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VORWORT

VON THOMAS MÜLLER

 

Die Nummer 13? Unser Teammanager Oliver Bierhoff fragte vor versammelter Mannschaft in die Runde: »Wer mag die 13 haben? Die ist jetzt frei.« Er schaute mich an. »Thomas, du? Nimm du sie.« Ich überlegte. Mit der »13« hatte Gerd Müller das Siegtor im Finale der Weltmeisterschaft 1974 gegen die Niederlande erzielt.

Die berühmte »Bomber«-Nummer war zu haben, weil sich der damalige DFB-Kapitän Michael Ballack kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika verletzt hatte und für das Turnier ausfiel. Über Jahre gehörte ihm in der Nationalelf die »13«. Eigentlich ist die »25« von Anfang an bei Bayern meine Rückennummer, aber die gibt’s ja nicht bei Turnieren, da maximal 23 Spieler dabei sein dürfen und der Kader dann von 1 bis 23 durchnummeriert wird. Also gut, ich nahm die »13«. Recht viel andere Nummern waren auch nicht mehr frei.

Meine erste WM und dann mit der Rückennummer von Gerd Müller, dem legen­­dären »Bomber« der Nation. Ich habe mir aber darüber keinen großen Kopf gemacht, da bin ich nicht abergläubisch. Es war damals einfach ein schönes Gefühl, zu wissen, dass es früher immer seine Nummer gewesen ist. Und so schlecht lief es dann ja auch nicht mit der »13« – mit fünf Treffern bin ich in Südafrika Torschützen­könig geworden. Wie der »Bomber« 1970 in Mexiko, damals mit unglaublichen zehn Toren. Gerd Müller ist unerreicht. Natürlich bin ich ein klein wenig stolz, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden. Doch eines steht ein für alle Mal fest:

Sein Näschen, sein Torriecher, seine ganz besondere Spielweise und sein riesiger Torhunger waren einzigartig.

Gerd Müllers aktive Zeit habe ich leider nicht miterleben dürfen. Unglaublich, welche Tor-Rekorde er aufgestellt hat – und wie er seine Treffer gemacht hat. Ein paar seiner besten Szenen und Tore habe ich natürlich auf Video gesehen, etwa wie er einmal einen Ball am Boden liegend doch noch reinmacht. Wahnsinn, was er für den Verein und die Mannschaft geleistet hat. Ohne Gerd und seine Tore wäre FC Bayern nicht der FC Bayern. Punkt.

Mein Vorbild war er allerdings nicht, dafür bin ich einfach zu jung. Mitte der 90er-­Jahre fand ich Giovane Elber sehr cool. Ich kann mich aber noch sehr gut erinnern, dass ich als Kind – 1996 oder 1997 war das – mit meiner Cousine an der Säbener Straße war, um beim Training der Profis zuzuschauen. Plötzlich stupste sie mich an, sagte: »Schau mal, da ist Gerd Müller.« Wir haben allen Mut zusammengenommen und ihn angesprochen. Gerd ist zu seinem Auto, hat seine Autogrammkarten geholt. Ich war sehr stolz, dass ich einen echten Müller bekam.

Später, als ich dann in der Bayern-Jugend gespielt habe, sah ich Gerd Müller immer auf unserem Trainingsgelände an der Säbener Straße. Ab 2008 war er mein Co-Trainer. Zwischen uns entstand sofort eine gute Chemie, ein guter Draht. Wir hatten von Beginn an viel miteinander zu tun, weil Gerd sich immer etwas mehr um die Angreifer gekümmert hat. Wenn man als Spieler gute Leistungen bringt und sich dann auch abseits des Platzes mit einem Trainer gut versteht, ist das die ideale Verbindung. Für die Medien war das natürlich toll: Müller trainiert Müller. Und sogar einen Werbespot haben wir gemeinsam gemacht. Das war eine Riesen-Gaudi.

Ich bin glücklich, dass ich so viel von ihm lernen durfte. Gerd gab mir viele wertvolle Tipps für den Torabschluss und brachte mir bei, wie man sich als Stürmer im Strafraum verhalten muss. Zum Beispiel: gegen die Laufrichtung des Torhüters schießen oder direkt neben dessen Standbein, weil der Torwart dann nicht mehr rechtzeitig reagieren kann. Sein Spiel war im Grunde einfach und schnörkellos. Der »Bomber« wollte den Ball ins Tor bringen – egal wie. Nichts anderes will ich auch.

Natürlich sind wir ganz andere Stürmertypen, haben eine ganz andere Statur. Seine Oberschenkel waren ganz besondere Kaliber. Gerd hatte zwei ganz gute Standbeine, ihn hat nichts so schnell umgeschmissen. Da kann ich mit meinen dünnen Waden nicht so ganz mithalten. Er galt als klassischer Strafraumstürmer. Ich bin eher einer, der aus dem Mittelfeld kommt und in die Spitze reingeht.

Auf den ersten Metern war Gerd extrem schnell, hatte einen explosiven Antritt. Besonders charakteristisch: seine Drehung in den Gegenspieler, wenn er den Ball mit dem Rücken zum Tor annahm und abschirmte. Wenn ich heute im Spiel meinen Hintern ­herausstrecke, hat das noch lange nicht die Wirkung, wie sie Gerd früher erzielen konnte.

Außerdem wusste der »Bomber« genau, wo er für den Gegner gefährlich werden konnte. Da geht es um logische Laufwege und logische Schussbahnen, dafür muss man den Instinkt entwickeln. Es ist immer eine Mischung aus Spielintelligenz und dem Gespür, genau dort zu sein, wo du sein musst. Über uns Torjäger sagen die Leute oft: Ach, das war Glück. Aber wenn du wie Gerd Müller immer wieder richtig stehst oder läufst, dann hat es nichts mehr mit Glück zu tun.

Oft kommt die Frage auf, wie viele Tore Gerd Müller heutzutage erzielen würde. Ich weiß es nicht, eine Menge – so viel ist klar. Vielleicht sogar mehr als zu seiner Zeit. Früher wurde strikte Manndeckung praktiziert, die Verteidiger haben die Stürmer regelrecht eingekesselt. Außerdem wurden die Offensivspieler wohl deutlich mehr getreten und nicht so geschützt wie heute. Auch, weil die Gelben und Roten Karten in der Schiedsrichter-Tasche nicht so locker saßen.

Gerd hat mich immer unterstützt und bestärkt. Ein wahnsinnig herzlicher Mensch. Ich kann mich nicht erinnern, dass dem »Bomber« jemals ein böses Wort über die Lippen gekommen ist. Da war eher mal ein Flachs dabei. Wichtiger waren persönliche Ratschläge wie: »Thomas, du musst egoistischer sein. Wenn du Tore machen willst, musst du egoistischer sein!« Legendär ist sein Spruch: »Wennst denkst, is eh zu spät.« Recht hat er. Machst du dir, etwa beim Elfmeter, zu viele Gedanken, kommt oft so ein Mischmasch raus – nichts Gescheites jedenfalls. Du musst deinem Instinkt folgen, dem ersten Impuls, dann klappt’s. Meistens.

Wann immer der »Bomber« an der Säbener Straße war, haben wir, Basti Schweinsteiger, Philipp Lahm und ich, mit ihm geplaudert. Das hat ihn sehr gefreut und ihm gezeigt, dass ihn keiner vergessen hat.

Lieber Gerd, ich habe Dir so viel zu verdanken! Es war mir eine Ehre, Dich persönlich kennengelernt zu haben. Und nochmal sei es erwähnt: Ohne Deine Tore wären wir nicht da, wo wir jetzt sind. Du sollst wissen: Was in der Vergangenheit galt, gilt jetzt erst recht: Wenn wir gewinnen, dann immer auch für Dich. Vielen Dank für alles und zum Abschluss noch die wichtigste Botschaft: Du warst ein sensationell guter Mensch!

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Der Denkmalsturz

Der Mann mit der Tafel

 

Gerd Müller traut seinen Augen kaum, schaut mehrmals vom Mittelkreis zur Trainerbank. »Die Neun, die war für mich. Ich konnte es nicht fassen.« Draußen an der Seitenlinie hält Bayern-Trainer Pál Csernai eine Tafel mit Müllers Nummer hoch: Auswechslung. Nichts ist gelaufen im Spiel. Müller, wenn überhaupt, dann ins ­Leere. Er bekommt kaum Bälle. Ihn beschleicht das Gefühl, die Mannschaft schneidet ihn. Dann der folgenschwere Augenblick: die Neun, raus bitte. Es ­machte nicht mehr bumm. Aus. Schluss. Vorbei.

Am 3. Februar 1979, es ist 17:07 Uhr, endet Müllers Karriere im Trikot des FC Bayern München im Frankfurter Waldstadion zwar noch nicht endgültig, aber es ist eine Zäsur, ein Bruch. 43 000 Zuschauer werden Zeuge einer Weltpremiere, ja einer Weltsensation. Gerd Müller, Bayerns legendärer Torjäger, der »Bomber der Nation«, der größte und erfolgreichste Mittelstürmer aller Zeiten, wird ausgewechselt. Nie zuvor hat sich ein Trainer der Münchner getraut, Müller vorzeitig vom Spielfeld zu nehmen, wenn dieser nicht verletzt war oder darum gebeten hat – was insgesamt sieben Mal seit dem Aufstieg des FC Bayern im Jahr 1965 passierte. Aber aus sportlichen Gründen? Nicht ein einziges Mal in seinen 425 Bundes­liga-spielen zuvor. Nun ist der Tag gekommen.

Eintracht Frankfurt führt an jenem kalten Februartag durch die Treffer von Bruno Pezzey und Roland Borchers mit 2:0, als sich Pál Csernai entscheidet, den ersten Wechsel in seiner Mannschaft vorzunehmen. Er holt Müller in der 82. Minute vom Platz und bringt Norbert Janzon. Die Münchner erzielen drei Minuten später noch den Anschlusstreffer durch einen anderen Stürmer, durch Karl-Heinz Rumme­nigge. Doch davon wird später nicht mehr die Rede sein. Bayern verliert ein Spiel, 1:2 – und seinen größten Torjäger aller Zeiten. Denn Müller, 33, reicht’s. Er haut auf den Tisch. Dann macht es bumm. Ja, und dann kracht’s. Gewaltig.

»Der Csernai weiß, dass ich immer noch zu Gyula Lóránt stehe, dass ich seinen Vorgänger für einen guten Trainer halte«, schnaubt Müller, »deswegen tut er das, deswegen will er mich fertigmachen.« Er habe schon registriert, dass er ihn im Training immer sehr beäuge. Und in Frankfurt ganz besonders. In der Pause, so Müller, habe er nichts gesagt. Alles okay, dachte er sich – weiter. Bis zur Neun auf der Auswechseltafel.

Natürlich gibt es dazu eine Vorgeschichte.

Im Winter 1978/79, die Bayern erlebten eine ihrer turbulentesten Spielzeiten, konnte die Mannschaft um ihren Anführer Paul Breitner, der im Sommer 1978 von Eintracht Braunschweig nach München zurückgekehrt war, mit Trainer Gyula Lóránt nicht mehr. Der Ungar, seit Anfang Dezember 1977 Nachfolger von Dettmar Cramer, überwarf sich mit Breitner, hielt aber treu zu Gerd Müller, auch wenn dieser nicht mehr in der Form früherer Glanztage war. Nach dem blamablen 1:7 am 9. Dezember bei Fortuna Düsseldorf musste Lóránt gehen – nie in seiner Geschichte hat der FC Bayern mehr Gegentore in einem Auswärtsspiel einstecken müssen. Man rutschte in der Tabelle auf Rang fünf ab. Pál Csernai, Lóránts Assistent und Landsmann, übernahm. Er verfeinerte das Lóránt-System aus Mann- und Raumdeckung, führte die damals neue reine Raumdeckung ein. Im Grunde aber war ab sofort Paul Breitner eine Art Spielertrainer. Eine explosive Mischung – für Müller.

Auch wenn der Held der Siebzigerjahre in jeder Sommervorbereitung fluchte, die kommende Saison werde seine letzte, so hatte er seinen Rückzug zum Saison­ende 1978/79 tatsächlich bereits angekündigt. Weil er spürt: Er ist nicht mehr fit am Ende seines triumphalen Jahrzehnts, der »Bomber«-Körper will nicht mehr so recht. Auf eine Bandscheiben-Operation Anfang 1977 folgen Wadenzerrungen und Leistenschmerzen. Im Fußball Magazin (Ausgabe 1/1979) heißt es: »Bereitwillig zieht er es deshalb neuerdings vor, sich bei Auswärtsspielen in der eigenen Hälfte zu tummeln, statt dort, wo ›es weh tut‹, wie Cramer es einmal ­formulierte. Karl-Heinz Rummenigge spielt Sturmspitze, er wird sein Erbe.« Unter Trainer Dettmar Cramer war Müller 1975 und 1976 Europapokalsieger der Landesmeister geworden. Nun bricht alles über ihm zusammen.

Auch wegen des für ihn unverständlichen Vertragsangebots, das ihm Präsident Neudecker Anfang Dezember 1978 gemacht hat. Streng nach Leistung solle künftig abgerechnet werden, inklusive eines Bonus, der sich an den Zuschauerzahlen orientieren soll. Kein Garantiegehalt von 400 000 DM pro Jahr mehr wie im letzten Arbeitsvertrag, abgeschlossen 1974.

Das Fußball Magazin zitiert Müller, der Anfang 1979 noch zwei Jahre Bundes­liga in sich zu haben glaubt, damals so: »Wenn das so ist, Herr Neudecker, dann hör ich gleich auf. Über so was red ich kein Wort mehr.« Der Streit ums Geld beginnt. Müller beschleicht das Gefühl, Neudecker wolle ihn abschieben und eine saftige Ablöse kassieren. »Wenn ich ganz aufhör, bekommt er gar nix mehr für mich«, ereifert sich Müller damals und beschließt in seiner Wut: »Für mich gibt’s kein Abschiedsspiel mit oder für den FC Bayern. Wenn überhaupt, dann mit 1860 München.« Worte der Enttäuschung, des Zorns – denn Hochverrat hätte Müller sicher nicht begangen. Der Streit ums liebe Geld sollte noch eine große Rolle spielen. Der Ungar Csernai, der Mann, der Seidenschals liebte, war die Ursache allen Ärgers für den »Bomber«.

Im Bayern-Buch So ein Tag ... von 1984 kommentiert Gerd Müller rückblickend: »Es war meine Absicht, nach jener Saison aufzuhören. Die Mannschaft und der Trainer wussten es. Offenbar war es ein Fehler, diesen Entschluss so frühzeitig zu fällen bzw. bekanntzugeben. Ich war der einzige Spieler, der sich ein paar Monate vorher (das heißt: im Dezember 1978) gegen Csernai als Trainer ausgesprochen hatte. Warum ich gegen ihn war, möchte ich nicht näher erklären. Über meine ablehnende Haltung ihm gegenüber war er sich im Klaren. Csernai suchte nach Möglichkeiten, sich als Trainer mit Durchsetzungsvermögen zu profilieren. Meine Person bot sich geradezu an, da ich nach wie vor ein wichtiger Spieler war, von dem er allerdings wusste, dass er bald aufhört. Das Risiko einer Konfrontation erschien ihm von daher nicht allzu hoch. So war seine Überlegung, und fortan suchte er nach einem Vorwand. Wie jeder weiß, holte er mich in Frankfurt vom Platz. Ganz bewusst. Natürlich habe ich schlecht gespielt, aber nicht nur ich, da gab’s noch jede Menge andere Kandidaten.«

Doch großen Zirkus veranstaltet er nicht an der Außenlinie.

Im Fußball der Siebziger ist eine Auswechslung eine Auswechslung, ein Mittel zum Zweck. Ein Spieler raus, ein anderer Spieler rein. Heutzutage ist eine Auswechslung ein kleines Stück Theater. Je nach Spielstand und Charakteren wird eine Tragödie oder eine Jubelarie aufgeführt. Akt eins: Der ausgewechselte Spieler inszeniert sich, gibt den Wüterich oder den König, der sich von seinem Volk im Stadion huldigen lässt. Der eingewechselte Profi wird abgeklatscht, bekommt warme Worte mit auf seinen Rettungseinsatz. Wie ernst sie auch gemeint sein mögen. Doch noch genauer schauen Fans und zig Kameras auf die Begegnung des soeben Aussortierten mit seinem Peiniger, der in anderen Fällen auch der Erlöser sein kann. Schauen sie sich in die Augen? Herzlich oder verachtend? Klatschen sie gar miteinander ab? Fallen sie sich dankbar um den Hals?

Gerd Müller hätte damals gegen die Trainerbank oder irgendetwas anderes treten sollen. Mit voller Inbrunst – um der Aufmerksamkeit willen. Müllers schwäbischer Landsmann Jürgen Klinsmann hatte 18 Jahre später bei einer gleichsam legendären Auswechslung der Bayern-Historie die ganze Palette Drama drauf: Erst beleidigte er seinen Peiniger Giovanni Trapattoni auf Italienisch, machte die Schluss-Aus-Und-Vorbei-Handbewegung und trat dann in die Werbetonne. Klinsmann musste beim Spielstand von 0:0 raus, für ihn kam ein unbekannter Amateur, der später nie wieder erschien. Was blieb, war das Loch in der Tonne. Das Stück Werbeplastik, 1997 mit Füßen getreten, schaffte es sogar ins Vereinsmuseum.

Von Müllers Auswechslung 1979 gibt es keine Fernsehbilder – weder im Bericht der Sportschau der ARD noch im Beitrag des Aktuellen Sportstudios (ZDF). Eine Götterdämmerung ohne filmischen Beweis. Es wird lediglich erwähnt, dass Müller bereits auf dem Weg in die Kabine war, als Rummenigge zum 1:2-Anschluss trifft.

Laut dem niederländischen Magazin Voetbal International (Nr. 9/ 1979) sagte Csernai damals: »Ich habe viel Verständnis für einen Spieler von der Klasse von Gerd Müller. Aber ich verstehe überhaupt nicht, weshalb er diesen Wechsel so dramatisiert. Ich bin selbst am Ende meiner Karriere mehrfach herausgeholt worden. Das ist Fußball. Nur die Leistung ist wichtig. Gerd Müller war schon wochenlang außer Form. Ich konstatierte einen Mangel an Kondition, er ist nicht mehr genug in Bewegung. Ich weiß, dass er einen Widerwillen gegen Konditionstraining hat. Aber es ist nicht meine Sache, dass andere Trainer ein Auge zudrückten, wenn Gerd Müller nicht hochmotiviert trainierte. Ich bin dazu auf jeden Fall nicht bereit.« Eine knackige Kampfansage.

Trennung im Groll – die Anwälte sprechen

Mitspieler, die damals in Frankfurt Augenzeugen der verhängnisvollen Auswechslung wurden, erinnern sich im August 2015. »Es war kein rühmlicher Abschied – ganz im Gegenteil. Man muss zugeben: Gerd spielte nicht seine beste Saison, trotzdem hätte man das anders lösen können. Mit dieser Auswechslung hat Trainer Csernai ihn brüskiert. Man nimmt einen Stürmer, wenn er schlecht spielt, vielleicht zur Halbzeit raus – aber nicht zehn Minuten vor Schluss«, echauffiert sich Torhüter Sepp Maier noch heute. »Wir haben uns beim Trainer beschwert und gesagt, dass man so etwas mit so einem verdienten Spieler nicht macht. Es ging schließlich um Gerd Müller – nicht um irgendeinen Spieler.« An Csernai lässt Maier im Rückblick kein gutes Haar: »Pál Csernai war ein launischer Typ. Als Trainer, rein fachlich gesehen, sehr gut, aber menschlich ein Armleuchter. Er wollte den Gerd absägen.«

Das Thema wurde zum Gewissenskonflikt – einerseits, andererseits. Auch 36 Jahre danach noch. »Gerd war damals auch nicht mehr auf dem Höhepunkt seines Könnens, auch nicht mehr so fit wie früher«, sagt Klaus Augenthaler, »auf der anderen Seite war er eine Ikone. Also war das alles in allem eine vertrackte Situation.« Udo Horsmann, damals linker Verteidiger im »Pál-System« und Müllers Mannschaftskollege, sieht es heute ähnlich: »Gerd war der Bomber der Nation und hat sicherlich einen anderen Abgang verdient als den, den er da gekriegt hat. Sportlich war Csernais Maßnahme zu vertreten. Er hat nicht mehr in das System gepasst und hatte auch nicht mehr die Fitness. Man konnte nicht mehr nur da vorne stehen und hoffen, dass irgendwann der Ball kommt. Aber man hätte das in einem Gespräch machen können. Das war nur nicht Csernais Art, er war kein Mensch, der einen in den Arm nimmt. Insofern ist das Ganze relativ brutal und despektierlich ausgefallen.«

Müllers Ehrgeiz lässt in dieser, seiner letzten Saison etwas nach. Der Fußball hat sich verändert, das Läuferische ist immer gefragter. Müller knurrt: »Es ist alles nur noch eine stumpfsinnige Rennerei geworden. So macht mir Fußball keine ­Freude mehr.« Das kann man sehen. Schon Lóránt, eigentlich des »Bombers« Liebling, ­hatte nach einem Spiel über seinen Kapitän geklagt: »Müller trug lediglich die Binde spazieren.« Die Kapitänsbinde trägt er seit Beckenbauers Abschied, keineswegs gern im Übrigen. Präsident Neudecker meint verächtlich: »Ich brauche einen Torschützen und kein Denkmal.« Csernai urteilt lapidar: »Müllers Leistungen reichen für die Bundesliga nicht mehr aus. Der Verein kann es sich deshalb nicht leisten, ihm noch eine Chance zu geben.« Der Verein – das heißt in jenen Tagen: Csernai plus Breitner. Oder wie Maier es formuliert: »Paul war praktisch sein Assistenztrainer.« Und so sprach Breitner, damals im Grunde der Chef: »Ich meine, unser Trainer hat einen großen Spruch getan in den letzten Wochen: ›In unserem Job ist für Nostalgie kein Platz.‹« In einem nie veröffentlichten Interview vor seinem 60. Geburtstag sagt Müller über Breitner: »Mit ihm hatte ich nicht so ein gutes Verhältnis wie mit den anderen. Mit Paul kriegst du nie Streit, wenn du ihm recht gibst.« Auf der Kassette ist ein schüchternes Lachen zu hören.

»Ich krieg schon Angst, wenn ich ihn bloß sehe« – und was ist mit diesem Zitat von Müller über Breitner, mit dem er 1972 und 1974 erst Europa- und dann Weltmeister wurde? »Nein, das stimmt nicht«, sagt Müller darauf angesprochen. Die Wahrheit wird in der Mitte liegen.

Am Montag vor der verhängnisvollen Auswechslung in Frankfurt macht Csernai seinen Kapitän und Mittelstürmer vor versammelter Mannschaft rund. Alle hätten beim 2:1 gegen Schalke gekämpft, nur Müller nicht. Er habe sich damit gegen die Mannschaft und gegen den Trainer gestellt, lautet der Vorwurf. Die Nerven liegen blank, denn nach dem ersten Spiel der Rückrunde ist Bayern weiterhin nur Tabellenfünfter. »Keiner hat für mich Partei ergriffen, keiner von den Kollegen«, schimpft Müller beleidigt. Nach der Partie in Frankfurt erhebt schließlich doch noch jemand seine Stimme. »Was Csernai mit Müller gemacht hat, ist unsauber und unehrlich«, wagt sich Jung-Nationalspieler Karl-Heinz Rummenigge aus der Deckung. Müller fordert, Präsident Wilhelm Neudecker müsse ein Machtwort sprechen, um Lóránt wieder zurückzuholen. Doch vergeblich. In einem Artikel der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 5. Februar 1979 heißt es unter der Überschrift »Bayern-Trainer Csernai demütigte Gerd Müller« über den Zustand der Mannschaft, die durch Interessenkonflikte zerrissen ist: »Gerd Müller indes erlebt so oder so das letzte Jahr seiner Karriere als das bitterste. Nach glücklichen Spielen und großen Triumphen muss er nun mit 33 auf dem letzten Stück seines Weges durch den Kehricht einer Branche waten, in der Gemeinheit und Hinterlist bevorzugte Umgangsformen sind.« Ein Haifischbecken. Müller geht unter. Und spült immer öfter seinen Frust mit einem kräftigen Schluck herunter. In jenem Artikel von 1979 steht wörtlich: »Die Kollegen könnten sich das Lachen nicht verkneifen, wenn die sähen, wie er sich dem Ende seiner Karriere entgegenquäle und dabei auch das Whisky-Glas zur Hilfe nehme ... Solche und ähnliche Informationen ließ man gezielt ›durchsickern‹, bis sie in den Zeitungen standen.« Raimund Hinko, damals Reporter für die Bild, erinnert sich: »Csernai hatte seine Lieblinge wie Breitner und Rummenigge, hat Müller brutal behandelt und damit auch die Fans gegen sich aufgebracht. Aber: Hin und wieder soll Gerd in jener Zeit mit einer leichten Fahne zum Training erschienen sein. Das wurde aber aus Rücksicht auf ihn nie geschrieben.« Offenbar hielt man sich nur in München daran.

Eine Woche nach dem Eklat von Frankfurt stellt Csernai Müller vor heimischem Publikum im Münchner Olympiastadion gegen Borussia Dortmund wieder auf. »Anstandshalber«, sagt Müller später. Bayern siegt souverän mit 4:0. Müller spielt 90 Minuten, bleibt aber ohne Tor. Sein direkter Gegenspieler Amand Theis wird nach dem Spiel so zitiert: »Ich habe schon ungefähr zehn Spiele gegen Gerd Müller gespielt. Mir ist aufgefallen, dass er heute kein Glück hatte. Eine Chance war früher bei ihm immer ein Tor, jetzt ging der Ball neben das Tor.« Nur 10 300 ­Zuschauer sehen das Abschiedsspiel des »Bombers« im Bayern-Trikot auf der Bundesliga-­Bühne – ein unwürdiger Rahmen, ein unwürdiger Abschied. Es hatte sich ausgemüllert. Nach 1135 Toren in allen Wettbewerben.

In seiner Abschiedssaison macht er immerhin noch neun Tore in 19 Bundes­liga-Matches, vier in zwei DFB-Pokalspielen, stolze 38 in 19 Freundschaftspartien. Macht zusammen: 51 Tore bei 40 Einsätzen. Eine typische Müller-Quote.

Seine 365 Bundesliga-Tore werden wohl auf ewig unerreicht bleiben. Sein letzter Treffer im Bayern-Trikot datiert aus dem Jahr 1978. Am 18. November 1978 ist Müller bei der 1:2-Pleite in Kaiserslautern erfolgreich. Er markiert den im Nach­hinein nutz­losen Anschlusstreffer in der 84. Minute. Damals konnte niemand auf dem Betzenberg ahnen, dass er gerade etwas Historisches erlebt hatte. Im ­Februar 1979 ist der Spieler Gerd Müller beim FC Bayern Geschichte. Er schmeißt hin. Er will nicht mehr. Nur noch weg. Wohin? Vielleicht in die USA, in die Major League Soccer, in der seit 1977 sein Vertrauter Beckenbauer spielt. Erste, vage Kontakte zu Müller gibt es vonseiten der Fort Lauderdale Strikers, einem Team aus Florida, bereits in der Woche vor dem Frankfurt-Erdbeben. Dabei wollte der Gerd – bodenständig und heimatverbunden, wie er war – eigentlich niemals weg. Dazu passt, dass er der Sport-Illustrierten sagt, er wolle sich nun um seine beiden von seinem ehemaligen Fahrlehrer Hermann Hofbauer geführten Sportgeschäfte kümmern. Im Außendienst, kleine Vereine mit Schuhen beliefern. Wie einst Uwe Seeler. Doch es bleibt eine Idee.

Für Müller bricht eine Welt zusammen. Seine Torjägerwelt. Sein ­Verständnis vom Fußball ebenso wie sein Selbstverständnis. Das gesamte Gebilde FC ­Bayern fällt ihm auf den Kopf, was gerade auch seine Familie schwer belastet. »Wenn das so weitergeht, bin ich bald reif für die Klappsmühle«, sagt Müllers Frau Uschi. Abgesehen von den Trainingseinheiten, die er noch pflichtbewusst absolviert, verschanzt sich das Ehepaar Müller nun im trauten Eigenheim, einem Bungalow im Münchner Villen-Vorort Straßlach. »Meine Frau hat es mehr mitgenommen«, klagt Müller, »nachdem ich von den dauernden Anrufen genug hatte und mich in die Sauna verzog, musste sie immer ans Telefon.«

Der »Bomber« ist schwer getroffen, wie sein Statement, das die Nachrichtenagentur dpa am 15. Februar verbreiten lässt, zeigt: »Ich hätte gern noch diese Saison für den FC Bayern gespielt. Aber nach dem, was in den letzten drei Wochen passiert ist, musste ich mich zu diesem Schritt entschließen. Ich habe lange mit mir gerungen, aber ich kann jetzt einfach nicht mehr. Man hat mir vorgeworfen, ich würde gegen die Mannschaft spielen und mich nicht mehr richtig einsetzen. Wenn man glaubt, ich sei nur noch Ballast, dann ist es wohl besser, wenn ich aufhöre – besser für mich und für die Mannschaft. Mich hat enttäuscht, dass kaum jemand für mich eingetreten ist, dass mir keiner geholfen hat. Früher, als alles prima lief, als der Erfolg da war, waren auch immer viele Leute da. Jetzt aber hat man mich praktisch alleingelassen.«

Im großartigen Historienbuch Gute Freunde schreibt Thomas Hüetlin über jene Tage im Februar 1979: »Müller gab weiterhin den stoischen Torjäger, aber in ihm drinnen bebte die Wut. Am Dienstag, dem 13. Februar, war Schluss mit der Schauspielerei. Gegen 16:30 Uhr trabte Müller zum Spielfeldrand des Trainingsgeländes, verschränkte die Arme auf dem Rücken und schaute nur noch zu.« Am selben Tag überbringt Rudolf Mayer, einer der engsten Freunde Müllers und zugleich Chauffeur des »Bombers«, weshalb er in München nur »Taxi-Mayer« gerufen wurde, Präsident Neudecker ein Schreiben: Müllers fristlose Kündigung. Mit folgendem Angebot: Der Torjäger verzichtet auf ein Ablösespiel, wenn ihn Bayern sofort ziehen lässt. An den Einnahmen würden beide Seiten, Müller und der Verein, partizipieren. Dem »Bomber« aber kann es nicht schnell genug gehen. »Es war höchste Zeit, dass sich der Gerd zu diesem Entschluss durchgerungen hat«, zitiert der Sportinforma­tionsdienst sid Mayer. Der Kündigungskurier weiter: »Er war nerv­lich am Ende und hätte das nicht mehr lange durchgehalten. In den letzten 14 Tagen konnte man ja kaum noch mit ihm sprechen.«

Das Bayern-Präsidium ruft daraufhin eine außerordentliche Sitzung im Münchner »Ratskeller« ein, der Wirtschaft des Rathauses, samt Vorstand, Beirat und Oberbürgermeister Erich Kiesl. 33 Mannsbilder, zwei Stunden, ein Thema: der »Bomber« und das liebe Geld. Seinem Wunsch zu wechseln wird entsprochen – aber nicht ohne Ablösesumme, was Neudecker jedoch zuvor mündlich zugesagt hat. Die Schlammschlacht beginnt. Müller wirft seinem Präsidenten Wortbruch vor: »In einer Besprechung vom 29. Januar sagte er mir zu, ohne Ablöse gehen zu können, wenn ich den FC Bayern mit 50 Prozent an den Einnahmen meines Abschiedsspiels beteilige«, sagt Müller in einem Interview mit dem Kicker am 26. ­Februar und empört sich: »Jetzt will er plötzlich davon nichts mehr wissen.« Interessant: Das Gespräch fand fünf Tage vor der Auswechslung in Frankfurt statt. Klar ist auch: Die Kontakte nach Übersee waren schon länger vorhanden. Im Oktober 1978, so der Kicker am 19. Februar, hatte Uschi Müller gesagt: »Der Gerd geht nicht in die USA, dieses Zigeunerleben wäre pures Gift für ihn.« Irgendwann um den Jahreswechsel muss der Sinneswandel dann eingetreten sein. Das Problem: Der Deal mit den Amerikanern kommt nur zustande, wenn keine Ablösesumme fließt.

Reporter Werner-Johannes Müller, ab Herbst 1976 für den Kicker und das Fußball Magazin tätig, erinnert sich: »Ich musste damals Bayerns Abstieg beschreiben. Ich schätzte Csernai als Trainer sehr, kam auch mit Müller wunderbar aus. Da ich in Mindelheim geboren bin, konnten wir von Schwabe zu Schwabe miteinander reden, er hat mir vertraut. Wir hatten eine berufliche Freundschaft.« Namensvetter Müller darf die Müllers in ihrem Bungalow besuchen. Es gibt Kaffee und Kuchen, vom »Bomber« persönlich auf dem Rückweg nach dem Vormittagstraining besorgt. »Er war ein Süßer, hat am liebsten Schwarzwälder Kirschtorte gegessen. Aber meist mit schlechtem Gewissen: ›Guten Appetit, Werner, aber behalt’s für dich. Ich ess aber eh nur ein halbes Stückerle‹, versicherte mir Gerd.« Hin und wieder kommt zum Kuchen ein Gläschen Wein oder etwas Hochprozentiges. »Gerd hat den Druck nicht mehr ausgehalten. Es ging mit seiner Leistung bergab, daher war er so unglücklich. Auch, weil er einen gigantischen Anspruch an sich hatte«, erzählt Reporter Müller. »Dazu kam, dass sein Freund Franz Beckenbauer und dessen ­Manager Robert Schwan, die immer ihre schützenden Hände über Gerd gehalten hatten, weg waren. Was die beiden bei Cosmos New York treiben, hat ihn immer sehr interessiert. Alles in allem war es ein langsamer, schleichender Verfall seiner sportlichen Leistungsfähigkeit, auch bedingt durch die zahlreichen, aber nun häufiger auftretenden Verletzungen nach den vielen Tritten in all den Jahren.« Ende 1978 hat sich Müller nach einer Wadenzerrung über Wochen mit Spritzen fit machen lassen. Uschi bezeichnet ihn als »Trottel«.

Folgender Dialog des Ehepaars Müller wird im Fußball Magazin (1/1979) zitiert:

Gerd: »Klar, ich bin ein Trottel, wenn ich meine Gesundheit aufs Spiel setz, immer wieder; aber weißt, ich kann eben nicht anders.«

Uschi: »So begründest du diesen Wahnsinn schon seit Jahren.«

Gerd: »Ich weiß ja selber, dass ich blöd bin.«

Uschi: »Genau.«

Gerd: »Aber schließlich habe ich jahrelang ein Spitzengeld verdient.«

Uschi: »Was nichts daran ändert, dass du zu anständig und gutmütig für diesen Beruf bist.«

Das weckt den Kämpfer in Gerd. Was seinen Vertrag betrifft, will er nun – angetrieben von seiner Frau – nicht klein beigeben. In der Süddeutschen Zeitung schüttet der erfolgreichste Torschütze Europas in den Jahren 1970 und 1972 sein Herz aus: »Mir ist nachgesagt worden, ich würde versuchen, den FC Bayern zu erpressen. Da hör ich lieber gleich auf. Man ist schnell populär, aber auch schnell wieder vergessen. Ehrlich gesagt, ich bin froh, wenn alles vorüber, wenn endlich Schluss ist.« Noch allerdings muss er leiden.

Auf den Beschluss des Präsidiums, Müller nicht ablösefrei ziehen zu lassen, folgt ein Fax von Müllers Anwälten Dr. Wunderlich & Partner, das dem Kicker vorlag: »Anlässlich der heutigen Beiratssitzung des FC Bayern gibt Gerd Müller durch uns folgende Stellungnahme ab: Das Ergebnis der heutigen Beiratssitzung des FC Bayern ist für Gerd Müller unverständlich und enttäuschend. Es steht in deutlichem ­Widerspruch zu dem Zwischenergebnis, das von den beteiligten Anwälten ausgearbeitet war. Insbesondere ist es ungerechtfertigt, wenn der Verein für Gerd Müller auch dann eine Ablösesumme fordern will, wenn Gerd Müller zu einem amerikanischen Fußballverein wechseln sollte, schließlich hatte nämlich der Präsident des FC Bayern Gerd Müller in der Besprechung vom 29. Januar 1979 fest zugesagt, dass der Verein in diesem Fall auf jede Ablöse verzichten würde. Das war auch damals nicht nur eine sportliche Geste, sondern eine rechtsverbindliche Zusage. Der Präsident hat diesen Sachverhalt dann ja auch mehrfach in aller Öffentlichkeit bestätigt. Fühlt sich denn Herr Neudecker heute an sein Wort vom 29.1.1979 nicht mehr gebunden? Der vom FC Bayern heute überraschend präsentierte Vorschlag lässt nur die Wertung zu, dass um Gerd Müller doch noch ein groß angelegter Preis­poker stattfinden soll.«

Das ganze Hin und Her beschäftigt Deutschlands Fußballgrößen. Der ehemalige Bundestrainer Helmut Schön leidet mit seinem Mittelstürmer, der Deutschland 1974 zum WM-Titel geschossen hat: »Ich bedauere das ganze Hickhack. Es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Man sollte eine sportlich-faire Lösung finden und ihm einen guten Abschied bereiten. Einen, den der Gerd verdient hat.« Uwe Seeler, der nach Beendigung seiner Karriere ein glanzvolles Abschiedsspiel im Hamburger Volksparkstadion erhalten hatte, schreibt einen offenen Brief an die Müller’sche Adresse, in dem er sich für seinen kongenialen Sturmpartner der WM 1970 in ­Mexiko einsetzt: »Niemand darf auf dir herumhacken. Ein so verdienstvoller Spieler, der Fußballgeschichte schrieb, hat einen ehrenvollen Abgang verdient.« Noch ein rührendes Schriftstück: Willi Schulz, ebenfalls Nationalelf-Kollege, ergreift für ihn in einer Kolumne für die Welt am Sonntag Partei: »Gerd sollte nicht darum betteln, spielen zu dürfen. Er hat für den deutschen Fußball so viel getan. Wer ­Europa- und Weltmeister war, der hat es, so meine ich, nicht nötig, noch um Verträge zu kämpfen. Gerd Müller darf sich nicht der Gefahr aussetzen, auf dem Spielfeld lächerlich gemacht zu werden. Dafür sind seine Verdienste um unseren Fußball zu groß.« Und in der Süddeutschen Zeitung heißt es: »Ja, kann denn ein verdienter Dribbelgreis von 33 Jahren bei uns in Fußball-Deutschland nicht mehr in Ehren alt werden?«

Lediglich der damalige HSV-Manager Günter Netzer findet härtere Töne. Müller bleibe für ihn »als Spieler ein Phänomen«, er habe ihm auch »einen besseren Abschied gegönnt«. Netzers großes Aber: »Er hat einfach den rechtzeitigen Absprung verpasst.«

Am 25. Februar einigt man sich dann doch noch. Bayern-Präsident Neudecker und der beurlaubte »Bomber der Nation«, an seiner Seite Frau Uschi, sprechen sich auf der Münchner Sportartikelmesse ISPO aus. Das Ergebnis: sofortige Freigabe, keine Ablöse und doch ein Abschiedsspiel mit noch zu bestimmendem Zeitpunkt. Danach stößt man mit Henkel trocken auf den Verhandlungsdurchbruch an. Und Neudecker prahlt: »Haben Sie gesehen, wie schnell das geht, wenn Männer untereinander reden ohne Juristen.« Müller nickt, lächelt gequält. Neudecker verrät sein Motiv der Presse: »Wäre der Streit weitergegangen, wäre alles auf meinem Rücken ausgetragen worden.« Müller ist nun ein freier Mann. Kein Bayern-Spieler mehr. 14 Jahre lang ist er jeden Tag zur Säbener Straße gefahren, 20 Minuten hin, 20 Minuten zurück. Nun geht es über den großen Teich. Die zwei Sportgeschäfte in Aschheim und Pasing? Mal schauen. All die Trophäen und Pokale, die er in seinem Zuhause in einer Glaswand aufgebaut hat? Die Trikots von den Gegenspielern seiner Karriere, all die Vereinswimpel der Gegner? Nur noch Erinnerungen an eine glorreiche Zeit. Ein Neubeginn steht an. Voller Unsicherheit.

Im Münchner Nobelhotel »Vier Jahreszeiten« unterschreibt Müller bei den Fort Lauderdale Strikers einen Vertrag für zweieinhalb Jahre. Dienstantritt soll am 1. Juni sein. Kontakte nach Detroit und Chicago hatten sich zerschlagen, auch Trainer Rinus Michels, der das Team von Los Angeles coacht, hatte sich um ihn bemüht. Von insgesamt 800 000 Dollar Gehalt ohne Werbung und Prämien ist die Rede. Er verdiene »auf keinen Fall schlechter als bei Bayern«, behauptet er. »Ich bin Profi. Wenn das Geld stimmt, geh ich. Das würde doch jeder machen, oder? Warum denn nicht? Ich habe doch keine Angst, überhaupt keine«, rechtfertigt er sich im Kicker. Nachfrage: Und die Familie? Müller: »Die kommt mit rüber. Das mit der Schule meiner Tochter kann man irgendwie regeln.« Der Mann, der sich vertrieben fühlte, ist erst einmal nur froh, »bei denen« raus zu sein. »Ich habe gerade noch die Kurve gekriegt.« Doch der Groll, der steckt tief. »Wenn der Herr Lóránt weiter Trainer bei Bayern gewesen wäre, wäre das ganze Theater nicht gewesen«, sagt er im Sportspiegel des ZDF vom 11. April 1979.

Als Müller das erste Spiel nach seinem Abschied, die peinliche 0:4-Pleite seiner ehemaligen Kameraden gegen Aufsteiger Arminia Bielefeld, am 10. März als Tribünengast des Münchner Olympiastadions verfolgt, wirkt er einsam und »schon ein bisserl traurig, wenn man so lange bei einem Verein gespielt hat«, wie er sagt. »Dann ist die Nummer neun, Müller, nicht dabei, aber ich habe mich jetzt daran gewöhnt. Ich habe mich für Amerika entschieden und bin ganz froh.« Am 17. März fliegen die Müllers nach Florida, um sich nach einem Haus und einer deutschsprachigen Schule für Tochter Nicole umzusehen. Es ist die letzte Etappe seiner Karriere als aktiver Fußballer, die einst in einer schwäbischen Kleinstadt begann. In Nördlingen.