9783863965860_frontcover_red.jpg

AMY HARMON

Unser Himmel in tausend Farben

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Corinna Wieja

Zu diesem Buch

Georgia kennt Moses, obwohl sie ihm noch nie begegnet ist. Sie kennt seine Geschichte: Als Baby wurde er von seiner Mutter in einem Waschsalon ausgesetzt. Als Kind wollte ihn niemand haben, und er wurde von einem Verwandten zum nächsten abgeschoben. Als Teenager machte er nichts als Ärger. Als Moses zu seiner Großmutter zieht, in das Haus neben der Ranch von Georgias Familie, warnen ihre Eltern sie vor dem geheimnisvollen Jungen, um den sich so viele Gerüchte ranken. Doch Georgia ist siebzehn und kann Moses nicht ignorieren, selbst wenn sie es noch so sehr versucht. Er ist anders, aber auch aufregend, exotisch und wunderschön. Noch nie hat ein Mann solche Gefühle in ihr hervorgerufen. Obwohl Georgia spürt, dass sie mit dem Feuer spielt und Moses ein dunkles Geheimnis verbirgt, lässt sie sich auf ihn ein und verliebt sich rettungs los, Hals über Kopf in ihn. Doch dann geschieht etwas, das niemand hätte vorhersagen können. Etwas, das alles verändert und die beiden voneinander trennt. Und als sie sich sieben Jahre später wieder gegenüberstehen, älter und reifer, muss Georgia sich fragen, ob sie damals die richtige Entscheidung getroffen hat …

Für Mary Sutorius, meine Nana,
der es gefallen hätte,
dass ich Autorin geworden bin.

PROLOG

Die ersten Worte einer jeden Geschichte sind immer die schwierigsten. Es ist fast so, als verpflichte man sich durch das Finden und Aufschreiben der ersten Sätze, die Sache auch durchzuziehen. Als ob man, wenn man erst mal angefangen hat, alles auch beenden müsste. Aber wie soll man etwas beenden, das kein Ende hat? Diese Geschichte handelt von endloser, ewiger Liebe … allerdings hat es eine Weile gedauert, bis ich so weit war.

Wenn ich dir gleich von vornherein sage, dass ich ihn verloren habe, wirst du es sicher leichter ertragen können. Du weißt, was auf dich zukommt, und es wird schmerzlich sein. Du wirst trotzdem dieses Ziehen in deiner Brust und ein mulmiges Gefühl im Magen verspüren. Aber immerhin weißt du Bescheid und kannst dich darauf vorbereiten. Und das ist mein Geschenk an dich. Mir hat man diesen Gefallen nicht getan. Ich war nicht darauf vorbereitet.

Und nachdem er fort war? Da wurde es schlimmer statt besser. Es wurde schwieriger, den Tag zu überstehen, nicht leichter. Das Bedauern war ebenso intensiv, der Kummer ebenso herzzerreißend, die Aussicht auf die endlos langen Tage, die vor mir lagen – Tage ohne ihn –, war nur schwer zu ertragen. Seit ich mir bewusst darüber bin, dass mir mehr als das nicht geblieben ist, würde ich ehrlich gesagt nur zu gern alles über mich ergehen lassen. Alles, nur nicht das. Aber das habe ich nun mal bekommen. Und ich war nicht darauf vorbereitet.

Ich kann dir nicht beschreiben, wie es sich angefühlt hat. Wie es sich immer noch anfühlt. Es geht einfach nicht. Worte erscheinen mir billig, und sie klingen hohl in meinen Ohren. Sie lassen alles, was ich sage, alles, was ich fühle, wie einen kitschigen Liebesroman voller blumiger Phrasen wirken, der Mitleidstränen und eine unmittelbare Reaktion hervorrufen soll. Eine Reaktion, die nichts mit der Realität zu tun hat, sondern nur auf oberflächlichen Gefühlen gründet, die man mit dem Zuschlagen des Buchs sofort wieder abschalten kann. Man wischt sich über die Augen, stößt ein wohliges Seufzen aus und denkt sich, dass es ja bloß eine Geschichte ist. Und zum Glück nicht deine Geschichte. Aber in diesem Fall ist das anders.

Denn es ist meine Geschichte. Und ich war nicht darauf vorbereitet.

TEIL 1

Vorher

1

Georgia

Man fand Moses in ein Handtuch gewickelt in einem Wäschekorb im Quick Wash. Er war erst wenige Stunden alt und dem Tode nahe. Eine Frau im Waschsalon hörte sein Weinen, hob ihn hoch und wärmte ihn an sich gedrückt unter ihrem Mantel, bis sie Hilfe organisieren konnte. Sie wusste nicht, wer seine Mutter war und ob sie zurückkommen würde, aber ihr war klar, dass er ungewollt war und im Sterben lag und dass alles zu spät sein würde, wenn sie ihn nicht schleunigst in ein Krankenhaus brachte.

Man bezeichnete ihn als »Crackbaby«. Meine Mutter hat mir erklärt, dass so Babys genannt werden, die mit einer Kokainsucht zur Welt kommen, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft Drogen genommen haben. Crackbabys sind gewöhnlich kleiner als andere Babys, denn ihre Mütter sind krank und sie kommen meist zu früh auf die Welt. Das Kokain verändert den Stoffwechsel im Gehirn, und sie leiden unter Krankheiten wie ADHS und Impulskontrollstörungen. Mitunter bekommen sie Krampfanfälle oder haben psychische Störungen. Manchmal haben sie Halluzinationen oder eine erhöhte Reizempfindlichkeit. Man nahm an, dass Moses auch einige dieser Krankheiten haben würde, vielleicht auch alle.

Die Zehn-Uhr-Nachrichten brachten einen Bericht über ihn, groß aufgemacht und ergreifend – ein kleines Baby, das in einem schäbigen Waschsalon in einem üblen Viertel in West Valley City in einem Korb ausgesetzt worden war. Meine Mutter erzählte mir, dass sie sich noch gut an den Bericht erinnerte, vor allem an die mitleiderregenden Aufnahmen des Babys, das mit einer Ernährungssonde im Magen und einer winzigen blauen Mütze auf dem winzigen Kopf im Krankenhaus um sein Leben rang.

Drei Tage später fand man auch die Mutter, allerdings nicht in einem Waschsalon. Natürlich hatte man nicht vor, ihr das Baby zurückzugeben. Das wäre ohnehin nicht gegangen. Sie war tot. Die Frau, die ihr Baby in einem Waschsalon ausgesetzt hatte, wurde bei der Ankunft in demselben Krankenhaus, in dem ihr Kind ein paar Stockwerke höher um sein Leben kämpfte, für tot durch eine Überdosis erklärt.

Ihre Mitbewohnerin, die noch am selben Abend wegen Prostitution und Drogenbesitzes verhaftet wurde, erzählte der Polizei in der Hoffnung auf mildernde Umstände alles, was sie über die Frau und ihr Baby wusste. Die Autopsie der Leiche ergab, dass die Frau tatsächlich kürzlich ein Kind zur Welt gebracht hatte. Ein späterer DNS-Test bestätigte den kleinen Jungen als ihren Sohn. Was für ein kleiner Glückspilz.

Die Presse nannte ihn das »Wäschekorbbaby«, und das Krankenhauspersonal taufte ihn Moses. Aber Baby Moses wurde nicht von der Tochter des Pharaos gerettet wie der biblische Moses. Er wuchs auch nicht in einem Palast auf. Er hatte keine Schwester, die sich im Schilf wartend vergewisserte, dass sein Korb aus dem Nil gefischt wurde. Aber er hatte Familie – Mom sagte, die ganze Stadt geriet in Aufruhr, als herauskam, die Mutter des kleinen Moses stammte aus unserer Gegend. Sie hieß Jennifer Wright und hatte in den Sommerferien immer ihre Großmutter besucht, die in derselben Straße wohnte wie wir. Die Großmutter lebte immer noch hier, Jennifers Eltern in der Nachbarstadt, und auch an ihre weggezogenen Geschwister erinnerten sich viele immer noch gut. Der kleine Moses hatte also im Grunde genommen eine Familie, obwohl die kein krankes Baby wollte, das aller Wahrscheinlichkeit nach alle möglichen Probleme haben würde. Jennifer Wright hatte ihren Angehörigen das Herz gebrochen und sie resigniert und am Boden zerstört zurückgelassen. Mom hatte mir gesagt, Drogen könnten solche Auswirkungen haben. Die Nachricht, dass man ihr ein Crackbaby hinterlassen hatte, war also keine große Überraschung für die Familie. Mom erzählte, Jennifer sei früher ein ganz normales Mädchen gewesen. Hübsch, nett, sogar klug. Aber offensichtlich nicht klug genug, um sich von Meth, Kokain und dem ganzen anderen Zeug fernzuhalten, von dem sie abhängig war. Als ich den Ausdruck »Crackbaby« damals hörte, stellte ich mir vor, durch Moses’ Körper verliefe ein riesiger Riss, so als wäre er bei der Geburt mit einem Krack-Geräusch auseinandergebrochen. Ich wusste natürlich, dass der Ausdruck etwas anderes bedeutet, dennoch ist mir das Bild im Gedächtnis hängen geblieben. Vielleicht fühlte ich mich überhaupt erst zu ihm hingezogen, weil er einen Knacks hatte.

Von meiner Mutter weiß ich, dass damals die ganze Stadt die Geschichte von Baby Moses Wright aufmerksam in den Nachrichten verfolgt hat. Alle haben so getan, als wüssten sie aus erster Hand darüber Bescheid, und was sie nicht wussten, haben sie einfach erfunden, um sich wichtigzumachen. Ich hingegen wusste nichts von Baby Moses, denn all das passierte vor meiner Geburt. Er wuchs heran und war für mich schlicht und einfach Moses – ein Kind, das in Jennifer Wrights Familie herumgereicht, und jedes Mal, wenn er zu anstrengend wurde, bei anderen Verwandten untergebracht wurde, die ihn eine Weile ertrugen, bis sie ein weiteres Familienmitglied überreden konnten, sich um ihn zu kümmern. Als ich ihn schließlich kennenlernte und meine Mom mir das alles über ihn erzählte, damit ich »ihn besser verstehe und nett zu ihm bin«, war die Geschichte schon kalter Kaffee, und niemand wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben. Die Menschen lieben Babys, sogar kranke. Selbst Crackbabys. Aber Babys wachsen zu Kindern heran. Und niemand mag verkorkste Problemkinder.

Und Moses war ein verkorkstes Problemkind.

Ich kannte mich mit Problemkindern bereits gut aus, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Schon mein ganzes Leben lang hatten meine Eltern Pflegekinder mit schwieriger Vergangenheit aufgenommen. Ich hatte zwei ältere Pflegeschwestern und einen älteren Pflegebruder, die auszogen, als ich sechs war. Ich stellte so was wie einen Ausrutscher dar und wuchs mit Kindern auf, die nicht meine Geschwister waren und die, wie Menschen durch eine Drehtür, mein Leben zeitweise betraten und auch wieder verließen. Vielleicht haben sich meine Eltern und Kathleen Wright, Jennifer Wrights Großmutter und Moses’ Urgroßmutter deshalb an unserem Küchentisch so oft über Moses unterhalten. Ich hörte eine Menge Dinge, die mich vermutlich nichts angingen. Vor allem in diesem Sommer.

Die alte Dame wollte Moses für immer bei sich aufnehmen. In einem Monat wurde er achtzehn, und der Rest seiner Familie konnte es kaum erwarten, die Verantwortung für ihn los zu sein. Seit seiner Kindheit hatte er seine Urgroßmutter jeden Sommer besucht, und sie war zuversichtlich, dass sie gut miteinander auskommen würden, wenn sich alle raushielten und sie schalten und walten ließen, wie sie es für richtig hielt. Sie schien sich keine Sorgen darüber zu machen, dass sie im selben Monat, in dem Moses achtzehn wurde, selbst achtzig werden würde.

Ich wusste, wer er war, und behielt ihn Sommer für Sommer in Erinnerung, obwohl wir nie etwas zusammen unternommen hatten. Die Stadt war klein und Kinder bemerken einander. Kathleen Wright hatte ihn an den wenigen Sonntagen, die er zu Besuch weilte, immer zum Gottesdienst mitgenommen. Er gehörte meiner Sonntagsschulklasse an, und wir alle starrten ihn genüsslich an, während der Lehrer versuchte, ihn zum Mitmachen zu überreden. Er beteiligte sich jedoch nie. Als hätte man ihm eine große Belohnung fürs Stillsitzen versprochen, saß er wie festgeklebt auf seinem kleinen Metallfaltstuhl, knetete die Hände im Schoß und schaute sich mit seinen sonderbar gefärbten Augen um. Nach dem Gottesdienst rannte er jedes Mal gleich zur Tür hinaus in den Sonnenschein und lief schnurstracks nach Hause, ohne auf seine Uroma zu warten. Manchmal bin ich mit ihm um die Wette gelaufen, aber er war immer schneller vom Stuhl aufgesprungen und draußen als ich. Selbst damals bin ich ihm nachgelaufen.

Gelegentlich unternahm Moses mit seiner Uroma Fahrradausflüge und Spaziergänge. Beinahe täglich fuhr sie mit ihm zum Schwimmbad in Nephi, was mich immer rasend eifersüchtig machte. Ich konnte mich glücklich schätzen, wenn ich mehr als nur einmal im Sommer ins Schwimmbad gehen durfte. Wenn ich schwimmen wollte, fuhr ich mit dem Rad zu einem Angelplatz im Chicken Creek Canyon. Meine Eltern hatten mir das zwar verboten, weil das Wasser kalt, tief, trübe und sogar gefährlich war. Aber ich wäre lieber ertrunken, als darauf zu verzichten, und bisher war auch immer alles gut gegangen.

Als Moses älter wurde, kam er in manchen Sommern nicht mehr nach Levan. Vor zwei Jahren war er das letzte Mal in der Stadt gewesen, obwohl Kathleen ihn schon lange zu überreden versuchte, zu ihr zu ziehen. Die Familie vertrat die Ansicht, dass sie mit ihm nicht klarkommen würde. Sie behauptete, er sei »zu emotional, zu explosiv, zu launisch und temperamentvoll«. Aber schließlich waren sie alle wohl erschöpft und gaben nach. Und so kam es, dass Moses nach Levan zog.

Wir waren beide im Abschlussjahr, obwohl er ein ganzes Jahr älter war als ich, aber ich gehörte auch zu den Jüngsten in meiner Jahrgangsstufe. Wir hatten beide im Sommer Geburtstag – Moses wurde am 2. Juli achtzehn und ich am 28. August siebzehn. Moses sah allerdings nicht aus wie achtzehn. In den vergangenen zwei Jahren seit unserer letzten Begegnung war er sozusagen in seine Füße und Augen hineingewachsen – groß, breitschultrig und gut gebaut. Seine Muskeln zeichneten sich deutlich auf seinem schlanken Körper ab. Durch seine hellen Augen, die ausgeprägten Wangenknochen und das kantige Kinn wirkte er eher wie ein ägyptischer Prinz statt wie ein Gangmitglied, was er Gerüchten zufolge sein sollte.

Moses hatte Probleme mit den Schulaufgaben und konnte sich nicht lange konzentrieren und still sitzen. Seine Familie behauptete sogar, er hätte Krampfanfälle und Halluzinationen, die sie mit verschiedenen Medikamenten in den Griff zu bekommen versuchten. Ich hatte gehört, wie seine Großmutter meiner Mutter erzählte, wie launisch und reizbar er sein konnte, dass er Einschlafschwierigkeiten hatte und sich gedanklich oft einfach ausklinkte. Sie hielt ihn für extrem intelligent, ein Genie sogar, und erzählte, wie unglaublich gut er malen konnte. Aber die ganzen Medikamente, die er zur Konzentration und Beruhigung einnehmen musste, würden ihn langsam und träge machen und seine Bilder düster und Angst einflößend. Deshalb wollte Kathleen Wright die Medikamente absetzen, wie sie meiner Mutter erzählte.

»Sie verwandeln ihn in einen Zombie«, hörte ich sie sagen. »Ich bin bereit, das Risiko in Kauf zu nehmen und mich mit einem Kind auseinanderzusetzen, das weder still sitzen noch aufhören kann zu malen. Zu meiner Zeit war das nichts Schlechtes.«

Ich fand, dass die Zombiesache doch etwas sicherer klang. Trotz seiner Schönheit wirkte Moses Wright unheimlich. Mit seinem v-förmigen goldbraunen Körper und den kurios hellen Augen erinnerte er mich an eine Raubkatze. Geschmeidig, gefährlich, leise. Ein Zombie bewegt sich wenigstens langsam. Eine Raubkatze schlägt blitzschnell zu. In der Nähe von Moses Wright hatte ich immer das Gefühl, als würde ich versuchen, Freundschaft mit einem Panther zu schließen. Ich bewunderte die alte Dame dafür, dass sie ihn aufnehmen wollte. Sie besaß in der Tat mehr Mut als alle, die ich kannte.

Da es nur zwei weitere Mädchen in meinem Alter in der Stadt gab, war ich öfter allein, als mir lieb war, vor allem, weil keines der anderen Mädchen Pferde und Rodeos so sehr liebte wie ich. Wir grüßten einander höflich und saßen nebeneinander in der Kirche, waren aber nicht so gut befreundet, dass wir viel Zeit miteinander verbrachten oder die langweiligen Sommertage gemeinsam ertrugen.

In diesem Sommer herrschte extreme Hitze. Daran erinnere ich mich noch gut. Wir hatten den trockensten Frühling aller Zeiten, was im Sommer im ganzen Westen zu Flächenbränden führte. Die Farmer beteten um Regen, die Nerven lagen blank, und die Backofentemperaturen sorgten für kurze Geduldsfäden und machten alle reizbar. Außerdem waren zwei Mädchen verschwunden. Die beiden stammten aus zwei verschiedenen Städten ganz in der Nähe. Bei einem der beiden nahm man an, sie sei mit ihrem Freund durchgebrannt, und das andere war fast achtzehn und hatte ein katastrophales Familienleben gehabt. Die Leute vermuteten, dass es beiden gut ging, aber in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren hatte es ähnliche, bisher ungeklärte Vermisstenfälle in verschiedenen Countys von Utah gegeben, weshalb alle Eltern ein wenig nervöser und wachsamer waren als gewöhnlich. Meine Eltern bildeten da keine Ausnahme.

Ich war rastlos und genervt, fühlte mich total kribbelig und konnte es kaum erwarten, endlich mit der Schule fertig zu werden und mein Leben zu beginnen. Ich war Barrel Racer – eine Rodeodisziplin, bei der Reiter und Pferd in der schnellstmöglichen Zeit kleeblattförmig um drei Tonnen galoppieren müssen. Und ich wollte nichts lieber tun, als mit dem Pferdeanhänger an meinem Pick-up dem Rodeozirkus zu folgen und meine Freiheit mit meinen Pferden und erhofften Rodeosiegen zu genießen. Nichts wünschte ich mir mehr. Doch ich war erst siebzehn, und da zudem auch die vermissten Mädchen in den Köpfen meiner Eltern herumspukten, wollten sie mich nicht allein losziehen lassen. Begleiten konnten sie mich allerdings auch nicht. Sie versprachen mir jedoch, sich nach meinem Schulabschluss und achtzehnten Geburtstag eine Lösung einfallen zu lassen. Der Abschluss lag jedoch noch in weiter Ferne, und der Sommer erstreckte sich wie eine trockene, verlassene Wüste vor mir. Ich hungerte nach Abwechslung. Vielleicht lag es daran. Vielleicht habe ich mich deshalb zu weit vorgewagt und jegliche Vernunft vergessen.

Woran es auch lag, als Moses nach Levan kam, war er wie das Wasser – kalt, tiefgründig, unberechenbar – und ebenso gefährlich wie der See am Canyon, weil man nicht sehen konnte, was unter der Oberfläche vor sich ging. Und wie schon mein ganzes Leben lang sprang ich kopfüber hinein, obwohl man es mir verboten hatte. Dieses Mal ertrank ich allerdings.

»Was schaust du denn so?«, fragte ich schroff und gab Moses damit das, was er meiner Meinung nach wollte – meine Aufmerksamkeit. Alle Pflegekinder meiner Eltern sogen Aufmerksamkeit auf wie die Luft zum Atmen, als würden sie ohne sie ersticken. Mir ging das auf die Nerven. Und damit meine ich nicht die Tatsache, dass sie die Aufmerksamkeit meiner Eltern brauchten, sondern vielmehr dass sie diese Beachtung auch von mir einforderten. Ich war am liebsten allein mit den Pferden. Sie stellten keine Anforderungen an mich, während alle anderen so viel von mir forderten, dass ich befürchtete, den Verstand zu verlieren. Und nun stand Moses dort im Stall, beobachtete mich, drängte sich in meine ungestörte Zeit mit meinen Pferden Sackett und Lucky und saugte den Sauerstoff aus dem Raum wie die Pflegekinder.

Kathleen Wright hatte meine Eltern gefragt, ob Moses seine neu gewonnene, nicht durch Medikamente gedrosselte Energie austoben könnte, indem er ein paar Arbeiten für uns erledigte. Sie schlug vor, ihn die Ställe ausmisten, Unkraut jäten, Rasen mähen oder auch die Hühner füttern zu lassen – ganz gleich was, Hauptsache, er war den Sommer über beschäftigt und möglichst auch im neuen Schuljahr, falls ihr Plan funktionierte. Die genannten Arbeiten gehörten zu meinen Pflichten, und ich wäre froh gewesen, wenn er sie mir abgenommen hätte. Mein Dad fand jedoch andere Aufgaben für ihn. Moses arbeitete hart – so hart, dass meinem Dad allmählich die zu erledigenden Aufgaben ausgingen. Es schien unmöglich, Moses den ganzen Sommer über zu beschäftigen.

Offensichtlich hatte mein Dad das Aufräumen der Stallungen mit auf die Erledigungsliste gesetzt. Moses hatte den ganzen Morgen über wie ein Wilder Heuballen gestapelt, gekehrt, gemistet und Sattel- und Zaumzeug geputzt. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn in der Nähe haben wollte oder nicht. Vor allem, als er plötzlich stehen blieb und wie gelähmt, die Hände in die Hüften gestützt, in meine Richtung starrte. Allerdings fixierte er nicht mich, sondern irgendetwas über meiner Schulter, seine gelbgrünen Raubtieraugen groß wie Untertassen. Er stand so reglos wie nie zuvor. Kein einziges Mal zuvor hatte ich ihn derart still erlebt. Moses antwortete nicht auf meine Frage, aber er bewegte die Finger. Er schloss und öffnete die Hand, als ob er seinen Blutkreislauf in Schwung bringen wollte. Das tat ich auch immer, wenn ich auf den Bus wartete und meine Handschuhe vergessen hatte. Aber da es Juni war und noch dazu ungewöhnlich heiß, bezweifelte ich, dass er fror.

»Moses!«, blaffte ich, in dem Versuch, ihn aus seiner Trance zu wecken. Sonst würde er womöglich gleich noch zuckend vor Krämpfen am Boden liegen und ich musste Mund-zu-Mund-Beatmung oder so was machen. Der Gedanke, seinen Mund mit meinem zu berühren, löste ein seltsames Ziehen in meinem Bauch aus. Ich fragte mich, ob ich es überhaupt schaffen würde, meine Lippen auf die von Moses zu drücken, selbst wenn es nur dem Zweck diente, Luft in seine Lungen zu pusten. Er war nicht hässlich. Wieder verspürte ich das seltsame, nicht gänzlich unangenehme Flattern. Nein, Moses war ganz und gar nicht hässlich. Er war auf eigentümliche Art schön – er sah anders aus, vor allem durch seine merkwürdigen Wolfsaugen, und ich musste mir eingestehen, dass »anders« im Falle von Moses »gut« bedeutete. Irgendwie cool. Zu schade, dass er einen Knacks hatte.

Mit den Pferden therapierten meine Eltern die Pflegekinder. Die Behandlungsmethode war weltweit bekannt und funktionierte ganz ohne Worte, weil Pferde nun mal nicht reden können. So drückten es meine Eltern in ihrer Werbung aus, um die Leute zum Lachen zu bringen und ihnen die Angst zu nehmen. Pferde können nicht reden, und manchmal können Kinder das auch nicht. Mit therapeutischem Reiten – ein schicker Ausdruck für die Freundschaft zu einem Pferd, bei der man durch Beobachtung des Pferdes einiges über sich selbst erfährt – verdienten meine Eltern ihren Lebensunterhalt. Außerdem war mein Dad Tierarzt, und früher wollte ich das auch werden. Unsere Pferde waren gut ausgebildet und an Kinder gewöhnt. Sie wussten, dass sie stillstehen mussten, wenn ein Kind sich ihnen näherte oder sich in der Nähe befand. Sie waren stets geduldig. Sie ließen sich sogar von Fremden problemlos das Zaumzeug anlegen und öffneten freiwillig das Maul dafür. Die Kinder reagierten auf die Pferde in einer Weise, die Erwachsene als »Wunder« und »Durchbruch« bezeichneten, wann immer ein Kind in seine Familie zurückkehrte oder unsere verließ.

Moses hing seit zwei Wochen hier herum, arbeitete, jätete Unkraut, aß – heiliger Strohsack konnte der essen – und ging mir im Allgemeinen auf die Nerven, weil er so verstörend wirkte. Er hatte nichts Falsches gemacht. Er machte mich nur nervös. Er redete nicht mit mir, meiner Ansicht nach das Einzige, was für ihn sprach. Das und seine coolen Augen. Und sein muskulöser Körper. Angewidert von mir selbst verzog ich das Gesicht. Er war seltsam. Was dachte ich mir bloß?

»Bist du schon mal geritten?«, fragte ich, in dem Versuch, mich abzulenken.

Moses riss sich aus seinem Tagtraum und hörte auf, geistesabwesend in die Ferne zu starren.

Sein Blick blieb kurz auf mir haften, aber er antwortete nicht. Also wiederholte ich meine Frage.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein? Warst du schon mal in der Nähe eines Pferdes?«

Wieder schüttelte er den Kopf.

»Na, komm schon. Komm näher«, forderte ich ihn auf und deutete mit dem Kopf zu Sackett. Ich hoffte, dass ich ihm durch den Kontakt mit Pferden helfen konnte, so wie Mom und Dad den Kindern. Ich hatte ihnen oft bei der Arbeit zugesehen. Also dachte ich mir, ich könnte das tun, was sie taten. Vielleicht konnte ich sein angeknackstes Gehirn heilen.

Moses machte einen Schritt rückwärts, als hätte er Angst. In den ganzen Wochen, die er auf unserer Farm arbeitete, hatte er sich niemals in die Nähe eines Tiers gewagt. Kein einziges Mal. Er beobachtete sie nur. Er beobachtete mich. Und er sprach kein Wort.

»Los, trau dich. Sackett ist das tollste Pferd überhaupt. Streichle ihn doch wenigstens mal.«

»Ich jage ihm nur Angst ein«, antwortete Moses. Wieder war ich überrascht. Es war das erste Mal, das ich ihn sprechen hörte, und seine Stimme klang nicht kieksig wie die meines Pflegebruders Bobbie und die so vieler anderer Jungen, als ob sie zwischen zwei Tonlagen auf dem Weg zum Keller hin- und herschwankte, ehe sie schließlich ihre endgültige Position fand und einrastete. Moses’ Stimme klang tief und warm und so samtig, dass mein Herz unwillkürlich einen kleinen Hüpfer machte.

»Nein, machst du nicht. Sackett lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Nichts jagt ihm Angst ein oder macht ihn nervös. Er würde sich von dir den ganzen Tag umarmen lassen, wenn du das willst. Lucky andererseits könnte dir die Hand abbeißen und dir einen Tritt verpassen. Aber Sackett nicht.«

Lucky umschmeichelte ich nun schon seit Monaten. Ein Kunde hatte meinen Vater damit für seine Dienste bezahlt, die er sich sonst nicht hätte leisten können. Mein Dad hatte keine Zeit für Luckys Sperenzchen und ihn mir mit den Worten übergeben: »Sei vorsichtig.«

Ich hatte gelacht. Ich war nie vorsichtig.

Er hatte auch gelacht, aber mich dann gewarnt: »Ich meine es ernst, George. Dieses Pferd heißt nicht ohne Grund Lucky. Du kannst von Glück sagen, wenn du je auf ihm reiten wirst.«

»Tiere mögen mich nicht.« Moses sprach so leise, dass ich nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Ich verdrängte den Gedanken an Lucky und tätschelte meinen treuen Begleiter, das Pferd, das ich schon so lange besaß, wie ich reiten konnte.

»Sackett liebt jeden.«

»Mich sicher nicht. Oder vielleicht liegt es nicht an mir. Vielleicht liegt es an ihnen.«

Verwirrt sah ich mich um. Außer Sackett, Moses und mir war niemand hier. »Wen meinst du?«, fragte ich. »Wir sind unter uns, Mann.«

Moses antwortete nicht.

Also schaute ich ihn abwartend an und hob herausfordernd die Augenbrauen. Ich streichelte über Sacketts Nase und seinen Hals. Er zuckte nicht mal mit dem kleinsten Muskel.

»Siehst du? Er ist wie eine Statue. Er saugt die Liebe förmlich auf. Jetzt komm schon.«

Moses machte einen Schritt nach vorne und streckte zaghaft eine Hand nach Sackett aus, worauf der Hengst nervös wieherte.

Sofort ließ Moses die Hand sinken und wich zurück.

Ich lachte. »Was war das denn?«

Hätte ich besser mal auf Moses gehört, als er sagte, dass Tiere ihn nicht leiden konnten. Das habe ich aber nicht. Ich habe ihm schlicht nicht geglaubt. Und das keineswegs zum letzten Mal.

»Du machst doch jetzt keinen Rückzieher, oder?«, frotzelte ich. »Berühr ihn. Er wird dir nicht wehtun.«

Moses richtete die goldgrünen Augen auf mich, verharrte einen Moment unschlüssig und ging dann erneut mit ausgestreckter Hand auf das Pferd zu.

Wie aus heiterem Himmel bäumte sich Sackett auf, als wäre er zu lange mit Lucky zusammen gewesen und sein schlechtes Benehmen hätte auf ihn abgefärbt. Das sah dem Pferd, das ich mein ganzes Leben lang kannte, so gar nicht ähnlich. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren, in denen ich ihn schon liebte, hatte er gebuckelt. Mir blieb nicht einmal die Zeit, vor Schreck aufzuschreien, etwas zu rufen oder gar nach seinem Halfter zu greifen. Von jetzt auf gleich bekam ich einen Huf an die Stirn und ging zu Boden wie ein umgefallener Sack Mehl.

Blut stach mir in den Augen, als ich sie öffnete und auf die Dachbalken des alten Stallgebäudes blickte. Ich lag auf dem Rücken und mein Kopf tat so weh, als hätte mich ein Pferd getreten – ach ja, mich hatte tatsächlich ein Pferd getreten, wie mir plötzlich bewusst wurde. Und zwar Sackett. Der Schock darüber war beinahe größer als die Schmerzen.

»Georgia?«

Verschwommen nahm ich das Gesicht über mir wahr, das mir den Blick auf die Dachbalken und die Staubkörnchen verdeckte, die im streifigen Sonnenlicht herumwirbelten.

Moses bettete meinen Kopf in seinen Schoß und presste mir sein T-Shirt auf die Stirn. Selbst in meinem benommenen Zustand bewunderte ich seine breiten Schultern und seinen nackten Oberkörper und spürte, wie sein seidig glatter Bauch gegen meine Wange strich.

»Ich muss Hilfe holen, okay?« Er rutschte unter mir weg und legte meinen Kopf behutsam auf den Boden, wobei er immer noch das Shirt an meine blutige Stirn presste. Ich gab mir größte Mühe, den riesigen Blutfleck auf dem Shirt zu ignorieren.

»Nein! Warte! Wo ist Sackett?«, rief ich und versuchte, mich aufzusetzen. Moses drückte mich wieder nach unten und sah zur Tür, als hätte er keine Ahnung, was er tun sollte.

»Er … ist durchgegangen«, antwortete er bedächtig.

Ich erinnerte mich, dass Sackett nicht angebunden gewesen war. Dazu hatte es bisher nie einen Grund gegeben. Ich wusste nicht, was in mein Pferd gefahren war, dass es sich plötzlich aufbäumte und aus dem Tor preschte. Mein Blick suchte erneut den von Moses.

»Wie schlimm ist es?« Ich versuchte wie Clint Eastwood zu klingen, oder zumindest wie jemand, den eine heftig blutende Kopfwunde nicht aus der Fassung brachte. Aber meine Stimme zitterte ein wenig.

Moses schluckte, sein Adamsapfel hüpfte in seiner braunen Kehle auf und ab. Auch seine Hände zitterten. Er war eindeutig ebenso durcheinander wie ich, das konnte man ihm ansehen.

»Ich weiß es nicht. Die Wunde ist nicht groß, aber sie blutet stark.«

»Tiere mögen dich wohl wirklich nicht, was?«, flüsterte ich.

Moses tat nicht so, als hätte er mich nicht verstanden. Er schüttelte den Kopf. »Ich mache sie nervös. Alle Tiere. Nicht nur Sackett.«

Mich machte er auch nervös. Aber auf eine gute Art. Auf eine Weise, die mich faszinierte. Und obwohl mein Kopf vor Schmerzen dröhnte und Blut in meinen Augen schwamm, wollte ich, dass er blieb. Und ich wollte, dass er mir all seine Geheimnisse anvertraute.

Als ob er die Veränderung in mir gespürt hätte und nicht guthieß, stand Moses abrupt auf und lief davon. Mit seinem T-Shirt auf meiner Stirn und einem neu erwachten, unbändigen Interesse an dem neuen Jungen in der Stadt blieb ich allein zurück. Wenig später kehrte Moses mit meiner Mutter im Schlepptau zurück. Moses’ Urgroßmutter folgte ihr auf den Fersen. Sorge stand ihr breit ins Gesicht geschrieben, ebenso wie meiner Mom, und ich fragte mich unwillkürlich, ob die Verletzung vielleicht doch schlimmer war, als ich annahm. Ich verspürte einen Stich weiblicher Eitelkeit, was mir ebenfalls neu war. Würde bald eine große Narbe meine Stirn verunstalten? Vor einer Woche noch hätte ich das wohl für eine coole Sache gehalten. Nun aber schreckte mich die Aussicht auf eine Narbe eher. Ich wollte, dass Moses mich für schön hielt.

Er hielt sich im Hintergrund und überließ den Erwachsenen das Feld, die wie aufgescheuchte Hühner um mich herumwuselten. Als entschieden war, dass ich auch ohne teuren Ausflug in die Notaufnahme wieder auf die Beine kommen würde, und meine klaffende Wunde mit ein paar Klammerpflastern versorgt war, verschwand Moses. Therapeutisches Reiten würde die Risse in Moses Wright wohl nicht heilen, aber ich schwor mir, dass ich mich irgendwie in diesen Rissen einnisten und sie kitten würde, und wenn es das Letzte war, was ich tat. Die Sommerwüste war gerade zum Regenwald geworden.