Cover

Über dieses Buch:

Sein Leben lang wurde Robert Eschbach von seinem älteren Stiefbruder Erich unterdrückt und gedemütigt. Doch nun erhält er die Chance, sich zu rächen: Erich, Besitzer einer großen Zeitung, plant, die krummen Geschäfte des Geschäftsmanns Alfred Mackenroth in einem großen Enthüllungsbericht aufzudecken. Der jedoch macht Robert ein Angebot: Wenn er den Bericht verhindert, wird er zum Partner gemacht. Robert willigt ein, doch dann läuft die Sache aus dem Ruder …

Als erste deutsche Autorin von Kriminalromanen hat Irene Rodrian Krimigeschichte geschrieben. Bei dotbooks erscheinen ihre Klassiker nun exklusiv im eBook.

Über die Autorin:

Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, erhielt für ihren Roman Tod in St. Pauli 1967 den begehrten Edgar-Wallace-Preis. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von mehreren Millionen und als Drehbuchautorin (Tatort, Ein Fall für Zwei) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München.

Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5 (Meines Bruders Mörderin, Im Bann des Tigers, Eisiges Schweigen und Ein letztes Lächeln) sowie die Reihe Krimi-Klassiker (Tod in St. Pauli, Bis morgen, Mörder und Finderlohn, weitere Titel sind in Vorbereitung).

Die Autorin im Internet: www.irenerodrian.com und www.llimona5.com

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Neuausgabe November 2013

Copyright © der Originalausgabe 1970 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

Titelbildabbildung: © FloKu. / photocase.com

ISBN 978-3-95520-417-4

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Irene Rodrian

Wer barfuß über Scherben geht

Kriminalroman

dotbooks.

Die Hauptpersonen

Erich Eschbach

kehrt vor anderer Leute Tür, obwohl er selber Dreck am Stecken hat. Beziehungsweise hatte.

Robert Eschbach

hat Angst vor seinem Bruder und leidet unter Robert Eschbach.

Herta Eschbach

lernt leiden, fast ohne zu klagen.

Alfred Mackenroth

ersetzt die fehlende weiße Weste durch zwei Leibwächter.

Kurt Eschbach

beobachtet einen Mord, bei dem das Opfer hinterher noch lacht.

Hanne Pilnik

liebt, wo andere hassen.

Dies ist ein Roman. Jede Ähnlichkeit der Handlung wie der Handelnden mit realen Ereignissen und Personen könnte nur auf einem Zufall beruhen.

iRo

1

Vermutlich war es doch Angst.

Die Aktenmappe war weder schwer noch besonders unhandlich, und es gab keinen erkennbaren Grund, sie ständig wie einen Säugling an sich zu pressen und überallhin mitzuschleppen. Man hätte sie zum Beispiel einfach auf die Deckplanken stellen können. Nicht das leiseste Lüftchen regte sich, der See war glatt wie eine grüne Glasscheibe, und noch dazu fuhr der Dampfer nur mit halber Kraft. Wie sollte die Mappe da wegrutschen?

Also Angst ... Robert stemmte ein Bein auf die untere Leiste der Reling und setzte die Tasche auf sein Knie. Nein, keine Angst. Aufmerksamkeit, Vorsicht; das traf es wohl eher. Schließlich war das Material in der Tasche Dynamit, wie man so schön sagt, Wenn Mackenroth und seine Leute ihn erwischten, bevor er das Zeug abliefern konnte, dann gute Nacht. Heute morgen war ihm von Starnberg aus ein Wagen gefolgt, Grauer Mercedes; Mackenroth natürlich. Robert grinste, als er daran dachte, wie er ihn abgehängt hatte. Kein Problem mit dem Porsche, Aber hier, auf diesem lahmen Kasten, eingeklemmt zwischen Touristen und Schulklassen, hatte man ja allen Grund, sich unbehaglich zu fühlen.

Er hörte hinter sich Schritte und fuhr hastig herum. Drei Mädchen in Miniröcken. Robert zog automatisch den Bauch ein, aber sie beachteten ihn gar nicht.

Alberne Gänse. Die drei verschwanden im Dampferrestaurant. Sowieso viel zu jung für mich. Hm? Achtzehn, wenn's hoch kommt. Fünfzehn Jahre jünger als ich, das ist mehr, als Herta älter ist. Robert begann zu schwitzen und zerrte an seiner Krawatte, Das Hemd klebte auf dem Rücken, und der Kragen seines Blazers kratzte ihn am Hals. Die ersten Möwen hatten den Dampfer entdeckt und umkreisten ihn mit heiseren Schreien.

So, meine Herrschaften, jetzt auf der linken Seite ... Die Stimme aus dem Lautsprecher räusperte sich: ... sehen Sie gleich die Stelle, an welcher der König Ludwig mit seinem Leibarzt ertrunken ist. Noch heute ist das grausige Geheimnis ...

Die Köpfe ruckten nach links, die Leute von der rechten Reling drängelten sich auf die Backbordseite hinüber. Robert wurde von zwei dicken Frauen und ihrer ebenso dicken Tochter fast über Bord gedrückt.

»Wo? Wo denn?«

Der Dampfer schien jetzt stillzustehen, das Ufer glitt auf ihn zu. Ein Segelboot wich im letzten Moment aus, irgend jemand lachte.

Wi ahr passing nau ä littl tschäppl. Wir passieren nun eine kleine Kapelle. Der Lautsprecher hustete. Luck ät ße bläck cross! Sehen Sie auf das schwarze Kreuz!

Heute ist Freitag. Robert rechnete an den Fingern zurück: Donnerstag, Mittwoch, Dienstag und Montag plus Wochenende. Theoretisch konnte heute schon eine Antwort dasein. Er nahm die Aktentasche hoch und schob sich an die leere Steuerbordreling hinüber. Wenn sie überhaupt an seiner Bewerbung interessiert waren und wenn sie mit ihm reden wollten, dann würde er es schon schaffen. Diesmal konnte Erich nicht dazwischenfunken.

Als er allein war, klemmte er die Mappe zwischen die Beine und steckte sich eine Zigarette an. Vielleicht ist Mackenroth schon mein letzter Auftrag ... Robert sah auf und bemerkte, daß er nicht allein war. Die dicke Tochter fand ihn anscheinend interessanter als den toten Ludwig.

Robert nahm die Tasche wieder hoch und schlenderte zum Vorderdeck hinüber. Im Vorbeigehen warf er einen Blick in die Restaurantfenster. Es war ja wohl kaum zu übersehen, daß er nicht zu diesem Sightseeing-Haufen gehörte.

Das dicke Mädchen folgte ihm hartnäckig.

Provinzkalb. Ganz so tief sind wir ja noch nicht gesunken ... Er sah auf die Uhr: Zwanzig vor eins.

Das war verdammt knapp. Die Zigarette schmeckte plötzlich nach Stroh. Robert schaute über die glasglatte Oberfläche des Sees zum Westufer hinüber. Erich hatte schon einmal einen Brief von ihm abgefangen. Sofort begann er wieder zu schwitzen. Das war das Neueste. Schweißausbrüche, wenn er nur an Erich dachte. Und das jeden Tag; aber man gewöhnt sich ja an alles. Den Burschen, der sich diesen Satz ausgedacht hat, möchte ich mal erwischen. Blödsinn. Es liegt nur am Wetter. Diese mörderische Hitze, und dann noch Föhn. Ich hätte gestern keinen Whisky mehr trinken sollen. Gin vertrage ich besser. Und dann diese idiotischen Cocktails ... Das dicke Mädchen starrte immer noch zu ihm herüber. Und ich? 33, Glatze, Bauch und Doppelkinn. Die blankpolierte Deckleiste der Reling glühte in der Mittagssonne. Robert ließ sie los und drehte sich um.

Das dicke Mädchen lächelte. Voller Selbstmitleid grinste er zurück.

Die drei Minirockmädchen kamen wieder aus dem Restaurant, hinter ihnen vier Jungen mit Schulmappen und Internatsblazern. Sie schubsten sich gegenseitig auf die Mädchen zu und grölten. Der vierte blieb zurück. Er war lang und dünn und hatte ein blasses Babygesicht. Robert sah sich selbst vor sechzehn oder siebzehn Jahren und nahm unwillkürlich seine Mappe nach Schülerart unter den Arm. Ich möchte wissen, wieso ich mir immer wieder diese Blazer kaufe und diese scheußlichen blau-roten Krawatten ... Das dicke Mädchen hatte sich näher zu ihm hingeschoben, und er vergrößerte den Abstand schnell wieder.

Ein weißhaariges Ehepaar quetschte sich zwischen ihnen hindurch. Der Mann hatte ein Fernglas umgehängt.

»Hier muß doch irgendwo das Haus sein, in dem so ein Mord ...« Er begann, das Ufer mit dem Glas abzusuchen. Segelboote vor langen Holzstegen, Bootshäuser, glattgeschorener Rasen, Zierbüsche, Linden, Sonnenschirme. Weiß oder gelb verputzte Villen, wilder Wein. Proper, sauber, zahlungsfähig.

Die Frau schob sich nach vorn. »Gib mir doch auch mal das Ding!«

Wir fahren jetzt an einem Schlößchen aus dem 17, Jahrhundert vorbei ... Der Lautsprecher knarzte: ... sehenswertes Stilunikum, seinerzeit vom Grafen ... bereits seit über 100 Jahren im Besitz der Familie Hanau ...

Robert beugte sich unwillkürlich vor und kniff die Augen zusammen. Kurts Segelboot lag abgedeckt am Ufer; auf dem T-Steg leuchtete etwas Gelbes, das aussah wie ein großes Badetuch oder eine zusammengefaltete Luftmatratze, und oben auf dem Ufer standen zwei Liegestühle und ein Klapptisch. Niemand war zu sehen, nicht einmal die Kinder, Es war zehn Minuten vor eins.

»Wohnt da nicht dieser Zeitungsfritze, dieser – na?« Der weißhaarige Mann lehnte sich mit seinem Feldstecher gefährlich weit über die Reling. »Ist doch mit einer Hanau verheiratet.«

»Wir legen gleich an ... Mittagessen.«

»Mir fällt doch sein Name nicht ein. SCHLÜSSEL heißt die Zeitung – so ein Blatt ... du weißt schon.«

»Sieh mal, Schwäne! Wie süß ...«

Blablabla. Robert ließ seine Zigarette ins Wasser fallen und beobachtete den weißen Stummel, der sich neben der Bordwand auf den Wellen drehte und dem Dampfer folgte, anstatt zurückzubleiben. Wäre natürlich viel interessanter: Dort sehen Sie das Haus, in dem die grausige Bluttat geschah ... Erich Eschbach, der Herausgeber der berüchtigten Sonntagszeitung DER SCHLÜSSEL brutal ermordet ...

Mein Gott, schön wär's ja. Er sah auf die Uhr, Fünf vor eins. Aus. Das schaffte er nicht mehr. Zu spät ... Ausgerechnet heute mußte die Zündung draufgehen.

Im gleichen Augenblick stoppten die Maschinen, der Dampfer glitt auf den Anlegesteg zu, rumpelte dagegen, lag endlich fest. Es war trotzdem zu spät.

Mord.

Mord?

Nein, nicht doch ... Mord! Nein – nur so ein kleiner Unglücksfall. Krampf beim Schwimmen. Gewitter bei einer Bootsfahrt, hohe Wellen ...

Robert rannte nach vorn zur Laufplanke; er schwitzte stärker, die Aktenmappe schlug gegen seine Beine. Er ging wieder langsamer. Völlig witzlos, Erich kann man nicht mit einem kleinen ›Unglücksfall‹ umbringen. Robert umklammerte den Griff der Aktentasche. Ich kann es nicht, verbesserte er sich. Das ist es; ich bin ganz einfach ein Versager. Ein Feigling. Ich habe Angst ... Mackenroth fiel ihm ein; er verzog den Mund. Ihm war übel. Die Hitze natürlich, der Hunger ... Zwei Minuten vor eins.

In Starnberg, auf dem Dampfersteg, war er sich sehr schlau vorgekommen. Wenn überhaupt, dann würde Mackenroth an der Bushaltestelle warten ... Jetzt war Robert nicht mehr so sicher. Ein Taxi! Warum habe ich kein Taxi genommen? Er versuchte, in der Touristenmenge ein bekanntes Gesicht zu entdecken.

Auf dem Anlegesteg drängten sich die neuen Fahrgäste, das Glöckchen läutete, die Ausflügler im Terrassencafé hoben ihre Gesichter aus Sahnetorten und Eisbechern.

Robert ging geradeaus auf die Seestraße zu. Das dicke Mädchen schaute ihm nach.

Ja, glotz nur. Er wandte sich nach links und blieb stehen.

Keine zehn Meter weiter parkte auf dem rechten Grünstreifen Mackenroths silbergrauer SL.

2

Mackenroth saß am Steuer. Robert sah seinen schweren, halslosen Kopf und den linken Arm, der auf die Tür gestützt war. Ein Mann saß seitlich hinter Mackenroth, und ein anderer stand gegen den Kotflügel gelehnt und rauchte ... Drei. Sie hatten ihn noch nicht gesehen.

Die Leute vom Dampfer, die nicht zum Strand oder in die Cafés wollten, hatten die Straße erreicht. Die drei Minirockmädchen liefen an Robert vorbei, dann die Jungen, die das Interesse an den Mädchen verloren hatten und eine leere Blechschachtel vor sich herkickten. Robert drehte sich langsam um und ging zurück,

Los, renn schon! Quatsch. Ganz ruhig bleiben; das ist die einzige Möglichkeit, nicht aufzufallen. Schneller – sie suchen dich schon! Nicht so schnell, wenn ich laufe , ... Die haben mich doch längst gesehen. Eine Falle? Er ging schneller, noch schneller, dann lief er. Er klemmte die Mappe fest unter den rechten Arm und ruderte mit dem linken durch die Luft, um das Gleichgewicht zu halten. Plötzlich tauchten dicht vor ihm zwei alte Männer auf, er bremste, seine glatten Ledersohlen rutschten auf dem Kies, sein Arm ruderte heftiger. Die beiden Alten sprangen aufgescheucht zur Seite und brabbelten böse hinter ihm her. Eine Familie mit vier kleinen Kindern war mit einmal um ihn herum, er blieb aufatmend stehen und sah sich um.

Sie waren ihm nicht gefolgt.

Robert ging zum Uferweg hinunter. Auf dem Platz vor dem Dampfersteg standen die beiden dicken Frauen mit dem dicken Mädchen. Das Mädchen lächelte, als es ihn sah; manche geben nie auf ... So ein Hund, dieser Mackenroth, dachte er mit einer Mischung aus Neid und Hilflosigkeit.

Der Uferweg war hier schnurgerade und übersichtlich wie ein Tennisplatz. Robert wagte nicht, ihn zu benützen. Er kletterte die Böschung zum öffentlichen Badestrand hinunter, sprang über eine dicke Wurzel auf den Kies und wandte sich nach rechts.

Die Luftmatratzen lagen dicht bei dicht. Wasserbälle, bleiche Bäuche, zwischendurch ein krebsroter Sonnenbrand. Ein Federball zischte dicht an seinem Ohr vorbei, ein Mädchen kicherte. Er versuchte, schneller zu gehen, aber die Kieselsteine waren spitz und glatt, und die freien Streifen zwischen den Decken und Handtüchern kaum meterbreit. Ein kahlköpfiger Opa ließ sich prustend ins Wasser fallen und seufzte zufrieden auf. Robert riß an seinem Hemdkragen und setzte sich auf einen Steinbrocken.

Noch durch das Wäldchen und über die Mauer, dann hatte er es geschafft. Was würde Mackenroth tun, wenn er sah, daß Robert nicht kam? Einen der Männer zum Uferweg schicken? Robert starrte auf die Schlehenhecke, die vom Uferweg bis zum Wasser hinunter reichte. Zu dicht, um hindurchzukriechen. Robert zog die Schuhe aus, die Perlonsocken, stopfte sie in die Schuhe und rollte die Hosenbeine hoch. Als er ins Wasser stakste, rief ihm der Opa etwas zu, Robert verstand ›Flaschenscherben‹ und nickte zurück.

Das Wasser kam ihm kalt vor, und seine nackten Füße fanden kaum Halt auf den glitschigen Steinen. Eine dünne Moosschicht färbte alles grün und machte es unmöglich, unter der schimmernden Wasseroberfläche etwas zu erkennen ... Glasscherben hatte der Alte gesagt ... Robert hielt die Mappe in einer Hand, die Schuhe mit den Socken in der anderen, und tastete sich vorsichtig weiter, am Ufer entlang auf die andere Seite der Hecke. Seine Fußsohlen waren nicht ans Barfußlaufen gewöhnt, und seine Wut auf Erich, auf Mackenroth und auf seine eigene Hilflosigkeit schwoll an wie ein Gasballon in der Sonne. Als er schon über die Hälfte geschafft hatte, fing sein linkes Hosenbein an zu rutschen; er versuchte, es mit einer Hand festzuhalten und hätte beinahe einen Schuh verloren.

»Mist, verfluchter!«

Ein Pärchen, das auf einer Luftmatratze vorbeizog, schaute interessiert herüber, Robert fluchte leise weiter. Sicher war es jetzt schon nach eins. Er watete zum Ufer hin. In letzter Sekunde rutschte das Hosenbein endgültig und saugte sich mit Wasser voll. Robert ging schneller, stolperte, fing sich und kletterte über die Böschung zum Wäldchen hinauf. Oben ließ er die Mappe und die Schuhe ins Gras fallen und hob den Arm, um nach der Uhr zu sehen.

»Hallo«, sagte Mackenroth, »ziemlich warm heute, wie?«

Er saß auf dem Stamm einer Krüppelkiefer, der fast parallel zum Boden lag und von kletternden Kindern und ruhebedürftigen Liebespaaren blank gewetzt war. Er war so niedrig, daß Mackenroth bequem darauf sitzen konnte, die kurzen Beine übereinandergeschlagen, die Bügelfalten seines hellgrauen Sommeranzuges sorgfältig zurechtgezupft, eine Hand aufgestützt und den Bauch nicht wie sonst unter dem Jackett verborgen, sondern angriffslustig vorgewölbt. Überlegen. Behäbig und immer überlegen.

»Warum stelzen Sie da rum wie ein Storch im Salat?« ?«  erkundigte sich Mackenroth.

»Scherben«, murmelte Robert. »Da sollen Scherben im Wasser ...« Mackenroth lachte. »Wer barfuß über Scherben geht, ist selber dran schuld. Sollte man vermeiden. Auch im Geschäftsleben.«

Robert schwieg. Er wollte nach der Mappe schauen, aber er konnte seine Augen nicht von dem dunkelroten Schädel abwenden und von dem feisten Stiernacken, der in zwei Falten über den Kragen quoll; man konnte es sogar von vorn sehen. Mackenroth wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn und den Nacken und beobachtete ihn.

Die anderen, dachte Robert, wo sind die anderen? Er ist doch nicht allein hier ... Es war still. Er bückte sich nach der Mappe.

»Liegen lassen!«

Die Stimme kam von hinten. Robert sah über die Schulter zurück, ohne sich aufzurichten. Jetzt, aus der Nähe, erkannte er die beiden Männer; er hatte sie schon öfter gesehen. Der eine war Mackenroths Baggerführer, der andere sein Polier, auf dem Papier jedenfalls. Hubert Beck und Max Lemparter. Arbeitshosen, karierte Hemden, Mörtelstaub, sonnenverbrannte Haut und Muskeln ... Es stimmte also. Robert fielen die Gerüchte ein, die er über Mackenroth und seine schlagfreudigen Baubullen gehört hatte. Wer Mackenroth in die Quere kam, wurde fertiggemacht. Einfaches Erfolgsrezept: Body-Guard, der Markenartikel aus Amerika für den Manager von heute. Beseitigt lästige Störenfriede wie aufmuckende Arbeiter, Konkurrenten oder Journalisten ... Roberts Hand bewegte sich unabhängig von seinen Gedanken, öffnete sich und schloß sich über dem Taschengriff.

»Du sollst das liegen lassen!«  wiederholte Hubert laut.

»Seit wann duzen wir uns?« Robert starrte auf sein nasses Hosenbein und die nackten Zehen. Keine 30 Zentimenter weiter die massiven Lederstiefel von Max, unförmig breit durch die stählerne Schutzkappe.

»Er hat recht«, sagte Mackenroth friedlich. »Höflichkeit hat noch keinem geschadet.«

Robert richtete sich auf, die Mappe fest in der Hand. Eine Wespe umkreiste seinen Knöchel. Die Schuhe lagen außer Reichweite.

Max machte einen Schritt auf Robert zu. »Her mit der Mappe!«

Robert wich zurück. Die Wespe folgte ihm. »Was haben Sie vor, Mackenroth?« Er trat nach der Wespe, was sie nur noch wütender machte.

»Ich will sehen, was da drin ist.« Mackenroth wedelte mit dem Taschentuch in Richtung Aktenmappe. »Wenn es mich nichts angeht, bekommen Sie's zurück.« Er machte eine Pause und sah Robert an. »Sie haben mich heute morgen abgehängt, aber in Fürstenried hatte ich Sie schon wieder. Sie waren auf dem Katasteramt und bei der Baubehörde. Was wollten Sie da?«

Die ganze Zeit, dachte Robert. Er war die ganze Zeit hinter mir her, sogar in München. Er schluckte.

»Was ist mit Ihrem Wagen los? Etwas Ernstes?« Mackenroth sprach Schriftdeutsch, Worte mit überbetonten Endsilben sorgsam aneinandergereiht. Er gab sich Mühe, den bayerischen Satzbau zu vermeiden. »Bei der Werkstatt hätte ich Sie schnappen können. Aber es waren mir zuviel Leute da.«

»Ich bin doch nur der Laufbursche ...« Robert zwang sich, den Fuß still zu halten, und die Wespe verzog sich irritiert. »Weshalb wenden Sie sich nicht an meinen Bruder?«

»Ich mag ihn nicht. Er ist hinterhältig.« Mackenroth schneuzte sich und steckte das Taschentuch weg. »Es war dumm von Ihnen, mit dem Dampfer zu fahren. So unbeweglich. Meine Tochter hat Sie beobachtet.«

»Das war Ihre ...« Robert dachte an das dicke Mädchen und unterdrückte ein Grinsen.

»Ganz recht, meine Tochter. Und Ihre Familie möchte ich nicht geschenkt! Stimmt es, daß Ihr Bruder verrückt spielt, wenn einer auch nur zwei Sekunden zu spät kommt?«

Robert zwang sich, nicht auf die Uhr zu sehen, und schüttelte den Kopf. »Alles nur Gerede. Ich hab's eilig, weiter nichts.«

»Ich auch.« Mackenroth streckte eine Hand aus. Am Mittelfinger blinkte Gold, die Nägel waren manikürt. Trotzdem blieb es eine Maurerhand. »Geben Sie die Mappe her!«

»Nein.« Hat das jetzt zittrig geklungen? Robert umklammerte die Tasche fester, Max und Hubert standen hinter ihm und sahen abwartend zu Mackenroth ... Diese idiotischen Fernsehkrimis!

»Sehen Sie, Eschbach ...« Mackenroth zog die Hand zurück und sah sie interessiert an ... »ich hab mich von unten raufgearbeitet ...«

»Gott, wie rührend!«

»Aber es stimmt.« Mackenroths Stimme klang unerwartet hoch. »Ich bin nur ein Geschäftsmann, aber ich habe es geschafft. Ich bin oben, und da will ich auch bleiben. Schon wegen meiner Tochter.«

»Hören Sie auf – gleich fang ich an zu weinen!«

»Ich arbeite ganz schön; das Baugeschäft ist eine harte Branche. Da bleibt keine Zeit für andere Sachen. Ich hab mich bis heute nie um Ihre Zeitung gekümmert, Zeitungen – na! Eine wie die andere ... Aber wenn es gegen mich geht, ist das etwas anderes.«

»Es ist Erichs Zeitung. Ich mache nur die Recherchen.«

»Das weiß ich. Ich hab da ein bißchen rumgehört. Man hat mir gesagt, daß Sie sogar schon gegen ihn gearbeitet haben. In dieser Abtreibungsgeschichte, oder beim Erpressungsfall Münster.«

»Das war etwas anderes. Erich spielt sich immer als Moralapostel auf, nur um irgendwo rumschnüffeln zu können. Das ist nicht mein Fall. Aber Ihre Geschäfte sind ...« Robert merkte, daß seine Stimme schwankte, und machte eine ausholende Handbewegung,

»Es geht also um meine Geschäfte«, stellte Mackenroth zufrieden fest. »Er will mich um jeden Preis reinlegen, was? Immer noch die alte Geschichte, ja? Weil ich früher mal mit Herta, und so?« Markiges Männerlachen. »Beim letztenmal hat es ja leider nicht geklappt – hat keinen interessiert, daß ich angeblich was mit meiner Sekretärin hatte. Was ist es diesmal?« Er deutete auf die Mappe.

Robert grinste matt: »Wer barfuß über Scherben geht ...«

»Sehr witzig!« Mackenroth warf Hubert und Max einen kurzen Blick zu. »Sie warten nur auf einen Wink«, warnte er leise. »Sind Hitzköpfe, die beiden. Raufen gern.«

Wenn ich wenigstens die Schuhe anhätte. Es muß ja schon auf halb zwei gehen ... Max und Hubert kamen langsam auf ihn zu. Robert machte den Mund auf, um etwas zu sagen. Nein! Kein Ton. Die Mappe in seiner Hand fühlte sich rund an. Leder. Wie ein Fußball. Sie hatten weiße Turnhosen an und die blauen Hemden mit dem Internatsemblem. Gib schon her, sagten sie, du Flasche. Robert biß die Zähne zusammen und hielt den Ball fest. Sie lachten. Die zornige Ameise! Du kannst ja mitspielen, wenn wir auf Eigentore trainieren. Zwei von ihnen kamen auf ihn zu, die anderen bildeten einen Schutzkreis gegen Lehrerblicke. Los, zeigt's ihm! Vorsicht, die Ameise wird gefährlich! Sie verprügelten ihn. Robert ließ den Ball nicht los und hatte keine Hand frei, um sich zu wehren. Sie hätten ihn in jedem Fall verprügelt. Wie immer, bis auf zweimal. Ein Junge hatte danach neue Zähne bekommen, den anderen hatten sie ... Jähzorn. Ein Außenseiter. Erich hatte lange mit dem Direx ... Jähzorn. Ich muß wütend werden. Er sah die Hand von Max, die sich nach dem Ball ... nach der Tasche ausstreckte. Robert sprang zurück, stolperte über seinen Schuh und fiel gegen Hubert. Der Schlag von Max erreichte ihn, aber er war schwach. Robert schlug zurück, ungezielt, wie ein zorniges Kind, seine Fingerknöchel brannten. Max lachte. Robert sah Huberts Faust, spürte den Schmerz und krümmte sich.

Vom See her kamen die Rufe der Schwimmer, Plätschern, Gelächter. Hier oben war es ruhig. Ich muß zwischen ihnen durchkommen. Robert warf sich nach vorn, die Handkante von Max traf ihn am Oberarm, die Muskeln zogen sich zusammen und wollten die Finger der Hand auseinanderzwingen. Aber er hielt die Mappe fest.

Mackenroth sagte irgend etwas. Robert verstand nicht, was es war. Er kümmerte sich auch nicht darum. Er drehte sich im Kreis, die Mappe beschrieb einen Bogen in der Luft. Sie hatte kleine Metallbeschläge am Boden. Das Gesicht von Max. Hubert. Huberts Arm fuhr hoch, geriet in die Bahn der Mappe. Auf seiner braunen Haut erschien ein blutiger Kratzer. Robert wirbelte herum, kam aus dem Takt und stürzte fast. Max griff nach der Mappe; Robert zog sie an sich und duckte sich unter Huberts Faust, aber er war nicht schnell genug, und die Faust von Max traf ihn ungedeckt. Der Schmerz blendete ihn. Schlag doch zurück! Schlag zurück! Robert preßte die Mappe an die Brust, holte blind aus, warf sich auf Max und trat auf eine Distel.

»Aah, verflucht!« Er riß das Bein hoch und schleuderte die Mappe wütend nach Mackenroth. »Da haben Sie den Kram!«

Die Mappe streifte Mackenroth am Ohr und fiel hinter den Baumstamm. Mackenroth rutschte ein Stück und hob sie auf. Hubert und Max sahen etwas enttäuscht auf Robert, der sich auf den Boden hockte und seinen Fuß untersuchte.

Mach doch deinen Mist allein ... Vorsichtig holte er zwei Stacheln aus dem großen Zeh. Immer ich, aber auch immer! Ich müßte ja verrückt sein – mich für den Idioten auch noch verprügeln lassen! Er fand noch einen winzigen Stachel. Heldentum nach Ladenschluß? Blödsinn! Außerdem gibt's sowieso Krach: halb zwei ... Er streifte die Socken über, schlüpfte in die Schuhe und bewegte die Zehen. Er schien keinen Stachel übersehen zu haben.

»Sauerei!« Mackenroth hatte die Papiere vor sich im Gras ausgebreitet. »Was bezwecken Sie mit dem Zeug? Wollen Sie's etwa so darstellen, als ob meine Firma falsche Kalkulationen gemacht hätte, um Aufträge zu kriegen?«

Robert sah, daß Mackenroths Ohr leicht anschwoll. Er stand auf und rollte das rechte Hosenbein herunter. Das linke war noch feucht ... Die Bügelfalte ist hin.

»Und das hier? Wollen Sie's vielleicht so drehen, als hätte ich mit Vorsatz minderwertiges Material benützt?«

Das war Blut. Eindeutig, an Mackenroths Ohrläppchen war Blut ... »Sie wissen genau, daß alles stimmt!« Robert reckte sich. »So, und jetzt geben Sie's wieder her.«

»Fälschungen!« Mackenroth stopfte die Papiere wieder in die Mappe. »Alles Fälschungen ... Man weiß ja, wie ihr Zeitungsschmierer arbeitet!«

»Sie können ja gegen die Zeitung prozessieren«, schlug Robert vor. Verdammt, ich hätte doch wegrennen sollen; wenn ich nur nicht ...

Mackenroth stand plötzlich auf. Er fixierte Robert so lange, bis Robert wegsah.

»Hören wir mit dem Versteckspiel auf. Das Zeug hier darf nicht veröffentlicht werden.«

Robert tastete in seinen Taschen nach Zigaretten. Irgend etwas drückte ihn am Fuß. Mackenroth sah ihn immer noch an. Seine kleinen Augen lagen zwischen Fettpolstern eingebettet wie Glasmurmeln in einem Sandhäufchen.

»Sie haben ja ganz schön die Hose voll«, stellte Mackenroth fest. »Er ist ein gemeines Aas, stimmt's? Und er hat das Geld. Und wer zahlt, schafft an ... Wieso sind Sie nicht schon längst abgehauen?« Er stand auf, zog ein Zigarettenetui aus der Tasche, ließ es aufschnappen und hielt es Robert hin. Massiv Gold, was sonst.

Robert nahm sich automatisch eine Zigarette. Max gab Mackenroth Feuer, dann Robert.

»Tja ...« Mackenroth setzte sich wieder hin, diesmal sprungbereit auf die Kante, die Mappe dicht neben sich. »Der Luxus, wie? Schloß am See, Porsche, Freizeit und ...« Sein Mund öffnete sich wie ein Hühnerpopo, stieß einen Rauchring aus und zeigte eine Reihe heller Zähne ... »und sonst noch so mancherlei.«

Herta. Robert lutschte an seiner Zigarette. Er kann nur Herta meinen. Was weiß er noch alles?

»Sie sagen ja gar nichts, Eschbach. Wissen Sie, ich habe wirklich Verständnis für Sie. Wir könnten zusammenarbeiten.«

»Geben Sie die Mappe zurück!« Robert warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus.

»Unter einer Bedingung.« Mackenroth spielte mit dem Messingschloß der Mappe. »Das Zeug hier drin ist nicht einmalig. Sie können jederzeit neue Fotokopien bekommen. Wenn ich die Mappe behalte, gewinne ich nur ein paar Tage, aber ich bringe Sie in Schwierigkeiten, stimmt 's?«

»Einen Tag höchstens!« Roberts Stimme war etwas zu laut.

»Mehr als drei Tage. Heute ist Freitag. Ihre Nummer ist schon ausgeliefert. Ich habe fast eine Woche Zeit, um etwas zu unternehmen. Ich gebe Ihnen die Mappe zurück, wenn Sie die Materiallisten herausnehmen. Nur die Listen. Sagen Sie einfach, Sie kriegen sie erst am Montag ... ja, Montag. Das geht.«

Robert wartete.

»Bis Montag. Ich verlasse mich auf Ihr Wort. Einverstanden?«

»Warum?« Robert räusperte sich. »Warum machen Sie das?«

»Um Ihnen einen Gefallen zu tun.« Treuherzig: »Um einen Partner in der Höhle des Löwen zu haben.« Mackenroth holte das Taschentuch hervor, tupfte behutsam sein Ohr ab und betrachtete aufmerksam den kleinen Blutfleck, ehe er das Tuch wieder wegsteckte. »Na?«

Robert dachte an Erich. »Gut, ich mache mit.«

Mackenroth ließ das Schloß zuschnappen und gab ihm die Mappe. »Auf Wiedersehen. Und schönen Gruß zu Hause.«

Robert nahm die Tasche und ging zum Strand hinunter, ohne sich umzusehen. Fünf nach halb zwei. Er quetschte sich durch die Büsche bis zur Parkmauer. Natürlich bekommt Erich die Mappe so, wie sie ist. Ich müßte ja blöd sein und die Listen wegnehmen. Erich würde sofort bei der Baubehörde anrufen und nachfragen, ob ich ...

Er blieb mit einem Ruck stehen.

Das weiß Mackenroth doch genausogut wie ich. Er kennt Erich. Er kann nicht im Traum annehmen, daß ich mitspiele ... Warum hat er mir die Mappe zurückgegeben? Das ist doch irgendeine Falle, ein Plan! Robert schluckte; sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Da ist doch was faul. Oder ... Ob er einfach einen Teil des Materials herausgenommen hat?

Robert setzte die Mappe auf den Boden, öffnete sie, kramte in den Papieren.

Es fehlte nichts.

3

Robert zog sich mit beiden Händen an der Mauer hoch, schwang erst ein Bein, dann das andere hinüber und ließ sich hinunterfallen. Er ging am Strand entlang auf das Bootshaus zu. Die Mappe trug er jetzt lässig in der rechten Hand und versetzte ihr von Zeit zu Zeit einen Stoß mit dem Knie. Mach doch deinen Dreck allein! Wenn du schon unbedingt den großen Mackenroth aufs Kreuz legen mußt, dann schlag dich auch gefälligst selber mit ihm rum. Ha, die beiden würde ich dir gönnen: Hubert und Max ... Ich kündige jedenfalls. Ah, du kannst mich mal. Der Porsche, der Porsche! Steck dir den Porsche doch sonstwohin. Lieber arbeite ich irgendwo als Hilfsarbeiter als in deinem Sklavenloch ... Dankbarkeit? Wofür denn? Daß du mich in ein Internat gesteckt hast, bis ich alt genug war, den Laufburschen für dich zu spielen? Na und? Willst du mal hören, was die Leute über dich sagen? Du bist ja schon ein klinischer Fall! Altersstarrsinn nennt man so was. Bißchen früh vielleicht bei dir, aber – na ja.

Er hatte das Bootshaus erreicht und ging am Steg vorbei. Das gelbe Handtuch, oder was immer das war, lag noch dort. Normalerweise konnte man von hier aus schon den Lärm der Druckerei hören, aber jetzt war es ruhig. Freitag.

Kurze Wellen glucksten gegen die vermoosten Holzpfosten, schoben sich über den weißen Kies und hinterließen eine schaumige Kette, die eingesickert war, noch bevor die nächste Welle ankam.

Robert nahm die Tasche in die andere Hand und stieg langsam zum Haus hinauf. Das hohe Gras streifte Blütenstaub an seinen Hosenbeinen ab; es roch nach Geißblatt und Kohlrouladen.

Das Gebäude war ein schwarzgrauer Steinquader, rundum in wilden Wein verpackt, mit vier klobigen Türmchen an den Ecken, schießschartenschmalen Fenstern und einer niedrigen Veranda in der Mitte. Schlößchen? Eine Burg war das, eine Festung. Einmal im Jahr sah es schön aus, im Oktober, wenn sich die Weinblätter blutrot färbten.

Pyromane könnte man werden. Roberts Phantasie setzte sich wieder einmal bei der Vorstellung fest, daß der ganze Klotz mitsamt der Druckerei und allem Drum und Dran verbrannte. Ein riesiges Freudenfeuer, Erich tot, und er frei.

Beim Gedanken an Herta spürte er ein leichtes Unbehagen; wie immer in der letzten Zeit verdrängte er sie schnell wieder aus seinem Zukunftsbild. Neue Einstellung: Robert Eschbach, unser Auslandskorrespondent, berichtet aus Cannes. Ein neuer, verjüngter und schlanker Robert erscheint braungebrannt – selbst auf den Schwarzweißbildschirmen ist der Kontrast gegen das weiße Oberhemd gut zu erkennen – auf der Mattscheibe und interviewt Sophia Loren. Oder Antonioni. Premierenfeier, Freunde, Freundinnen, der neue Targa ... Der Film reißt, als er das Haus erreicht.

Noch immer keiner zu sehen. Natürlich sitzen sie alle längst im Eßzimmer, Erich macht eine gemeine Bemerkung über Robert, die Flasche; superwitzig. Herta starrt verlegen in ihren Teller, die Pilnik wird rot, Kurt kichert boshaft ...

Im gleichen Augenblick entdeckte er Kurt.

Er hing in einem der ausgefransten Korbsessel, die Beine über die Armlehnen gehakt, den Kopf halb hinter einer Motorzeitschrift verborgen. Nur ein Büschel sonnengebleichter Haare war sichtbar, zwei vorstehende graue Augen, die mit einem Blick die Aktenmappe, die staubigen Schuhe und das feuchte Hosenbein erfaßten. Dann kamen noch eine scharf gebogene Nase und ein kaugummikauender Mund dazu.

»Es ist bereits dreizehn Uhr zwoundvierzig!« Kurts krächzende Jungenstimme ahmte Erich täuschend ähnlich nach. Er kicherte und fuhr normal fort: »Kannst abschalten, Onkelchen, der Alte ist noch nicht da.«

»Noch nicht da?«  wiederholte Robert verständnislos. Die Erleichterung überdeckte alles. Auch die Abneigung gegen diese verkleinerte Ausgabe von Erich. »Wieso ist er noch nicht da?«

»Woher soll ich das wissen?« Der Kaugummi erschien hellrosa zwischen den Vorderzähnen, blähte sich zu einem kleinen Bällchen und platzte. »Wo ist deine Karre? Im Pfandhaus?« Kurt verschwand hinter seiner Zeitung, ohne auf eine Antwort zu warten.