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Dr. theol. h.c. Gerhard Wehr, geb. 1931 in Schweinfurt/Main. Nach langjähriger Tätigkeit in verschiedenen Bereichen der Diakonie und der Erwachsenenbildung, zuletzt als Lehrbeauftragter an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Rummelsberg/Nürnberg, arbeitet er als freier Schriftsteller in Schwarzenbruck bei Nürnberg. Ein Großteil seiner Werke zur neueren Religions- und Geistesgeschichte ist in mehreren europäischen und asiatischen Sprachen verbreitet.

Zum Buch

Aus dem umfangreichen Werk des Wittenberger Reformators hat Gerhard Wehr eine repräsentantive Auswahl von Texten zusammengestellt und mit Erläuterungen erschlossen.

Dazu gehören meditativ gehaltene Beiträge sowie Schriften zur christlichen Brautmystik, Texte aus Luthers Magnificat-Auslegung, aus seiner Freiheitsschrift und verwandten Abhandlungen.

Martin Luther (1483 – 1546), der Reformator und Bibelverdeutscher, ein Gründervater der deutschen Sprache auch ein christlicher Mystiker? - Wie immer man diese Frage beantworten will, fest steht, dass die von ihm ausgegangene religiöse Erneuerung ohne wirkkräftige Impulse aus der deutschen Mystik und ohne eigenes Erleben nicht zu denken ist. Ihm verdanken wir die Entdeckung der von ihm hoch eingeschätzten Theologia Deutsch. Die durch ihn proklamierte „Freiheit des Christenmenschen“ ist aus inneren Erfahrungen erwachsen, die zugleich am Anfang des Protestantismus stehen. Es fehlen aber auch nicht kritische Töne, da Luther das innere Wort nie unter Preisgabe des an das Wort der Schrift gebundene äußere Wort gelten ließ.

Martin Luther

Mystik und Freiheit des Christenmenschen

Martin Luther

Mystik und Freiheit des
Christenmenschen

Textauswahl und Kommentar
von Gerhard Wehr

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2011
Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0203-1

www.marixverlag.de

INHALT

I. Einleitung

1. Mystik im Protestantismus

2. Luthers Zugang zur Mystik

3. Luthers Einschätzung der Glaubensmystik

II. Die Texte

1. Die „Theologia deutsch“

2. Das Vaterunser geistlich beten

3. Zu den 95 Thesen

4. Meditation des Leidens Christi zur Selbsterkenntnis

5. „Magnificat“ – Der Lobgesang der Maria

6. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“

7. Luther gegen die „Spiritualisten“

8. Elemente der Brautmystik

9. Zeugnisse spiritueller Erfahrung und mystischer Theologie

10. Luthers meditatives Leben

III. Stimmen und Zeugnisse zu Martin Luther

IV. Zeittafel

Literatur

Benutzte Werkausgaben

Sekundärliteratur

I. EINLEITUNG

1. MYSTIK IM PROTESTANTISMUS

War Martin Luther ein Mystiker? Wie passt sein von spektakulären Ereignissen begleiteter reformatorischer Durchbruch zu einer nach innen gekehrten Spiritualität und Frömmigkeit? Warum hat sich der Allgemeinheit die Tatsache nicht oder nur wenig vermittelt, dass das epochale Werk des Wittenberger Reformators aus mystischer Ergriffenheit hervorgewachsen ist? Denn längst weiß die Luther-Forschung von der Bedeutung, die die mittelalterliche Mystik für den Erfurter und Wittenberger Augustinermönch erlangt hatte. Mystische Schriften waren es, die auf den jungen Luther so großen Eindruck gemacht haben, dass er seine Freunde und reformatorisch gesinnten Anhänger darauf aufmerksam gemacht hat. Und seine Empfehlung hat gewirkt!

Wer sich nun nach Eigenart und Bedeutung der Mystik im Protestantismus erkundigt, stößt alsbald auf einen Widerspruch, der durch ein momentanes, seit einigen Jahrzehnten zu beobachtendes Mystikinteresse innerhalb wie außerhalb der Kirche kaum wettgemacht wird. Der Widerspruch besteht darin, dass mystische Erfahrung von vielen bald mit unklarer Schwärmerei, bald mit einer dem Wesen der Reformation widerstreitenden Geisteshaltung gleichgesetzt wird. Weit verbreitete Skepsis, Desinteresse oder generelle Ablehnung resultieren daraus, zumal hierbei auf prominente Theologen und Kirchenhistoriker verwiesen werden kann. Demzufolge ist zunächst mit einem ernüchternden Befund zu rechnen. Abgesehen davon differieren die Vorstellungen davon, was unter mystischer Frömmigkeit zu verstehen ist, erheblich. Mit bloßen Definitionen ist kaum gedient. Weiter führen biografische Porträts Kundiger sowie deren auf Erfahrung gestützte Lebenszeugnisse. Doch zuvor eine kritische Bemerkung:

Die evangelische Theologie und Kirche ist offenbar mit einer nicht unerheblichen Hypothek belastet, die nicht leicht zu tilgen sein dürfte. Lässt man die im Laufe der kirchengeschichtlichen Epochen zu Tage getretenen spirituell-mystischen Rinnsale außer Acht1, die es auch im Protestantismus immer gegeben hat, so handelt es sich um ein spirituelles Defizit, wenn nicht gar um ein ebensolches Vakuum. Es besteht seit Jahrhunderten und dürfte, durch aufklärerisches Denken verstärkt, mit der Eigenart der reformatorischen Frömmigkeitspraxis zusammenhängen.

Hierfür einige Beispiele: Da ist etwa Adolf von Harnack (1851 – 1930), der als prominenter liberaler Theologe und Kirchenhistoriker an der Universität Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Das Wesen des Christentums“ in seinen Umrissen gezeichnet hat. Im Lehrbuch zur Dogmengeschichte dieses weithin gerühmten Protestanten liest man: „Die Mystik ist die katholische Frömmigkeit überhaupt, soweit diese nicht bloß kirchlicher Gehorsam, d.h. fides implicita, ist.“2 Ein Mystiker, der nicht Katholik wird, sei demzufolge bestenfalls „ein Dilettant“. Und Harnack fügt hinzu: „Die Mystik wird man niemals protestantisch machen können, ohne der Geschichte und dem Katholizismus ins Gesicht zu schlagen.“3 Harnack meinte im Übrigen, dass ein veräußerlichtes und vereinseitigtes Verständnis der lutherischen Rechtfertigungslehre die sogenannte „katholische Mystik“ gefördert und „das evangelische Lebensideal verdunkelt“ habe. Dass Harnack mit seiner negativen Bewertung der mystischen Erfahrung auf den Schultern anderer steht, etwa auf denen von Albrecht Ritschl im 19. Jahrhundert, und dass spätere Theologen, unter ihnen der Reformierte Karl Barth (1886 – 1968) sowie solche aus dem Luthertum, gefolgt sind, können wir hier beiseite lassen. Man fürchtete gar, es handle sich um einen „Abfall von Gott“, und dass man auf diese Weise eine egozentrierte, auf „Selbsterlösung“ ausgerichtete Menschengerechtigkeit zu etablieren versuche. Man meinte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die reformatorisch verstandene Rechtfertigung des Gottlosen als alleinige Tat Gottes gegenüber einer angeblich von Menschen gemachten Mystik verteidigen zu müssen.4 Der Erlanger Lutheraner Paul Althaus warnte bereits vor dem Gebrauch des Wortes „Mystik“ und schrieb (1924): „Die Mystik als selbständige religiöse Lebensform ist der Todfeind biblisch-reformatorischen Christentums und durch keine Synthese mit ihm auszugleichen.“5 In seiner Dogmatik charakterisiert er Mystik als „Aufhebung des personhaften Gegenübers von Gott und Mensch“. Vom Evangelium her gesehen stelle sie einen „Fluchtversuch vor der personhaften Wirklichkeit Gottes (dar) und aus der wahren Lage des Menschen vor ihm“6. Die mystische, somit die nach innen gewandte, Grundhaltung werde „durch Christus gerichtet und abgetan“. Es gelte nur das reformatorische Prinzip mit dem „sola gratia, sola fide“ (allein aus Gnaden, allein durch den Glauben). Alles andere sei widersinnige Zutat. In der Tat entspricht diese Position dem Ansatz Martin Luthers. Auf ihn meint man sich zu berufen, wenn man sich aus protestantischer Sicht skeptisch über die mystische Spiritualität äußert. Die Zahl ähnlicher Aburteilungen ließe sich vermehren.

Angesichts eines solchen Negativbefundes stellt sich die Frage, welche Chance die christliche Mystik im Protestantismus überhaupt gehabt hat, und zwar bereits in ihrer Anfangszeit, also etwa im ersten Jahrhundert nach dem sogenannten Thesenanschlag von 1517. Und muss man – um auf jenes Wort von Harnack anzuspielen – etwa die Mystik erst künstlich „protestantisch“ machen? Oder gehört nicht gerade sie vielmehr zum Wesensbestand des christlichen Glaubens überhaupt, und zwar unabhängig von allen konfessionellen Verschiedenheiten? Man denke nur an die reiche Tradition, die sich von der Urchristenheit, von Paulus und dem Johannesevangelium her über viele Jahrhunderte und kirchengeschichtliche Epochen hinweg erstreckt.7 Und nicht nur dies: Man nehme nur das berühmte Wort Karl Rahners: „… der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein …“8

Zu sprechen ist nun von Martin Luther (1483 – 1546) selbst. Nicht darum soll es gehen, den Wittenberger Reformator für eine bestimmte Frömmigkeitsform ausschließlich dingfest machen zu wollen oder als „Mystiker“ auszurufen. Aber außer Frage steht, dass Luther ohne wirkkräftige Impulse aus der mystischen Tradition gar nicht zu denken ist. Sie bestimmt seine gelebte individuelle Frömmigkeit, sein Gebetsleben, seine meditative Vergegenwärtigung der Christusbotschaft. Will man seine Glaubensart auf einen einfachen Nenner bringen, dann erinnert man sich seiner These: „Gebet, Meditation und [Bewährung in der] Anfechtung machen einen Theologen aus.“ (Oratio, meditatio et tentatio faciunt theologum). Sie begründen das geistliche Leben eines Christenmenschen. Davon wird noch zu sprechen sein.

Man erinnere sich: Luther, der aus Eisleben stammende anfängliche Jurastudent, hatte bereits während seines Studiums eine Lebenswende vollzogen.9 Es war ein Spontanereignis während eines heftigen Gewitters, das den letzten Anstoß dafür gab, dass der mit dem Todesproblem ringende junge Mann seinem Leben die entscheidende Wende gab. Es führt zum Entschluss, ein Augustiner-Eremit, also Mönch und Ordensmann, zu werden. In seinem Erfurter Mutterkloster wurde er in die geistliche Disziplin eingeführt, in Gebet und Meditation, nicht zuletzt in die cognitio Dei experimentalis, also in die auf Erfahrung gegründete Gotteserkenntnis. Diese Formulierung gilt als eine Standarddefinition dafür, was schon Jahrhunderte vor Luther unter christlicher Mystik verstanden worden ist. Insofern hat christlicher Glaube nicht etwa mit einem bloßen Für-wahr-Halten dogmatischer Aussagen zu tun, sondern mit innerer Erfahrung, die wiederum auf die ganze Lebenshaltung im Angesicht Gottes ausstrahlt. Mit anderen Worten: Unter Mystik lässt sich die lebendige, in die Tiefe der menschlichen Existenz eingreifende Erfahrung der Gottesgegenwart verstehen. Von daher gesehen hat Luther auch niemals aufgehört, „katholisch“ zu sein. Das heißt, er hat nie aufgehört, der einen allgemeinen Kirche des einen Jesus Christus anzugehören und seine Existenz auf ihn zu gründen.

Zum anderen gibt es das, was sich als die „Ökumene des Geistes“ bezeichnen lässt, die ebenfalls von keiner Konfession, auch nicht vom Christentum in seiner Gesamtheit ausschließlich in Anspruch genommen werden kann. Es handelt sich darum, dass der geistoffene Mensch mit all jenen innerlich verbunden ist, die in der einen oder anderen Religionsform durch die innere Stimme des Geistes angesprochen werden. Mystisch sensible Menschen, unter ihnen in den Tagen der Reformation beispielsweise Thomas Müntzer oder Sebastian Franck, setzten sich über die konfessionalistischen Pferche hinweg und wollten auch „Türken und Heiden“, also Muslime und andere Nichtchristen, dabei haben, wenn sie vom Leben im Geist Zeugnis ablegten. Das entsprach freilich einer erheblichen Erweiterung ihres Mystik-Verständnisses. Zurückblickend könnte man auch von der Bewegung der Gottesfreunde und Gottesfreundinnen sprechen, die in den Tagen von Johannes Tauler, Heinrich von Nördlingen, Christina Ebnerin und vielen anderen in einem regen Austausch gelebt haben. Von diesem älteren Zweig dieser Geistesart ist Luther nicht abzulösen. Auch wenn er Schriften Meister Eckharts wohl nicht kannte, so schätzte er die Predigten Taulers sehr! Thomas Müntzer und viele andere folgten hierin Luthers Empfehlung.

2. LUTHERS ZUGANG ZUR MYSTIK

Die Berührung mit der Mystik muss bei Luther schon verhältnismäßig früh eingesetzt haben, auch wenn sie erst in der Reife seines Lebens und theologischen Schaffens voll zum Tragen gekommen ist. Bereits während seiner kurzen Magdeburger Schulzeit (1497/98) kam es zu ersten Berührungen. Martins Lehrer waren in Magdeburg „Brüder vom gemeinsamen Leben“. Es handelte sich um Vertreter jener Devotio moderna (neue Frömmigkeit), die eine persönlich erfahrene und gelebte Religiosität betonten. Es ging um die Imitatio Christi10, um das große, die christliche Existenz bestimmende Thema Nachfolge Christi. Das ist auch der Titel der bis heute weit verbreiteten Erbauungsschrift, die dem Thomas a Kempis (gestorben 1471) zugeschrieben wird: „Daher sei unser höchstes Studium, uns in Jesu Leben zu versenken. Seine Lehre überragt ja alle Lehren der Heiligen, und die Gottes Geist haben, werden dort ‚verborgenes Manna‘ finden … Wer aber Christi Worte völlig verstehen und schmecken will, der muss danach trachten, sein ganzes Leben ihm nachzubilden [conformitas].“11

Aus demselben Kreis jener Devotio moderna stammt ein anderes Werk, das der junge Erfurter Augustiner hoch schätzte, nämlich das sogenannte Rosetum geistlicher Übungen des Mauburnus (Johannes Mombaer aus Brüssel). Auf diese Weise gewann Luther Einblick in die meditative Praxis vom ältesten Christentum bis zu den Mystikern und Mystikerinnen des Mittelalters. Und das kann nicht die einzige Quelle dieser Art gewesen sein. Wesentlich ist die Gebetspraxis als solche, die durch den gottesdienstlichen Vollzug Tag für Tag und von Gebetszeit zu Gebetszeit im Kloster geübt wird. Man sollte daher nicht vergessen, dass der Initiator der Reformation volle fünfzehn Jahre lang Mönch gewesen ist! Nun fragt es sich: Wie passen Mystik und reformatorische Erkenntnis bei Luther biografisch betrachtet zusammen? – Es ist der in die Tiefe der Gottesferne und der daraus sich ergebenden Verzweiflung hineingestürzte, mit der iustitia Dei, der Gerechtigkeit Gottes, ringende Christ, der keinen Ausweg findet. Dieser Situation gibt er Ausdruck in den Versen aus seinem Lied „Nun freut euch lieben Christen g’mein“:

„Die Angst mich zur Verzweiflung trieb,
dass nichts denn Sterben bei mir blieb /
zur Höllen musst ich sinken.“

Von seinem darin sich ausdrückenden Sündenbewusstsein gepeinigt, wendet sich der geängstigte Mönch an Johannes von Staupitz, den für ihn zuständigen Ordensoberen, der selbst durch mystische Erfahrung geprägt ist. Und wenn Luther rückblickend sagt, er habe seinen entscheidenden Erkenntnisgewinn, seinen Existenzgewinn als das Sein in Christus, allein ihm zu verdanken, dann wird deutlich, welche seelsorgerliche Hilfe er von dem älteren Mitbruder empfangen haben muss. Das konnte Luther nur deshalb bekennen, weil Johannes von Staupitz seinen jungen Ordensbruder auf Christus – solus Christus (allein Christus) – hingewiesen hat, sodass er sagen konnte: Allein Christus ist unsere Gerechtigkeit, und zwar nicht etwa in Gestalt einer unerfüllbaren Forderung religiöser Werke, die die mittelalterliche Kirche von jedem Einzelnen verlangt. Vielmehr ist es die bereits gegebene, als ein Geschenk zu empfangende unverdienbare Gnade Gottes, die das Heil verbürgt. Vereinfacht ausgedrückt und auf die neutestamentliche Quelle bezogen, heißt das: Es ist die Christus-Mystik des Apostels Paulus, die für den werdenden Reformator bestimmend wird, sodass er als Ergebnis seines religiösen Erkenntnisringens sein programmatisches sola fide (allein aus Glauben) formulieren kann.12

Zeitlich befinden wir uns in den Jahren zwischen Luthers Rom-Reise (1510/11) und seinem sogenannten Thesenanschlag (1517). Zum Doktor der Hl. Schrift (1512) promoviert, wird er Theologieprofessor in der neu gegründeten Universität des kursächsischen Städtchens Wittenberg. Zu seinen Lehrverpflichtungen gehören die großen exegetischen Vorlesungen über die Psalmen, den Römerbrief, den Galater- und Hebräerbrief. Darüber ist nicht zu vergessen, dass zur selben Zeit eine kleine anonyme Schrift in seine Hände gelangt, die Theologia Deutsch. Man führt sie auf einen Kustos der Deutschherren zu Sachsenhausen bei Frankfurt zurück, daher bisweilen auch Der Frankfurter genannt.13 Eine der ersten Publikationen des Reformators ist somit eine mystische Schrift deutscher Sprache! Das will mit Blick auf das ganze weitere Schaffen des Wittenberger Reformators bedacht sein. Denn er hat diese Theologia Deutsch als Erster – 1516 und in erweiterter Form 1518, also ein Jahr vor und ein Jahr nach Veröffentlichung seiner revolutionären 95 Thesen – herausgegeben. Der katholische Theologe Josef Bernhart bemerkt einmal: „Die junge Reformation fand in dem Büchlein, was sie brauchte: eine lebendig warme Frömmigkeit, die Theologie trieb nicht um der Theologie, sondern um der Frömmigkeit willen.“14 – Luther hat es ein „geistlich edles Büchlein“ genannt. Es handle von dem, was der alte und der neue Mensch sei, wie der alte Adam in uns sterben und Christus als der neue Adam in uns auferstehen soll. Es geht also um den mystischen Tod und um das geistliche Auferwecktwerden. Die beiden Vorworte, die der Wittenberger Augustiner als Herausgeber seinen Editionen vorangestellt hat, stellen eine einzige Rühmung dar. Denn darin heißt es: Von der Bibel und den Schriften des Kirchenvaters Augustinus abgesehen habe er bis dahin kein Buch in die Hand bekommen, daraus er mehr an Gotteserkenntnis geschöpft habe. Und es sei nur zu wünschen, dass noch mehr solcher Bücher veröffentlicht werden.

Man wird sich nicht damit aufhalten müssen, dass diese hohe Rühmung aus heutiger Sicht gewiss eine Überbewertung darstellt. Der Zeitpunkt und der Lebensaugenblick des mit der Gerechtigkeit Gottes ringenden Ordensmannes sind zu bedenken. Feststeht immerhin, dass die Theologia Deutschsola fideraptus