Inhalt

 

Philip José Farmer

Sherlock Holmes und die Legende von Greystoke


Die Originalausgabe erschien 2011 bei Titan Books unter dem Titel

 The Further Adventures of Sherlock Holmes: The Peerless Peer

 

Copyright © 2011 by the Philip J. Farmer Family Trust.

Alle Rechte vorbehalten.

 

© 2011 by Win Scott Eckert (Nachwort)

© 2013 by Christian Endres (Einleitung)

 

Vermittelt durch die Paul & Peter Fritz AG

 

Redaktion: Christian Endres

Eine Veröffentlichung des

Atlantis-Verlages, Stolberg

Juli 2013

 

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

eBook-Erstellung: www.ihrhelferlein.de

Titelbild und Schriftzüge: Mark Freier

Umschlaggestaltung: Timo Kümmel

Lektorat: Thomas Michalski

Satz: André Piotrowski

 

ISBN der eBook-Ausgabe: 978-3-86402-113-8

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.atlantis-verlag.de

 

 

Aus dem Amerikanischen

von Ben Sonntag

 


 
 
Die weiteren Abenteuer des
Sherlock Holmes
 
 

Sherlock Holmes
und die Legende von Greystoke

 

 
 
 
von Dr. John Watson
 
 
Herausgeber:
Philip José Farmer

Amerikanischer Bevollmächtigter
für die Hinterlassenschaften von
John Watson, Lord Greystoke, David Copperfield,
Martin Eden und Don Quijote

 
 
 
Mit einem Vorwort von Christian Endres
und einem Nachwort von Win Scott Eckert


 

 

 

 

 

Gewidmet Samuel Rosenberg,
der der Welt den größten Doylie
aller Zeiten geschenkt hat.

 
 
 
 
 
Alle Figuren in diesem Buch sind real;
jegliche Ähnlichkeit mit fiktiven Personen ist rein zufällig.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

 

Der Napoleon des Crossovers

 

von Christian Endres

 

Wir alle, die wir uns heutzutage in den Gefilden der Crossover-Literatur austoben und hierbei an Helden und Heldentypen zusammenführen, was die grandiose Genre-Historie hergibt, sind Altmeister Philip José Farmer zu großer Dankbarkeit verpflichtet. Nicht nur, weil wir dank ihm heute an Erotik und Sex aufbieten können, was immer uns für unsere Geschichten so einfällt. Dank ihm können wir außerdem mit allen möglichen fiktiven Figuren und geschichtlichen Gestalten in den Ring steigen, sie gemeinsam alle nur erdenklichen Abenteuer erleben lassen.

Dabei ist der von Farmer geförderte Crossover-Gedanke wohl nirgends stärker als im Umfeld von Sherlock Holmes und Dr. John Watson, Sir Arthur Conan Doyles ebenso unsterblichem wie kongenialem Freundes-Duo aus dem spätviktorianischen London. Ob Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Oscar Wilde oder Sigmund Freud, ob das Schaffen von Jules Verne, Hans Christian Andersen oder H. P. Lovecraft, ob Fantasy, Science Fiction oder Horror – es gibt einen riesigen Pool historischer und popkultureller Mythen, aus denen man sich bedienen kann, wenn man heutzutage einen Sherlock-Holmes-Pastiche schreibt.

Bereits vor ein paar Jahren habe ich Philip José Farmer meine Storysammlung »Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes« gewidmet, und ich unterstreiche es hier gerne noch einmal: Farmer hat das literarische Crossover und damit letztlich auch die Sherlock-Holmes-Pastiche-Kultur wie kein Zweiter geprägt, noch vor Alan Moore, Kim Newman und anderen modernen Meistern des Crossovers. Wir verdanken ihm und seinem faszinierenden Wold-Newton-Konzept – diesem rein fiktiven, aber stark faktischen Stammbaum für unzählige Helden der Unterhaltungsliteratur, der von Howards Kull über eben Burroughs Tarzan und Conan Doyles Sherlock Holmes bis hin zu Flemings James Bond reicht – unglaublich viel.

Ich verdanke ihm viel, als Leser wie als Autor.

Es erfüllt mich daher mit großer Freude, vermittelnd dabei geholfen zu haben, diesen Kurzroman erstmals vollständig auf Deutsch zu präsentieren, obendrein in jener Urfassung von 1974, in der Holmes und Watson auf Tarzan alias Lord Greystoke treffen, nachdem der Text in den 80ern aufgrund von Copyright-Problemen zeitweise komplett umgeschrieben worden war und Kiplings Mowgli in der neuen Novelle den Platz des »edlen Wilden« eingenommen hatte, aus »Weiße Haut« also »Kleiner Frosch« geworden war (was komplett Sinn ergibt, da Kiplings »Dschungelbücher« definitiv eine Inspirationsquelle für Burroughs gewesen sein dürften). In der Novellenfassung spricht der britische Major und indische Baronet Sir Mowgli mit tauben Kobras, spielt sich selbst in einer Verfilmung seines Lebens als wilder Mann, treibt ein adeliges Starlet in den Wahnsinn und dringt ebenfalls in Haggards und Quatermains Gefilde ein.

Auf Deutsch fand man bisher einzig diese nicht minder humorige Alternativversion der originalen Geschichte als »Die tollkühnen Männer in ihrem lenkbaren Luftschiff« in Farmers Storysammlung »Weltraumaventüren«, die 1986 bei Bastei Lübbe als Taschenbuch erschienen ist und damals immerhin das Originalcover und unter anderem die Illustrationen des großartigen Michael Wm. Kaluta übernommen hat (allerdings wurde der Holmes-Pastiche mit Mowgli in der damaligen Zusammenstellung vermutlich von Farmers zoologischem Gedankenspiel bezüglich King Kongs Penisgröße in der Story »Nach King Kongs Sturz« überschattet). Erst seit 2008 ist es möglich, wieder die ursprüngliche »Tarzan-Langfassung« der Erzählung abzudrucken (in seinem Nachwort liefert Win später noch die »logische Erklärung« innerhalb des Wold-Newton-Kontextes für das Hin und Her bei Titel, Inhalt und Autor).

Davon abgesehen, zeigt der knackige Kurzroman auch nach all der Zeit noch einen Philip José Farmer in Höchstform, der sichtlich Spaß am Spiel mit einigen seiner persönlichen Favoriten hatte, während er Dschungel und Zivilisation, Instinkt und Deduktion, Abenteuer und Krimi sowie viktorianische Magazine und amerikanische Pulps aufeinandertreffen ließ. Holmes, Tarzan, G-8, der Shadow – es ist ein regelrechtes Schaulaufen.

Vielleicht noch ein paar Worte zu der Art und Weise, wie Farmer einige seiner Lieblingsheroen in dieser wundervollen Parodie voll sauerkrautvernichtender Bakterien, Witz und Anspielungen porträtiert.

Manch ein Leser wird womöglich Farmers lüsterne Tarzan-Decodierung »Lord Tyger« von 1970 kennen und sich nicht sonderlich wundern, dass Edgar Rice Burroughs Held vom Initiator des Wold-Newton-Universums gerne mal in einem etwas anderen Licht dargestellt wird (so, wie auch Holmes und Watson bei ihm, sagen wir, nicht ohne Augenzwinkern auskommen). Allen anderen sei versichert: Farmer war ein begeisterter Holmesianer und Anhänger des Great Game, und gerade den Herrn der Affen liebte er wirklich von ganzem Herzen und meinte es sicher nicht böse!

Darüber hinaus gab es in den über 100 Jahren seit Tarzans Debüt natürlich schon zahlreiche Interpretationen und Adaptionen: Robert Days Film »Tarzan and the Valley of Gold« von 1966 und der dazugehörige Roman aus der Feder von Fritz Leiber (der erste offizielle Tarzan-Roman, der nicht von Burroughs stammte) etwa machten den Urwald-Halbgott gar zu einer ganz schön bondmäßigen Figur; und in Thomas Yeates »The Once and Future Tarzan« ist der Titelheld in einer Zukunft irgendwo zwischen J. G. Ballards überwucherten Endzeit-Szenarien um »Paradiese der Sonne« und Brian K. Vaughans »Y – The Last Man« unterwegs. Nicht zu vergessen, dass sich der gute Lord Greystoke in Ron Marz und Igor Kordeys »Batman/Tarzan: Claws of the Cat-Woman« auch schon mit Gotham Citys Dunklem Ritter zusammentat, in Walt Simonsons und Lee Weeks’ »Tarzan versus Predator: At the Earth’s Core« gegen die unnachgiebigen Alien-Jäger kämpfte und mit dem Stählernen im Elseworlds-Abenteuer »Superman/Tarzan: Sons of the Jungle« von Chuck Dixon und Carlos Meglia die Plätze tauschte (wobei die drei zuletzt genannten Beispiele obendrein verdeutlichen, wie wichtig der Crossover-Gedanke seit vielen Jahren für die Struktur des US-Comicmarktes ist).

Und auch im Fall Holmes und Watson gab es in den mehr als 125 Jahren ihrer denkwürdigen Zusammenarbeit schon einige nicht weniger denkwürdige satirische und extravagante Annäherungen. Allen voran Filmjuwelen wie Billy Wilders »Das Privatleben des Sherlock Holmes« von 1970, mit Robert Stephens und Colin Blakely, und »Genie und Schnauze« von 1988, mit Sir Michael Caine und Sir Ben Kingsley. Dazu kommen literarische Querdenkereien wie Michael Chabons »Das letzte Rätsel«, Neil Gaimans »Eine Studie in Smaragdgrün«, Esther Friesners Alternativwelt-Highlight »Druidenblut« oder der Einsatz des Gespanns in »Der Clan der Magier«, einer weiteren spritzigen Crossover-Perle von Roger Zelazny.

Doch zurück zu »Sherlock Holmes und die Legende von Greystoke«. Mit dieser Geschichte zeigte Philip José Farmer schon vor 40 Jahren das große Potenzial und zugleich das große Dilemma der Crossover-Literatur und der Arbeit mit mythologisierten Figurenschöpfungen und archetypischen Heldenikonen auf: Denn das Ganze ist ein beständiger Kampf gegen Klischees und vor allem die Frage, wie weit man gehen soll. Wie forsch man – sozusagen – kombinieren und wie radikal man an die Berühmtheiten und ganz allgemein die Sache rangehen darf.

So wird am Ende sicher nicht jeder Holmes-Hardliner mit Farmers Ton und erst recht nicht mit seiner Darstellung des Meisterdetektivs und dessen unabkömmlichen Sidekicks einverstanden sein, und auch Tarzan-Fans müssen Humor haben.

Der Erfolg von Guy Ritchies Holmes-Blockbustern mit Robert Downey jr. und Jude Law sowie das brillant modernisierte TV-Highlight »Sherlock« mit Benedict Cumberbatch, Martin Freeman und zahlreichen SMS haben vor Kurzem jedoch erst wieder eindrucksvoll bewiesen, dass Neuinterpretationen und frische Herangehensweisen dem Glanz unserer Helden nicht schaden.

Ganz im Gegenteil.

Es überrascht keineswegs, dass Philip José Farmer, der Napoleon des Crossovers, das schon vor so vielen Jahren durchschaut und als Autor immer wieder in die Tat umgesetzt hat.

 

 

 

Christian Endres schreibt regelmäßig für die Zitty Berlin, den Tagesspiegel, phantastisch!, Das Science Fiction Jahr und viele mehr. Im Comic-Bereich betreut er als Redakteur u. a. die deutschen Ausgaben von Spider-Man, den Avengers und Conan. Seine Kurzgeschichten und Sherlock-Holmes-Pastiches erschienen in zahlreichen Anthologien und Magazinen. Für seine Storysammlung »Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes« wurde er mit dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichnet. Er bloggt unter www.christianendres.de.

    

 

Vorwort

 

Wie jedermann weiß, bewahrte Dr. Watson seine Manuskripte die unveröffentlichten Fälle Sherlock Holmes betreffend in einem verbeulten, zinnernen Dokumentkasten auf. Dieser Kasten wurde in den Tresorräumen der Bank Cox & Co. in Charing Cross verwahrt. Welche Hoffnung die Welt auch gehegt haben mochte, dass diese Papiere jemals der Öffentlichkeit bekannt werden würden, sie wurde zerstört, als das Bankgebäude während des Zweiten Weltkriegs in Trümmer gesprengt wurde. Es heißt, dass Winston Churchill höchstselbst angeordnet habe, die Ruinen nach dem Kasten abzusuchen, doch man fand keine einzige Spur von ihm.

Ich freue mich, berichten zu dürfen, dass dieser Misserfolg keinen Anlass zum Bedauern gibt. Zuvor bereits war das Kästchen, aus unbekannten Gründen, in eine kleine Villa an den südlichen Hängen der Sussex Downs nahe der Ortschaft Fulworth überführt worden. Es wurde in einer Truhe auf dem Dachboden der Villa aufbewahrt. Diese war, wie jeder wissen sollte, der Wohnsitz von Sherlock Holmes, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte. Es ist nicht überliefert, was schließlich mit dem größten aller Detektive geschah. Es gibt keine Dokumente seinen Tod betreffend. Selbst wenn es sie gäbe, so würden sie von den vielen angezweifelt, die von ihm noch immer als einer lebenden Person denken. Dieser nahezu religiöse Glaube lebt fort, auch wenn er, sollte er tatsächlich noch unter uns weilen, zum Zeitpunkt, an dem dieses Vorwort entsteht, 120 Jahre alt wäre.

Was immer auch aus Holmes wurde, die Villa wurde in den späten 1950ern an den 17. Herzog von Denver verkauft. Der Kasten, zusammen mit einigen weiteren Objekten, wurde auf das herzogliche Anwesen in Norfolk verbracht. Seine Gnaden hatte die Absicht, bis nach seinem Tode zu warten, bevor die Dokumente veröffentlicht werden durften. Allerdings hat Seine Gnaden das Gefühl, obwohl bereits 84 Lenze zählend, dass er wohl noch die Hundert erreichen könnte. Die Welt hat schon zu lange gewartet und ist sicherlich bereit für alles, was sich in Watsons Erzählungen finden mag, sei es auch noch so schockierend. Der Herzog hat sein Einverständnis gegeben, bis auf wenige Ausnahmen alle Manuskripte veröffentlichen zu lassen, und selbst diese mögen noch in den Druck gehen, sollten die Nachfahren gewisser darin erwähnter Leute ihre Einwilligung erteilen. Seine Gnaden gebührt unser Dank für seine großzügige Entscheidung.

Als er die guten Neuigkeiten vernahm, kontaktierte unser amerikanischer Verleger die mit den Watson-Papieren betreuten Agenten und hatte das Glück, die Verlagsrechte für Amerika zu erhalten. Das vorliegende Abenteuer ist das erste, das veröffentlicht wird. Weitere werden mit der Zeit folgen.

Watsons handschriftliche Aufzeichnungen sind offensichtlich ein erster Entwurf. Eine Reihe von Abschnitten, die tatsächliche Aussagen Beteiligter während dieses Abenteuers beinhalten, sind entweder durchgestrichen oder durch Sternchen ersetzt worden. Der einzigartige Edelmann dieser Geschichte wird als »Greystoke« bezeichnet, doch an einer Stelle drangen alte Gewohnheiten durch und Watson schrieb versehentlich »Holdernesse«. Watson hinterließ keine Notizen, die erklärten, warum er ein Pseudonym durch ein anderes ersetzte. Er verwendete »Holdernesse« in »Die Abteischule«, um die Identität von Holmes’ noblem Klienten zu verschleiern. Holmes selbst, in seiner Referenz auf den Edelmann in »Der Erbleichte Soldat«, benutzte das Pseudonym »Greyminster«.

Es ist die Vermutung des Herausgebers, dass Watson sich in dieser Erzählung für »Greystoke« entschied, weil dieser Deckname durch Romane weltberühmt wurde, die auf den afrikanischen Abenteuern des Neffen jenes Mannes basieren, den Watson als »Holdernesse« bezeichnet hatte.

Das vorliegende Abenteuer ist aus vielerlei Gründen einzigartig. Es enthüllt, dass Holmes kein Verbleib im Ruhestand nach den Ereignissen in »Seine Abschiedsvorstellung« vergönnt war. Uns wird dargelegt, dass Holmes Afrika ein zweites Mal besucht hat, weit über Khartum hinaus (wenn auch nicht freiwillig), und somit Großbritannien vor der größten Gefahr bewahrte, die es jemals bedrohte. Wir erhalten einige Einblicke in die Karrieren der zwei größten amerikanischen Flieger und Spione in der Frühphase des Ersten Weltkriegs. Wir erfahren, dass Watson ein viertes Mal heiratete; auch wird zum ersten Mal die Vernichtung einer Zivilisation dokumentiert, welche dem alten Ägypten gleichkam. Holmes’ Beiträge zur Honigbienenforschung und wie er sie verwendete, um sich und andere zu retten, finden hierin Erwähnung. Die Erzählung beschreibt weiterhin, wie Holmes’ geniale Fähigkeit der Schlussfolgerung ihm ermöglichte, eine gewisse Unklarheit aufzuhellen, welche die scharfsichtigeren Leser der Werke von Greystokes amerikanischem Biographen schon länger vor ein Rätsel gestellt hatte.

Einige Aspekte dieser Unklarheit werden von Lord Greystoke selbst in »Extracts from the Memoirs of Lord Greystoke« enthüllt (in Mother Was a Lovely Beast, hrsg. von Philip José Farmer, Chilton, Oktober 1974). Diese Enthüllung jedoch spielt nur eine kleine Rolle in Watsons Aufzeichnungen; eines von vielen gelösten Rätseln. Dieser Bericht stellt das fragliche Geheimnis aus einem etwas anderen Blickwinkel dar.

Aus diesen Gründen entschied sich ihr Herausgeber dafür, diese Erklärung im Werk zu belassen. Davon abgesehen würde Ihr Herausgeber es nicht im Traum wagen, an der Heiligen Schrift herumzupfuschen.

– Philip José Farmer

Eins

 

Es geschieht mit leichtem Herzen, dass ich die Feder aufnehme, diese letzten Worte zu Papier zu bringen, mit denen ich jemals das einzigartige Genie beschreiben werde, welches meinen Freund Sherlock Holmes auszeichnete. Mir ist bewusst, dass ich schon einmal etwas in der Art schrieb, doch damals war mein Herz so schwer, wie es nur sein konnte. Dieses Mal bin ich mir sicher, dass Sherlock Holmes sich endgültig zur Ruhe gesetzt hat. Zumindest hat er geschworen, dass er nie wieder den Detektiv geben wird. Der Fall des einzigartigen Edelmannes hat ihn finanziell abgesichert und er sagt voraus, dass keinerlei große Gefahren unser Land bedrohen, nun, da unser größter Gegner unter die Erde gebracht wurde. Des Weiteren hat er geschworen, nie wieder einen Fuß auf anderen Boden als den seines Heimatlandes zu setzen. Ebenso wenig wird er jemals wieder einem Flugzeug zu nahe kommen. Der bloße Anblick oder Klang eines solchen lässt sein Blut gefrieren.

Das spezielle Abenteuer, welches diese Seiten beherbergen, begann am zweiten Tag des Februars 1916. Zu dieser Zeit diente ich trotz meines fortgeschrittenen Alters in der Belegschaft eines Militärkrankenhauses in London. Zeppeline hatten ihre Bombenangriffe auf England seit den letzten zwei Nächten geflogen, vor allem über den Midlands. Obwohl diese vergleichsweise ineffektiv waren, wurden 70 Menschen getötet, 113 verwundet und ein monetärer Schaden von 53 832 Pfund angerichtet. Diese Angriffe waren die letzten einer Reihe, die am 19. Januar begonnen hatte. Es brach natürlich keine Panik aus, doch selbst die standhaften britischen Herzen empfanden ein gewisses Unbehagen. Es gab Gerüchte, zweifelsfrei von deutschen Agenten gestreut, dass der Kaiser plante, eine Flotte von eintausend Luftschiffen über den Kanal zu senden. Ich diskutierte dieses Gerücht gerade mit meinem jungen Freund Dr. Fell über einem Glas Brandy in meinem Quartier, als ein Klopfen an der Tür ertönte. Ich öffnete sie und ließ einen Boten ein. Er überreichte mir ein Telegramm, welches ich sofort zu lesen begann.

»Großer Gott!«, rief ich aus.

»Was gibt es, mein lieber Freund?«, fragte Fell und wuchtete sich aus seinem Stuhl hoch. Selbst jetzt, bei den Kriegsrationen, setzte er übermäßig viel Gewicht an.

»Eine Ladung ins Außenministerium«, sagte ich. »Von Holmes. Und mir wurde Sonderurlaub erteilt.«

»Sherlock?«, fragte Fell.

»Nein, Mycroft«, entgegnete ich. Minuten später, nachdem ich meine wenigen Habseligkeiten gepackt hatte, wurde ich von einer Limousine zum Außenministerium gefahren. Nach einer Stunde betrat ich das kleine, karg eingerichtete Zimmer, in dem der massige Mycroft Holmes wie eine große Spinne saß und sein Netz webte, das sich durch das gesamte Britische Empire und viele fremde Länder erstreckte. Es waren zwei weitere Personen anwesend, die mir beide bekannt waren. Bei der einen handelte es sich um den jungen Merrivale, Sohn eines Baronets, brillanter Berater des Leiters des Britischen Militärgeheimdienstes und bald wohl dessen Nachfolger. Er war zudem ein kompetenter Arzt und war einer meiner Studenten gewesen, als ich noch am St. Bart’s dozierte. Mycroft behauptete, dass Merrivale in der Lage sei, dem großen Holmes in der Kunst der Beweisführung gleichzukommen, und beinahe an Mycroft selbst heranreiche. Holmes Antwort auf diese »Sticheleien« war, dass nur die Übung echtes Potenzial enthülle.

Ich wunderte mich, was Merrivale vom Kriegsministerium fortgezogen haben konnte, doch bekam keine Gelegenheit, meine Frage auszusprechen. Die Anwesenheit der zweiten Person überraschte mich ebenso sehr, wie sie mich erfreute. Seit über einem Jahr hatte ich seine hochgewachsene, hagere Gestalt mit dem ergrauenden Haar und dem unverwechselbaren Adlerprofil nicht mehr gesehen.

»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »ich hatte gedacht, dass Sie nach der Von-Bork-Affäre …«

»Der Ostwind ist abscheulich kalt geworden«, unterbrach er. »Die Pflicht kennt keine Altersgrenze und so wurde ich von meinen Bienen fortgerufen, um erneut unserem Land zu dienen.«

Seine Miene wurde noch grimmiger, als er ergänzte: »Die Von-Bork-Angelegenheit ist noch nicht beendet. Ich fürchte, wir haben diesen Gesellen unterschätzt, da wir ihn so leicht festsetzen konnten. Er ist nicht immer so leicht zu fassen. Unsere Regierung hat einen bedauerlichen Fehler begangen, als sie ihm erlaubte, mit von Herling nach Deutschland zurückzukehren. Er hätte einem Erschießungskommando gegenüberstehen sollen. Ausgehend von Berichten, die mich kürzlich erreichten, hätte ein Automobilunfall in Deutschland nach seiner Rückkehr beinahe erledigt, was wir selbst hätten tun sollen. Doch abgesehen von einer permanenten Verletzung seines linken Auges hat er sich erholt.

Mycroft erzählte mir, dass von Bork uns unermesslichen Schaden zugefügt hat und es immer noch tut. Unsere Berichte verraten uns, dass er von Kairo, Ägypten, aus operiert. Doch wo genau in Kairo oder welche Tarnung er zurzeit benutzt, bleibt unbekannt.«

»Dieser Mann ist in der Tat gefährlich«, sagte Mycroft und griff mit einer Hand, massiv wie die Pranke eines Grizzlybären, nach seiner Schnupftabakdose. »Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass er der gefährlichste Mensch der Welt ist, zumindest soweit es die Alliierten betrifft.«

»Gefährlicher, als Moriarty es war?«, fragte Holmes