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Marc Förster

Lothar Nikolaiczuk

Manuel Sandrino

Paul Senftenberg

Kai Steiner

Marc Weiherhof

PINK CHRISTMAS 5

Etwas andere Weihnachtsgeschichten

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Paul Senftenberg
 
Das Geschenk

Mit dem Einbruch der Dämmerung beginnt es zu schneien. Paul steht am Fenster und beobachtet das Flockengestöber unter dem Licht der Straßenlaterne vor dem Haus; einem Schleier gleich, bauscht es sich im Wind. Paul merkt, dass Raphael hinter ihn getreten ist, noch bevor dieser seine Arme um ihn legt.

„Wer hätte das gedacht?“, sagt er leise. Paul spürt Raphaels Wange an seinem Kopf.

„Dass es heute noch schneit?“

Paul nickt.

„Das war doch klar“, meint Raphael.

Paul schaut ihn fragend an.

„Musste es. Weil das heute der perfekte Weihnachtsabend wird. Und dazu gehört auch das winter wonderland rund ums Haus.“

„Du Kitschonkel!“

Raphael zieht Paul an sich. „Ich finde den Ausdruck Romantiker passender.“

Paul windet sich aus seinen Armen. „Ich bin mir nicht so sicher, dass der Abend perfekt wird“, meint er. „Ich kenne meine Mutter.“

„Wir haben das so schön geplant“, entgegnet Raphael.

„Planen kann man vieles.“

„Alles wird gut.“ Raphael grinst: „Außer, der Truthahn brennt an.“

Wortlos blickt ihm Paul in die Augen. Schließlich entspannt er sich. „Dann kümmere ich mich wohl besser um den guten Vogel.“

 

Eine Stunde später stehen Pauls Mutter und seine Schwester Katrin vor der Tür.

„Ich habe das Auto gar nicht gehört!“ Raphaels Ausruf klingt in seinen eigenen Ohren zu laut.

„Es liegt schon ziemlich viel Schnee“, meint Katrin.

„Das ist mit das Schönste dran“, sagt Paul. „Dass er die Geräusche dämpft.“

„Wird die Zufahrtsstraße denn geräumt?“, will Pauls Mutter wissen.

Raphael zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es ist unser erster Winter hier im Haus.“

„Wenn es so weiterschneit“, lacht Katrin. „müssen wir die Nacht über hier bleiben.“

„Ihr könnt das Bett haben“, schlägt Raphael vor. „Wir schlafen auf dem Sofa im Wohnzimmer. Das kann man zu einem Bett ausziehen.“

Raphael nimmt Pauls Mutter den Mantel ab und bemerkt deshalb ihren irritierten Blick nicht.

„Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie auch da sind“, meint sie, als sie sich wieder gegenüber stehen. Sie sagt es zwar mit einem Lächeln und dem wie immer betont sanften Klang der Stimme, doch auf Raphael wirkt ihre Freundlichkeit bemüht und unecht.

„Alleine wär’s in Wien ein bisschen einsam gewesen“, versucht Raphael eine möglichst unverfängliche Antwort.

„Es gibt doch noch andere Mitbewohner in eurer WG.“

„Die sind alle bei ihren Familien.“ Raphael hat das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. „Ich habe keine Eltern mehr. Sie sind vor zwei Jahren …“

„Jaja, ich weiß!“ Pauls Mutter unterbricht ihn mit einer knappen Geste. „Dieser Unfall.“ Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Paul hat mir davon erzählt. Eine schreckliche Sache.“

Für einen Moment hat es den Anschein, als wäre da echtes Mitgefühl und als wollte sie noch etwas sagen. Dann aber entdeckt sie ihren Sohn in der Tür zur Küche und eilt auf ihn zu.

„Du weißt doch, dass Raffi und ich das Haus gemeinsam gekauft und renoviert haben“, meint Paul an Stelle einer Begrüßung.

„Ich habe mich eh schon gefragt …“

Paul lässt sie nicht weiterreden. „Dann ist doch auch logisch, dass er hier ist. Aber egal: Schön, dass ihr gekommen seid!“

Paul umarmt seine Mutter. Seine Schwester drückt sich merklich länger an ihn.

„Hallo, kleine Schwester.“

„Hallo, großer Bruder.“

„Geht’s dir gut?“

Katrin neigt den Kopf. „Klammern wir mal das Thema Männer aus, dann kann ich nicht klagen.“

„Welcher Mann könnte dir widerstehen“, entgegnet ihr Paul. Das kurze schwarze Kleid, die glitzernden Pailletten: „Du schaust toll aus!“

Katrin schließt mit ihrer Handbewegung die beiden Männer ein. „Ihr habt euch aber auch fein gemacht! Dunkelgraue Anzüge – wow!“

Paul lächelt. „Nur die Krawatten haben wir weggelassen.“

„Ich habe mich ja auch zurückgehalten“, wirft die Mutter ein. Sie stellt ein Bein vor das andere, um ihren schwarzen Hosenanzug und die hohen Schuhe zur Geltung zu bringen.

„Hast du all deinen Goldschmuck genommen“, neckt sie Paul, „oder einen kleinen Rest zu Hause gelassen?“

„Was verstehst denn du von Mode?“, tut sie seinen Einwand ab. „Obwohl: Ich muss zugeben, du schaust wirklich gut aus, Paul. Die Damenwelt müsste Schlange stehen.“

Raphael steht hinter Paul, dieser drückt ganz kurz seine Hand, ohne dass es eine der beiden Frauen mitbekommt. „Vielleicht sind Schlange stehende Damen nicht mein Lebensziel, Mama.“

Bevor die Mutter, die wie eine Inspizientin das Wohnzimmer durchschreitet, darauf etwas erwidern kann, mischt sich Katrin ein:

„Ich bin schon auf eure große Überraschung gespannt.“

„Welche Überraschung?“

„Paul hat eine angekündigt“, sagt Katrin.

„Mir hat er nichts davon gesagt!“

„Weil mir klar war, dass du dann keine Ruhe gibst, bis du alles weißt“, entgegnet ihr Paul bemüht locker.

Seine Mutter segelt auf ihn zu.

„Dann sag schon! Was ist es?“

„Die Überraschung muss noch eine Weile warten“, wehrt Paul ab. „Wir essen in einer halben Stunde. Dann gibt’s die Bescherung samt Überraschung.“

„Sie wissen sicherlich mehr!“ Pauls Mutter hat sich vor Raphael aufgebaut.

Die Situation ist Raphael unangenehm. „Naja“, druckst er herum, „ich habe natürlich so eine Ahnung …“

„Geduld, Geduld!“ Paul zieht seine Mutter von Raphael fort. Zu seiner Schwester verdreht er übertrieben theatralisch die Augen: „Du hättest nichts sagen sollen.“

„Ich hole den Sekt“, schlägt Raphael vor.

„Ich komme mit“, sagt Paul. „Macht es euch mal gemütlich. Ich muss den Truthahn nur noch einmal mit Bratensaft übergießen, auch das Rotkraut und die Maroni sind fast fertig. Die Serviettenknödel kommen ins Wasser, dann können wir anstoßen.“

Als die Küchentür hinter ihnen zufällt, stehen sie einen Augenblick nur so da und schauen sich an.

„Ich möchte sie auf den Mond schießen“, meint Paul dann. Und als Raphael nicht gleich antwortet: „Warum sagst du nichts?“

„Sie ist deine Mutter. Den Knopf zum Abschuss musst du selbst drücken.“ Und der Versuch eines Scherzes: „Aber wenn es so weitergeht, halte ich dir dabei liebend gern die Hand.“

Paul kommt einen Schritt auf ihn zu. „Ich hätte Lust darauf, dass du mir bei etwas ganz anderem die Hand hältst …“

„Darauf hätte ich auch Lust“, meint Raphael. „Aber mit deiner Mutter und Katrin nebenan wird das wohl nicht gut möglich sein.“

„Heute Nacht, wenn sie schlafen …“

„Wenn sie nebenan schlafen?“

„Ich meine, falls sie wegen dem Schnee nicht fahren können. Dann müssen wir ganz leise sein.“

„Klingt cool.“

Paul küsst Raphael auf den Mund, doch ein Geräusch von der Tür lässt ihn zurückzucken.

„Wie war das mit Sekt?“

Paul ist sich ziemlich sicher, dass Katrin nichts gesehen hat, und fragt sich gleichzeitig, was denn so schlimm daran wäre, wenn es anders wäre.

Raphael steht schon am Kühlschrank. „Kommt sofort!“, verkündet er.

„Die Gläser sind im Wohnzimmer“, sagt Paul.

Katrins Blick mustert sie abwechselnd. „Dann füllen wir die Mama ab“, meint sie schließlich. „Ich hoffe, dass bei ihr mit dem Alkohollevel auch die Weihnachtsstimmung steigt.“

„Halleluja!“, ruft Paul, bevor er den ersten Serviettenknödel ins kochende Wasser legt.

Die Kerzen auf dem Adventskranz, der von dem Kiefernbalken über dem Esstisch hängt, sind schon ein gutes Stück heruntergebrannt, als Katrin als letzte ihr Besteck weglegt.

„Ich kann beim besten Willen nicht mehr“, seufzt sie und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. „Das Essen war extrem lecker. Bruderherz, das hast du gut gemacht. Und natürlich du auch, Raphael“, fügt sie hinzu.

Die beiden Männer tauschen einen raschen Blick aus.

„Fürs Kochen war Paul fast ganz allein zuständig“, erklärt Raphael. „In diesem Punkt bin ich keine große Begabung.“

„Aber beim Renovieren hattest du die besten Ideen“, wirft Paul ein und scherzt: „Ausgleich und Gleichstand.“

„Dann kann ich ja gleich weitermachen mit meinen Lobpreisungen“, lacht Katrin. „Wenn ich daran denke, welche Bruchbude das Haus im Sommer noch war – das habt ihr wirklich toll hingekriegt!“

„Es war total viel Arbeit.“ Paul schaut stolz in die Runde.

„Aber es hat sich gelohnt“, meint seine Schwester und wendet sich ihrer Mutter zu. „Oder, Mama? So ein schnuckeliges Häuschen auf dem Lande, das hat doch was!“

„Das Haus gefällt mir eh, die Einrichtung auch“, meint die Mutter. „Ich kann nur nichts anderes sagen, als ich immer schon gesagt habe: Ich verstehe nicht den Grund.“

„Was meinst du?“

„Lass sie, Katrin.“ Paul legt eine Hand auf die seiner Schwester. „Reden wir über was anderes.“

„Nein, Paul!“, entgegnet Katrin angriffslustig. „Die Mama soll nicht nur Andeutungen machen. Sie soll sagen, was sie meint.“

„Dass ich nicht verstehe, wieso du ein Haus so weit weg von Wien kaufst.“

Die Mutter leert ihr Weinglas und stellt es so fest auf den Tisch zurück, dass Raphael für einen Moment glaubt, es würde zu Bruch gehen. Ihm ist es unangenehm, sie so aufgewühlt zu sehen. Vielleicht, denkt nun auch er, war ihre Idee mit der Überraschung doch keine so gute, wenn schon die Frage des Hauskaufes bei Pauls Mutter auf solches Unverständnis stößt.

„Es ist schön hier, keine Frage“, fährt diese indessen fort.

Das niedrige Gebäude mit seinem Sockel aus groben Steinen, das tief herunter gezogene Dach, die dicken Deckenbalken, die sie durch die staubigen Fenster erspähen konnten. Der von Pflanzen überwucherte Garten, die Obstbäume, der Fluss an der einen Grundstücksgrenze. Die Straße, die sich den Hügel zur der kleinen Stadt mit den mittelalterlichen Mauern hinauf windet. Und die wunderschönen Fresken in der romanischen Kirche. Für Paul und Raphael war es die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick, als sie bei einem Sonntagsausflug ins Waldviertel zufällig auf das Haus mit dem Maklerschild davor gestoßen sind.

„Als Sommerfrische ideal und auch für Weihnachten, so wie heute. Idyllisch.“ Pauls Mutter redet sich in Rage. „Aber doch nicht für einen alleinstehenden jungen Mann! Für eine Familie mit Kindern, ja, das würde passen. Und das würde ich mir ja auch wünschen, dass du eine Frau kennenlernst und ich Oma werde: An der Zeit wäre es, du bist schon über dreißig, Paul!“

„Du meinst, so eine perfekte Ehe wie Papa und du.“ Pauls Stimme klingt scharf.

„Das steht jetzt nicht zur Debatte“, wehrt seine Mutter ab.

„So perfekt, dass Katrin zu mir ins Bett gekommen ist und ich sie trösten musste, wenn wieder einmal die Teller geflogen sind.“

„Ihr wart bei euren Schimpftiraden nicht gerade leise“, unterstützt ihn seine Schwester, bevor die Mutter noch etwas entgegnen kann.

Doch dieser scheinen ohnehin die Worte zu fehlen. Sie steht da und starrt ihre Kinder an. Auf einmal, ohne dass es einen Zusammenhang gäbe, meint sie:

„Ihr habt noch gar nichts zu meiner neuen Frisur gesagt.“

Jetzt sind Katrin und Paul sprachlos. Sie schauen zur Mutter hoch, die vor ihnen steht und wie in einer Parodie die Hände an die Haarwellen legt.

Es ist Raphael, der als erster zu sprechen anfängt. „Eine sehr schicke Frisur“, sagt er leise. „Waren Sie heute extra noch beim Friseur? Und die Farbe ist auch anders. Ein etwas dunklerer Blondton, oder?“

Paul schießt durch den Kopf, dass Raphaels Bemerkung durchaus ironisch zu verstehen wäre. Doch seiner Mutter kommt es anscheinend nicht in den Sinn, dass er sich über sie lustig machen könnte.

„Zumindest einer, dem es auffällt“, stellt sie fest. „Hat doch etwas Gutes, dass Sie nicht in Wien geblieben sind, Raphael.“

Schon vorhin haben Katrin und ihre Mutter das Piano begutachtet. Um die Stimmung nach dem Essen wieder zu entspannen, nimmt Paul Bezug darauf.

„Dass Raphael in der Musikschule Gitarre unterrichtet, wisst ihr ja“, erklärt er, „aber privat spielt er noch lieber Klavier. Bei der ersten Besichtigung stand es da, das gute Stück – als würde es auf uns warten!“ Da sie das Haus übernommen hatten, wie es war, mit allen Möbeln und so weiter, mussten sie das Piano nur noch stimmen lassen.

„Und schon“, lacht Raphael, „war uns an den Abenden nicht mehr langweilig.“

„Als ob euch zusammen langweilig werden würde …“ Katrins Ton und ihr Blick kommen ihrem Bruder provozierend vor. Doch noch bevor er darauf etwas erwidern kann, bittet sie Raphael, etwas Weihnachtliches zu spielen.

„Lass uns vorher den Tisch abräumen und die Kerzen anzünden“, meint ihr Bruder.

Kurz darauf sitzen Katrin und ihre Mutter auf dem Doppelsofa, Raphael am Instrument.

Auf einem niedrigen Tisch steht der kleine Weihnachtsbaum, Streichhölzer liegen daneben bereit. Paul entzündet die wenigen Kerzen, die auf dem Bäumchen zwischen den dunkelroten Kugeln Platz haben, und die Bienenwachskerze, um die herum einige geschnitzte Krippenfiguren arrangiert sind. Dabei erzählt er, dass sie auch diese Figuren in einer Truhe entdeckt hätten, in denen die frühere Bewohnerin des Hauses, eine alte Frau, die im Winter zuvor im Schlafzimmer nebenan verstorben sei, allerhand Krimskrams aufbewahrt habe.

Und dann beginnt Raphael zu spielen, mit halb geschlossenen Augen und leicht zurückgelegtem Kopf und diesem ernsthaften, feierlichen Ausdruck im Gesicht, in den sich Paul vom Fleck weg verliebt hat. Das war drei Jahre zuvor bei einem Konzert des Uni-Orchesters, zu dem Paul ein Freundespaar begleitet hat und mit dem Raphael auch jetzt noch auftritt. Einige Weihnachtslieder, Raphael lässt die Melodien ineinander übergehen. Paul sitzt auf der Lehne des Sofas, dicht neben seiner Schwester. Er spürt ihren Blick und schaut zu ihr, dann zur Mutter und wieder zu seinem Freund. Dass es jemanden gibt, der Raphael ablehnen würde, kann er sich nicht vorstellen. Trotzdem ist ihm mulmig zumute; nicht in Bezug auf Katrin, da macht er sich keine Gedanken, er vermutet ohnehin seit einiger Zeit, dass seine Schwester ahnt, wie Raphael und er wirklich zueinander stehen. Doch wie seine Mutter auf das Geschenk reagieren wird, das sie für sie vorbereitet haben, vermag er nicht abzuschätzen.

Paul schenkt der Mutter und seiner Schwester nach. Der Rotwein glänzt im Licht der Kerzen in den Gläsern; Paul ist feierlich zumute.

Aber schon ins Verklingen des Schlussakkords mischt sich die Stimme seiner Mutter:

„Und wie steht’s jetzt mit dieser geheimnisvollen Überraschung?“

„Sei nicht so ungeduldig, Mama!“

„Dann fange eben ich an mit den Geschenken.“

Sie fischt aus ihrer Tasche, die neben ihr auf dem Sofa liegt, zwei Umschläge.

„Es ist schwer, euch etwas zu schenken“, stellt sie fest. „Ihr habt ja schon alles.“

Diesen Satz kennt Paul bereits. Er fällt an jedem Geburtstag und zu jedem Weihnachten.

„Also habe ich mir gedacht“, fährt die Mutter fort, „wir verbringen einfach ein bisschen Zeit zusammen. Quality time nennt man das wohl heutzutage.“ Sie hält ihren Kindern je einen Umschlag hin. „Gutscheine für ein Wellness-Wochenende zu dritt. In einer Luxustherme. Den Termin müssen wir uns noch ausmachen.“

Paul hat sich schon vorgebeugt und die Hand nach dem Geschenk ausgestreckt, da hält die Mutter inne.

„Für Sie, Raphael, habe ich leider nichts. Wie gesagt, ich habe ja nicht gewusst, dass Sie hier sein werden.“

Paul verhindert das Nachschwingen ihrer Worte, deren Tonfall ihm nicht gefällt, indem er abrupt aufsteht.

„Aber der Raffi und ich, wir haben etwas für dich“, sagt er. „Und das ist unsere Überraschung.“

Raphael zieht zwei schmale Päckchen hervor, die halb unter dem Weihnachtsbäumchen verborgen waren.

„Bücher?“, fragt die Mutter.

„Könnte von der Form her passen“, sagt Paul. „Stimmt aber nicht.“

„Es ist etwas ganz anderes“, sagt Raphael leise. Er überreicht eines der Päckchen an Katrin. „Etwas sehr Persönliches.“

Er küsst Katrin auf beide Wangen, sie drückt ihn kurz an sich. Dann wendet sich Raphael Paul und dessen Mutter zu, die ihr Päckchen bereits entgegengenommen hat.

„Jetzt bin ich aber gespannt“, meint sie.

Sie löst die Klebestreifen und schlägt das goldene Papier auseinander. Und hält, wie inzwischen auch Katrin, einen Bilderrahmen in Händen.

Poliertes, altes, dunkles Holz. Vor Nervosität sprudeln Pauls Worte nur so heraus: „Auch diese Rahmen haben wir hier im Haus gefunden. Wir haben sie restaurieren lassen. Ich finde, sie sind sehr schön geworden.“

Katrin blickt kurz auf. „Ja, sehr edel schaut das aus.“

Raphael steht abwartend neben seinem Freund. Pauls Mutter gibt keinen Kommentar zu dem Bilderrahmen ab. Es ist offensichtlich, dass sie mit dem, was sie darin sieht, zur Genüge beschäftigt ist.

Paul und Raphael vor einem der riesigen Hortensienbüsche mit den länglichen, weißen Blütendolden, die heckenartig im hinteren Teil des Gartens wachsen. Sie sind einander zugewandt und haben die Arme umeinander gelegt, in ihren Gesichtern liegt mehr als ein Lächeln für den Fotografen: ein Strahlen in den Augen, ein Moment echt empfundenen Glücks.

„Ein Freund hat das Foto gemacht“, unterbricht Paul die plötzliche Stille im Raum. „Bei der Einweihungsfeier Ende des Sommers. Da ist uns zum ersten Mal so richtig bewusst gewesen, dass wir uns gemeinsam etwas geschaffen haben.“

Und Raphaels Nachfrage: „Gefällt es euch?“

Katrin steht schon neben ihm und umarmt ihn und dann ihren Bruder. Dabei wird sie um ein Haar von der Mutter zur Seite gestoßen, die sich vom Sofa hochstemmt und wankend auf die Beine kommt. Paul wendet sich seiner Mutter zu, in seinem Gesicht die Erwartung, dass sie es Katrin nachmachen will, dass alles gut und so gekommen ist, wie Raphael und er es sich ausgemalt haben.

Doch die Mutter meidet seinen Blick. Sie drängt sich an ihm vorbei, drückt ihre Handtasche an sich, lässt das gerahmte Foto auf das Sofa fallen.

„Es ist wirklich schon spät“, murmelt sie. „Wer weiß, wie lang wir heim brauchen, bei dem Schnee und der Dunkelheit. Wir sollten … Katrin, komm, wir müssen jetzt aufbrechen …“

Paul hat Schwierigkeiten, ihre Worte zu verstehen. Die Mutter bewegt sich wie auf Stelzen durch den Raum in Richtung der Eingangstür. Sie versucht, ihren Mantel vom Garderobenhaken zu nehmen, sie fängt an, hektisch daran zu zerren und hört damit erst auf, als Paul seine Hand auf die ihre legt.

„Unser Geschenk“, sagt er ganz leise und mit dem Mund dicht an ihrem Ohr, „ist unsere Offenheit. Unsere Ehrlichkeit. Eigentlich müsste es eine Mutter glücklich machen, wenn sie weiß, dass ihre Kinder glücklich sind. Und sei es ihr schwuler Sohn.“

Da dreht sich die Mutter zu ihm. Zwischen zusammengekniffenen Lippen stößt sie hervor: „Manchmal vergreift man sich halt bei der Auswahl eines Geschenks.“

Sie wendet sich ab und öffnet die Tür. Ein Schwall von Kälte dringt in den Raum. Paul steht da und hat noch ihren Mantel in der Hand. Die Mutter tritt vor die Tür und ins Freie. Immer noch schneit es. Der Weg durch den Vorgarten ist unter dem Schnee nicht mehr auszumachen, im milchigen Licht der Straßenlaterne ist auch das Auto fast völlig unter einer weißen Haube verborgen. Wie betrunken stöckelt die Mutter in ihren hohen Schuhen durch den Schnee. Paul folgt ihr ein paar Schritte, dann holen ihn Raphael und seine Schwester ein.

„Lass sie“, sagt Katrin.

Sie nimmt den Mantel der Mutter an sich. Paul weiß nicht, was er tun soll, er schaut Hilfe suchend von Katrin zu Raphael.

„Danke für das wunderbare Geschenk“, sagt Katrin. „Eures liegt drinnen. Theaterkarten. Aber nur für uns drei.“

Wie sie so bei den beiden Männern steht, hat es fast den Anschein, als versuchte sie sich zwischen ihnen zu verbergen. Sie legt einen Arm um ihren Bruder, den anderen, in dem sie auch den Mantel hält, um Raphael.

„Danke, dass ich jetzt zwei Brüder habe.“

Sie tritt zurück und streicht Paul über die Wange. Ihre Augen glänzen, sie lächelt. Dann wendet sie sich um und läuft der Mutter nach. Für einen Moment kommt sie ins Rutschen, doch sie findet ihr Gleichgewicht wieder und hilft der Mutter in den Mantel. Paul und Raphael sehen, wie sie sie beim Gehen abstützt und sie Schritt für Schritt durch den Schnee in Richtung des Wagens geleitet.

Es ist jetzt windstill. Paul fällt auf, dass die Flocken mittlerweile ganz weich und wie in Zeitlupe fallen. Schon bald werden sie die Spuren der Mutter und der Schwester wieder zugedeckt haben. Auch was ausgesprochen oder nicht ausgesprochen wurde, hat sich in Pauls Denken verflüchtigt. Raphael ist bei ihm, Paul ist nicht allein, er kann Raphael spüren, das ist alles, was zählt.

Als sie so zusammen vor dem Haus stehen, umgeben von der Dunkelheit der Winternacht, hinter ihnen der helle Ausschnitt der Tür und vor ihnen die weiße Decke, die der Schnee über die Welt gezogen hat, ist Paul erstaunt darüber, wie friedvoll ihm zumute ist. Ihm scheint, als gäbe es für Raphael und ihn an diesem Punkt ihres Lebens, an diesem Weihnachtsabend, nur diesen einen Ort. Pauls Gefühl sagt ihm, dass der frisch gefallene Schnee, unbefleckt und sauber, ihnen die Möglichkeit für so etwas wie einen Anfang gibt, für den Beginn von etwas Neuem. Er ist zu sehr im Augenblick verhaftet, um dieses Neue genauer benennen zu können; doch seine Schwester – auch das ist Paul klar – ist für Raphael und ihn die Nabelschnur, nährend und pulsierend und warm, ihre Verbindung zu der Welt dort draußen, die schon bald wieder, in Tagen oder wenigen Wochen, unter dem schmelzenden Schnee sichtbar werden wird.

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Paul Senftenberg

 

Damals ist vorbei

 

186 Seiten

 

ISBN print 9-783-86361-403-4

 

Auch als E-book

 

In einem kleinen Auenwald unweit der Donau lernen sich die beiden gleichaltrigen Jungen Martin und Thomas kennen und treffen sich dort auf einem abgelegenen Friedhofsgelände immer wieder. Die beiden finden aneinander das, was sie in ihrem Elternhaus nicht bekommen: Geborgenheit, Freude und Liebe. Sie stürzen sich in einen emotionalen und sexuellen Rausch, der nur einen Sommer währt, denn Martin kommt mit der Vorstellung, sich als schwul zu outen, nicht zurecht.

Zweiundzwanzig Jahre später treffen die beiden Männer erneut aufeinander. Thomas führt ein Leben als offener Schwuler, Martin hat mittlerweile eine Studienkollegin geheiratet und ist Vater von zwei Kindern. Das Glück, nach dem sich beide Männer sehnen, hat sich aber nur bedingt eingestellt. Wie damals fängt alles wieder mit einem Kuss an, doch nach all der Zeit ist es für Thomas und Martin nicht einfacher, ihren Weg zu finden.

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Paul Senftenberg

 

Narben

 

140 Seiten

 

ISBN print 9-783-86361-364-8

 

Auch als E-book

 

Der siebzehnjährige Thomas kommt mit dem Unfalltod seines geliebten Vaters nicht zurecht, der etwas ältere Jakob nicht mit der Narbe, die seine Wange seit einem Hundebiss verunstaltet. In einer leerstehenden Villa treffen sie aufeinander und lernen, sich einem anderen Menschen zu öffnen …

Für die Zuneigung, die die beiden Jungen füreinander empfinden, ihre aufkeimende Liebe, entwirft Paul Senftenberg in seinem neuen Roman unverkitscht ehrliche Bilder von großer Zartheit und Zärtlichkeit. Indem die Jungs den Mut finden, sich aufeinander vertrauensvoll einzulassen, erleben sie nicht nur Momente ungewohnter Nähe, es gelingt ihnen zudem ein Neuanfang, in dem Angst und Vorurteile keinen Platz mehr haben.

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Paul Senftenberg

 

Eine ganz andere Liebe

 

176 Seiten

 

ISBN print 9-783-86361-316-7

 

Auch als E-book

 

Michael ist sechzehn und mit der gleichaltrigen Anna zusammen. Sie leben in der Idylle einer Kleinstadt unweit von Wien, und es ist, als wären sie immer schon füreinander bestimmt gewesen. Dass Michael beim Sex so zärtlich ist, genießt Anna. Dass er dabei an die halbnackten Surfer auf den Postern über ihrem Bett denkt, verdrängt Michael. Als er aber Daniel kennenlernt, bricht das Gebäude seines bisherigen Lebens wie ein Kartenhaus zusammen. Daniel musste nach einem Vorfall mit Drogen die Schule und Wien verlassen und wohnt nun bei seinem Onkel, dem Betreiber eines Sommerkinos, in dem alte Horrorklassiker gezeigt werden. Bei einer Vorstellung von Frankenstein kommt es zwischen Michael, dem Filmfreak, und Daniel, dem lebenslangen Außenseiter, zum ersten Kuss. Sie sind sich aber nicht bewusst, dass Anna alles mit ansieht …

Felix Demant-Eue
 
Ein besonderes Fest

„Oh, gut, dass du da bist. Ist schon spät“, brummelte Georg, als sein Freund die Wohnungstür auf- und wieder zu sperrte. Er machte den Ton des Fernsehers leiser. Dann hörte er, wie Daniel im Flur seinen Trenchcoat an der Garderobe aufhängte und seine Schuhe abstreifte. Daniel kam ins Wohnzimmer.

„Mein Gott, hat deine Besprechung wieder mal lang' gedauert“, meinte Georg und stellte den Fernseher ganz ab. „Läuft eh nichts Gescheites heute Abend.“ Er reckte sich.

Daniel erwiderte: „Die Besprechung war schnell vorbei. Haben uns rasch geeinigt. Die Jungs von der Rosa Liste machen mit. Ich war noch im SUB.“

Georg blickte seinen Freund an. „Gott ne, wie siehst du denn aus?“, erschrak er. „Was ist passiert?“

Daniel ließ sich aufs Sofa fallen. Dabei stöhnte er. „Ich glaub, ich hab mir auch ne Rippe gebrochen.“

Georg legte die Fernbedienung hin, stand vom Sessel auf, knipste das Deckenlicht an und setzte sich neben Daniel. „Nun sag schon, was ist passiert?“ Er schaute seinen Freund an, der da bleich neben ihm saß. Der trug einen turbanartigen Kopfverband und ein großes Pflaster klebte über seinem linken Auge.

Daniel schwieg eine Weile, holte tief Luft und zunächst langsam und nach Worten suchend, dann aber, wie es seine Art war, erzählte er in raschem Tempo, was vorgefallen war.

So erfuhr Georg, dass sein Freund wieder einmal, und obwohl er ihn dringlich gebeten hatte, es zu lassen, bei einer Demo mitmarschiert war. Bei einer jener Demos, die in letzter Zeit beinahe wöchentlich irgendwo in der Stadt abgehalten werden mussten. Demos gegen die Neo-Nazis. Und solche Gegendemos waren nicht ungefährlich. Einmal, weil diese Nazirüpel auf jeden einschlagen und mit Stiefeln auf ihn eintreten, den sie in die Hände, beziehungsweise vor ihre Füße bekommen. Und zweitens, weil auch die Polizei nicht zimperlich mit den Demonstranten umzugehen pflegt.

„Irgendwie haben die Schweine mich abgefangen, als ich schon in der Dämmerung auf dem Weg nach Hause war.“

„Wo ist das passiert?“

„Am Sendlingertor. Da ham se' mich erwischt.“

„Wer, die Polizei?“

„Blödsinn. Nein, natürlich nicht die Polizei. Nazibanausen. Ich hab zwar versucht abzuhauen, aber die versperrten mir den Weg. Und dann schlugen sie wie blöd auf mich ein. „Schwule Sau“, haben sie geschrien. Es waren drei oder vier. So genau weiß ich das nicht. Ich glaub die hätten mich totgeschlagen, wenn nicht zufällig eine Polizeistreife gekommen wäre.“

„Kanntest du einen von denen?“

„Nein, nicht. Konnte doch keinen von diesen Kerlen sehen. Musste mein Gesicht mit beiden Händen schützen.“

Georg schaute Daniel an. Er hob seine Hand und streichelte dessen Wange. „Oh ja, dein schönes Gesicht. Es wäre wirklich schade darum.“ Er lächelte. „Ich liebe es. Ich schaue es immer wieder gerne an.“ Damit drückte er seinem Freund einen Kuss auf die Lippen. „Hat man die Kerle verhaftet?“

„Die Kerle sind getürmt. Mich hat man ins Krankenhaus gebracht. Dort wurden meine Wunden versorgt.“ Daniel deutete auf seinen Kopfverband, dann aufs Pflaster an seiner Stirn. „Dann hat man mich befragt. Konnte aber nichts über die Nazischweine aussagen. Hab ja keinen sehen können.“

Georg erhob sich. Er ging einige Schritte auf und ab. Dann blieb er stehen. Er schüttelte den Kopf. „Mein Gott, Dany, wie oft hab ich dir gesagt, halt dich da raus. Ich mach mir Sorgen, wenn du bei solchen Demos dabei bist. Gerade du. Und warum hast du nicht wenigstens aus der Klinik angerufen?“

„Hätte ich ja. Aber mein Handy haben die Kerle zertreten.“

„Mist. Das auch noch. Aber nicht so schlimm. Wir kaufen dir ein neues. Hast du Anzeige erstattet?“

„Natürlich. Gegen Unbekannt. Bringt aber nichts, glaub ich.“

„Ach Dany, du weißt, dass ich dir schon oft geraten habe, dich bei öffentlichen Veranstaltungen rauszuhalten.“

„Ja. ja. Weiß ich ja. Aber wie kann ich mich da raus halten? Wie kann ich mich da raushalten, wenn ich mich beinahe täglich vorm Fernseher aufrege, darüber aufregen muss, was diese Hohlköpfe, diese Nazibanausen alles anrichten!“ Daniel ballte seine Fäuste und schüttelte traurig seinen Kopf. Dann blickte er seinen Freund mit großen Augen an. „Ich frage dich, wie kann man sich da raushalten, wenn man mit ansehen muss, wie sie Flüchtlingsheime anzünden; sich ansehen muss, wie sie Fremde jagen und verprügeln, ja, alle verprügeln, die sich für Flüchtlinge auch nur einsetzen. Man kann diesen Idioten doch nicht das Feld überlassen. Und man selbst sitzt bequem Zuhause im Sessel. Das ist doch nicht möglich. Ich kann da nicht nur einfach zuschauen!“

Georg ging zu Daniel. Er setzte sich wieder neben ihn und nahm ihn in den Arm. Er schwieg. Er bewunderte seinen Freund. Er bewunderte dessen Engagement für Recht und Gerechtigkeit, dessen unermüdlichen Einsatz für Ausgestoßene und Einsame. Er liebte ihn. Vor allem aber liebte er auch seine jugendliche Spontanität und Hilfsbereitschaft. Bei allen möglichen sozialen Belangen war Daniel ansprechbar. Auch jetzt wieder war die Initiative von ihm ausgegangen.

Aber Georg fürchtete auch, dass sich Daniel bei all diesen Aktivitäten übernahm. Er war als Grüner im Stadtparlament, er schrieb Artikel und hielt Vorträge, er korrespondierte mit Bundestagsabgeordneten, fuhr zu Parteitagen und organisierte nun seit einer geraumen Zeit mit Gleichgesinnten Flüchtlingsunterkünfte. Und bei all dieser seiner Umtriebigkeit blieb es nicht aus, dass er inzwischen bekannt war wie ein bunter Hund. Und diese Bekanntheit wurde so langsam zur Gefahr, wie der heutige Abend bewiesen hatte. Die Nazibande hatte Daniel ganz offensichtlich auf ihrer Abschussliste.

Um sich selbst zu beruhigen, schlug Georg vor: „Ich mach uns erst mal ´nen Kaffee. Ruh dich aus. Leg dich aufs Sofa.“

„Ja, prima.“

Georg ging in die Küche. Er stellte die Kaffeemaschine an, die immer in Bereitschaft war. Er nahm aus dem Schrank die Zuckerdose und holte aus dem Kühlschrank eine Packung Milch. Während die Kaffeemaschine brubbelte und zischte, angelte Georg vom Regal überm Küchentisch zwei braune, schon etwas unansehnliche, leicht angeschlagene Tassen. Sie waren aus Steingut. Alte, fast antike Becher. Seit etlichen Jahren schon in Benutzung. Ihre Lieblingstassen. Ein Mitbringsel aus Portugal. Jedes Mal, wenn Georg und Daniel aus diesen Tassen tranken, und das geschah eigentlich täglich, da beide leidenschaftliche Kaffeetanten waren, erinnerten sie diese Becher an ihre erste Begegnung.

 

Der Bus ratterte eine Serpentinenstraße bergauf. Zunächst säumten auf beiden Seiten Pinien den Weg. Draußen zitterte die Luft in der Mittagshitze. Im Bus war es angenehm kühl. Georg hatte einen Platz auf der rechten Seite am Fenster und schaute hinaus. Weiter in der Höhe wichen auf seiner Seite plötzlich die Bäume. Eine steile Wand aus dunklem Fels versperrte ihm den Blick. Dafür spiegelten sich nun in den Scheiben die Köpfe der anderen Fahrgäste. Zwischen diesen sich im Seitenfenster vage reflektierenden Köpfen huschte das Geäst von Pinien der anderen Straßenseite vorbei wie hingepinselte Farbtupfer. Es war ein flüchtiges wechselvolles Spiel von Schatten und Licht, von dunklen Passagen und hell dahin huschendem Grün. Und dann sah Georg in diesem flüchtigen Bild der Spiegelungen, zwischen diesen unscharf vorbeiziehenden Widerschein der Pinien, unter all den anderen Köpfen und Gesichtern im Bus - ein Gesicht. Ein besonderes Gesicht! Und was für ein Gesicht! Gerahmt von schwarzem Haar, welches in weichen Wellen wallend bleiche Wangen umschmeichelte. Unter einer hohen Stirn und dem Schwung fein gezogene Wimpern, zwei dunkel glühend leidenschaftliche Augen. Ein sinnlicher Mund, blutvolle Lippen, lächelnd.

Georg drehte sich nach diesem Spiegelgesicht in den Scheiben um und blickte diesen jungen Mann in der Sitzreihe auf der anderen Busseite unverwandt an; er starrte in dessen Gesicht, als sei er ein Fabelwesen. Dabei muss er wohl einen so blöden Eindruck gemacht haben, dass Daniel anfing, schallend zu lachen. Und dieses herzhafte Lachen steckte an. Nicht nur Georg fiel in dieses Lachen ein, sondern beinahe auch alle anderen Fahrgäste im Bus.

Und wann immer Georg nach all den Jahren an diese Situation dachte, musste er unwillkürlich lächeln. Immer sah er dann diese teifgründigen Augen vor sich. Augen, die, wenn sie nicht voller Schalk oder Zorn sprühten, berührend waren wie die von Heiligen auf klassischen Gemälden.

 

Die Kaffeemaschine stellte ihr Blubbern ein. Der Kaffee war durchgelaufen. Georg goss die beiden Becher voll, gab Milch hinzu, tat in jede Tasse zwei gehäufte Löffel Zucker, rührte um und ging mit dem Kaffee ins Wohnzimmer.

Daniel lag ausgestreckt auf dem Sofa. Er richtete sich auf, als Georg hereinkam. Dabei stöhnte er und fluchte. „Scheiß Neo-Nazis, die linke Seite tut mir verdammt weh.“

Georg dimmte das Licht, stellte eine Tasse vor Daniel auf den Couchtisch. „Da, bitte“, sagte er. Die andere Tasse behielt er in der Hand. Er setzte sich in den Sessel gegenüber.

„Danke“, sagte Daniel, „das tut jetzt gut. Draußen ist's doch schon empfindlich kalt.“

Die Freunde tranken schlürfend ihren Kaffee. Daniel schaute auf seine Tasse, dann blickte er Georg an. Er lächelte. „Wie lange trinken wir jetzt schon aus diesen hässlichen Bechern unseren Kaffee?“

Georg dachte nach. Im Geiste zählte er an imaginären Fingern die Jahre ab. „Ich meine, dass wir uns vor siebzehn Jahren getroffen haben.“

„Im Bus.“

„Im Bus. Anschließend waren wir in Murca. Eine Woche, eine herrliche Woche.“

„Eine heiße Woche.“

„Weiß Gott, eine heiße Woche. Tolle Zeit. Da haben wir diese blöden Tassen gekauft. Jetzt sind sie so etwas wie die Reliquien unserer Liebe.“

„Du sagst es.“

Georg blickte zum wandhohen Frontfenster hin. Matt schimmerte durch die inzwischen kahlen Äste der Alleebäume in der Elisabethstraße von unten herauf das gelbliche Licht der Straßenlaternen und zauberte in Zusammenarbeit mit Windböen sich stetig wandelnde Schattenmuster auf die große Scheibe. Ab und zu drückte kurzes mächtiges Fauchen die Fensterfront, ließ sie leicht erzittern. Die Bäume schüttelten ihr kahles Geäst. Der Abendwind schien stärker geworden zu sein. Es könnte eine unfreundliche Nacht werden. „Hoffentlich kannst du schlafen“, wandte sich Georg an seinen Freund, „oder soll ich dir Schmerztabletten holen? Sind noch welche in der Hausapotheke, weiß ich.“

Daniel winkte ab. „Lass mal. Wird schon gehen. So schlimm ist's auch wieder nicht.“ Er stellte seine Tasse auf den Couchtisch. „Aber jetzt hab ich Hunger.“

„Oh, das ist ein gutes Zeichen. Ich geh schnell in die Küche und bereite das Abendbrot. Leg dich wieder so lange hin.“ Georg schnappte sich Daniels leere Tasse und verschwand.

 

„Das ist ja mal eine gute Nachricht“, schwärmte Georg und hob sein Glas. Zur Feier dieser Übereinkunft mit den zuständigen Behörden der Stadtverwaltung hatte Georg eine gute Flasche Roten aufgemacht. Sie hatten am runden Esstisch in der Zimmerecke Platz genommen. „Wenn da alle mitmachen, kann's eigentlich nur ein Erfolg werden, oder?“

„Und, was wichtiger ist, es wird sowohl in Zeitungen, als auch im Fernsehen darüber berichtet.“

„Bist du sicher?“, warf Georg, der ewige Zweifler, ein.

„Du mit deinem Pessimismus“, tadelte ihn Daniel.

„Lieber Pessimist als Optimist. Wenn's dann tatsächlich klappt, um so besser“, lachte Georg und fügte hinzu: „Ein Optimist ist nur einer, der schlecht informiert ist.“

Daniel schmunzelte. „Gute Sprüche hast du immer drauf.“

„Und ein Pessimist ist ein am Schicksal gereifter Optimist.“

„Ich hab mit dem zuständigen Redakteur sowohl bei der Süddeutschen als auch beim BR gesprochen“, kam Daniel wieder auf das Thema zurück. „Beide Redakteure sind von unserer Sache ganz begeistert. Sie werden sich entsprechend dafür einsetzen.“

Eine Zeit lang aßen sie nun schweigend. Georg hatte aufgetischt, was Kühlschrank und Tiefkühltruhe an Leckereien anzubieten hatten.

„Also gut“, setzte Daniel ihr Gespräch fort, leerte sein Glas, stellte es ab, goss sich Wein nach, trank einen Schluck, „die Finanzierung für die Flyer ist gesichert. Es gehen in diesen Tagen dazu noch Informationen an andere Communities. Da gibt’s nach meinen ersten Recherchen, erfreulicherweise, durchaus Zustimmung.“

„Welche Städte habt ihr kontaktiert?“

„Na ja, natürlich Köln. Da ist die größte Community. Dann auch Hamburg, Berlin selbstverständlich. Und die kontaktieren dann andere Clubs in ihrer Nachbarschaft.“

„Was ist mit Leipzig, mit Dresden? Die ham's doch am nötigsten, oder?“ Georg sah seinen Freund skeptisch an.

„Da hab ich einen guten Freund drauf angesetzt. Der fährt eigens dafür dort hin. Du kennst ihn.“

„Doch nicht etwa den Schwarzen?“

„Du sagst es. Genau den. Der hat dort beste Kontakte. Schließlich war er seinerzeit, als er noch Pfarrer war, bei den Montagsdemos aktiv dabei. Er will sich für unsere Sache stark machen. Ich bin sicher, er wird Erfolg haben.“

„Na, bei den vielen Rechtsaußen in Pegida und bei den AfDlern. Da sehe ich nun wiederum schwarz für den Schwarzen.“

Daniel winkte ab. „Genau zu diesen Leuten hat der Hans, hat unser Schwarzer, beste Kontakte. Er ist ein Ossi, ein geborener Sachse, ihm schenken die Leute Vertrauen. Und er kann reden, kann überzeugen.“

Das Telefon klingelte. Georg sprang sofort auf. Er ging zur Kommode, nahm den Hörer. „Ja bitte? - Ach, Hannelore. - Ja gut, danke. - Hm, er ist da, ich geb ihn dir.“ Georg kam mit dem Telefon zum Esstisch. „Deine Mutter.“

Daniel kaute schnell zu Ende. Er nahm den Hörer entgegen. Er lauschte. Dann sagte er: „Nein, leider. Dieses Jahr wird das wohl nichts. Ich erklär’s dir.“ Und dann, mit kurzen Unterbrechungen, weil seine Mutter ständig dazwischen plapperte, setzte Daniel seiner Mutter auseinander, warum sie beide in diesem Jahr zu Weihnachten nicht nach Erlangen kommen könnten. Daniel schlug stattdessen vor: „Komm du doch zu uns. Platz ist da, du weißt. Georg und ich, wir würden uns sehr freuen.“ Noch einige weitere Wortwechsel, dann war das Gespräch mit einem „Dir auch“ beendet. Daniel legte das Telefon auf den Tisch.

Bis jetzt waren sie jedes Jahr über die Weihnachtsfeiertage zu Daniels Mutter gefahren, in jenes Haus, in dem Daniel groß geworden war. Hannelore war Ärztin und lebte allein. Ihr Sohn war ihr Ein und Alles. Einen Vater hatte es für Daniel nie gegeben, er kannte ihn nicht und seine Mutter wollte auch nie darüber reden.

„Sie wird sehr traurig sein, dass wir nicht kommen, oder?“, fragte Georg.

„Ja, sicher. Aber andererseits kann sie sich in diesem Falle kaum darüber beschweren. Sie wird zu uns kommen.“

„Hier hab ich den Ausdruck“, sagte Daniel zwei Tage später, zog aus seiner Tasche ein Papier und überreichte es Georg. „Wir haben uns im SUB zusammengesetzt und uns auf diesen Text geeinigt.“

Georg las den Entwurf. „Hm, nicht übel.“

„Und auf der Rückseite kommt das da“, und Daniel tippte auf die rechte Textspalte. „Die verantwortlichen Organisatoren mit E-Mail-Adresse und Telefon.“

„Gott sei Dank, da bist du nicht namentlich genannt und das ist auch nicht dein Telefon“, sagte Georg erleichtert.

„Das ist einmal die Adresse und die Telefon-Nummer von der Rosa Liste und die von der Regenbogenstiftung. Die fungieren als der eigentliche Organisator. Auch die Caritas ist selbstverständlich dabei.“

Georg lächelte. „Prima, das ist gut, nach den Erfahrungen von vor zwei Tagen.“ Dann schaute er sich noch einmal den eigentlichen Flyer-Text an. „Aber da müsste unbedingt noch was mit Farbe nachgeholfen werden.“

„Dazu bist du da“, grinste Daniel. Die beiden Freunde setzten sich an den PC. Georg, der als Grafiker arbeitete, machte sich nun daran, den Aufruf entsprechend zu gestalten.

Daniel schaute ihm eine Zeit lang über die Schulter, dann stand er auf, ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Packung Orangensaft heraus. Mit zwei Gläsern und dem O-Saft kam er wieder zu Georg. „Willst du auch? Da hat doch tatsächlich Martin eingeworfen, Weihnachten sei ein Christliches Fest. Damit könnten Andersgläubige nichts anfangen. Stell dir vor.“

„Was hast du ihm geantwortet?“

„Dass das in diesem Fall doch keine Rolle spielt. Es ist das Fest der Nächstenliebe. Und die schließt niemanden aus.“

„Richtig“, nickte Georg. „Wo sollen die Flyer verteilt werden?“

„In allen einschlägigen Kneipen, in Restaurants, in Diskos und in Hotels. Überall wo es uns erlaubt wird. Außerdem werden wir sie in Bussen, U-Bahnen und Straßenbahnen auslegen. Die Genehmigung der Verkehrsbetriebe haben wir dafür bereits. Und wir verteilen sie in der Fußgängerzone.“

„Gut.“

Auf dem Bildschirm waren inzwischen zwei Kreise zu sehen. Zwei Kreise, die sich etwas überlagerten. Der rechte Kreis hatte am äußeren Rand eine dunkelrote Farbe, die zur Mitte hin sowie zur anderen Randseite langsam heller und heller wurde. Dort, wo dieser rote Kreis in den anderen eindrang, wo sich die beiden überlappten, wurde aus dem Rot zunächst ein Gelb und dann weiter innerhalb des zweiten linken Kreises nach und nach ein immer freundlicheres Grün.

„Dort in der Mitte“, und Daniel tippte auf die Stelle, wo die beiden Kreise mit einander verschmolzen, „dort hin kommt der Text. Deutliche schwarze Lettern. Groß und klar, dass jeder ihn leicht lesen kann.“

„Und was sollen diese Kreise symbolisieren?“

„Den Zusammenschluss von Verschiedenem. Den friedlichen Zusammenschluss, wohl gemerkt. Darum wird ja auch aus der dunkel roten etwas aggressiveren Farbe auf der rechten Seite langsam zunächst ein neutrales Gelb und dann ein freundliches versöhnliches Grün.“

„Das Gelb als Übergang?“

„Das Gelb als Übergang“, bestätigte Georg. „Ein Übergang von der einen zur anderen Seite, von der Aggressivität zur Versöhnung, vom Hass zur Nächstenliebe. Und dieses Gelb bildet zudem für den Text einen kontrastreichen Untergrund.“

„Und warum nicht Blau statt Grün? Blau ist doch ebenfalls eine freundliche positive Farbe.“

„Blau ist die Farbe der Romantik. Grün aber die Farbe der Hoffnung, darum Grün.“

„Gut, stell den Text ein“, bat Daniel,

 

Selbst einst ausgegrenzt

Noch heute von vielen verachtet

Oft verlacht und geschmäht

Geschlagen und getreten

Kennen wir, was es heißt, ausgestoßen zu sein:

Aller Willkür ausgesetzt

Der Dummheit ausgeliefert

Den ewig Gestrigen zum Opfer.

 

Darum engagiert euch,

macht mit, setzt ein Zeichen gegen Engstirnigkeit,

schreitet ein, helft mit:

 

Jeder kümmert sich nach seinen Möglichkeiten anlässlich des Festes der Lichter und der Liebe um eine Flüchtlingsfamilie, gibt Geborgenheit, lädt zum Essen, verteilt Geschenke, hilft bei Behördengängen, bietet Raum und den Kindern Deutschunterricht.

Ist Mensch für Menschen in Verzweiflung und großer Not!

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Felix Demant-Eue

 

Das dramatische Leben des Christopher M.

 

230 Seiten

 

ISBN print: 978-3-86361-500-0

 

Auch als E-book

 

Ein junger Mann wird in einer Hafenkneipe ermordet.

Laut Aussage des Untersuchungsrichters handelt es sich um Christopher Marlowe, den beim breiten Publikum wie beim Adel äußerst beliebten Bühnenautor. Durch die Ermordung entgeht er dem Galgen, denn Kirchenmänner werfen ihm Hochverrat vor.

Ihnen war dieser seine Homosexualität freimütig auslebende Dramatiker lang schon ein Dorn im Auge.

Hetzblätter, die man in Marlowe's Unterkunft fand, bildeten die Grundlage für diese Anklage.

Adelige, und auch die Queen, wollen diesen jungen Mann aber retten, so täuschen sie diese Ermordung vor.

Sie führen mit dieser Inszenierung sowohl die Öffentlichkeit als auch die Bischöfe hinters Licht.

Allerdings muss der „Ermordete“ fortan in der Fremde leben und kann nur noch unter falschem Namen schreiben.

Von nun an werden seine Theaterstücke unter dem Namen William Shakespeare in die Weltliteratur eingehen. 

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Felix Demant-Eue

 

Vom Vatikan verfolgt

„Die Heimtücke der Mächtigen – Und die Macht der Liebe“

 

220 Seiten

 

ISBN print 978-3-86361-382-2

 

Auch als E-book

 

Im ausgehenden Mittelalter treiben lüsterne Kardinäle erotische Feste, wird ein junger Mann als Lockvogel missbraucht, ist ein intriganter Mönch auf der Suche nach Dokumenten, die für die Kirche bedrohlich sind, herrschen Lüge, Betrug und Mord.

Und in all diesem Chaos übersteht die unerschütterliche Liebe zwischen Martinus und Francesco Verleumdung, Verfolgung und Bedrohung.