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Redaktion: Milena Verlag

A-1080 Wien, Wickenburggasse 21/1-2

INHALT

Daniela Seebacher

Artemis im Separee

Sandra Bräutigam

Queen Mary II

Lisa Nerz

Das Kaufhaus

Marlen Schachinger

Nackt

Martina Sandra Bernsdorf

Virus 2022

Jule Blum & Elke Heinicke

Ich fass es nicht!

Luise Horn

Wunsch und Wirklichkeit I bis III

Meike Birck

Melinda kam zu spät

Prezzemola

Die Frucht der Biene

Anna Regine Jeck

Liebeskummer lohnt sich nicht, my Darling …

Martina-Marie Liertz

Ein seriöses Geschäft unter Frauen

Fran Ashley

Mitternachtssplitter

Gabriele B. Szekatsch

Moderne Zeiten

Ariane Rüdiger

Als ich ihr verfiel

Petra Ladinigg

Faschingsbekanntschaft

Jana Complice

Hot Femails

Jeannette Unger

Eigentlich kein Sex

Anna Regine Jeck

Johnny

Petra Paul

Wenn aus Sehnen Erinnern wird

Die Autorinnen

artemis im separee

Daniela Seebacher

SEIT ZWEI STUNDEN ziehen wir durch das Viertel, die Route bestimmt durch die Schönheit, das Neue, das Außergewöhnliche, das uns zu Augen kommt.

»Schau dort!«, und wir wechseln auf die andere Seite der Gracht. Auf der schmalen, hohen Brücke streift ein feiner Luftzug über das Kopfsteinpflaster und liebkost unbemerkt die feinen Haare auf deinen bloßen Unterarmen. Es ist tatsächlich und endlich Frühling! Du bist Jägerin auf der Fährte ausgefallener Klamotten, ich trolle leicht trunken von der warmen Luft, den balzenden Blässhühnern und deiner Nähe hinter dir her. In einem winzigen Laden – sehr hipp und unwiderstehlich für eine Butch deines Formats – scheinst du nun fündig zu werden. Ich sitze draußen vor dem Lädchen auf einem Holzklappstuhl, da es drinnen zu eng ist für dich und mich, all die trendigen Shirts und Hemden und Hosen und die Besitzerin, die augenblicklich aufmerksam wurde, als sie dich in die Gasse ihres Ladens kommen sah. Ein leichtes Flackern in ihren Augen, als sie dein Interesse an ihrer Auslage erkannte, Röte, die rasch über ihre Wangen zog, und sie verschwand mit dir im Heiligtum gewandter Leidenschaft.

Ich warte in der Sonne, genieße die Wärme auf meiner Haut und beobachte, des zu hellen Lichtes wegen mit leicht zusammengekniffenen Augen, einen Inder oder Pakistani, der das Deck seines Hausbootes schrubbt. Ein zweiter, jüngerer Mann pflanzt Kräuter in einige große Tonkästen. Schnittlauch, Thymian, Petersilie, vielleicht ist es auch Koriander. Obwohl die Tür zum Geschäft offen steht, kann ich nichts hören. Mir ist ein bisschen zumute, als würde sich der Augenblick in der behutsamen Wattewelt eines Traumes verfangen. Die Speichen eines vorbeifahrenden Fahrrads reflektieren tanzende Irrlichter auf das ruhige Wasser im Kanal. Da erst nehme ich den Kranich wahr, der scheinbar reglos am Straßenrand gestanden hatte, keine zehn Schritte von mir entfernt, und die Vorgänge am Wasser beobachtet. Jetzt streckt er eines seiner langen Beine nach hinten, linst zu mir herüber und beginnt dann sein Gefieder zu putzen. Welch anmutiges Bild von Schönheit! Und ein ebenso seltenes Bild, dass einer dieser großen Vögel mit dem betörenden Ruf, der das Bild von ziehenden Nebelschleiern über weiten feuchten Ebenen heraufbeschwört, auf seinem Zug in den Norden inmitten der Stadt zur Rast verweilt. Ich fühle mich beehrt, beglückt.

Da stehst du plötzlich vor mir, in einem kühl geschnittenen Oberteil, deine eckigen Schultern leicht betont, der Kragen aufgestellt, die oberen Knöpfe geöffnet. Mein Puls erhöht sich augenblicklich, ich nicke verlegen und du verschwindest wieder, lächelnd. Wenig später bist du wieder da, die Jagdtrophäe im Rucksack. »Komm, Sweetheart!«, strahlst du mich an und bist schon ein paar Schritte auf der Straße voran. Widdernatur. Die Verkäuferin kommt an die Tür, und im Weggehen sehe ich noch ihren begehrlichen Blick deinem davoneilenden Hintern folgen. In meinem Augenwinkel tanzen die karminrote Schnalle ihres Gürtels und der tiefrote Scheitel des Kranichs einen Pas de deux.

An der Ecke hole ich dich ein und lasse im Vorbeigehen meine Hand über deinen Po in deinen Schritt gleiten, rasch und heftig. Es überrascht dich, und das schmeichelt meinem Übermut. Für einen Augenblick hältst du die Luft an, ich lache und sprinte los … und komme nicht weit, schon bist du hinter mir, ergreifst meinen Arm, wirbelst um mich herum, und mein Lauf wird gestoppt durch deinen Körper. Deine weißen Zähne, dein Atem heiß, als deine Zunge zwischen meine halb geöffneten Lippen fährt. »Benimm dich lieber mal«, flüsterst du und versuchst, deine Erregung hinter einem Grinsen zu verbergen. Für diesmal leiste ich deiner Aufforderung Folge.

Einen Café Macchiato und ein Glas Prosecco später sind wir bereit für den von einer Freundin empfohlenen Dessous-Laden. Als wir den Shop betreten, scheint außer einem jungen Beau und seinem noch jüngeren Verehrer kein Mensch im Raum zu sein. Adonis weist mit einer Handbewegung auf die Regale voll Lack und Leder, Gummi und Latex, als wolle er uns sein Reich zu Füßen legen: »Hier herunten findet ihr alles, was Spaß macht. Toys, Accessoires, Videos.« Dann deutet er zu einer schmal gewundenen Wendeltreppe weiter hinten im Laden: »Und dort oben ist das Eldorado der Verführung. Take your time!« Und dabei sieht er dich mit einem auffordernden Blick an. Deine rechte Augenbraue schnellt in die Höhe. Adonis scheint uns sofort zu vergessen, als sein Lustknabe sich vom Tresen löst und beiläufig mit schmalen Fingern die Reihe der neu eingelangten Dildos entlang tändelt. Deine Augen folgen amüsiert dem Vorspiel der Jungs, und ich schmelze verhalten den vollendeten Bogen deiner langen Wimpern entlang. Dann deutest du zur Treppe, lachst: »Ein harter Tag für dich, Süße. Mitten im Paradies wirst du enthaltsam sein müssen!« Mit Schwung und großen Schritten bist du schon die Hälfte der Stufen hinauf. Auf dem Weg dir nach sehe ich am Fuß der Treppe einen kleinen Tisch, und auf Satin drapiert glänzt dort ein Dildo aus durchscheinendem Acryl. Enjoy Crystal, empfiehlt das Schildchen davor, bläulich schimmern die runden Noppen auf dem langen Schaft.

Oben angekommen überblicke ich kurz den Raum und die Fülle seiner Gaben. Strings, Strapse und Pants, Harnesse und Brustriemen, Corsagen und hautenge Lack-Suits. Eine Wand mit Fesseln und Masken. Ein halb offener, schwarzer Samtvorhang gibt den Blick frei auf eine geräumige Umkleidekabine. Wir sind allein. Du winkst mich zu dir. Ich gehe zu dir durch eine Welt aus Latex, Leder und Nieten. Du stehst an einem Drehständer, an dem die glänzenden Röhren der Chaps auf freudige Käuferinnen warten. »Die sind doch geil, oder?«, hältst du mir ein Teil entgegen. Es ist eine Lederhose, aber gänzlich ohne Schritt, ursprünglich von Reitern in wenig frivoler Absicht über der Hose zu deren Schutz getragen. »Probier sie doch mal«, erwidere ich mit einer Kopfbewegung zur Umkleidenische. Während ich warte, fällt mir auf, wie still es ist. Mir fällt auf, wie geil ich auf dich bin, schon den ganzen Nachmittag hindurch. Mir fällt auf, dass eine Frau die Gelegenheit ergreifen muss, wenn sie sich bietet.

Also lasse ich die Einkäufe, den Rucksack stehen und gehe die paar Schritte hinüber, schiebe den Samtvorhang ein wenig zur Seite und schlüpfe in das Separee. Du stehst mit dem Rücken zu mir und knöpfst gerade die Chaps zu. Deine Nackenhaare richten sich sofort auf, als du mich hinter dir spürst. Dein Hemd steht offen. Ich streife es über deine Schultern, deine Arme und lasse es zu Boden fallen. Du atmest hörbar und bewegst dich nicht, wartest was geschieht. Ich stelle mich dicht hinter dich und schiebe mein Knie zwischen deine Beine. Durch den Stoff meiner Hose spüre ich, wo das Leder der Chaps aufhört und deine Nacktheit beginnt. Du hast tatsächlich nichts darunter an! Ich drücke mein Bein nach oben, deiner Scham entgegen. Du stöhnst auf. Da erst sehe ich, dass die Einrichtung der stillen Nische nichts zu wünschen übrig lässt. Eine schmale, gepolsterte Bank zieht die Längsseite entlang. Ich dränge dich ein Stück näher zur Wand, um die Lederriemen zu erreichen, die in einer Höhe knapp über unseren Köpfen angebracht sind. Die Zartheit deiner Handgelenke rührt mich, während ich dich fessle.

Ich ziehe meine Zähne sanft durch die zarte Haut deines Nackens, zeichne mit der Spitze meiner Zunge deinen ausrasierten Haaransatz nach und stoße sie unerwartet in dein Ohr. Scharf ziehst du die Luft ein. Ich bin erregt allein von diesem Geräusch deines schwankenden Atems. Ich bin die Jägerin auf der Fährte deiner Sinnlichkeit. Mit einer Hand schiebe ich deinen schwarzen Sport-BH nach oben, so dass meine offene Handfläche dicht über deinem Körper entlang streicht. Deine Brustwarzen sind hart und aufgerichtet und sie pulsieren in Übereinstimmung mit dem fordernden Spiel meiner Finger. Meine andere Hand gleitet über deine Hüfte, sucht entlang des Beckenknochens den Übergang zwischen dem glatten Leder und deiner weißen Haut. An dieser Kante umrunde ich den Venushügel, tauche kurz ein in das krause Gewirr um deine noch bedeckte Klitoris. Dann fasse ich von unten deinen rechten Oberschenkel, weise dich an, dein Bein auf die Bank zu stellen und drücke dein Knie nach außen. Ich denke daran, wie sich dabei deine Schamlippen voneinander lösen, ein erstes Öffnen, sehen kann ich es nicht.

Der Wunsch, in dich einzudringen, treibt die Nässe in meine eigene Möse. Ich suche mit meinem Schambein das Ende deiner Wirbelsäule und beginne rhythmisch zu stoßen. Meine Finger rutschen im engen Spalt zwischen deinem Hintern und meinem Beckenknochen tiefer, deine Feuchtigkeit erwartet mich schon. Mein Zeigefinger zieht ein paar sinnliche Kreise in die seidige Öffnung deiner Vagina. Du zitterst leicht, ein Vibrieren, jetzt, wo meine Bewegungen bestimmter werden. Dann dringe ich mit einem einzigen Stoß tief in dich ein, zwei Finger auf einmal, damit du spürst, wie stark mein Begehren ist. Du jappst, die Seile mit den Lederriemen spannen sich. Einen Augenblick halte ich inne, dann gleiten meine Finger noch tiefer in dich hinein, tief, tief. Intensiv fühle ich die Weichheit deines Geschlechts. Mir schwindelt in einem Wirbel aus plötzlicher Hitze und der bittersüßen, drängenden Sehnsucht nach mehr und immer mehr und ich beginne dich zu ficken. Mit weit gespreizten Beinen in toughen Lederchaps, die das Wesentliche nicht zu verbergen wissen, gibst du dich mir hin. Ich fische Crystal, die irgendwie in die Hosentasche meiner Jeans gelangt ist, hervor. Mit zwei Fingern spreize ich deine Schamlippen auseinander, schon ist sie in dir und ich nehme dich noch heftiger als zuvor. Du versuchst dein Stöhnen zu beherrschen, aber dein heftiger Atem verliert immer wieder die Kontrolle und so treiben die Laute deiner flatternden Erregung mich weiter an, treiben den glänzenden Acrylstab wieder und wieder hinein und heraus und hinein bis an die weiten Grenzen unserer beider Lust. Ich spüre all deine Muskeln dem Diktat meiner Führung entgegendrängen, widerstehen, dann nachgeben, dich freigeben, hingeben und dann kommst du in einer Kaskade von springenden, sprühenden Eruptionen, ergießt dich über mich, die Wellen deines Orgasmus durchdringen meinen Körper und während diese Wogen am Strand der Leidenschaft auslaufen, lege ich meine Arme um dich.

Als wir zehn Minuten später in die Sonne zurückkehren, ist das hinreißende Strahlen in deinen Augen unübersehbar. Wie schön du bist! Der Nachmittag spiegelt sich ruhig in der Gracht und wir sind für diesen trunkenen Augenblick erfüllt. Crystal aber liegt wieder auf Satin gebettet am Fuß der Wendeltreppe, ihrer gläsernen Unschuld wiedergegeben im warmen Wasser des winzigen Waschraums hinter dem Drehständer mit den noch leicht baumelnden Chaps in Lack und Leder.

queen mary II

Sandra Bräutigam

ICH HATTE MIT ÖDNIS gerechnet, aber die Realität übertrifft meine Erwartungen bei weitem. Ich streife ziellos durch die Gänge, schaue im Vorübergehen in alle spiegelnden Flächen, lecke zu oft meine Lippen. Vielleicht sollte ich etwas lernen, das ist wenigstens nützlich. »Das digitale Fotoalbum« klingt viel versprechend, außerdem ist von sämtlichen Computerkursen dieser der Einzige, der von einer Frau angeboten wird.

Ich hatte es mir genau ausgerechnet. Fast zweitausend Passagiere und über tausend Personen Besatzung. Angenommen, die Hälfte sind Frauen, und davon haben statistisch gesehen mindestens fünf Prozent das gleiche Interesse wie ich, dann hätten ein paar Tage Kreuzfahrt richtig spannend werden können. So isoliert und abgeschnitten vom Leben an Land, so schwebend zwischen Himmel und Meer. Cruising eben. Stattdessen streune ich rastlos durch die Clubs und senke das Durchschnittsalter der schmuckbehängten Damen bestimmt um vierzig Jahre.

Unsere Lehrerin heißt Pia. Pia Griss. Ein kurzer Name. Sie erklärt die Systemanforderungen, spricht Worte wie Prozessor und Arbeitsspeicher gelassen aus. Pia unterstreicht die Bedeutung des Gesagten mit winzigen Gesten. Am Rechnerplatz neben mir bläst eine dicke Frau ihren Atem aus, als hätte man den Knoten von einem Luftballon gelöst. Ich schaue zur Seite, aber es gibt kein Fenster.

Als Erstes lerne ich, dass es sich um ein Softwareprogramm handelt. Es kann Hunderte von versehentlich ausgelösten Schnappschüssen fein säuberlich beschriften. Das erhöht die Chance, eventuell sogar etwas wiederzufinden.

Zum Sortieren benötigt man Kriterien, sagt Pia. Ihr dunkler Blazer öffnet sich nur bei bestimmten Drehbewegungen für fremde Blicke. Die Kriterien, sagt sie, müssen vor allem eines sein: Vernünftig! Sie verzieht den Mund, als hätte das Wort einen schlechten Geschmack. Und man muss sie sich selbst ausdenken, da hilft einem kein Softwareprogramm. Sie sieht mich an, als wüsste sie genau, worauf sie lange gewartet hat.

Was könnten vernünftige Kriterien in dieser Umgebung sein? Wasser? Meer? Atlantik? Wellen und noch mal Wellen. Ich mühe mich ab mit Dateien und Unterdateien, doch meine Kriterien wollen nicht vernünftig klingen.

Pia geht nicht durch die Reihen, sie bleibt vorne sitzen. Im Sitzen ist sie fast so groß wie ich. Ich habe ein Problem, sage ich, während ich mich melde wie in der Schule. So, so, sagt sie und berührt mich mit ihren Augen. Welches denn?

Ich verstehe nicht, wie die Kriterien mit UND und/oder ODER kombiniert werden. Der Satz fällt mir aus dem Mund wie ein sperriges Möbelstück und landet krachend auf dem Boden. Hektische, rote Male wachsen meinen Hals hinauf wie Flechten.

Pias braune Haare sind auf einer Seite länger als auf der anderen. Auf der kürzeren Seite schmiegt sich ein zierliches Ohr an die Kopfhaut. Ich könnte es mit meinen Lippen vollkommen umschließen und die Zunge hineinstoßen. Sie wendet mir ihr Gesicht zu, der Mund ist geöffnet, saugt mich ein, verschlingt mich. Mein Herz pumpt mit harten Schlägen, gleichzeitig fühle ich mich schwach.

Wir sind noch nicht bei der Profisuche, sagt sie streng, wobei sie die Brauen so zusammenzieht, dass sie fast ein Dreieck bilden. Erst bei der hierarchischen!

Ich starre die Tastatur an, als seien die Buchstaben mir eine Erklärung schuldig, wische meine Hände an der Hose ab, hebe unbedacht nochmals den Blick. Sie spießt mich auf, hilflos zapple ich in ihren Augen.

In mir wird die Hitze unerträglich und mein Beckenboden zuckt verzweifelt. Ich verlasse den Raum, die Stunde ist vorüber. War gut, sage ich im Gehen vage. Pia nickt. Ein kleines Nicken.

Ich stehe im Bauch des größten, längsten, höchsten, breitesten Kreuzfahrtschiffes und komme mir lächerlich unbedeutend vor. Ich bin weder klein noch groß, ich bin bloß mittel.

Pia Griss ist klein, sehr klein. Vielleicht reicht sie mir bis zur Schulter, vielleicht sind ihre Augen auf der Höhe meiner Brustwarzen, vielleicht nicht einmal das. Wir haben nicht nebeneinander gestanden.

Von Deck 2 laufe ich durch Lobby, Geschäfte, verschiedene Restaurants und Cafés hoch bis zu Deck 6. Hier habe ich gestern meine Mutter verloren. Ich steige höher und höher, immer schneller, obgleich ich weiß, dass meine Sehnsucht anderswo ist. Auf dem letzten Deck vor dem Himmel halte ich mich an der Reling fest und atme. Alles an mir pulsiert violett. Das kann ich nicht ernst meinen. Eine Zwergin!

Ich denke an Sigrid, die so groß ist wie ich. Wir schauen jede Woche zusammen Tatort und kuscheln unter der Wolldecke. Das ist schön, sage ich zu Sigrid, mehr will ich überhaupt nicht. Und was Sigrid betrifft, stimmt das auch.

Einem spontanen Impuls folgend gehe ich wieder runter und trage mich auf der Liste für den Abendkurs ein. Ein Musikverwaltungsprogramm. Pia ist nirgends zu sehen. Ich schlendere wie beiläufig durch alle Decks, finde meine Mutter, esse ein paar Canapés mit ihr und lege mich im zwölften an den Pool.

Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, auf etwas zu warten. Ich nehme an, dass es sich um etwas Schönes handelt, doch je länger das Warten dauert, desto unwahrscheinlicher scheint mir das. Nach und nach faltet sich meine Hoffnung ein wie die Blütenblätter der Mittagsblume bei Dunkelheit.

Eigentlich bin ich nur hier, weil der dritte Mann meiner Mutter gestorben ist, als er an einem Baugerüst vorbeilief. Wie immer außen vorbei, nie drunter durch, weil er die fixe Idee hatte, eine dieser luftigen Konstruktionen würde eines Tages über ihm einstürzen. Also ging er außen herum, und ein Betonklotz, der da nicht hingehörte und für den später niemand verantwortlich sein wollte, segelte auf ihn nieder und schob seinen Kopf in den Rumpf.

Trauer will gepflegt werden, sagt meine Mutter und hat von seinem Geld gepflegt für uns gebucht – eine Außenkabine mit Balkon auf der Queen Mary II.

Ich breite ein großes Badetuch über meinem Körper aus und verstecke mich darunter. Ich schließe die Augen und ihre kleinen Hände berühren meine nackte Haut, streichen über mein Schlüsselbein, meinen Busen. Ihre kleinen Finger massieren meine Brustwarzen, gleiten tiefer. Meine Schenkel öffnen sich. Ich stöhne. Meine Mutter steht neben mir und schüttelt mich. Kind, du träumst schlecht.

Benommen stehe ich auf und wage einen Kopfsprung in den Pool. Keine Chance, es sieht längst nicht so elegant aus wie bei dem Mann, der es gestern auf meine Mutter abgesehen hatte. Er hatte uns abgepasst, war zum Becken stolziert und gekonnt kopfüber hineingesprungen. Der meint mich, sagte meine Mutter siegessicher. Wir testeten ihn, indem wir das Café umrundeten. Kaum hatte er uns erspäht – Kopfsprung. Wir liefen hinunter bis Deck 9 und am anderen Ende wieder hinauf. Kopfsprung. Wir dehnten unsere Kreise aus und lachten viel, bis uns auf Deck 6 ein hagerer Mann mit grauem Schnurrbart und verwehten Haaren ansprach. Er sei Blumengroßhändler, sagte er, und gehe auch gerne spazieren.

Ich wünsche mir die Welt auch so einfach, doch hinter meinen Augen sitzt ein höhnisches Prisma, das mir jeden Maßstab verzerrt.

Der Kurs beginnt um neun, ich bin eine halbe Stunde früher da, habe das Abendessen mangels Appetit ausfallen lassen. Die Tür ist noch verschlossen. Pia kommt, ich sehe sie, ein Punkt in der Ferne. Ich flüchte auf die Toilette und betrete den Kursraum um fünf nach neun als Letzte.

Zur Strafe muss ich ganz vorne sitzen, kein anderer Platz ist mehr frei. Ich sehe Pias Hände über die Tastatur gleiten, folge den geübten Fingern, lausche der Melodie aus Tippen und Klicken. Sie trägt einen Ring am Zeigefinger, Silber, das man an der Wange spüren würde. Plötzlich wird mir eiskalt und eine unglaubliche Schwere zieht meinen Blick zu Boden. Ich schaffe es nicht. In Tränen springe ich auf, stammele etwas im Hinausgehen. Wie das Musikverwaltungsprogramm funktioniert, werde ich nie erfahren. Es ist die letzte Nacht, morgen sind wir in New York.

Ich setze mich im Golden Lion an die Bar, weil dort ein Fernseher läuft. Wenn ich mit beiläufig interessiertem Gesichtsausdruck den Bildschirm fixiere, wirke ich fast wie ein normaler Mensch, von dem Umstand abgesehen, dass sich außer mir keine Frau für diese Sportsendung begeistert.

Ich will nicht mehr, bin schon zu oft weggelaufen. In die Traurigkeit mischt sich Empörung über mein Schicksal und eine Frage: Warum eigentlich nicht? Etwas löst sich in mir. Ich werde einfach ins Wasser springen, das ist die ideale Lösung. Aber vorher wage ich es.

Auf einmal ist Pia da. Sie zieht einen Barhocker dicht neben mich, setzt sich schräg in meinen Rücken. Ich starre unentwegt zu dem Hockeyspiel und kann deshalb nur ahnen, dass sie lächelt.

Ich schulde dir noch eine Erklärung, sagt sie nah an meinem Ohr.

Mein Kopf hat Fieber, dümmliche Satzfetzen wirbeln herum, es ist wohl besser, nichts zu sagen. Stattdessen bewege ich mich eine Vierteldrehung in ihre Richtung, löse meinen Blick vom Bildschirm und klebe ihn an die Bar.

UND, sagt sie, und/oder ODER.

Ihre linke Hand ruht auf dem Tresen. Meine rechte Hand wird unaufhaltsam angezogen. Ich lasse sie schweben, lasse die Wärme meiner Innenfläche nach unten abstrahlen. Pia dreht ihre Hand um, sie ist größer als meine. Sie verschränkt ihre Finger mit meinen und öffnet mich, indem sie unsere Hände zwischen den Körpern hindurchzieht. Sie steht vor mir, schlingt mir den rechten Arm um die Hüfte und hebt mich mühelos vom Barhocker. Einen Moment lang sieht es aus, als warteten wir auf die Musik, um loszutanzen. Ich schaue zu ihr auf.

Komm, sagt sie, ich zeige dir, was eine Profisuche ist.

Wir rennen in den Kursraum, Hand in Hand. Während sie in den Taschen ihres Blazers nach dem Schlüssel sucht, stelle ich mich dicht hinter sie, so dicht, dass nur noch Stoff zwischen uns ist, und lasse meine Hände um ihre Hüften herum in ihre Hosentaschen gleiten. Hier ist er nicht, sage ich heiser. Ihre linke Hand fährt nach hinten, schiebt sich zwischen uns in meinen Schritt, während die rechte Hand auf das Türschloss zusteuert. Zeigefinger und Daumen massieren mich. Sie muss meine Nässe durch die Hose spüren. Der Schlüssel steckt im Schloss, keine Ahnung, wie sie die Koordination behält, ich falle fast um.

Wir taumeln hinein und auf die Rechner bestückten Tischreihen zu. Du hast nicht abgeschlossen hinter uns, sage ich.

Na und? Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände, zieht es zu sich heran und stößt mir die Zunge in den Mund.

Um mich herum wird es dunkel. Meine Hände finden auch blind den Weg unter ihr T-Shirt. Die Flachbildschirme und Tastaturen rücken beiseite, als sie uns wanken sehen. Meine Hose ist offen, ihre Hand gleitet hinein. Die Kleider fallen von uns ab, nur manches bleibt irgendwo schief hängen. Zwischen meinen Beinen ist es heiß und fast schmerzhaft geschwollen.

Für eine Sekunde öffnen sich meine Augen und ich sehe ihr Gesicht in mich eintauchen. Meine Hand krampft sich um eine Computermaus. Gleich, gleich darf ich schreien vor Glück, und nie mehr werde ich auf die Profisuche verzichten!

das kaufhaus

Lisa Nerz

ICH GEHE IHR NACH. Sie hält auf die Rolltreppe zu, ohne sich ablenken zu lassen von geschichteten Pullovern und Ohrgehängen, Anhängern und Armbändern aus geschliffenem Glas. Sie geht wie eine Frau, die nicht damit rechnet, dass sich jemand nach ihr umblickt, geschweige denn ihr folgt. Sie ist Mitte vierzig und trägt Jeans und einen beigefarbenen Blouson sportlichen Zuschnitts. Ihr kurzes schwarzes Haar reibt sich am Kragen. Dass ich ihr folge, hat nichts zu bedeuten. Ich musste sowieso ins Kaufhaus.

Links gähnen Pumps in Regalen. Das gedämpfte Streulicht der Nobelmarkenabteilung nimmt uns auf. Die Frau, der ich folge, bleibt stehen, lässt die Hand über Kleiderbügel hüpfen, zupft einen Blusenärmel heraus, angelt nach einem Preisschildchen. Die Hand sitzt an einem sehnigen Gelenk und hat kurze Finger, die kein einziger Ring beeinträchtigt. Sie trägt überhaupt keinen Schmuck außer einem kleinen Brillanten im Ohrläppchen, und nur einen links. Ein Gürtel hält ihre Jeans auf der schmalen Hüfte. Der Stoff lässt keinen unnötigen Platz, aber doch so viel, dass die Falten, die der Gürtelzug der Leistengegend abfordert, entspannt springen. Vielleicht hat sie unlängst etwas abgenommen. Sie achtet auf sich, das sehe ich. Oder es gibt in ihrem Leben Stress, der ihr immer mal wieder den Appetit verdirbt. Auf ihren Lippen liegt ein entschlossener Zug. Diese Frau bittet niemals lächelnd im Voraus um Schonung.

Auf einmal schaut sie auf, dreht sich um und sieht mich an, kurz und prüfend. Schwarze Augen, ein spöttisches Zucken in den Mundwinkeln.

Es gibt Frauen, da bleibt mir kurz mal die Luft weg. Sie ist so eine. Mit diesem trockenen Figürchen, dem Kurzhaarschnitt, den zupackenden Händen, dem ironischen Lächeln, das sich in den Mundwinkeln versteckt, dem scharfen Blick, der mich durchleuchtet. Oder von dem ich hoffe, dass er es täte.

Auf einmal pocht mir das Blut bis in den Hals hinauf, ich merke, dass ich zu heftig atme für die Nobelmarkenabteilung, in der die Preise gewöhnlich meine Lebensgeister lähmen. Ich bin gänzlich unvorbereitet. Wir befinden uns schließlich in einem Kaufhaus! Drüben am Tisch faltet eine magere Dame in schwarzem Dreiviertelrock mit Namensschildchen auf dem Busen Shirts mit Pelz- und Federbesatz, Strass, Stickereien und Fransen. Eigentlich suche ich einen Hosenanzug. Seit Kindertagen frage ich mich, warum der so heißt, haben doch Anzüge immer eine Hose, sofern man sie in der Herrenabteilung verlangt. Könnte man nicht Hosenkostüm sagen?

Die, der ich gefolgt bin, hat sich abgewandt, streicht kurz und kaum interessiert über die Bourrette eines Blazers und bummelt davon. Meine Beklemmung löst sich. Wo denkst du hin? Ich teile Tisch und Bett mit einem Mann. Ich liebe ihn.

Ich frage die magere Dame am Tisch nach Hosenanzügen. Sie schaut sich verstört um und ist dann froh, mich weit fort weisen zu können.

Den Hosenanzug müsste ich nicht heute kaufen. Vielleicht auch gar nicht. Seit Wochen bereite ich mich auf eine Präsentation vor. Powerpoint und Zahlenkolonnen sind der leichtere Teil. Doch des Nachts kreist in meinem Hirn die Frage, was ich anziehen soll. Eifer in Rock und Blazer, Distanz im grauen Businessdress, blonde Jugend in Jeans und barocker Samtjacke mit Glitzer am Taschenaufschlag? Um Karriere zu machen bin ich nicht niedlich genug. Das wird heute nichts.

Noch nicht wieder ganz stabil auf den Beinen, schlingere ich eine Rampe hinunter und vergucke mich in Sportjacken von Bogner. Restposten, heruntergesetzt. Sie haben Gürtel mit eingenähtem Nierentäschchen im Rücken. Die Frage ist nicht, ob ich das brauche. Ich würde nur gern dazugehören. Aber wozu genau?

Die Frau, der ich vorhin gefolgt bin und die ich dann aus den Augen verloren habe, steht unvermutet hinter der Rolltreppenkonsole zwischen zwei Kleiderständern, hebt eine schwarze Hose am Klemmbügel in die Höhe und begutachtet deren Fall. Der Ärmel ihres Blousons ist gerutscht und entblößt einen Unterarm mit harten Muskeln und Sehnen. Dennoch ist nichts weiblicher, als wenn wir mit spitzer Nase und Habichtblick auf dem weißen Zettel im Bund das Gewebegemisch studieren und den Stoff befühlen. Sie hat die Lippen zusammengepresst. Neppen lässt sie sich nicht.

Mir schlägt das Herz in den Magen.

Ihre Augen sind, wie ich jetzt sehe, geschminkt. Auf ihren Lippen ist ein roter Lippenstift verblasst. Es scheint etwas durch, was meinen Atem erneut aus dem Rhythmus bringt. Sie hat etwas Ungezähmtes. Als ob sie noch nie nachts von der Frage wach gehalten worden wäre, was sie anzieht. In welchem Beruf ist sie wohl zu dem Geld gekommen, das sie hier auszugeben vorhat? Als Unternehmerin, als Schauspielerin, als Sängerin? Sie lebt im Luxus der Unabhängigkeit.

Der Ring an meiner Hand klackt, als ich mich an einer Kleiderstange festhalte. Erneut treffen sich unsere Blicke. Diesmal zuckt nichts in ihren Mundwinkeln, doch die Nüstern weiten sich. Im selben Moment spricht eine Verkäuferin sie an.

Vorbei, vergiss es! Hat sich erledigt. Was sollte auch daraus werden? Sie will sich schwarze Hosen kaufen. Es ist ein Kaufhaus. Was für ein abenteuerlicher Gedanke ist das denn, der mir das Blut in Stößen unter der Bauchdecke entlang in die Scham treibt, mir die Knie erweicht und meine Hand auf dem Metall nass und rutschig macht!

Die beleibte Verkäuferin hebt den Arm und weist über die Kleiderständer hinweg in die Ferne eines Wandvorsprungs, an dem in Goldlettern »Anprobe« steht. In diesem Kaufhaus scheinen all die Damen in ihren schwarzen Röcken froh, die Kundinnen woandershin schicken zu können.

Die Frau, die mich hier hereingelockt hat, zieht ab, zwei oder drei Hosen über dem Unterarm. Nur kurz lässt sie sich noch aufhalten in der Abteilung der Cocktailkleider, wo sie halbherzig nach den Preisschildchen fischt. Wird sie sich nach mir umdrehen? Oder hat sie mich bereits vergessen über Chiffon und Taft und der Frage, ob sie zum Empfang oder einem Dinner zu zweit nicht doch besser im Cocktailkleid gehen soll? Oder bei welcher Gelegenheit man auch immer das kleine Schwarze anzieht.