Andrea Conrad

Gefährliche Liebe unter dem Hakenkreuz

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

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Originalausgabe, August 2013

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: Coverfoto: © Gettyimages

Das Model auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Models aus.

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

ISBN print 978-3-86361-319-8
ISBN epub
978-3-86361-320-4
ISBN pdf: 978-3-86361-321-1

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Personen

Richard Rosenberg – Hat im Frühjahr 1933 gerade sein Abitur gemacht und kann aufgrund der neuen Gesetzgebung der NSDAP seinen Berufswunsch, Lehrer zu werden nicht in die Tat umsetzen. Bei einem Unfall lernt er Heinrich kennen und verliebt sich in ihn. Dies und die Tatsache, dass die neuen Machthaber Juden gegenüber feindselig eingestellt sind, verwirren ihn, stellen sein bisheriges Leben vollkommen auf den Kopf.

Heinrich von Wiesbach – Nachdem seine Beziehung zu einem Mann in seiner Heimatstadt Berlin seinem Vater zu Ohren gekommen ist, veranlasst dieser, dass sein Sohn in die Nähe von Mainz kommt und der SA beitreten muss, damit er auf den ‚rechten Weg’ zurückfindet. Heinrich fühlt sich in der neuen Umgebung nicht wohl und hadert mit seinem Schicksal. Bei einem Unfall lernt er Richard kennen. Anfangs kämpft er gegen seine Gefühle an, allerdings ohne Erfolg.

Siegfried – Ein fanatischer SA-Mann, dem Heinrich von Anfang an suspekt ist und der keinen Versuch auslässt, Heinrich das Leben schwer zu machen. Als er herausbekommt, dass Heinrich Kontakt zu Juden hat und ihnen zur Flucht verhelfen will, versucht er den Fluchtversuch zu vereiteln.

Silke Rosenberg – Richards ältere Schwester. Als sie Heinrich kennen lernt, hegt sie Gefühle für ihn und glaubt diese auch erwidert. Unfreiwillig wird sie Zeugin, als ihr Bruder und Heinrich beim Baden im Rhein sich küssen. Anfangs geschockt und verletzt, arrangiert sie sich schließlich mit dem Umstand und wird für Richard zur Zuhörerin und Beraterin in der verworrenen Situation.

Samuel Rosenberg – Richards älterer Bruder und ein Feind aller Nazis. Er misstraut Heinrich, da er in ihm einen Mann vermutet, der seiner Schwester gefallen könnte. Diese sollte seiner Meinung nach einen Juden ehelichen. Die Geschwister und Heinrich verheimlichen vor ihm, dass Heinrich Angehöriger der SA ist.

Zurück zu den Anfängen

„Richard, du hättest wirklich mitkommen sollen. Die Atmosphäre in der Stadt ist unglaublich. Es pulsiert geradezu. Wo steckst du eigentlich?“
Silke hatte gerade die Wohnungstür geschlossen und ihre Einkäufe im Flur abgestellt, als sie nach ihrem Bruder rief. Sie hing ihren Mantel an die Garderobe und betrat das Wohnzimmer. Richard stand am Fenster und sah hinaus. Der alte Dielenboden knarrte, als er vorsichtig das Gewicht von seinem kranken Bein auf das gesunde verlagerte. Sie konnte ihm ohne Probleme ansehen, was in ihm vorging. Der Schmerz und die Erinnerungen zeichneten sich in den Linien seines Gesichtes nach, spiegelten sich in den Augen, lagen in den Ringen darunter.
„Vielleicht das nächste Mal“, murmelte Richard in den Vorhang. Er konnte hören, wie Silke zurück in den Flur ging. Die Geräusche von sich öffnenden Schranktüren, Schubladen, die betätigt wurden, verrieten ihm, dass sie damit beschäftigt war, die Einkäufe zu verstauen. Er blinzelte in die Sonne, die durch die Gardinen gefiltert in den Raum schien. Es fühlte sich fremd an für ihn, wieder hier in Mainz zu sein. Sich wieder in Deutschland aufzuhalten. In dem Land, das er mit seiner Schwester vor über 13 Jahren als Geächtete verlassen hatte. In einer Nacht- und Nebelaktion geflüchtet. Alles zurückgelassen, was ihre Welt ausgemacht hatte. Was ihm alles bedeutet hatte. Er versuchte das beklemmende Gefühl abzuschütteln, aber es ließ sich nicht vertreiben. Langsam humpelte er zum Sideboard. Der Schmerz in seinem Bein war ihm vertraut geworden über die Jahre hinweg. Er hasste und liebte ihn. War er doch ein Garant dafür, dass er nichts vergaß. Dass die Erinnerung lebendig blieb. Vor dem Sideboard blieb er stehen und betrachtete das alte Foto. Das Bild war verblasst und der Rahmen wies Beschädigungen auf. Mit den Fingerspitzen fuhr er über das kalte Glas, fühlte die Beschädigungen an der Oberfläche. Es war nicht viel, was den Geschwistern nach ihrer Flucht vor den Nazis aus Deutschland geblieben war. Wenige Erinnerungsstücke aus ihrem damaligen Leben konnten sie noch ihr Eigen nennen. Das alte Foto hätte Richard mit seinem Leben verteidigt, wenn es nötig gewesen wäre. Kaum etwas war ihm geblieben von damals – von dem Schmerz in seinem Bein abgesehen. Er nahm das Bild in die Hand und ließ sich schwer in den Sessel fallen. Wiederum fuhr er über das Glas, so als versuchte er das Gesicht darunter zu berühren. Er schluckte, drehte das Gesicht in die Sonne und schloss die Augen. Die Wärme auf seiner Haut verstärkte die Erinnerungen.
„Hör auf zu grübeln.“ Er griff fester um das Foto, als Silke es ihm aus der Hand nehmen wollte. „Es wäre nicht in Heinrichs Sinn gewesen, dass du dich quälst.“
Silke legte ihrem Bruder die Hand auf die Schulter und nahm auf der Armlehne Platz. „Ich habe dir einen Kaffee gemacht. Den kannst du bestimmt gut gebrauchen. Du siehst müde aus.“
„Danke.“ Richard griff nach der Tasse und stellte das Bild auf den Tisch. Die wärmende Flüssigkeit lief seine Kehle hinunter. „Ich weiß, dass du es gut meinst, Silke. Aber ich brauche noch etwas Zeit. In England und Palästina war alles weit weg gewesen. Hier kommt es mir so vor, als ob die Vergangenheit mich wieder einholt.“
„Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig für dich ist. Aber du bist zu jung, um den Rest deines Lebens zu trauern. Das hätte Heinrich nicht gewollt.“
Er spürte, wie die Armlehne in ihre ursprüngliche Form zurückkam, als seine Schwester sich erhob. Der Boden unter ihren Füßen untermalte ihre Schritte, als sie zurück in die Küche ging. Mit der Tasse in der Hand und dem Foto im Blick lehnte er sich zurück. Ließ die Erinnerungen zu. Erinnerungen an das Jahr 1933. An die Angst vor dem Neuen und vor der Bedrohung. Dinge, die damals sein Leben komplett umgekrempelt hatten. Aber auch die Erinnerungen an seine Liebe, die er empfunden hatte. Die er bekommen hatte. Die Sonne im Gesicht glaubte er fast, den Fluss riechen zu können. Das sonore Brummen der Schiffsdiesel zu hören. Vor seinem geistigen Auge bauten sich Szenen auf. Der Altrheinarm mit seinem Bestand an alten Trauerweiden, deren Äste teilweise bis an die Wasseroberfläche reichten. Das Versteck, in dem Heinrich und er sich getroffen hatten. Der einzige Platz, wo es ihnen vergönnt gewesen war, unbeschwerte Stunden zu verbringen. Bedächtig stellte er die Tasse auf den Tisch und sah auf das Foto.
„Du fehlst mir so unendlich. Werde ich es jemals hier ohne dich schaffen?“ Er legte den Kopf gegen die Rückenlehne, ließ sich von den wärmenden Sonnenstrahlen mitnehmen. Zurück in seine Vergangenheit.

Die Welt verändert sich

Es war ungewöhnlich warm an diesem Frühlingstag im Mai 1933. Richard betrachtete sich in dem milchigen Spiegel, der in dem kleinen Bad an der Wand hing. Seine blonden Haare standen ihm vom Kopf ab. Er befeuchtete die Hände und versuchte sie zu bändigen.
„Ich hätte mich von Mutter nicht dazu überreden lassen sollen, zum Friseur zu gehen. Das Abitur hätte ich auch so bestanden.“ Mit einem Kopfschütteln gab er den Versuch auf, die Haare dazu zu bringen, liegen zu bleiben. Er öffnete die Badezimmertür und ging in den Flur. Von unten hörte er seine Mutter, die damit beschäftigt war, das Essen vorzubereiten. Der Duft von gebratenen Zwiebeln stieg ihm in die Nase. Er würde sich beeilen müssen, wenn er rechtzeitig zum Mittagessen wieder zurück sein wollte. Mit schnellen Schritten ging er in sein Zimmer, um die Schuhe anzuziehen. Als er aus dem Fenster sah, fiel sein Blick auf seine Schwester. Silke stand im Garten in der Sonne und bepflanzte einen Blumentopf mit frischen, rot blühenden Blumen. Die kleinen Blütenköpfe schienen in dem Licht zu leuchten.
„Silke, leihst du mir dein Fahrrad?“ Er hatte das Fenster geöffnet und rief zu ihr hinunter. „Ich würde das Mittagessen ungern verpassen.“
Seine Schwester drehte sich zu ihm um und blinzelte in die Sonne. „Was bekomme ich dafür?“
„Du darfst das Buch, das ich mir heute hole, dann auch mal lesen.“
„Abgemacht.“ Sie lächelte ihm zu. Ihr war klar, dass das für ihn ein hoher Lohn war. Richard liebte Bücher und gab sie ungern aus den Händen.
„Du solltest den Jungen ruhig mal laufen lassen.“ Samuel, der älteste der drei Geschwister, kam aus dem Schuppen. „Dann vergisst er vielleicht seine Spinnereien und macht das, was Vater für ihn vorgesehen hatte.“
„Du weißt genauso gut wie ich, dass Vater seine Meinung geändert hätte, was Richards beruflichen Werdegang anbelangt, wenn er seine Entwicklung mitbekommen hätte.“ Sie betrachtete ihren Bruder und verglich die beiden im Geist miteinander. Es war fast nicht zu glauben, dass sie verwandt waren, geschweige denn Brüder sein sollten. Samuel war groß, dunkelhaarig und eine stattliche Erscheinung. Sein Körper war muskulös. Die dunklen Augen blickten neugierig, aber auch angriffslustig in die Welt. Richard, fast einen Kopf kleiner als sein älterer Bruder, war blond, hatte blaue Augen und im ganzen ein geistiger, feingliedriger Mensch. „Er wäre eine Fehlbesetzung in der Buchhaltung des Weinguts. Es ist besser für ihn, wenn er etwas anderes macht.“
„Ich sehe das anders. Es war Vaters letzter Wille.“ Samuel stand dicht bei ihr. Sie konnte seine Autorität fast körperlich spüren. Die dunklen Augen funkelten. „Aber, wer weiß? Es würde mich nicht wundern, wenn wir uns bald generell keine Gedanken mehr um so was wie Berufswahl machen müssen. Wenn das mit dem braunen Pack so weitergeht, dann können wir uns warm anziehen.“
„Ich glaube, da siehst du zu schwarz. Wir Juden tun doch niemandem was.“ Immer, wenn Samuel von diesem Thema anfing, kroch ihr die Angst durch den Körper und jedes Mal versuchte sie seine Worte zu entkräften. Sie hatten alle die Gerüchte gehört, dass Juden in den Großstädten angeblich unter Repressalien litten. Aber die Nachbarn hier waren nach wie vor freundlich, wenn auch zurückhaltend. Die Zurückhaltung der Menschen ihnen gegenüber war für die Familie Rosenberg nichts Neues. Sie hatten sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt. Silke hoffte inständig, dass die Gerüchte, die sie gehört hatte, wirklich nur Gerüchte waren. Schließlich war ja bekannt, dass es jetzt mit Deutschland aufwärts gehen sollte, und in den Großstädten wurde gerne übertrieben. „Das wird doch alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“ Ihre Unsicherheit tapfer weglächelnd, sah sie zu ihm hinüber.
„Du bist genauso ein Träumer wie unser kleiner Bruder.“ Samuel sah sie tadelnd an. Als Ältestem oblag ihm die Aufgabe, die Familie zu leiten. Sein Vater hatte ihn am Sterbebett eindringlich darum gebeten. Auch wenn die heimliche Leitung der Familie doch bei seiner Mutter lag. Er ließ seinen Blick über seine Schwester wandern. Sie waren nur zwei Jahre auseinander. Richard war das Nesthäkchen. Zwischen den beiden Brüdern lag ein Altersunterschied von sieben Jahren. Er hatte immer das Gefühl, dass Silke eine Mischung zwischen ihnen war. Ihre dunklen, lockigen Haare waren widerspenstig, was gut zu ihrem Wesen passte. Die blauen Augen glichen denen des jüngeren Bruders. Sie mochte die Natur und arbeitete gerne im Freien. Selbst die harte Arbeit in den Weinbergen war ihr nicht zu schwer. Aber genauso liebte sie Bücher. In Samuels Augen ein unnützer Zeitvertreib. Er beschäftige sich lieber mit der Wirklichkeit, als in alten Texten zu versinken und die Realität, die sich gerade in diesem Land ausbreitete, trieb ihm einen eiskalten Schauer durch den gesamten Körper. Er wusste, dass es seiner Schwester genauso ging. „Vergiss deine Blumen nicht zu gießen, wenn du sie eingepflanzt hast. Nicht dass sie gleich wieder eingehen.“ Sein Blick wurde eine Spur milder.
„Danke für den Hinweis. Aber ich brauche keinen Mann, der mir sagt, wie ich mit Pflanzen umzugehen habe.“ Silkes Augen blitzten kampflustig auf.
„Es ist wirklich nett von dir, dass du mir das Fahrrad leihst.“ Richard kam mit eiligen Schritten aus dem Haus und blieb bei seinen Geschwistern stehen. „Soll ich noch was für dich mitbringen?“ Er sah zu Samuel hinauf.
„Ja, das kannst du.“ Dieser blickte seine Schwester angriffslustig an. „Versuch mal, ob du einen Mann für diese Person findest. Sie wird langsam aufsässig. Die muss unter die Haube.“
Richard sah von einem zum anderen. Er war sich, wie sooft, unsicher, ob die kleinen Zankereien zwischen ihnen Spaß oder Ernst waren.
„Du wirst den Teufel tun.“ Silke hatte die Hände in die Seiten gestemmt und erwiderte den Blick ihres älteren Bruders, obwohl ihre Worte an Richards Adresse gingen. „Ich suche mir meinen Mann schon selbst aus.“
„Macht das mal unter euch aus. Ich muss los, sonst findet das Mittagessen doch noch ohne mich statt.“ Er beeilte sich aus der Gefahrenzone zu kommen und ging zum Schuppen, in dem das Fahrrad stand. In seinem Rücken hörte er, dass die beiden ihre Diskussion fortsetzten. Er griff nach dem Rad, stieg auf und trat beherzt in die Pedale.

***

Richard genoss die schnelle Fahrt mit dem Fahrrad hinunter an den Fluss. Der Wind zerrte an seinen Haaren und seiner Kleidung. Mit Wehmut dachte er daran, dass er nachher den Weg bergauf musste. Es war ihm klar, dass er nass geschwitzt sein würde, wenn er wieder zu Hause ankam. Aber es war ihm egal. Er hätte keine Minute länger warten wollen, bis er die neuen Worte in seinen Händen halten und sie lesen konnte. Wenn er rechtzeitig zurück war, blieb ihm vielleicht noch Zeit, einen Blick in das Buch zu werfen, bevor er zum Mittagessen gehen würde. Er hing seinen Gedanken nach, während er dem Weg hinab folgte. Eine Woche Bedenkzeit hatte er sich bei Samuel ergattert. Eine Woche Zeit, um sich klar zu werden, was er wollte. Er wusste, dass es der letzte Wunsch seines Vaters gewesen war, dass sie zusammen die Leitung des kleinen Familienbetriebs übernahmen. Aber stupide Bürotätigkeit war ihm ein Gräuel. Am liebsten wäre er an eine Schule oder Universität gegangen und hätte Sprachen und Geschichte unterrichtet. Mit anderen Menschen zusammenarbeiten, Wissen vermitteln, das war sein Ding. Aber, seitdem die neuen Machthaber das Sagen hatten, war es Juden untersagt, als Beamte oder im Lehramt tätig zu werden. Am 7. April war das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums eingesetzt worden. Damit hatten die Nationalsozialisten die für sie notwendige Rechtsgrundlage geschaffen, um unter anderem jüdische Lehrer entlassen zu können. Zur Steigerung gab es seit dem 23. April das Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschule. Es beinhaltete unter anderem eine konkrete Quote für deutsche Nichtarier, die an eine Hochschule wollten. Ihr Anteil durfte 1,5 Prozent aller Neuaufnahmen nicht überschreiten. Somit war Richards Berufswunsch Lehrer zu werden in weite Ferne gerückt. Fast unerreichbar. Kurzfristig schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, das Land zu verlassen. Er schob ihn so schnell, wie er gekommen war, wieder hinaus. Seine Heimat verlassen? Eine unmögliche Vorstellung für ihn. Er liebte dieses Land. Die Weinberge, die sich im Herbst in schillernden Rottönen einfärbten, die alten Flussarme, in denen man schwimmen konnte und an deren Ufern riesige alte Trauerweiden standen. Wenn man sich im Sommer unter diese Bäume legte und in den Himmel blickte, zeichnete das Licht wunderschöne Bilder. Und dann war da ja auch noch Julia. Die süße Jüdin aus der Nachbarschaft. Er spürte ein sanftes Kribbeln der Kopfhaut, wenn sie sich per Zufall begegneten. Ob das bereits Liebe sein konnte? Er nahm sich vor, mal mit Silke darüber zu reden. Seine Schwester würde ihm bestimmt einen Rat geben können. Beflügelt von dem Gedanken beschleunigte er sein Tempo und schnitt die Kurve gekonnt an.

***

Heinrich fuhr mit dem Wagen durch die engen Straßen der kleinen Ortschaft. Er war immer noch wütend auf seinen Vater. Dass dieser seine Beziehungen hatte spielen lassen, damit sein Filius aus Berlin wegkam, war für ihn die größte Strafe gewesen. Es war ihm nicht genug gewesen, Heinrich aus seinem Freundeskreis zu entfernen. Nein – er musste ihn auch noch fernab der Heimat in ein kleines Nest schicken, wo er seine Zeit als Fahrer für die SA verbrachte. Ausgerechnet die SA! Heinrich hatte sich nie viel mit Politik beschäftigt. Es gab andere Dinge, die für ihn wichtiger waren. Als Sohn aus reichem Haus fiel es ihm auch leicht, sich den angenehmen Seiten des Lebens zu widmen. Erst mit dem Reichtagsbrand im Februar 1933 war seine Aufmerksamkeit geweckt worden. Er konnte sich noch gut an den Brand erinnern. Mit Freunden hatte er sich unter die Schaulustigen gemischt und dem Inferno zugesehen. Die glutroten Flammenwände, die sich in den Nachthimmel fraßen, beobachtet. Wie die Feuerwehr mit mehreren Löschzügen versuchte, den Flammen Herr zu werden. Die Hitze des Brandes es aber verhinderte, dass sie sich dem Gebäude nähern konnten. Erst weit nach Mitternacht hatte sie den Brand soweit unter Kontrolle, dass er für die Zuschauer an Faszination verlor und Heinrich und seine Freunde sich anderen Unternehmungen widmeten. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Ein Schuldiger war schnell gefunden. Van der Luppe hieß er, 24 Jahre jung und Maurer. Aber es gab Gerüchte, dass es sich hierbei nicht um einen Einzeltäter gehandelt haben konnte. Hermann Göring nutzte die Gunst der Stunde und rief zum Kampf gegen die Kommunisten auf, die in den Augen der Parteiführung daran beteiligt gewesen sein mussten. Göring, damals noch preußischer Innenminister, verbot noch in der Nacht die kommunistische Presse. Parteibüros wurden geschlossen und führende Funktionäre in sogenannte Schutzhaft genommen. Allein in Berlin waren über 1.000 Mitglieder der KPD festgenommen worden. Mit der Notverordnung 'Zum Schutz von Volk und Staat', die noch in der Nacht des Brandes in Kraft gesetzt worden war, waren die Grundrechte außer Kraft gesetzt worden. Der Polizei und der SA war es somit möglich, Verhaftungen vorzunehmen, ohne Gründe dafür anführen zu müssen. Den Betroffenen wurde jeder Rechtsschutz verweigert. Die Unversehrtheit der Wohnung oder des Eigentums war nicht mehr gewährleistet. Selbst das Post- und Fernmeldegeheimnis war aufgehoben worden, ebenso wie die Meinungs-, Presse- und Vereinsfreiheit. Für verschiedene Terrordelikte wie auch für Brandstiftung war rückwirkend die Todesstrafe eingeführt worden. Es kam sogar zu einer Fluchtwelle. Viele Menschen verließen damals das Reich, als sich der beginnende Terror abzeichnete. Auch einige von Heinrichs Freunden hatten das Land verlassen, hatten versucht ihn zu überreden mitzukommen. Aber er hatte die finanzielle Geborgenheit nicht mit einer ungewissen Zukunft tauschen wollen. Selbst wenn auch ihm langsam klar wurde, dass sich der politische Wind in seiner Heimat drehen würde.
Jetzt saß er hier: in diesem Wagen, war Mitglied der SA und auch noch in dieser Gegend, weit weg von Berlin. Die Landschaft war sehr schön, das musste er zugeben. Der Fluss schlängelte sich durch sein Tal. An beiden Seiten lagen viele kleine Ortschaften, umgeben von Weinbergen. In seinen Augen grenzte es an Monokultur, was hier betrieben wurde. Ihm fehlte die Hauptstadt mit ihren quirligen Plätzen, auf denen immer was los war. Die Wälder in und um die Stadt, die im Sommer Abkühlung versprachen, und die Abende, die er mit Freunden an der Spree verbracht hatte. Bei dem Gedanken an eine kühle Berliner Weiße lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Dieser in seinen Augen sauere Wein, der hier angeboten wurde, war so gar nicht nach seinem Geschmack. Er schluckte den eigenen Speichel hinunter und öffnete das Fenster des Wagens. Es war drückend geworden im Inneren. Die Sonne stand fast im Zenit und für die Jahreszeit war es ungewöhnlich warm. Er ließ die letzten Häuser der Ortschaft hinter sich und fuhr die Straße entlang, die sich langsam den Berg hinauf schlängelte. Rechts und links begleiteten Weinreben seinen Weg. Sein Blick ging in den Rückspiegel. Die Perspektive, die Welt spiegelverkehrt zu betrachten, gefiel ihm. Sie gaukelte ihm vor, sich in einer anderen Gegend zu befinden.
„Mann, ich würde was darum geben, wenn ich wieder nach Berlin zurück könnte.“ Wütend und gleichzeitig frustriert schlossen sich seine Hände fester um das Lenkrad und er trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte im selben Moment auf, in dem es einen fürchterlichen Knall gab. Zu Tode erschrocken legte er eine Vollbremsung hin und sah sich um. Das Auto war in den ersten Sekunden in eine Staubwolke gehüllt, die es ihm unmöglich machte etwas zu erkennen.
„Wahrscheinlich war es nur einer dieser verdammten Feldhasen, der in den Wagen gelaufen ist.“ Die eigene Stimme beruhigte ihn ein wenig. Trotzdem zitterten seine Finger, als er die Tür öffnete und ausstieg. Vorsichtig sah er in Richtung Kühler. Er zuckte unweigerlich zusammen, als er das Fahrrad erblickte. „Oh, bitte nicht!“
Langsam schob er sich an die Motorhaube des Wagens. Mit einer Hand hielt er sich am warmen Metall fest, in der Hoffnung, dass es ihm Halt geben würde. Ihm war schlecht und seine Knie zitterten. Er hörte das leise Stöhnen, bevor er den jungen Mann vor dem Wagen auf dem Boden liegen sah.
„Ist alles in Ordnung?“ Es war Heinrich klar, dass die Frage unsinnig war. Allein der Anblick des verdrehten Beines strafte ihn Lügen. Blut sickerte durch den Stoff. „Ich ...“ Er kniete sich neben seinem Opfer in den Straßendreck und überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Der junge Mann schien bei Bewusstsein zu sein. Jedenfalls stöhnte er, wenn er sich auch nicht bewegte.
„Es tut mir leid. Können Sie mich verstehen?“ Heinrich beugte sich tiefer zu ihm hinunter. Das Gesicht und die blonden Haare waren mit einer gleichmäßigen Staubschicht bedeckt. Die Augenlider geschlossen. „Kann ich Sie irgendwo hinbringen?“
„Was?“ Die Augen des jungen Mannes öffneten sich langsam. Er sah durch ihn hindurch. „Was ist passiert?“
„Sie sind mir ins Auto gefahren. Oder ich habe Sie angefahren. Ich weiß es nicht. Es ging alles so schnell.“ Heinrich schluckte trocken.
„Ich wollte mein Buch abholen. Ich muss mich beeilen, sonst bin ich nicht rechtzeitig zum Essen wieder zu Hause.“
„Nein, nicht aufstehen.“ Bestimmend drückte er den jungen Mann mit dem Oberkörper zurück auf die Straße. „Um Gottes Willen, bleiben Sie liegen. Ihr Bein sieht ziemlich mitgenommen aus.“
Richard hob vorsichtig den Kopf an und sah an sich hinunter. Erst jetzt spürte er den stechenden Schmerz in seinem rechten Bein. Augenblicklich brach ihm der Schweiß aus, lief ihm in kleinen Rinnsalen über das Gesicht und malte ein bizarres Bild in die Staubschicht. Er ließ den Kopf zurückfallen und schloss die Augen wieder.
„Kann ich Sie nicht irgendwo hinbringen? Wo wohnen Sie?“ Die Stimme, die an sein Ohr drang, hielt ihn in der Realität fest.
„Ja, bitte bringen Sie mich nach Hause.“ Mit großer Anstrengung nannte er seinen Namen und erklärte dem Fahrer den Weg zu seinem Elternhaus.
Heinrich stand auf und öffnete den obersten Knopf seiner SA-Uniform. Auch ihm lief der Schweiß in Strömen den Körper hinunter. Er ging an den hinteren Teil des Pritschenwagens, öffnete die Klappe und breitete eine Decke aus. Zurückgekehrt zu dem jungen Mann kniete er sich wieder hin und half ihm auf. Er trug ihn fast um den Wagen herum. Beide waren außer Atem, als sie das kurze Stück zurückgelegt hatten.
„Hier, legen Sie sich auf die Decke.“ Er half ihm hinauf. „Ich hole noch Ihr Fahrrad. Dann können wir los.“
„Meine Schwester bringt mich um.“ Richard unterdrückte das Stöhnen erst gar nicht, als er sich auf der Decke niederließ. Das kaputte Knie und der Gedanke an Silkes Temperament machten es ihm unmöglich.
„Ich kann es ja auf mich nehmen.“ Heinrich legte das verbeulte Rad neben ihm auf die Pritsche. Sein Gesichtsausdruck spiegelte seine Betroffenheit wider.
„Das wird uns beiden nicht viel nutzen. Glauben Sie es mir.“ Gegen seinen Willen musste Richard anfangen zu kichern.

***

Der sanfte Wind spielte mit der Wäsche, die Silke gerade aufhängte. Sie musste immer noch lächeln. Das Streitgespräch mit Samuel hatte ihr Spaß gemacht. Mit ihm konnte man gut streiten. Er war ein guter Diskussionspartner. Das Verhältnis zwischen ihnen war anders als das zu Richard. Samuel war für sie der Bruder, neben dem sie sich behaupten wollte. Dem sie immer mal wieder klar machen musste, dass er nicht ihr Leben bestimmen konnte. Bei Richard hatte sie das Gefühl, auf ihn aufpassen zu müssen. Er war ein Träumer, ein Fantast, und wenn er sie mit seinen blauen Augen anstrahlte, stiegen fast mütterliche Gefühle in ihr auf.
Das Knirschen von Autoreifen auf dem Kiesweg holte sie aus ihren Gedanken. Sie bückte sich unter der Wäscheleine hindurch und sah in Richtung der Auffahrt. Es war ungewöhnlich, dass um diese Uhrzeit jemand bei ihnen vorbeikam. Als sie den Wagen erblickte und das Hakenkreuz darauf sah, wurden ihr Mund trocken und ihre Hände feucht. Sie rieb sie an ihrer Schürze ab.
„Frau Rosenberg?“ Ein Mann, der etwa in ihrem Alter war, war aus dem Fahrzeug gestiegen und sah sie an.
„Nein.“ Silke zögerte kurz, bevor sie einen weiteren Schritt auf ihn zumachte. Seine SA-Uniform wirkte furchteinflößend. Aber sein Wesen war freundlich. Er hatte grüne Augen und die braunen, leicht gelockten Haare umrahmten sein Gesicht. „Fräulein Rosenberg. Meine Mutter ist im Haus.“
„Fräulein Rosenberg ... es tut mir leid ... ich weiß nicht, wie das geschehen konnte.“ Heinrich überlegte, wie er ihr erklären sollte, dass ihr Bruder verletzt auf der Pritsche lag und er wahrscheinlich daran Schuld war. „Ihr Bruder ... er ...“
„Was ist mit Richard?“ Silkes Knie wurden weich.
„Er liegt hinten auf der Pritsche des Wagens. Er hatte einen Unfall.“
Erst jetzt bemerkte sie den verbeulten Kühlergrill. Eilig umrundete sie das Auto und schlug sich die Hand vor den Mund, als sie ihren Bruder erblickte. Sein Gesicht war blass und verdreckt. Sein rechtes Bein war eigenartig verdreht und das Hosenbein blutverschmiert.
„Richard!“ Silke kletterte auf die Pritsche und kniete sich neben den Verletzten.
„Hallo, Schwester.“ Er sah sie mit einem glasigen Blick an. „Es tut mir leid wegen deinem Fahrrad.“
„Jetzt lass doch das Rad aus dem Spiel. Das ist jetzt nicht wichtig. Hast du Schmerzen?“ Sie zog ihr Taschentuch aus der Schürze, befeuchtete es mit Spucke und begann ihm das Gesicht zu reinigen.
„Hör auf damit.“ Richard schob ihre Hand weg. Er hasste es, wenn sie das tat.
„Wir sollten ihn zu einem Arzt bringen. Das sollte sich jemand mal ansehen.“ Heinrich stand neben dem Wagen und beobachtete die Geschwister.
„Sie haben recht.“ Behände sprang Silke von der Pritsche. „Ich hole schnell unsere Mutter.“
„Ein Freund meines Vaters hat in Mainz eine Praxis. Er ist Chirurg. Bestimmt kann er helfen.“
Die junge Frau nickte ihm kurz zu und verschwand dann im Haus. Heinrich sah ihr hinterher, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Verletzten widmete. „Es tut mir leid. Wirklich. Ich hätte besser aufpassen sollen.“
„Mich trifft genauso viel Schuld.“ Richard fuhr sich mit der Hand über die Wangen. Er spürte den feinen Staub auf seiner Haut. „Ich habe geträumt. Aber verraten Sie das bitte keinem. Sonst kann es sein, dass nicht nur ein Bein in Mitleidenschaft gezogen wird.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als er versuchte zu schmunzeln.
„Wir können froh sein, dass Samuel im Moment nicht da ist.“ Frau Rosenberg kam mit ihrer Tochter aus dem Haus, betrachtete kurz den SA-Mann, der sich mit ihrem Sohn unterhielt, und begutachtete dann das verletzte Bein. „Sie haben recht, Herr ...“
„Oh, entschuldigen Sie. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Heinrich von Wiesbach.“ Er deutete eine kurze Verbeugung an, die Frau Rosenberg mit einem Kopfnicken zur Kenntnis nahm.
„Herr von Wiesbach. Sie haben recht. Richard muss zum Arzt. Aber wir haben kein Auto.“
„Das ist kein Problem. Ich werde ihn selbstverständlich fahren. Der Freund meines Vaters wird ihm bestimmt helfen können.“ Heinrich spürte, wie er unter dem Blick der Frau nervös wurde. Sie war gut zwei Köpfe kleiner als er, die Haare grau und die dunklen Augen blickten wach und aufmerksam in seine Richtung.
„Und Sie bekommen dann auch keine Schwierigkeiten? Immerhin sind wir Juden.“
„Lassen Sie das ruhig mein Problem sein. Schließlich bin ich ja mit schuld an dem Unfall.“
„Gut.“ Sie beugte sich über die Seitenwand des Wagens und fuhr ihrem Jüngsten zärtlich über die Wange. „Silke wird mit euch fahren. Ich bleibe hier und werde Samuel informieren, wenn er zum Mittagessen nach Hause kommt.“
Richard nickte zustimmend. Was würde dieser wohl sagen, wenn er erfuhr, dass es ein SA-Angehöriger war, der ihn angefahren hatte. Er kannte den Hass, den sein Bruder für die Nazis empfand.
„Mach dir keine Sorgen. Das wird bestimmt wieder gut.“ Seine Mutter lächelte ihn aufmunternd an und drehte sich dann zu ihrer Tochter und Heinrich um. „Sie sollten losfahren. Er muss so schnell wie möglich zum Arzt.“
Heinrich bejahte, hob das Fahrrad vom Wagen und gab es ihr. Dann öffnete er die Tür auf der Beifahrerseite, damit Silke einsteigen konnte. Mit einem kurzen Diener verabschiedete er sich von Frau Rosenberg, stieg ebenfalls ein und fuhr los.

***

„Es tut mir wirklich leid.“ Heinrich lenkte den Wagen durch die Mainzer Innenstadt. Er wusste nicht mehr, wie oft er in der letzten halben Stunde diesen Satz gedacht oder gesagt hatte. Er fühlte sich miserabel. Noch nie hatte er mit einem Fahrzeug einen Unfall gehabt, geschweige denn einen Menschen angefahren. Der Knall des Aufpralls dröhnte immer noch in seinen Ohren.
„Es war ja nicht alleine Ihre Schuld und ich kenne meinen Bruder. Wahrscheinlich hat er mal wieder geträumt.“ Silke lächelte ihn milde an. Der Wind, der durch das geöffnete Fenster hineinkam, spielte mit ihren Haaren. Sie schob sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Er träumt gerne. Manchmal wundert es mich, dass er dennoch genug in der Realität war, um das Abitur zu schaffen. Er ist der einzige von uns, der es gemacht hat. Allerdings wird es ihm jetzt nicht mehr viel helfen.“
„Wieso?“ Heinrich suchte eine Parkmöglichkeit, als sie ihr Ziel erreicht hatten.
„Er will Lehrer werden. An einer Schule oder Universität. Aber mit diesem neuen Gesetz ist es fast unmöglich geworden, einen Studienplatz zu ergattern.“
„Ich habe davon gehört.“ Er nickte knapp. Die Ereignisse in Berlin hatten ihm keine Chance mehr gelassen. Die Ideologie dieser Partei war ihm zuwider. Aber er hatte nur die Wahl: Entweder weiterhin finanziell abgesichert zu sein oder das Leben allein finanzieren zu müssen. Stolz war er nicht auf seine Entscheidung.
„Kommen Sie, wir sollten Ihren Bruder hineinbringen.“ Er stieg aus und ging an den hinteren Teil des Wagens. Richard lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen.
„Richard?“ Silke sprach ihn vorsichtig an. Keine Reaktion. „Richard! Er wird doch nicht ohnmächtig sein?“ Sie sah Heinrich besorgt an. Er schluckte und machte Anstalten, den Patienten zu berühren, als dieser sich rührte.
„Sind wir schon da?“
„Richard, ist alles in Ordnung? Ich hatte schon Bedenken, dass du ohnmächtig geworden bist.“
„Nein, ich bin, glaube ich, eingeschlafen.“
„Eingeschlafen? Das schaffst auch nur du.“ Silkes Augen blitzten amüsiert auf.
„Es war so angenehm warm. Dann das Schaukeln des Wagens. Da ist es halt passiert.“ Er zog die Luft hörbar ein, als er unabsichtlich sein rechtes Bein bewegte.
„Warten Sie. Ich helfe Ihnen.“ Heinrich kletterte auf die Pritsche, half ihm auf und hinunter auf die Straße. „Die Praxis ist im Erdgeschoss. Wir müssen also keine Treppen hinauf.“
„Das kommt mir sehr entgegen.“ Richard hing in seinem Arm und versuchte trotz der Schmerzen zu lachen.
„Wird er uns überhaupt helfen? Schließlich sind wir Juden.“ Auf Silkes Gesicht standen Zweifel.
„Bestimmt. Er hält von dieser ganzen Sache genauso wenig wie ich.“ Heinrich brachte den Patienten mit einem Ruck in eine bessere Position, der protestierend aufstöhnte. „Entschuldigung. Aber so geht es besser.“
Gemeinsam gingen sie in das Haus und er zeigte Silke, auf welche Klingel sie drücken musste. Es dauerte einen Moment, bis die Tür geöffnet wurde.
„Heinrich. Welche Überraschung!“
„Hallo, Onkel Friedrich. Ich brauche dringend deine Hilfe.“
„Ich sehe schon.“ Der erfahrene Blick des Arztes hatte die Situation direkt erkannt. „Komm, leg ihn hier drauf.“ Er rollte eine Bahre heran und Heinrich befreite sich von seiner Last.
„Das sind Richard Rosenberg und seine Schwester. Ich habe Herrn Rosenberg mit dem Wagen angefahren.“
„Ganze Arbeit! Muss ich schon sagen, Heinrich. Wenn du was machst, dann richtig.“ Er untersuchte kurz das verletzte Bein und drehte sich dann zu der jungen Frau um. Sein weißer Kittel spannte leicht über dem Bauch und die krausen, grauen Haare standen vom Kopf ab. Lustige braune Augen betrachteten sie. „Ich sollte mich erst mal vorstellen. Dr. Hermann.“ Er reichte ihr die Hand zur Begrüßung und wandte sich dann an Heinrich, der nach der letzten Bemerkung mit eingezogenen Schultern neben der Bahre stand. „Jetzt schau nicht so. Das bekommen wir wieder hin. Sei so gut und hilf mir mal.“ Er deutete ihm an, mit anzufassen. Gemeinsam schoben sie Richard in den Behandlungsraum.
Silke blieb im Vorraum stehen und sah sich um. Der Arzt hatte einen freundlichen Eindruck auf sie gemacht. Er wirkte aufgeschlossen und sympathisch. Sie entspannte sich etwas und betrachtete eines der Bilder, die an der Wand hingen, als Heinrich neben sie trat.
„Ihr Bruder muss operiert werden. Onkel Friedrich sagt, dass es kein großer Eingriff ist. Er will nur den Knochen etwas richten. Allerdings wird er dann ein paar Tage nicht transportfähig sein.“
„Aber muss er dann in ein Krankenhaus?“ Sie sah ihn an.
„Nein, er kann hier bleiben. Oben, in der Wohnung, gibt es zwei Zimmer für solche Fälle.“
„Das können wir doch nicht annehmen.“
„Doch , das ist das Mindeste, was ich für Ihren Bruder arrangieren kann. Bitte, nehmen Sie meine Hilfe an. Ich hole Sie auch gerne die Tage noch mal ab und fahre Sie her, damit Sie ihn besuchen können.“
Dankbar lächelte Silke Heinrich an, der es erwiderte. „Das ist wirklich nett von Ihnen. Sie sind ein guter Mensch. Aber ich habe eine Bitte an Sie – wenn es möglich ist – könnten Sie so bei uns auftauchen, dass man nicht erkennt, dass Sie zur SA gehören. Unser ältester Bruder ist nicht gut auf diese Leute zu sprechen.“
„Das kann ich verstehen und ich verspreche Ihnen, man wird mir den SA-Mann nicht ansehen, wenn ich Sie abhole.“ Er reichte ihr die Hand, um das Versprechen zu bestärken. Ein leichtes Kribbeln durchlief sie bei der Berührung.

***

Es war bereits später Nachmittag, als Silke wieder zu Hause eintraf. Auf dem Rückweg hatten sie und Heinrich nur wenige Worte gewechselt. Beide hatte der Anblick von Richard und die Diagnose über sein Bein zu sehr mitgenommen. Nach der Operation war dieser so weiß gewesen wie das Laken, auf dem er lag. Als er wieder zu sich kam, veränderte sich seine Gesichtsfarbe in grün und er musste sich mehrfach übergeben.
Silke hatte seinen Kopf gestützt und ihn liebevoll beruhigt, während Heinrich eilig das Weite suchte.
„Er wird wahrscheinlich nie wieder richtig laufen können. Die Verletzung war doch schlimmer, als es im ersten Anschein ausgesehen hat.“ Die Aussage von Dr. Hermann ging beiden nicht aus dem Kopf, als sie am Rhein entlang zurückfuhren. Silke hatte darum gebeten, die letzten Meter zu Fuß gehen. Sie wollte wenigstens versuchen, Worte zu finden, um es ihrer Mutter und ihrem Bruder beizubringen. Sie hatten sich knapp verabschiedet und für den übernächsten Tag verabredet, um wieder nach Mainz zu fahren.
Jetzt stand sie vor ihrem Elternhaus und holte tief Luft, die Worte zwar im Kopf, aber die Reihenfolge nicht wirklich parat.
„Was ist mit Richard?“ Samuel kam aus dem Haus auf sie zu. „Nun red schon!“
„Er musste operiert werden. Dr. Hermann war so freundlich, es gleich zu machen, und er wird die nächsten Tage bei ihm bleiben, bis er wieder transportfähig ist.“
„Und was ist mit seinem Bein?“
„Er“, sie schluckte und sah zu ihrem Bruder auf. „Richard wird nie wieder richtig laufen können.“ Bei diesen Worten kamen ihr die Tränen.
Samuel legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie zu sich. „Und das ist alles die Schuld von diesem Mensch.“ Sie hörte den Zorn in seiner Stimme.
„Das stimmt nicht. Herr von Wiesbach ist nicht alleine schuld. Sie waren beide unaufmerksam.“ Sie wischte sich die Tränen ab und machte sich aus der Umarmung frei. „Ihm geht das genauso an die Nieren wie mir. Wie uns“, fügte sie noch hinzu, als sie das Gesicht ihres Bruders sah.
„Du verteidigst diesen Mann auch noch? Er hat unseren Bruder zum Krüppel gemacht!“
„Ich verteidige ihn nicht!“ Silke spürte, dass sie rot wurde. Ob vor Zorn oder Verlegenheit, war ihr schleierhaft. „Ich sage nur, wie es gewesen ist.“
„Könnt ihr beiden bitte ins Haus kommen und dort weiter streiten. Es muss ja nicht gleich jeder wissen, was passiert ist.“ Frau Rosenberg war aus dem Haus getreten und hatte sich vor ihren beiden Ältesten aufgebaut. Obwohl sie die Kleinste in der Runde war, folgten die Kinder sofort der Anweisung der Mutter.
„So, jetzt erzähl mir erst mal ausführlich, was ich eben schon in Gesprächsfetzen mitbekommen habe.“ Sie schloss die Haustür, nachdem sie als letzte das Haus betreten hatte, und sah ihre Tochter erwartungsvoll an.
Silke holte wiederum tief Luft und erzählte alles. Von der Operation, der Diagnose und von Heinrichs Angebot, sie übermorgen wieder nach Mainz zu bringen. Die Mutter lauschte, warf Samuel den ein oder anderen mahnenden Blick zu, als dieser zu Kommentaren ansetzte, und nickte langsam, nachdem Silke geendet hatte.
„Gut, wir werden sehen, was wir aus der Situation machen.“ Sie ging in die Küche. Die beiden folgten ihr. „Hier, nimm erst mal.“ Sie reichte ihrer Tochter ein Glas Wasser. „Das kannst du bestimmt gebrauchen. Wir sollten dem Herrn dankbar sein, dass Richard den Unfall überlebt hat. Er hätte auch sterben können. Jetzt lassen wir ihn erst mal wieder nach Hause kommen und dann sehen wir weiter. Und du, Samuel“, sie richtete ihr Augenmerk auf ihren ältesten Sohn, „du wirst dich zusammennehmen, wenn Herr von Wiesbach hier auftaucht. Hast du mich verstanden?“
Er brummte das ‚Ja’ mehr, als dass er es sagte.

***

Heinrich war froh darüber, dass sein Vorgesetzter ihm für den Nachmittag frei gegeben hatte, damit er sein Versprechen einlösen konnte. Manchmal war es doch von Vorteil, wenn man einen Vater hat, der in gewissen Kreisen Einfluss genoss. Er blickte auf den Blumenstrauß, der neben ihm auf dem Sitz lag. Es war eine billige Entschuldigung an Frau Rosenberg dafür, dass er ihren Sohn zum Krüppel gemacht hatte. Aber etwas anderes war ihm nicht eingefallen. Langsam ließ er den Wagen auf dem Kiesweg ausrollen und stieg aus. Mit den Blumen in der Hand ging er auf das Haus zu. Er war gerade im Begriff zu klopfen, als sich die Haustür öffnete und ein breitschultriger Mann im Türrahmen stand.
„Entschuldigung, mein Name ist Heinrich von Wiesbach. Ich wollte Fräulein Rosenberg abholen, um sie zu ihrem Bruder nach Mainz zu fahren.“ Heinrich trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Präsenz des Mannes war fast erdrückend.
„Samuel Rosenberg. Ich bin der Bruder von Richard.“ Jetzt war ihm klar, warum Silke ihn darum gebeten hatte, nicht in der SA-Uniform hier aufzutauchen. Mit diesem Mann Streit zu bekommen, war alles andere als erstrebenswert.
„Herr von Wiesbach.“ Silke schob ihren Bruder auf die Seite. „Bitte, kommen Sie doch rein. Ich bin sofort so weit.“
Heinrich ging an Samuel vorbei und folgte ihr in das Innere des Hauses. Ein leichter Parfumhauch wehte um seine Nase.
„Ist Ihre Mutter da? Ich habe ihr ein paar Blumen mitgebracht.“
„Nein. Sie ist bei einer Bekannten. Aber geben Sie her. Ich stelle sie ins Wasser. Ich kann ihr ja heute Abend sagen, dass sie von Ihnen sind.“ Sie nahm den Strauß an sich, ging in die Küche. Heinrich sah sich um. Es war ein gemütliches Haus. Der Familie schien ein gewisser Wohlstand zur Verfügung zu stehen. Die Möbel waren alt, aber gepflegt und in einem guten Zustand. Alles strahlte Wärme und Geborgenheit aus. Ein ziemlicher Gegensatz zu meinem Elternhaus, dachte er während seinen Betrachtungen.
„Von mir aus können wir los.“ Silke griff nach ihrer Handtasche und öffnete die Haustür. Heinrich nickte kurz und folgte ihr.
Auf dem Weg nach Mainz brauchte er nicht viel zu sagen. Silke unterhielt ihn mit Anekdoten über ihre Familie und das Zusammenleben mit ihren Brüdern. Wie immer in solchen Fällen beneidete er Menschen, die Geschwister hatten. Als einziges Kind einer überängstlichen Mutter war seine eigene Kindheit mehr als behütet gewesen. Selbst mit dem Eintritt in die Volljährigkeit hatte er Probleme gehabt, sich aus der Umklammerung der mütterlichen Fürsorge zu lösen. Es war das einzig Gute an der momentanen Situation: Zwischen seiner Mutter und ihm lagen gut 600 km.
In Mainz angekommen, parkte er den Wagen in der Straße, in der das Haus von Dr. Hermann lag. Er stieg aus, umrundete das Auto und öffnete Silke die Tür. Sie lächelte ihn an und sie gingen zu dem Haus des Arztes. Trotz der bedrückenden Situation, in der sich Richard befand, spürte sie so etwas wie Glück in sich. Heinrich gefiel ihr. Seine galante Art beeindruckte sie.
„Ich hoffe, Ihrem Bruder geht es besser als vorgestern.“
„Ja, das wäre schön. Ich würde es ihm wünschen.“
Heinrich drückte auf die Klingel. Er fühlte sich immer noch miserabel, wenn er an Richard dachte. Die letzten beiden Nächte hatte er ständig das Bild vor sich gesehen: Der junge Mann im Staub liegend, das verletzte Bein und der entgeisterte Ausdruck in den blauen Augen. Es hatte jedes Mal lange gedauert, bis er zur Ruhe gekommen war und sein Gewissen ihm etwas Schlaf gönnte.
„Heinrich, Fräulein Rosenberg.“ Dr. Hermann stand im Türrahmen und begrüßte erst den Sohn seines Freundes und dann seine Begleitung. Sein Kittel war blutverschmiert.
„Onkel Friedrich, du hast doch nicht etwa noch mal operieren müssen?“ Heinrich sah entsetzt an ihm hinunter.
„Was? Oh, nein.“ Der Arzt kicherte leise. „Keine Sorge, dem jungen Mann geht es den Umständen entsprechend gut. Ich habe heute nur von einem Patienten die Gebühr für die Behandlung in Form von zwei frisch geschlachteten Kaninchen bekommen und die bin ich gerade am Verarbeiten. Es ist halt eine ziemliche Sauerei, bis man das Fell ab hat. Deswegen mache ich es hier unten. Meine Frau würde mich sonst mit Pauken und Trompeten aus der Wohnung werfen. Aber jetzt kommt erst mal rein.“
Er trat einen Schritt zur Seite, um den Besuchern den Zutritt zu ermöglichen. „Geht ruhig nach oben. Du kennst dich ja aus.“ Er wandte sich bereits wieder in Richtung Behandlungsraum, als er über die Schulter sagte: „Ach, ich glaube, der junge Mann könnte etwas Aufmunterung vertragen. Das Ganze hat ihn doch ziemlich mitgenommen.“
Silke sah Heinrich besorgt an, nachdem der Arzt in dem Raum verschwunden war. Dieser versuchte ihr aufmunternd zuzunicken. Gemeinsam gingen sie nach oben und blieben vor Richards Zimmertür stehen. Silke klopfte vorsichtig dagegen. Es kam keine Antwort. Sie wiederholte das Klopfen. Wiederum blieb es still im Inneren des Zimmers.
„Vielleicht schläft er“, versuchte Heinrich sie zu beruhigen.
„Das werden wir gleich wissen.“ Sie legte die Hand auf die Türklinke und drückte diese nach unten. Mit einem leisen Knarren schwang die Tür auf und gab den Blick in das Innere frei. Die Sonne erhellte den Raum und Staubkörnchen tanzten in dem Lichtstrahl.
„Richard?“ Silke ging ein paar Schritte in den Raum. Ihr Bruder lag auf dem Rücken, den Kopf von ihnen weg gedreht. Er wirkte fast klein und zerbrechlich in dem riesigen Bett. „Richard?!“ Sie ging zu ihm und setzte sich auf die Matratze. Heinrich war ihr gefolgt, verharrte aber am Fußende. Er betrachtete sein Opfer genauer. Der junge Mann war immer noch blass, den Blick ins Leere gerichtet.
„Herr Rosenberg, wie geht es Ihnen?“
Richards blaue Augen bewegten sich langsam und sahen ihn an. Er sagte nichts, zuckte nur mit den Schultern.
„Richard.“ Silke legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte diese sanft. „Bitte, sprich mit uns. Wir wollen dir doch helfen.“