eingefügt und sie sollen eine Vergangenheit wiedergeben, so wie sie war und wie sie in so manch einer Erinnerung noch immer gegenwärtig ist. In meinen Texten wird der Sadomasochismus und insbesondere der Flagellantismus als bereichernde Liebesform zwischen erwachsenen Menschen im gegenseitigen Einvernehmen dargestellt. Ich habe bewusst auf Skandale und Ausschreitungen, wie sie leider häufig in erotischer Literatur dargestellt werden, verzichtet, denn es ist mein Wunsch und Anliegen, neben der Unterhaltung und dem Lesevergnügen der Sexualität den Makel des Schmutzigen und Primitiven zu nehmen und den im allgemeinen Bewusstsein kaum verankerten Begriff der Paraphilie zu verdeutlichen; gleichzeitig jedoch habe ich Gefahren und Risiken, wie sie in S/M-Beziehungen grundsätzlich stecken, in den Bänden mitbehandelt, um sie nicht unter den Teppich zu kehren und nicht zu verleugnen. Es ist leider so, dass in den Medien häufig verbrecherische, amoralische und ungezügelte Ausschreitungen und gepflegter, kultivierter S/M, welchen ich als eine Kunstform sehe, in einen Topf geworfen werden. Mein Anliegen ist es, zwischen diesen ganz und gar verschiedenen Paar Schuhen streng zu unterscheiden und das Verständnis beim Leser, möglichst bei der breiten Masse, zu wecken. Bewusst habe ich meine Charaktere als Menschen mit Bildung, Kultur und Format dargestellt, denn diese Dinge sind Voraussetzungen für das Gelingen komplexer, erfüllender und bereichernder Beziehungen, in denen die Betreffenden sich gegenseitig tolerieren und aneinander wachsen. Die Anspielungen auf Künstlerisches und die metaphorischen Bilder sollen die sexuellen Wünsche und Handlungen als primär seelische Anliegen erkennen lassen. Vor allem habe ich mich bemüht darzustellen, in welchem Maße unsere erotischen Empfindungen unterschwellig und oft auch unbewusst sind, an Situationen gebunden, die keinen offensichtlich sexuellen Charakter zu besitzen scheinen oder diesen verleugnen, wie es besonders häufig, aber nicht nur dort, bei inzestuösen Wünschen der Fall ist. Ich möchte damit auch verdeutlichen, wie vielseitig die menschliche Sexualität ist und wie erheblich die individuellen Unterschiede in der Empfindung und Wahrnehmung sind, wie schwierig es ist, Sexuelles als solches zu definieren, denn es geht weit, weit über den gewöhnlichen Koitus hinaus und ist eine Frage der individuellen Veranlagung und Neigung. Das Sexuelle geht nahtlos in alle anderen Aspekte des Lebens über und ist von diesen nicht zu trennen. Um das zu verdeutlichen, hat meine Trilogie den Anstrich einer Familiensaga, eines gewöhnlichen Romans. Sie soll neben einem erotischen Werk ein ganz normales Buch sein, in dem die diversen gewöhnlichen und ungewöhnlichen Ausdrucksformen der Liebe als beglückend und bereichernd auftreten, unbelastet von dem Makel des Perversen, Krankhaften, welcher ihnen leider unangemessenerweise oft anlastet.

Valerie Morell

Karoline I

Seit ich ein Kind war und gerade alt genug den Weg zu finden, besuchte ich meine Großmutter Marisa beinahe jeden Tag. Jeden Pflasterstein auf dem Weg zu ihr kannte ich in und auswendig sowie jeden Zaunpfahl. Ich liebte das stuckverzierte Haus mit den hohen Räumen fast so sehr wie die zierliche, feine alte Dame mit den bräunlichen Flecken auf ihren weißen, schmalen Handrücken. Oma Marisa und das Haus, in dem sie alleine lebte, waren mein Kindheitsparadies. Nie ging ich langsam auf dem Weg zu ihr, auch später nicht, als ich längst ein Teenager und auf meine Würde bedacht war. Nur an der Ampel machte ich Halt und wartete brav, bis sie Grün anzeigte, hinterher rannte ich dann umso schneller. „Kind, du bist ja ganz außer Atem“, begrüßte sie mich in der offenen Tür und ich legte die Arme um ihre schmalen Schultern, aus denen die Knochen spürbar hervortraten. Oft empfing mich Plätzchenund Kuchenduft, wenn nicht, dann zauberte sie eine andere Überraschung für mich herbei, was nie seinen Reiz verlor, meinem Heranwachsen angemessen war. Marisa Peters, geborene Paul, war eine wunderbare Frau, und ich glaube, es gab niemanden, der sie nicht liebte oder zumindest mochte. Es waren nicht nur die Weisheit und die Güte in ihren braunen Augen, es waren auch ihre aufrichtige Besorgnis uni uns, ihre Opferbereitschaft und vor allem ihr Verständnis für andere Menschen und ihr Einfühlungsvermögen, die sie so liebenswert machten. Sie war eine außergewöhnliche Frau, die Mutter meines Vaters, und wenn man genau hinschaute, dann sah man es auch. Ihr Körper, noch im hohen Alter rank und schlank wie der eines jungen Mädchens, ließ mich an ein Kunstwerk denken, das dem Künstler so viel bedeutete, dass er seinen Blick nicht mehr von ihm abwenden konnte. Ich liebte auch das Kaminfeuer, das sie entzündete, als ich klein war, und welches ich später selbst entzünden durfte, worauf ich mächtig stolz war und wobei ich mich nahezu erwachsen fühlte, denen ebenbürtig, die von den vergilbten Fotos vom Sims auf mich herablächelten: mein Großvater Lennart, den ich nicht mehr gekannt hatte, sowie meine beiden Tanten Emma und Berta und mein Vater Bernd, dem ich so ähnlich sehe, dass man manche Kinderfotos verwechseln könnte. Andere Bilder, farblich noch unverfälscht, zeigen neben Papa und mir meine Mama Franziska und meinen Bruder Konrad sowie meine Schwester Kornelia, meistens „Nele“ genannt, nicht mehr „unsere Kleine“, wie früher. Wenn man uns so betrachtet, sind wir, alles in allem, eine ganz normale Familie. Im Großen und Ganzen sind wir glücklich, und die üblichen kleineren oder größeren Probleme des Alltags haben wir mit der Kraft unserer Intelligenz zu meistern verstanden. Eine Besonderheit zeichnet uns aus: Wir haben Traditionen bewahrt, Dinge, die manchmal banal erscheinen, weitergetragen von Generation zu Generation, und heute, mit einer gewissen eigenen Reife, betrachte ich sie als Bereicherungen, auf die ich stolz bin, sehr stolz, und die mir ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Leben, meinen Angehörigen, mit Vergangenem und Zukünftigem vermitteln. Auch dieses Gefühl ist selber eine Tradition, wie auch die Plätzchenrezepte und Strickmuster, das Bitten und Danken, das Tür-Aufhalten und das Sich-Gedanken-Machen. Gedanken haben wir uns gemacht, jeder von uns die seinen, niemand hat es sich leisten können, faul zu sein in der Beziehung. Früchte hatte es getragen, „Früchte des Feuers“, wie Papa später sagte, als ich erwachsen war. Sie haben mit dem Feuer gespielt, meine Vorfahren, und sie haben ihr Spiel meisterhaft beherrscht. Lange Zeit dachte ich, die Vergangenheit sei fort, mit in die Gräber genommen und damit für alle Zeiten dem Zugriff entzogen. Ich weinte bittere Tränen, als Oma Marisa starb. Vierzehn Jahre war ich alt und zum ersten Mal in meinem Leben unglücklich und verzweifelt, doch schämte ich mich meiner Tränen nicht. Niemand schalt mich, wenn ich daheim meinen Gefühlen freien Lauf ließ. Die Trauer schwand, das Glück jedoch, welches die Verstorbene mir schenkte, ging nicht verloren, ebenso wenig wie die Erinnerungen ihres Lebens und derer, die ihr nahe standen. Papa, Konrad und ich fanden die Bücher in einer der Truhen auf dem Dachboden, als wir den Haushalt auflösten und das Haus später abgerissen wurde. Sie rochen nach Moder und Fäulnis, waren verbogen von der Feuchtigkeit, brüchig das Papier, die Tinte an vielen Stellen hineingefressen. „Wenn ihr alt genug seid“, sagte Papa zu uns, „geht dieses Vermächtnis an euch, aber vorher möchte ich es selber lesen, in aller Ruhe und ungestört. “Jahre später, ich war im Studium, waren die Bücher mein. Anfangs tat ich mich schwer mit den altmodischen, steilen, schnörkeligen Handschriften, ich musste die Buchstaben einzeln entschlüsseln, sie studieren wie eine Geheimschrift. „Karoline, du bist so schlau, du liest sie als Erste und erzählst mir dann vorab, was drinsteht, sonst steige ich da nie durch“, meinte Konrad. In meinem ganzen Körper kitzelte ahnungsvolle Vorfreude. Ich las sie wieder und immer wieder, war so verzaubert von ihnen, dass ich beinahe süchtig wurde nach einer vergangenen Welt, die wirklich war und keineswegs der Phantasie entsprang. Großmutter Marisas Geist und auch der Großvater Lennarts sprangen aus den Zeilen, ließen die Menschen längst dahingegangener Jahre lebendig werden, auferstehen, wenn ich meine Nase in die brüchigen Seiten steckte. Dann kam mir eine Idee. Bevor das Papier zerfallen, das Vergangene endgültig verloren wäre, würde ich es festhalten, alles in den Computer eingeben, Zeile für Zeile, Wort für Wort, wie Marisa und Lennart es geschrieben, wie sie gelebt, geliebt, gelitten und genossen hatten. Ich würde leben — in meinem Inneren stundenweise leben — wie meine Vorfahren, deren Gene in uns weiterexistierten, deren Geist uns inspirierte zu sein, zu fühlen, aus dem Alten das Neue gedeihen zu lassen. Alles hatte seine Zeit. Für die ganz privaten Belange nahm ich mir jeweils am Vormittag oder am Nachmittag eine Stunde, wenn mein Mann Matthias, Kinderarzt, in seiner Praxis im Erdgeschoss tätig und unsere Söhne Sven und Gerald, acht und sechs Jahre alt, in der Schule beziehungsweise mit ihren Hausaufgaben beschäftigt waren. Ich, promovierte Psychologin, fünfunddreißig Jahre alt, betreute Menschen in Angelegenheiten, von denen die überwältigende Mehrheit unserer Zeitgenossen nicht ahnt, dass es sie gibt. Mein Empfangszimmer, in dem wir Gespräche führten, von denen niemals auch nur die Spur einer Andeutung nach außen drang, war auch mein Reich, in dem mich niemand stören durfte. Mit der Familie waren, für den Fall, dass sie mich dringend brauchte, spezielle Klopfzeichen vereinbart. Sie störten mich nie, meine drei Männer, begriffen sie doch, dass auch ich meinen Freiraum brauchte um für sie da sein zu können. Die bräunlich-grauen Bücher lagen, chronologisch gestapelt, zu meiner Linken, das älteste, mit dem alles begann, obenauf. Die Datei hatte ich schon angelegt, ich hoffte, dass keine Probleme auftraten, denn dann musste ich immer Papa oder Konrad zu Rate ziehen, was mir oft peinlich war. Mein Vater, der sich allmählich aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen begann und von seinem Sohn abgelöst wurde, nahm sich immer sofort Zeit für mich, ich brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, schon war er da. Es war nicht so einfach, das nicht auszunutzen, ich musste mir ständig sagen: „Das und das kannst du doch auch alleine“, was in der Regel der Fall war. Ich gestand mir ein: Ich hatte ihn verdammt gerne um mich, ich hing an ihm und war stolz, seine Tochter zu sein. Wahrscheinlich ahnte er nicht, wie beliebt er bei seinen Mitmenschen war, nicht nur bei mir. Ich hatte zu den Menschen einen engeren Draht als zur Technik, Erstere waren meine Partner, der Computer lediglich mein unverzichtbarer Diener. Ich wollte gerade unter den Tisch tauchen, den Schalter umlegen, der das System mit Strom versorgte, als das Telefon klingelte. Zunächst spielte ich mit dem Gedanken es klingeln zu lassen, doch dann sagte mir mein sechster Sinn, der mich nie getäuscht hatte, dass das nicht angebracht wäre. Ich stand auf und griff nach dem Hörer. Ich war nicht ärgerlich wegen der Störung. Es war Kornelia, meine Schwester, die Letzte, mit der ich gerechnet hätte. Kornelia, fünfundzwanzig Jahre alt, hatte sich, obwohl sie hochintelligent war, bislang in ihrem Leben für nichts so richtig begeistern können. Zurückgezogen und scheu, war sie heute dieselbe Einzelgängerin geblieben wie früher. Sie arbeitete, seit sie ihr Abitur in der Tasche und ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, in Papas Firma und verdiente dort gut. In ihrer kleinen Stadtwohnung war sie selten zu erreichen, in ihrer Freizeit schien sie Dinge zu unternehmen, von deren Natur der Rest der Familie keine Vorstellung hatte. Manchmal drückte mich die Angst, sie sei einsam und fühle sich verloren, doch dann, wenn ich sie sah, hatte ich wiederum den Eindruck, dass sie recht zufrieden wäre mit sich und der Welt. Man konnte aus ihr nicht schlau werden. Wir bedrängten sie nicht. Eine unserer Traditionen war, die Türen füreinander offen zu halten, immer und jederzeit. Auch Kornelia wusste und schätzte das, wie sich zu dieser Minute zeigte. „Hast du ein paar Minuten Zeit für mich?“Ich hätte den Lauf der Welt angehalten, mich ihr zu widmen, brachte es jedoch nicht zum Ausdruck. „Natürlich“, sagte ich nur, was abwartend und nicht drängend wirken sollte. „Ich werde auf einen Sprung bei dir vorbeikommen. “ Ihre Stimme klang so entschieden, dass ich sofort ahnte, dass uns etwas Bewegendes bevorstand. Es dauerte keine drei Minuten, dann klingelte es. Sie hatte offensichtlich von einer öffentlichen Telefonzelle in unmittelbarer Nähe angerufen. Ich ging zum Fenster und schaute auf die regennasse Straße hinab. Sie war mit dem Fahrrad gekommen, wie gewöhnlich. Ein Auto besaß sie nicht, obwohl sie es sich finanziell spielend hätte leisten können. „Ich brauche keines“, meinte sie, und damit war die Diskussion erledigt. „Ich glaube, es macht dir Freude, an gewissen Dingen des Lebens vorbeizugehen“, sagte ich einmal zu ihr und ahnte nicht, wie nah ich damit dem Kern der Sache gekommen war. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe. Sie war stets so leise, wie sie sein konnte, doch unser Treppenhaus hallte, es gelang nie jemandem, geräuschlos zu unserer Privatwohnung und meinem Sprechzimmer hinaufzukommen. Regen hatte ihre Jacke durchnässt und perlte von ihrem straff im Nacken zusammengefassten Haar, doch das störte sie nicht. „Ich werde dich nicht lange aufhalten“, sprach sie mit einem beinahe entschuldigenden Unterton in der Stimme. „Ich habe alle Zeit der Welt“, antwortete ich und beschloss sie mir zu nehmen, wenn dem so sein musste. Mit leichtem Schaudern wurde mir bewusst, welche Macht meine um so viele Jahre jüngere Schwester, die so gar nichts von anderen Menschen zu verlangen schien, über mich hatte. Ich sah sie an. Auf ihre Art war sie genauso attraktiv wie ich, wenngleich ein ganz anderer Typ Frau. Die altmodische Kleidung, die sie trug, geblümte Bluse, schwarzer Rock und Strümpfe, passten nicht zu ihrem Alter, nicht in ihre Generation, in der Jeans und Sweatshirts gang und gäbe waren. Modeerscheinungen und Entwicklungsphasen waren an ihr vorübergegangen, ohne sie zu berühren. Freundschaften zu Gleichaltrigen interessierten sie nicht, ihre gesamte Freizeit pflegte sie entweder allein oder mit unserer Tante Emma zu verbringen, einer ledigen Lehrerin, die heute längst pensioniert war. Manchmal hatte ich geglaubt, Kornelia sei Emmas Kind und nicht das meiner Eltern. „Aber Karoline“, sagte meine Mama Franziska, „Tante Emma hat doch gar keinen Mann, wie soll sie da ein Kind haben. “ Ich dachte mir, naiv, wie ich früher war, dass sie auch keinen Mann bräuchte, weil sie ja Kornelia hatte. Den Kleidungsstil jedenfalls hatte sie an ihre Nichte weitergegeben, er unterstrich die unübersehbare biologische Verwandtschaft. Sie erinnerte mich auch an Großmutter Marisa und gleichzeitig an meine ehemalige Oberschullehrerin Helene Schneider, die heute nicht mehr lebte und die in den Entwicklungsjahren mein erster Schwarm gewesen war. Trotz allem, trotz aller offensichtlichen Hinweise, die aus meinem Inneren in mein Bewusstsein drangen, erfasste ich nicht, was Kornelia meinte, als sie sagte:„Ich werde einem Orden beitreten. “Ich ließ den Kugelschreiber, den ich in der Hand hielt, fallen. Mit einem lauten, durchdringenden Knall, der mich erschreckte, landete er auf der Tischplatte. Ich sah meine „kleine“ Schwester, die mich heute als Erwachsene um zwei Zentimeter überragte, ausdruckslos an, kuhäugig, wie mir bewusst wurde. Bilder gingen mir durch den Kopf: Kirchen, Altäre, Choräle, Klöster, Frauen in Nonnenkutten, eine wie die andere, gefaltete Hände, Schlafkammern, Rückenlage und Entsagung. Ich war so nah an der Erkenntnis und doch so blind und begriffsstutzig, dass ich später allen Ernstes eine temporäre Hirnfunktionsstörung in Betracht zog. „Aber Kornelia“, stammelte ich, „du bist doch gar nicht religiös, du sagtest, du wüsstest noch nicht einmal, ob du an Gott glaubst. “„Vergiss Gott. Vergiss die Religion. Denk mal an das, was du vor deiner Nase hast. “Es schwante mir. Beinahe blieb mir die Luft weg. Sie konnte doch nicht — sie würde nicht …„Kornelia“, rief ich und spürte einen Anflug von Panik in mir aufwallen, „sag, dass es nicht wahr ist!“Sie sah glücklich aus, sie lächelte, als sie das Wort ergriff: „Doch“, sagte sie langsam, „es ist wahr. Ich werde dem Geheimbund der Alten Ruine beitreten. Es ist alles beschlossene Sache. Nächsten Ersten beginnt mein neues Leben dort. Ich überlasse dir meine Habseligkeiten. Es sind nicht viele. Die Wohnung ist bereits gekündigt. “„Kornelia — wie kannst du, wie kommst du …“ Zum ersten Mal, seit ich mich kannte, reagierte ich hysterisch und unkontrolliert, ich, die Frau von fünfunddreißig Jahren, die hier in diesem Raum so manche unglaubliche Geschichte gehört, so manche sonderbare Unterhaltung geführt und dabei immer die Oberhand behalten hatte. Es war ganz anders, wenn eine Angelegenheit eine nahe Angehörige betraf, zu der die objektive Distanz fehlte, die ich zu meinen Patienten hatte. Diesmal war es Kornelia, die ruhig und gelassen blieb, nüchtern sachliche Überlegenheit ausstrahlte. „Entschuldigung“, sagte ich, „es hat mich überwältigt. Ich hätte damit rechnen müssen — irgendwie hat es auf der Hand gelegen, vielleicht wollte ich es nicht sehen und erschrak deshalb so sehr. “„Du bist die Erste, die es erfährt. “„Es ehrt mich. Ich bin froh, dass du dich mir anvertrautest. Wie kamst du darauf — auf die Idee, dem Orden beizutreten?“„Es fing ganz harmlos an. Ich habe immer für Burgen geschwärmt, Burgen sind, wie der Begriff schon zum Ausdruck bringt, Stätten, die Geborgenheit vermitteln. “ Ein verträumter Ausdruck trat in ihr Gesicht. Ich wünschte mir, ich könnte ihre Gedanken lesen und müsste mich nicht lediglich mit dem Inhalt des Gesagten zufrieden geben. „Ich habe so viele Geschichten gelesen, voller Romantik, voller Abenteuer …Bitte halte mich nicht für naiv — ich kann sehr wohl zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden —, ich gehe keineswegs davon aus, die Welt infantiler Wünsche irgendwo realisiert zu sehen. Außerdem: Die spannenden Geschichten der Kindheit bedeuten mir nichts mehr, sind überholt durch die Entdeckung meines Selbst. ‚Burgen unserer Heimat‘, lautete der Titel eines Bildbandes, den ich mir von Tante Emma zum Geburtstag wünschte und auch prompt bekam. Ich war erstaunt, wie viele historische Plätze und Kulturschätze unsere Stadt aufzuweisen hat. Ein Objekt hatte es mir besonders angetan, und das war die Alte Ruine jenseits der Bushaltestelle Holunderbusch. Ich schlug sie damals als Besichtigungsziel für einen Klassenausflug vor, doch niemand interessierte sich dafür. Ich sprach Tante Emma darauf an, und wir fuhren an verschiedenen Nachmittagen dorthin, gingen im Naturschutzgebiet rundherum spazieren. Bei Tage sah sie verlassen aus, die Alte Ruine, in meinem Inneren jedoch spürte ich, dass sie es nicht war. Ich wagte nicht, Tante Emma oder Papa darauf anzusprechen, ich wusste, sie hätten mir nicht erzählt, was für ein Kind zu wissen nicht geeignet war. Ich stellte meine eigenen Nachforschungen an, auf eigene Faust. Ich kannte meine Lehrerinnen am Lyzeum genau genug, ihre Zerstreutheiten und Marotten, wusste, welche Unterrichtsstunden ich schwänzen konnte, ohne dabei erwischt zu werden. Es klappte immer. Ich bin nie aufgeflogen, kein einziges Mal. “Ich sah meine Schwester an. Auf ihre Art war sie ein gerissenes, verschlagenes kleines Biest. Auch ich hatte keine Ahnung von ihren Eskapaden gehabt, hatte sie für brav, bieder und überangepasst gehalten. „Wenn Papa dich erwischt hätte, du hättest ganz schweren Ärger bekommen. “ Ich dachte an meine eigenen diesbezüglichen Erfahrungen mit unserem Vater, der Konrad und mich sehr selten geschlagen hatte, aber es war vorgekommen. „Ich werde dafür büßen”, flüsterte Kornelia, „und ich freue mich darauf. “ Ihre Rede schien unwirklich, als sie in normalem Ton fortfuhr zu sprechen: „Dreizehn oder vierzehn war ich. Ich schwänzte die Doppelstunde Sport. Ich kratzte mein Taschengeld zusammen für die Busfahrt zum Holunderbusch. Die ganze Fahrt über fürchtete ich, jemandem zu begegnen, der mich kannte, doch der Bus war leer, ich die Einzige, die an der Endstation ausstieg. Dann lief und lief und lief ich, die Angst, in ein vorbeifahrendes Auto gezerrt zu werden, trieb mich zur Eile an und erzeugte zugleich ein mit Angst gekoppeltes Lustgefühl in mir. Die Festung wurde größer und größer vor meinen Augen, es war ein persönlicher Sieg für mich, ihr so nahe zu sein, ihre einzelnen Steine erkennen zu können, die Türmchen und Erker, die Außentreppen, die romanischen Rundbogenfenster und das Hauptportal. Wie hypnotisiert schaute ich das geheimnisvolle Gebäude an, stellte mir vor, meine Blicke durchdrängen seine Mauern, Kontakt mit seinem Inneren aufnehmend, nach dem ich mich sehnte, ohne es mir konkret vorstellen zu können. Plötzlich, als ob meine Wunschträume Wirklichkeit geworden wären, öffnete sich eines der Fenster und eine Frau mit einer strengen Frisur, die ein auffallendes Halsoval trug, lehnte sich hinaus. Was willst du hier?‘, fragte sie barsch, und dann, bevor ich die Gelegenheit zur Antwort bekam, wandte sie sich ab und rief: ‚Frau Oberin!‘ Wenige Sekunden später trat eine schon ältere Frau in einem bodenlangen Gewand aus dem Hauptportal auf mich zu, die dieselbe Frisur und dasselbe Halsoval trug. Zuerst dachte ich, sie würde mich ohrfeigen, ihr Gesicht schien einen wütenden Ausdruck zu tragen, der jedoch eher Besorgnis erkennen ließ, als sie das Wort ergriff: Wie heißt du?‘Ich konnte nicht anders als ihr meinen Namen zu nennen. Ich zögerte keine Sekunde und kam auch nicht auf die Idee zu lügen. ‚Wo wohnst du?‘Auch hier dasselbe. Ich dachte, ich sei geliefert. ‚Solltest du nicht um diese Zeit in der Schule sein?‘Ich gestand, dem Unterricht unerlaubterweise ferngeblieben zu sein. ‚Komm herein. Du brauchst keine Angst zu haben. ‘Ich folgte der Fremden durch das Hauptportal in einen Raum, der mich an das Sekretariat unseres Gymnasiums erinnerte. ‚So, meine Kleine. Ich werde dir jetzt ein Taxi rufen, welches dich umgehend zu deiner Schule zurückbringt. Ich wünsche dich hier nicht mehr ohne Begleitung deiner Erziehungsberechtigten zu sehen. Wenn du mir das versprichst, werde ich unser kleines Geheimnis wahren. ‘Ich versprach es ihr, gab ihr die Hand darauf. Ihre Aura war stark genug, mich mein Versprechen nicht brechen zu lassen, ich hätte es auch nicht gekonnt, niemals. ‚Noch etwas‘, setzte sie hinzu, als das Taxi bereits auf dem Vorplatz wartete. ‚Wenn du erwachsen bist, darfst du gerne jederzeit kommen und uns besuchen. ‘ Wärme und Güte strömten aus diesen Worten, die ich noch heute fühle. Es war fast wie bei Mama und Papa oder bei Tante Emma, und doch war es anders, als ob eine Barriere gefallen wäre. ‚Das kleine Fräulein hier hat versehentlich den falschen Bus genommen‘, wandte sie sich an den Taxifahrer, dem sie diskret den Fahrpreis erstattete, wobei ich ein kleines Zwinkern in ihren Augen wahrnahm, ‚bringen Sie es bitte umgehend zum Lyzeum zurück. ‘Die ganzen Jahre bis zu meiner Volljährigkeit trieb ich mich nicht mehr bei der Alten Ruine herum, ich schwänzte auch nie mehr den Unterricht, wenngleich der Zauber des Erlebnisses mich nicht losließ …gerade deshalb. Weißt du, was mir auffiel?“Auch das Offensichtliche, was ich direkt hätte sehen sollen, erkannte ich an dieser Stelle nicht. Ich schüttelte stumm den Kopf. „Meine Lieblingslehrerin Helene Schneider trug dasselbe Oval um ihren Hals wie die Frauen, denen ich in der Alten Ruine begegnete. “Mein Herz schlug schneller. „Sie war auch meine Lieblingslehrerin“, erklärte ich leise, es klang wie ein Geständnis. Kornelia hatte, untypisch für sie, nach meinen Händen gegriffen, eine Geste, die für unseren Vater charakteristisch war. „Du“, sagte sie, „ich habe es nur dir und sonst niemandem erzählt und das auch nur, weil Helene Schneider bereits tot ist, sonst hätte ich geschwiegen. Abgesehen von dir werde ich es auch sonst niemandem erzählen. Schweige bitte darüber, versprich es mir!“„Selbstverständlich. “ Ich erwiderte den Druck ihrer Hände. Ich schenkte mir einen kleinen Cognac ein und bot auch ihr einen an. „Nein“, sagte sie abwehrend, „ich muss noch mit dem Rad fahren. “ Ihre Jacke war mittlerweile getrocknet, draußen setzte die Dämmerung ein. Ich lehnte mich aus dem Fenster und schaute ihr nach. „Komm gut nach Hause!“, rief ich, und sie winkte, bevor sie in der Ferne im Abenddunkel verschwand. Ich bereute es nicht, ihr diese eine Stunde geschenkt zu haben, im Gegenteil. Die Tagebücher, die Jahrzehnte überdauert hatten, konnten den einen Tag auch noch warten. „Hast du wieder einen interessanten Tag gehabt?“, fragte Matthias am Abend, mir über den Hintern streichelnd, während ich am Herd stand und konzentriert rührte. Es war im Grunde keine Frage, sondern ein Begrüßungsritual, welches sich im Laufe der Jahre etabliert hatte. „Wenn man das Leben bewusst betrachtet, niemals zu faul ist um darüber nachzudenken, dann ist kein Tag uninteressant.“ „Meine kluge, kleine Frau”, sagte er zärtlich und küsste meine von der Arbeit erhitzte Wange. Ich freute mich auf den Abend, auf die Zeit, wo die Jungen im Bett wären und fest schliefen …„Dich jeden Abend auszupacken ist mindestens so schön wie Weihnachten in frühen Kinderjahren. “ Matthias knöpfte meine Bluse auf und streifte sie mir von den Schultern, ein allabendlicher Akt, der nie etwas von seinem Reiz verloren hatte. Der Stoff, der meine Haut streifte, brachte mich in eine kitzelig lüsterne, erwartungsvolle Stimmung der Vorfreude. Ich warf meine naturgelockten Haare in den Nacken und schloss die Augen, kommende, tausende Male zuvor erfahrene Wonnen antizipierend, Matthias‘ sinnliche Lippen auf meinen festen, kleinen Brüsten, in die ich gleichermaßen verliebt war wie er, seine flinke Zunge, die liebevoll gekonnt meine Brustwarzen umspielte. „Du hast allen Grund zur Selbstverliebtheit“, flüsterte er, nachdem er mich aufs Bett geworfen hatte und sich an meinem Reißverschluss zu schaffen machte. Es war herrlich. Ich sagte nichts, hielt die Augen geschlossen und ließ ihn einfach machen. Ich wusste, es war gar nicht so einfach, die eng sitzenden Hosen von einer reglos daliegenden Frau abzuziehen, das war einer der Reizfaktoren unseres Spiels, welches wir gemeinsam genossen. Ich stellte mir vor, er hielte mich gefangen, gefesselt, und würde über mich herfallen. Ich stellte mir vieles vor …Der harte Jeansstoff glitt über meine Oberschenkel, noch wenige Sekunden, dann würde ich die Beine spreizen. Sein Beruf hatte Matthias ein Feingefühl entwickeln lassen, welches für Männer ungewöhnlich war. Nie zerriss er meine feinen Spitzenhöschen oder mein seidenes Unterhemd, wenn er mich auf diese Weise entkleidete. „Ich liebe die feinen Dinge“, pflegte er zu sagen, „verstehe mit ihnen umzugehen. “Er war unendlich geschickt, unendlich einfühlsam, doch ich kannte auch die andere Seite in ihm, die er mir nie unterschlagen hatte, aus der ich mehr Genuss zog, als er sich höchstwahrscheinlich vorstellen konnte. Ich spürte seine Hände an meinem Schamhaar, sie zwirbelten, zogen daran, dass die Haut spannte, angenehm bis schmerzhaft. Alles, was ich tun musste, war atmen. Die Bilder würden später kommen, in einer Minute oder in zwei, die Bilder, die anders waren. Mit dumpfem Geräusch fiel seine Kleidung zu Boden, Stück für Stück. Mein Empfinden, meine Sinne waren zu jener Stunde des Tages hypersensibilisiert, wie in einem Rausch, der später langsam ausklang, ohne böses Erwachen. „Jede andere Frau hätte mich verurteilt. “Ganz zu Anfang unserer Beziehung, ehe wir verlobt waren, hatte Matthias diese Worte geäußert, und er schien erstaunt gewesen zu sein, dass es mir so gar nichts ausmachte, was er mir gestanden hatte. „Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass ein Mann Dominastudios besucht“, reagierte ich betont ruhig und besonnen und kam mir dabei vor, als ob ich zu einem meiner zukünftigen Patienten spräche. Tatsächlich war ich nicht so emotionslos, wie ich mich gab, im Gegenteil. In mir tobte ein Wirbelsturm aus Lust und Erregung, welcher mich beinahe ängstigte. „Es macht dir also nichts aus?“, fragte er eindringlich, als ob er meine Erlaubnis und meine Billigung für sein Seelenheil bräuchte. „Ganz gewiss nicht“, antwortete ich und ließ ihn im Unklaren darüber, dass das genaue Gegenteil der Fall war. „Dann und wann erzählst du mir davon“, ließ ich vorsichtig durchklingen. „Zu Studienzwecken?“, fragte er und klang leicht verunsichert. „Nein. “ Ich schüttelte den Kopf. „Einfach so. “Wir brauchten nicht zu artikulieren, dass wir einander verstanden. Wir gingen an jenem Tag am Schwarztalsee spazieren, meinem liebsten Fleckchen Erde, das ich immer wieder aufsuche, wenn ich Abstand zum Alltag brauche und Muße, Zeit zum Denken, zum Entspannen. „Wir werden es schaffen miteinander“, meinte Matthias, als wir am Steg standen. „Ja“, antwortete ich, „wir sind klug genug, und an Liebe fehlt es uns nicht. “Seine raue Wange schmiegte sich an meine, das Ächzen der Bettfedern holte mich in die Gegenwart zurück, als mein Mann über mich stieg, seine Lippen die meinen suchten, unsere Zungen einander umspielten, sein Duft in meine Nase zog und die Bilder erwachten. Seine Stöße waren die Peitschenhiebe der Domina, die seinen nackten, weißen Hintern über und über mit roten Striemen verzierte, seine Schmerzensschreie waren meine Lustschreie, die sich vielleicht in die Träume der Kinder schlichen, sich dort verwoben zu neuen Handlungen. Als er sanft aus mir hinausglitt, lachte ich. Wahrscheinlich tat ich das, damit unsere Söhne, falls sie wider Erwarten etwas vom nächtlichen Geschehen mitbekamen, wussten, wie überaus glücklich ich war, wie schön der Akt, den ihre Eltern vollzogen hatten. Sperma blieb in meinem Schamhaar haften, weiße Perlen auf schwarzen Kräusellocken. „Kornelia war heute bei mir“, bemerkte ich, nachdem wir das Licht gelöscht hatten. „Sie wird dem Frauenorden der Alten Ruine beitreten. “ Matthias zeigte keine Anzeichen von Erstaunen oder gar Erschrecken, was diesmal mich über alle Maßen überraschte. „Soll ich dir mal was sagen?“, fragte er. „Ja“, ermunterte ich ihn. „Sie passt ganz genau dahin, deine Schwester. Sie ist wie geschaffen dafür. “ Noch bevor er seinen Satz beendete, erkannte ich, dass er Recht hatte, er, der erfahrene Menschenkenner, der seine Schwägerin aus einer gesunden Distanz heraus vermutlich besser einschätzen konnte als ich die Schwester, die ich mitaufgezogen hatte. „Für Mama wird es hart sein. Ich beneide Kornelia nicht darum, es ihr sagen zu müssen. „Die Wogen werden sich glätten. Keine vier Wochen und eure Mutter hat es akzeptiert und verstanden wie du. ”„Hoffen wir‘s“, sagte ich zum Schluss, bevor die Nacht uns einholte.

Lennart I

Zeit ist nicht nur Geld, Zeit ist auch Leben. Für mich ist die Zeit zum Leben gekommen, die Stunde der Befreiung von der Ohnmacht und dem Elend der Kindheit, von der Anstrengung des Freistrampelns, die Tag um Tag füllte, jede Minute, nichts übrig ließ als Müdigkeit und den Wunsch, in die Nacht zu fallen, die mich mit ihren Träumen umarmte, Träume, von denen ich hoffte, sie mögen vorwegnehmen, was ich mir für die Zukunft wünschte, ersehnte. Ich sah mich in meiner Behausung um: eine kleine Wohnung, in der Stille herrschte und Frieden. Einsamkeit, die noch nicht bedrückend war, eine unumgängliche Vorstufe zu jenem Leben, welches mir gehörte, nur mir, von mir bestimmt, geteilt mit der Frau, die, dafür würde ich sorgen, bald auftauchen würde. Polternde Schritte im Treppenhaus riefen die Erinnerung zurück. Vater, der betrunken heimtorkelt, Mutter, die schreit und das Geräusch von Schlägen. „Der Junge will aufs Gymnasium. “ Lachen. „Ich werde auf das Gymnasium gehen. “ Noch lauteres Lachen. „Der Klugscheißer. Das kleine Arschloch. “Es war nicht schön, das zehnte Kind einer bitterarmen Familie zu sein, deren Haupternährer das ohnehin geringe Einkommen vertrank. „Elfriede, heute Abend mache ich dir noch so einen!” Johlen der älteren Brüder. An die Umstände meiner Entstehung dachte ich nicht gerne. Ich verschloss mich gegen die Welt daheim, ich war ich, was die zu Hause sagten, perlte ab an meinem Panzer, den ich mit meinem nüchternen Verstand errichtet hatte. Mutter verlor das elfte Kind und starb daran. Ich lebte nur noch für die Schule, alles andere hatte keinen Platz in meiner Welt. So überlebte ich. Nur so. Ich hatte es geschafft, das Gymnasium, das Studium, und heute besaß ich mein eigenes Unternehmen. Büromaschinen, ein Zweig, in dem, das hatte ich zutreffend eingeschätzt, die Zukunft lag. Ich konnte mein Glück kaum fassen und war dem Herrgott unendlich dankbar, dass er mitgespielt hatte. Die Arbeit und die Anstrengung ließen das Grauen der Vergangenheit in die Ferne rücken, weniger und weniger erdrückend scheinen, über manche Sachen, nicht über alle, konnte ich später sogar lachen. Ich ging regelmäßig zu Mutters Grab und legte Blumen nieder, ich schwor mir, meiner zukünftigen Frau nur so viele Kinder zu machen, wie sie sich selber wünschte. Ein Sohn sollte doch dabei sein, einen Sohn wünschte ich mir auf jeden Fall. Zum Dank würde ich mich disziplinieren, so sehr, dass meine Frau nur Freude mit mir hätte, auf Händen getragen ihr sorgenfreies Dasein würde genießen können. Die Klingel unterbrach meine Gedanken, die mich erstaunten, eine Erregung in mir aufwallen ließen, welche ich schon lange kannte, bislang jedoch nie so richtig zuließ. Es war Mathilde, eine alte Freundin aus meiner Schulzeit, die das gegenüber liegende Mädchengymnasium besucht hatte, knapp zwei Jahre älter war als ich. Damals, in unserer gemeinsamen Jugendzeit, erteilte sie regelmäßig Nachhilfe in nahezu sämtlichen Fächern, wofür ihr die zu Unterrichtenden Groschen und Schokoriegel zuschoben. Ich, der weder über das eine noch über das andere verfügte, ging an manchen Nachmittagen zu ihrer Wohnung und putzte ihr und ihrem Bruder die Schuhe. Mathilde mochte ich nicht missen. Die ganzen Oberschuljahre hindurch war sie mein Lichtblick, sie gab mir Sicherheit und Geborgenheit, hielt die Angst des Schulversagens, die mich nach meinem eisernen Kampf um den Gymnasialbesuch besonders quälte, von mir fern und war mir eine Stätte der Zuflucht, wo ich Kind sein konnte, unbeschwert lernen und reden, Arbeiten verrichten, die mir Spaß machten, für die man mich anerkannte. Ausgenutzt fühlte ich mich nicht, hätte am liebsten mehr getan, Dinge, die so absurd schienen, dass ich sie nicht zu Ende zu denken wagte, sie verdrängte mit Arbeit, die mich am Leben hielt. „Danke. Das hast du prima gemacht“, kam es von ihr, nachdem ich den Balkon geschrubbt oder den Rasen gemäht hatte. Ihre Worte kitzelten in mir, und sie warf ihren dicken, dunklen Zopf über den Rücken, während ihre Augen mich aufmerksam musterten. „Das gefällt dir. ”Ich saß vor einem Berg von Schuhen, Mathildes zierlichen Mädchenschuhen und den derben, schmutzverkrusteten ihres Bruders. Ich sah zu ihr auf, und sie wirkte groß und erhaben aus meiner unterlegenen Perspektive heraus. Sie war auch groß, beinahe einen Meter achtzig. Erhaben war sie auch, aber nicht hochmütig. „Ja“, sagte ich leise, „es gefällt mir. “„Weil ich da bin und dir zuschaue. “„Weil du da bist und mir zuschaust. “ Etwas anderes hätte ich nicht sagen können, wir genossen, ohne so recht zu wissen, was. „Mach‘s gut!“ Ihr kameradschaftlicher Abschiedskuss trocknete auf meiner Wange, als ich mich widerwillig und missmutig auf den Weg nach Hause machte. „Mach‘s gut“, sagte ich abends im Bett lautlos zu mir selber, wenn ich an sie dachte, an ihr Lächeln, an ihre scheinbar zufälligen Berührungen, an ihren flüchtig dahingehauchten Kuss, welchen ich noch immer zu spüren glaubte. Ich stellte mir vor, ich dürfte mich bei ihr bedanken, für alles, was sie je für mich getan hatte, sie ausziehen, hinlegen, streicheln, küssen …Mein Bruder Leopold neben mir schien stets zu schlafen, wenn ich in dieser besonderen Stimmung war und diese geheimen Spiele spielte. Ich griff nach meinem erigierten Glied, ich hantierte damit, ohne so recht zu wissen, was ich tat, es war wunderschön und rein, überhaupt nicht schmutzig, es war das absolut Schönste, was ich je erlebt hatte. Ich machte es mir wirklich gut. „Ich werde fortziehen“, sprach Mathilde, die in meiner kleinen Küche stand. Ihre Stimme hatte mich schlagartig in die Gegenwart zurückgeholt, in Sekundenschnelle zahllose Momente großer Nähe in mir wachgerufen, die auf einmal schmerzten, jetzt, da sie vorbei sein sollten. Plötzlich fühlte ich mich wieder so klein wie früher, hilflos und abhängig, den Launen meiner Mitmenschen und denen des Schicksals auf Gedeih und Verderb unterworfen und ausgeliefert. „Du gehst fort“, plapperte ich nach und schämte mich meiner dämlichen Imitation. „Ein Onkel väterlicherseits hat mir eine Praxisübernahme angeboten. Es ist eine große Chance, die ich nicht ausschlagen werde. “Mathilde war von Beruf Ärztin, und natürlich freute ich mich für sie. Und dennoch — es tat weh, sehr weh, zu wissen, dass sie mich verlassen würde. „Du gehst fort“, sagte ich noch einmal und setzte mich an den Küchentisch, schaute hinaus auf den Hinterhof, in dem farblose, von unzähligen Waschgängen verblichene Wäsche in langen Reihen auf den von Fenster zu Fenster gespannten Leinen flatterte. Es war mir egal, was sie dachte. Sie kannte mich sowieso gut genug. „Ich gehe nicht um dich zu verlassen. “ Sie hatte sich zu mir gesetzt, sie sah mir in die Augen und las darin. Ihr Ausdruck war ernst. „ich bin froh, dass das Schicksal uns trennt, und weißt du auch, warum?”Ich schüttelte den Kopf und war nur scheinbar verletzt von ihren Worten, die vernünftig klangen. „Weil ich nicht möchte, dass du von mir abhängig wirst. “„Ich liebe dich“, kam es mir ungewollt über die Lippen, ich war erstaunt, beschämt und bestürzt darüber, als ich merkte, dass ich errötete. „Lennart, auch ich liebe dich, jedoch nicht auf die Art, auf die eine Frau einen Mann liebt, den sie begehrt. Ich liebe dich als den Menschen, der du bist, stark, kämpferisch und doch sensibel, aber vor allen Dingen liebe ich dich als — ich werde es hass und unverblümt ausdrücken — meinen Zögling. Du und ich, wir beide werden noch vieles gemeinsam genießen, wir haben ein ganzes langes Leben lang Zeit dazu. Um das jedoch tun zu können, brauchen wir beide eine innere Festigung und Unabhängigkeit voneinander. Diesbezüglich kommt uns beiden die Trennung sehr entgegen. “„Du hast Recht, Mathilde. “ Als ich antwortete, fühlte ich mich nicht mehr unglücklich, reif und weise stattdessen, wenngleich eine gewisse Wehmut blieb. Von Kind an war mir klar gewesen, dass Mathilde keine Frau für mich zum Heiraten war. Damals wusste ich nicht, was sie eigentlich für mich war: ein Mutterersatz, eine gute Fee?„Du darfst mir zum Abschied noch einmal die Schuhe putzen. Aber zieh dir die Hosen aus. “So sonderbar, wie ihre Forderung klang, so selbstverständlich erfüllte ich sie. Die süße Erniedrigung erregte mich über alle Maßen, mein ganzer Körper war wie in Lust gebadet. Die Wünsche von früher ———————