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Über dieses Buch:

Die schöne Elena ist verzweifelt: Ihr Mann prügelt sie immer häufiger bis zur Bewusstlosigkeit. Sie erduldet die Qualen und die Demütigung, um so ihren kleinen Sohn vor ihm zu schützen – doch als auch Isi die Hand seines Vaters zu spüren bekommt, schlägt Elena mit dem Mut einer Löwin zurück, und sie hört erst auf, als ihr Peiniger blutend vor ihr liegt. Das hat schlimme Konsequenzen: Elena wird wegen schwerer Körperverletzung verhaftet, Isi in die Obhut der Erzieherin Monica gegeben. Aber ist der Junge dort vor den skrupellosen Freunden seines Vaters sicher, die noch eine Rechnung mit der Familie offen zu haben scheinen? Monica bittet die Frauen der Detektei Llimona 5 um Hilfe …

»Fünf höchst sympathische Frauen, die das Schicksal in Barcelona zusammenführt.« Brigitte

Über die Autorin:

Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, wurde u. a. mit dem Edgar-Wallace-Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von über zwei Millionen und als Drehbuchautorin (»Tatort«, »Ein Fall für Zwei«) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München.

Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5: »Schöner sterben in Barcelona«, »Das dunkle Netz von Barcelona« und »Lautlos morden in Barcelona« sowie die Reihe »Krimi-Klassiker«, die folgende Bände umfasst: »Tod in St. Pauli«, »Bis morgen, Mörder«, »Wer barfuß über Scherben geht«, »Finderlohn«, »Küsschen für den Totengräber«, »Die netten Mörder von Schwabing«, »Ein bisschen Föhn und du bist tot«, »Du lebst auf Zeit am Zuckerhut«, »Der Tod hat hitzefrei«, »… trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet«, »Das Mädchen mit dem Engelsgesicht«, »Vielliebchen«, »Handgreiflich«, »Schlagschatten«, »Über die Klippen«, »Bei geschlossenen Vorhängen«, »Strandgrab« und »Friss, Vogel, oder stirb«.

Die Webseiten der Autorin: www.irenerodrian.de/ und www.llimona5.com

Die Autorin im Internet: www.facebook.com/irene.rodrian

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe März 2021

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel »Ein letztes Lächeln« 2007 bei Heyne und 2013 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2007 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/J.D.S., Ttstudio

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95520-092-3

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Irene Rodrian

Die Schatten von Barcelona

Kriminalroman

dotbooks.

DIE 5 LLIMONAS

Pia Cortes-Casares

äußerst erfahrene und erfolgreiche Ermittlerin, bis vor kurzem noch inspectora bei der Mordkommission. Scharf & pragmatisch

Janet Howard

Gerichtsreporterin für englische und spanische Zeitungen. Lebt seit dreißig Jahren in Spanien, ist aber nach wie vor very british. Cool & souverän

Dagmar Warwitz

kluge Anwältin, ursprünglich aus München. Im Kampf um ihre Kinder kam sie nach Barcelona und erwarb dort alle notwendigen Zulassungen. Sie wird leicht unterschätzt. Lieb & klug

Barbara Dyckhoff

als Jugendliche aus einem von vielen Heimen ausgerissen und nach Barcelona getrampt. Ihr hochgebildeter Mentor ist der König der Taschendiebe. Er bringt ihr alles bei was er weiß und kann. Kühn & geschickt

Anna Guzman

auf Ibiza in einer deutsch-amerikanischen Chaosfamilie aufgewachsen. Kam früh an Drogen und schaffte es aus eigener Kraft, davon loszukommen. Mutig & zäh

UND IHRE BESTEN FREUNDE

Luis Llobet

brillanter Pathologe und Gerichtsmediziner, Feinschmecker und Rotweinkenner. Verehrer der Damen

Josep Bonet

schlauer Ermittler, capitán bei der Mordkommission, ehrlicher Macho

Fritz the cat

der große gelbe Kater mit dem runden Kopf.

Chef über die Dächer vom barrio gótico und die Terrasse von Llimona 5

Teil I
ERSTE WARNUNG

Kapitel 1

Schwere Schritte. Machten vor der Tür halt. Dann kratzte der Schlüssel ein paar Mal über die Metalleinfassung, bis er endlich ins Schlüsselloch fand.

Elena blieb regungslos auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzen. Eine Spielshow auf TV3. Den Ton hatte sie abgestellt, als sie das asthmatische Rattern des Fahrstuhls im Treppenhaus hörte. Sie bewegte sich nicht, drehte sich nicht um, sie starrte auf den Fernsehschirm.

Die Tür wurde aufgestoßen und fiel krachend wieder ins Schloss. Sein Schlüsselbund fiel zu Boden, als er ihn gegen das Brett neben der Garderobe warf. Sie hörte seinen schnaufenden Atem. Sie roch den süßlichen Dampf von Bier und conac.

Sie bewegte sich nicht. Sie konnte sich nicht bewegen. Obwohl sie ihn hinter sich spürte. Wie er in der Wohnzimmertür stand. Sich am Türrahmen festhielt und sie anglotzte.

»Müsierst du dich?«

Sie drehte sich noch immer nicht um. Links vor ihr war die offene Balkontür. Weiße Vorhänge blähten sich in der heißen Nachtluft. Dahinter die Töpfe mit den hellroten Geranien, die sie einmal zusammen gekauft hatten, der kleine Tisch, an dem sie früher manchmal abends gegessen hatten. Auf der anderen Straßenseite die dunklen Umrisse der Platanenkronen und dahinter der Palau de Justicia, der gewaltige Justizpalast mit seinen hell angestrahlten Türmen. Und fünf Stockwerke unter ihnen Barcelona. Hupend, schreiend, tobend.

Sie wollte wegrennen. Hinaus auf den Balkon. Hinunterspringen. Weg sein. Unsichtbar. Unfühlbar.

Sie bewegte sich nicht.

In der Wohnung war es still. Auch im Kinderzimmer. Kein Laut. Er stand immer noch hinter ihr. Stieß sich plötzlich vom Türrahmen ab und stolperte auf sie zu. Hielt sich an der Sofalehne fest. Sein Atem direkt über ihr. Leise, fast freundlich: »Meinelena ...« Er fiel auf sie, sein Gewicht drückte sie in die Polster. Grunzen, es klang wie ein Lachen. Sein feuchter Mund an ihrem Hals.

Der Ekel löste ihre Lähmung, sie drehte sich unter ihm weg. »Hast du Hunger? Wir haben noch Reis und Kaninchen ...«

»Keininchen, dubismein Hase ...« Wieder lachte er grunzend und hielt ihren Arm fest. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Im Versuch, sich aus seinem Griff zu winden, verdrehte sich ihre Schulter, ein kurzer scharfer Schmerz ließ sie aufschreien.

Er ließ ihren Arm nicht los, rollte vom Sofa, wieder über sie. Diesmal war es kein Zufall, er nagelte ihre Arme mit seinen Ellbogen auf dem Fußboden fest und drückte ihre Beine mit den Knien auseinander. In seiner Stimme war auch keine Freundlichkeit mehr. »Liebe dich verdammt ... kommher!« Er versuchte, mit einer Hand seinem Gürtel zu öffnen. Speicheltropfen sprühten über ihr Gesicht.

»Bitte! Bitte nicht!« Sie hörte ihr eigenes Winseln und konnte nichts dagegen tun. Sein Gesicht war so nah über ihr, dass sie die gelben Augenbröckchen in seinen Wimpern sehen konnte, den entzündeten Eiterpickel über seinem Schnauzbart und die fettigen Schweißperlen neben der Nase. Und die riesigen Pupillen seiner Augen. »Nein!!!«

Es wäre so leicht gewesen. Er war relativ friedlich besoffen, als er heimkam. Sie war seine Königin, er betete sie an, er hatte ihr versprochen, die Sterne für sie vom Himmel zu holen. Er war ihr Mann. Er wollte sie haben. Sie hätte nur mitmachen müssen. Einfach stillhalten. Seine Küsse erwidern. Ihn umarmen. Ihm dabei helfen, seine Hose aufzuknöpfen.

Aber genau das hatte sie ja in den ersten Jahren immer getan. Immer und immer wieder. Es hatte nie etwas genutzt. Im Gegenteil. Aber vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie ihn an diesem Abend nur gelassen hätte.

Sie drehte sich unter ihm weg, als er sie nur noch mit einer Hand festhielt, und versuchte, auf die Beine zu kommen. Schaffte es nicht. Er riss sie zurück und knallte sie gegen die Wand.

»Hure!« Er sprach plötzlich klar und deutlich. »Hast wohl schon deinen Spaß gehabt?! Den ganzen Tag über, wie?!« Er riss den Gürtel aus den Schlaufen seiner Hose. »Du verdammte Hure, du!!!«

Er schlug nicht methodisch. Früher hatte er darauf geachtet, dass sie keine sichtbaren Verletzungen davontrug. Das interessierte ihn schon lange nicht mehr. Er schlug sie, weil sie dalag. Weil sie schrie. Weil sie sich wehrte. Weil sie sich nicht mehr wehrte. Weil sie nur noch wehrlos dalag und sich zu schützen versuchte. Sich zusammenrollte. Wimmerte. Irgendwann warf er den Gürtel weg und schlug sie mit seinen Fäusten. Stand über ihr. Trat sie. In den Bauch, in die Nieren, in die Brust.

Elena spürte nur die ersten Schläge. Versuchte nur noch ganz am Anfang, sich etwas wegzudrehen, damit das Blut nicht auf den neuen Teppich floss. Viel Blut, er hatte ihre Nase getroffen. Das Auge. Dann schaltete sie ab.

Das hatte sie schon als kleines Kind gelernt. Wenn Papa zu ihr kam oder später Fred. Sie konnte ihren Körper verlassen und ganz woanders sein, wenn es hier nicht mehr zu ertragen war.

Deshalb dauerte es auch eine ganze Weile, bis sie merkte, dass er nicht mehr auf sie einschlug. Dass im Nebenzimmer der kleine Isi schrie.

Elena hatte Mühe, hochzukommen, sie krallte sich am Sofa fest und zog sich langsam auf die Knie. Die Schmerzen erwachten und überfielen sie. Am ganzen Körper gleichzeitig. Blut floss in heftigen Stößen von ihrem Gesicht auf den Boden.

Isi schrie.

Es war nicht das normale Schreien von Einsamkeit und Hunger. Es war höher, schriller. Elena vergaß alle Schmerzen. Sie stand aufrecht. Sie musste sich das Blut aus den Augen wischen, um sehen zu können. Sie stürmte los.

Flur. Kinderzimmer. Er stand über dem Gitterbettchen und versuchte, Isi herauszuheben. Konnte ihn nicht halten. Der Kleine strampelte und schrie. Rutschte aus seinen Händen und fiel ins Bettchen zurück.

Stille.

Die plötzliche Stille war schlimmer als die Schreie vorher. Elena griff neben sich und hatte den blauen Kinderstuhl in der Hand. Schlug zu. Auf seinen Hinterkopf. Und als er sich umwandte, in sein Gesicht. Schlug zu und schlug zu. Mit aller Kraft.

Er hob die Hände, um den Stuhl abzuwehren, er stolperte, versuchte, sich am Kinderbett abzustützen. Fiel schwer zu Boden. Elena schlug weiter auf ihn ein. Auch, als er zum Flur hinaus kroch, weiter zur Wohnungstür, und bei dem Versuch, aufzustehen, die Garderobe umriss.

Erst als Isi zu wimmern begann, ließ sie den Stuhl fallen und wandte sich dem Kinderbett zu. Nahm ihr Baby hoch und wiegte es tröstend in den Armen. Ihr Blut tropfte auf seinem weißen Strampelanzug.

Kapitel 2

Es war heiß, aber für Juli noch erstaunlich klar. Von der Gondel aus konnten sie über die ganze Stadt sehen und weit hinaus aufs offene Meer. Dagmar stand zwischen Quim und Sara, hielt beide umarmt und an sich gedrückt. Sie entdeckte Barcelona noch einmal durch ihre Augen.

Als sie vom Montjuich herunter wieder zum Hafen zurückkamen, lagen die platanengesäumten Ramblas wie eine lange grüne Schneise im schiefergrauen Dächermeer unter ihnen, und vor ihnen das funkelnde Ultramarin des Hafens mit den hochstiebenden Bugwellen der Motorboote und den weißen Segeln der Yachten.

»Quim hat schon zwei Segelscheine«, sagte Sara stolz, und Quim ergänzte sofort:

»Sara ist Surfmeisterin in ihrer Altersklasse.«

»Würdet ihr denn gern weiter Wassersport machen? Es gibt einen Club ...«

»Nicht so dringend«, sagte Sara, Quim zuckte mit den Schultern. Sie waren sich einig, wie so oft.

Dagmar hatte ihre beiden Kinder jetzt seit ein paar Monaten wieder bei sich. Über vier Jahre lang hatten sie sich nicht gesehen, eine lange Zeit, die sie jetzt mit allen Mitteln aufzuholen versuchten.

Die Kinder hatten keine wirkliche Beziehung zu ihrem Vater, dem Münchner Staranwalt Werner Warwitz. Dazu hatten sie ihn viel zu selten gesehen. Und er hatte sich nie wirklich auf sie eingelassen. Bei ihren wenigen Besuchen in München bekamen sie ihn kaum zu Gesicht, und selbst, wenn er bei ihnen auf der Finca in Mallorca war, verbrachte er fast die ganze Zeit über seinen Akten im Arbeitszimmer und durfte nicht gestört werden. Und von seiner englischen Gespielin und ihrer Nurse Helen sprachen sie immer nur leicht verächtlich von ‘sie’ oder ‘die’.

Vier Jahre. Sarah war damals erst sechs Jahre alt gewesen, Achim schon acht. Und er war es auch, der in all den Jahren die Erinnerung an Dagmar wachgehalten hatte. Der nicht zugelassen hatte, dass sie ihr die Schuld an der Trennung gaben, oder dass sie sich zu nah an Helen anschlossen. Aber die Gefahr hatte wohl nie bestanden, Helen war kein warmherziger oder mütterlicher Typ. Für sie waren die Kinder ein Job, der alte Warwitz eine Art Lebensversicherung. Achim und Sarah waren auf sich allein gestellt, das hatte sie zusammengeschweißt.

Dagmar hatte Angst vor der ersten Begegnung gehabt, fast Panik. Aber sie hatte sich vorgenommen, von Anfang an ehrlich zu sein. Und beide Kinder zu respektieren.

Immer noch verbrachten sie soviel Zeit wie nur irgend möglich zusammen. Sie waren vertraut, sie liebten sich. Aber sie kannten sich nicht. In den ersten Tagen und Wochen hatten sie miteinander geredet. Sie hatten die Wohnung neu eingerichtet, sie hatten eine Schule gesucht, sie hatten mit den anderen vier Llimonas Feste gefeiert. Und sie hatten geredet und geredet, tagelang, nächtelang. Und doch gab es immer noch so viel, was sie nicht voneinander wussten.

»Es gibt hier in Barcelona eine Menge Aktivitäten für Schüler aller Altersklassen. Musik, Theater, Sport und Spiele, Ausflüge und und und. Habt ihr irgendwelche Ferienwünsche? Pläne?«

Die Kinder sahen sich kurz an, grinsten und schmiegten sich noch enger an Dagmar.

»Nein!«

»Wir wollen hierbleiben!«

»Mit dir!«

»Die Stadt ist toll!«

»Hier haben wir doch alles!«

»Kinos und Eiscafés, Hafen und Strand ...«

»Sogar Theater, Konzerte und Museen.«

»Und dich!«

»Aber ich werde vielleicht nicht immer soviel Zeit haben ...«

»Und Llimona 5!«

»Und die neue Fälle!«

»Genau!«

Sie lachten und knufften Dagmar. So gut kannten sie sie schon, sie wussten, was sie dachte. Die Freundschaft der anderen vier Llimonas war wichtig und wunderbar, aber eine Detektei doch eigentlich keine Umgebung für Kinder. Dagmar musste sich dann immer wieder gewaltsam in Erinnerung rufen, dass die Kinder nicht mehr klein waren, und dass es längst zu spät war, sie vor allen Realitäten des Lebens zu behüten. Außerdem war ihr jetzt von der Gondelfahrt grottenschlecht, und alle pädagogischen Überlegungen mussten dahinter zurückstehen.

Die Gondel machte ruckelnd fest, sie stiegen aus und gingen zum Fahrstuhl. Die Kinder liefen voraus und machten Witze über einen Touristen, der die Spucktüte benutzte. Die Fahrt hinunter zum Hafen war eine weitere Herausforderung. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel, und Dieselabgase legten sich über den salzigen Geruch des Meeres. Dagmar kämpfte immer noch gegen die Übelkeit, als sich ihr Handy meldete. »Diga?«

»Hola, Dagmar? Hier spricht Mónica Vidal. Pia Cortes-Casares hat mir deine Telefonnummer gegeben. Du hast einen guten Ruf als Anwältin.«

»Danke. Müsste ich dich kennen?«

»Nein, hoffentlich nicht«, trockenes Lachen. »Ich arbeite für die Liga gegen häusliche Gewalt. Ich leite und koordiniere verschiedene Frauenhäuser und die Notrufstationen in Barcelona und Umgebung.«

Die Kinder waren vorausgelaufen, warteten und kamen langsam wieder zurück. Dagmar blieb neben der Gondelbahn stehen. »Beeindruckend. Was kann ich für Sie tun?«

»Bitte, sag Du. Und komm, so schnell du kannst zur brigada criminal ins Polizeipräsidium in der Laietana.«

»Um was geht es denn?«

»Adrián Sauro und seine Frau Elena. Er misshandelt sie seit Jahren. Heute hat sie zum ersten Mal zurückgeschlagen, weil er sich an dem Baby vergreifen wollte. Und jetzt ist sie verhaftet worden und steht unter Anklage. Schwere Körperverletzung.«

»Ich bin in zehn Minuten da.«

Dagmar schaltete ihr Handy aus und sah den Kindern entgegen. Sie wussten schon Bescheid. Sara war als erste bei ihr. »Du musst weg?«

»Ja ...«

»Können wir mitkommen?« Quim schaute hinüber zur geschwungenen Fußgängerbrücke und dem runden Dach des riesigen Mittelmeeraquariums. »Nein. Richtig?«

»Tut mir leid«, Dagmar lachte und kramte zwanzig Euro heraus. »Ich muss in die Laietana. Kommt ihr allein zurecht?«

»Claro Mama«, Sara hatte sie seit ihrer Ankunft noch nie Mama genannt. Dagmar versuchte, sich die Rührung nicht anmerken zu lassen. Quim beobachtete sie, nahm das Geld und deutete zur Brücke hinüber.

»Mach dir keine Sorgen. Wir schauen uns die Haifische an. Und kommen dann zum Pati Llimona. Richtig?«

Noch eine letzte Umarmung, dann sah Dagmar ihren beiden Kindern nach, wie sie hinübergingen, über den grünen Platz mit den bunten Skulpturen und den flanierenden Gruppen von jungen Menschen und Touristen. Weiter zu der freischwebenden Brücke zum L’aquarium.

Sie blieben immer wieder stehen und winkten.

Dagmar winkte zurück, bis die beiden in der bunten Menge verschwanden. Der sehnige Junge mit dem sonnengebleichten Stoppelhaar und das schlaksige Mädchen mit den dunklen Locken, kaum kleiner als er. Es tat weh, sie so allein zu lassen. Es kostete unglaubliche Kraft, darauf zu vertrauen, dass die beiden sich längst in Barcelona zurechtfanden. Dass ihnen nichts geschehen würde. Dass sie jetzt für immer bei ihr waren.

Dagmar wandte sich entschlossen ab, lief hinüber zum Kolumbusdenkmal und winkte sich ein Taxi. Die Strecke war kurz, aber das Taxi hatte eine Klimaanlage, und Dagmar konnte für ein paar Minuten zurücksinken und die kleinen grauen Zellen in ihrem Kopf zu Ruhe kommen lassen.

Die Prefectura Superior sah nicht gerade aus wie das Zentrum für Mord und Totschlag. Eher wie ein eleganter Stadtpalast, der zu internationalen Festen einlud. Die weißgraue Fassade und die verschnörkelten Fensterrahmen erst kürzlich renoviert, die Polizisten, die in ihren blauen Uniformen vor der Einfahrt Wache hielten, frisch gestärkt, selbst die beiden gepanzerten Mannschaftswagen, die gerade von der Laietana in den Durchgang einbogen, wirkten wie Requisiten aus einem Kriminalfilm.

Dagmar lief sofort hinauf zum Großraumbüro, in dem Pia als inspectora der Mordkommission gearbeitet hatte, bevor sie sich alle kennen gelernt, ihren ersten Mordfall gelöst und zusammen Llimona 5 gegründet hatten.

Lärm und Stimmengewirr schlugen Dagmar entgegen. Sie blieb in der Tür stehen. Auf den am Boden festgeschraubten Bänken drängten sich die Wartenden, einige standen unter den Fahndungsplakaten, alle Tische waren besetzt. Telefone läuteten, Männer brüllten sich Informationen quer durch den Raum zu, eine Frau schrie hysterisch. Zwei uniformierte Polizisten, ein Mann und eine Frau brachten einen Betrunkenen herein, der sich mit Händen und Füßen wehrte, nach seiner Mutter schrie und dem Mann auf die blank polierten Schuhe kotzte.

Der hübsche Toni verhörte eine extrem lange dünne Frau mit hochtoupierter Blondhaarperücke und winzigem Minirock, die vermutlich ein Mann war. Die kleine Silvi war hinter ihrem Computer und einem Berg von Akten kaum noch zu sehen. Das verglaste Chefbüro war leer, el jefe lochte vermutlich gerade mit einer wichtigen Persönlichkeit aus Politik oder Wirtschaft ein.

Capitán Josep Bonet hatte seinen Tisch ganz hinten beim Durchgang zu den Verhör- und Konferenzräumen. Neben ihm saß eine Frau mit einem jeansblau getönten Rasiermesserschnitt und einem leuchtend roten Poncho. Beide schauten auf, als Dagmar sich zu ihnen durchgearbeitet hatte. Josep wie immer in einem verdrückten Baumwollhemd, die graue Haarbürste noch wilder als sonst zerwühlt. »Dagmar«, sagte er.

Die Frau war um die vierzig, hatte ein schmales Gesicht mit einer sehr dominanten Nase und einen vollen Mund. Sie sprang auf und streckte Dagmar eine Hand entgegen. Kein Schmuck, kräftiger Händedruck. »Dagmar Warwitz? Ich bin Mónica Vidal. Danke, dass du so schnell gekommen bist.«

Dagmar sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, aber erst als Mónica ihr ihren Stuhl hinschieben wollte, schien Josep aufzuwachen und bot ihr seinen Stuhl mit der abgewetzten Bomberjacke über der Rückenlehne an. Er selbst hockte sich auf die Kante des nächsten Tisches. »Sieht nicht gut aus«, sagte er, und seine dunklen Bassetaugen ergänzten: Da wirst du wenig ausrichten können. Pech gehabt!

»Elena Saura?« Dagmar mochte Josep, aber sie kannte auch seine unverbesserlichen Machoseiten. Sie wandte sich direkt an Mónica. »Wo ist sie jetzt?«

»Schon im Wad Ras.« Mónica warf Josep einen wütenden Blick zu. »Der Untersuchungsrichter hat keine Zeit verloren.«

»Mateo Calvet?« Dagmar dachte an den gutmütigen Rundschädel mit dem mönchischen Lockenkranz. »Aber der ist doch normalerweise wirklich sehr friedlich!«

»Mein Gott, was sollte er machen?!« knurrte Josep. »Adrián Saura liegt im Hospital del Mar auf der Intensivstation. Der kann froh sein, wenn er seinen Namen noch weiß, falls er je wieder aufwacht. Sie hat nicht viel von ihm übrig gelassen.«

»Und das Baby?«

»Isidre. Elf Monate. Er ist unverletzt.« Mónica hatte einen ziemlich dicken hellroten Aktenordner vor sich liegen. »Das Jugendamt hat ihn erstmal in einem Heim untergebracht.«

»Aber du hast doch gesagt, dieser Adrián hat seine Frau Elena seit Jahren geschlagen und misshandelt.«

»Darum geht es hier nicht«, Josep hatte auch einen Aktenordner vor sich liegen, grün und noch dünn. »Es geht hier um schwere Körperverletzung oder sogar versuchten Totschlag. Elena Saura hat auf Adrián weiter und weiter eingeschlagen, obwohl er schon am Boden lag. Er war betrunken, er war nicht fähig, sich zu wehren. Sie hat sogar zugegeben, dass sie ihn töten wollte. Und so leid es mir tut, das wird als Heimtücke gewertet. Lo siento mucho

»Ihnen tut gar nichts leid«, fauchte Mónica, »Sie finden das doch ganz in Ordnung!«

Dagmar legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. Leise: »Wir werden als erstes Haftverschonung beantragen, damit Elena rauskommt und sich wieder um ihr Baby kümmern kann.«

»Das wird nicht klappen«, Josep konnte die Zufriedenheit in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken. »Adrián hat Jorge Carod als Anwalt.«

»Na und?« Dagmar kannte Carod durch ihren Seniorpartner Fusté. Er war auf Strafrecht spezialisiert und galt als eitel, rücksichtslos und extrem ehrgeizig. »Wenn Saura sich so einen scharfen Hund zum Anwalt nimmt, dann zeigt das nur, dass er erstens so krank nicht sein kann, und dass er zweitens nicht so unschuldig ist, wie er tut.«

Josep lächelte herablassend. »Schöne Theorie. Aber die beiden kennen sich schon länger. Carod ist ein Freund und Studienkollege.«

»Saura ist auch Anwalt?«

»Nein, nein, entschuldige. Sie waren auf derselben Schule. Saura ist Architekt.«

»Ein junger Gaudí?« Dagmar lächelte. »Bisher aber noch nicht ganz so berühmt, oder?«

»Er baut Einkaufszentren. Der neue Supermarkt in Llobregat ist von ihm.«

»Aha. Also hat er Geld?«

»Er ist nicht reich«, sagte Mónica, »aber er verdient gut. Er hat eine komfortabel ausgebaute Eigentumswohnung beim Arc de Triomf, und er ist dabei, sein Elternhaus in Gerona ziemlich aufwendig auszubauen.«

»Nicht eben der typische Frauenschläger, oder?«

»In Barcelona schon. Wir sind hier nicht in Andalusien. Dort findet Gewalt gegen Frauen meist nur in den untersten Gesellschaftsschichten statt. Hier aber ist das durchaus ein Phänomen auch der besseren Stände.« Mónica verzog ironisch den Mund und sah Josep von der Seite her an. Josep demonstrierte Langeweile. Dagmar hakte nach.

»Und wer ist der zuständige Staatsanwalt?«

»Sanz Lleida.« Das kam schnell und sehr zufrieden.

Dagmar fiel in den Stuhl zurück.

Sanz Lleida war der härteste Knochen, den es im Justizpalast gab. Er sah aus wie hundert, aber natürlich konnte er so alt noch nicht sein. Hager, leicht gekrümmt, mit einer hohen scharfen Stimme und einem phänomenalen Verstand. Er konnte virtuos mit der Sprache und den Gesetzen umgehen und er tat alles, was in seiner durchaus großen Macht stand, um die alten Werte zu schützen und zu stützen. Demokratie und Emanzipation hielt er für Teufelswerk. Dagmar hatte miterlebt, wie er mit Pressevertretern umgesprungen war oder wie er weibliche Anwälte in coram publico fertigmachte.

»Scheiße!«

»Du sagst es.« Mónica klappte ihre Mappe zu. »Wir haben schon alles Menschenmögliche versucht, aber wir laufen nur gegen Mauern.«

»Dahinter steckt System.« Dagmar war auf ihrem Gebiet und scherte sich nicht mehr um Joseps Machogebaren. »In Barcelona laufen eine ganze Menge Männer frei herum, die ihre Frauen erst jahrelang gequält und dann ermordet haben. Im Affekt, aus Leidenschaft, oder im Suff. Begründet, so heißt es. Die Frau hatte sie betrogen, beleidigt, verlassen. Freispruch oder Bewährung. Im Wad Ras sitzen einige Frauen lebenslänglich, weil sie ihre Männer getötet haben. Ihnen wird Heimtücke vorgeworfen. Weil sie sich nach Jahren der Erniedrigung an die meist körperlich weit überlegenen Männer erst rangetraut haben, als diese betrunken auf dem Boden lagen oder schliefen. Heimtücke. Dass ich nicht lache!«

»Danke für Ihr Plädoyer«, Josep grinste, stand auf, griff hinter Dagmar und zog seine Fliegerjacke vom Stuhl. »Es ist Freitag, halb sieben. Keine Chance auf irgendeinen Gerichtstermin vor Montag. Und ich habe jetzt auch Feierabend.« Er warf sich die Jacke über die Schulter und schlenderte davon.

Kapitel 3

Die Zielperson blieb vor einem Schaufenster mit Second-Hand-Kameras stehen. Barbara musste sich drei Läden dahinter in eine Auslage mit Stützstrümpfen und Beckenkorsetts vertiefen, um nicht aufzufallen.

José Alonso. Der Mann sah weder gut aus noch war er jung, reich oder berühmt. Zahntechniker, zweiundfünfzig. Er hatte eine Halbglatze, war eindeutig übergewichtig und untrainiert, seine hellbeigen Hosen waren nicht mehr sauber, sein braunes T-Shirt durchgeschwitzt.

Aber er hatte eine Frau, die ihn liebte und behalten wollte. Und die dafür bezahlte, dass Llimona 5 ihn beobachtete und genauestens ausforschte, um seine geheimen Leidenschaften ans Licht zu bringen.

Pia hasste diese Aufträge. Private Bespitzelungen. Aber seit Llimona 5 vor allem durch den Fall der Anti-Aging-Morde zu plötzlichem Ruhm gekommen war, konnten sie sich vor solchen Anfragen kaum noch retten. Fünf Frauen, fünf erfolgreiche Detektivinnen in einer großen Machostadt. Es kamen sowohl die Männer, um ihre untreuen Frauen zu stellen, als auch die Frauen, die alles über ihre Männern wissen wollten. Die einen aus Neugier, die anderen, weil sie an die weibliche Kompetenz auf gewissen Gebieten glaubten.

Diese Aufträge brachten regelmäßiges Geld, aber Pia meinte auch, dass die anderen, vor allem die jüngeren, Barbara und Anna, dabei noch einiges lernen konnten. Observieren zum Beispiel, unauffälliges Beobachten und Verfolgen.

Sie waren noch in der Portaferrissa, Alonso zögerte an der Kreuzung und ging dann langsam auf die Ramblas hinaus. Barbara musste näher aufschließen, um ihn in dem Gedränge nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Nachmittagshitze flirrte auf dem Mittelstreifen, obwohl das dichte Laub der Platanen kaum noch Sonnenflecken durchließ. Die Cafés unter den weißen Riesenschirmen waren voll, lang beschürzte Kellner flitzten mit überladenen Tabletts von einer Straßenseite auf die andere.

Touristen in Sandalen und kurzen Hosen fotografierten die üppigen Blumensträuße vor den Ständen, die exotisch bunten Vögel in den Käfigen und Volieren, den Magier, der weiße Kaninchen und Tauben aus seinem Zylinder zauberte, die alte Frau mit den sieben dressierten Hunden und den reglosen Muskelmann aus Gold.

An den Fußgängerampeln stauten sich die Angestellten aus den nahen Büros und Behörden in ihren verknautschten und verschwitzten Alltagsklamotten, die noch letzte Einkäufe und Besorgungen machten, bevor sie nach Hause eilten.

Freitagnachmittag. Da tobte in den Ramblas der Bär. Alonso ging in Richtung Hafen, Barbara hatte keine Mühe, hinter ihm zu bleiben.

In ihrem früheren Leben war sie Taschendiebin gewesen. Eine der besten. Ausgebildet von Pablo el Rey, dem König der Diebe. Sie kannte sich aus im unsichtbaren Beobachten und Verfolgen, darin war sie Meisterin.

Alonso überquerte die Straße, blieb kurz vor einem Café stehen, fand aber keinen freien Platz und ging weiter. Er trug die Geldbörse in der Gesäßtasche. Prall gefüllt, aber vermutlich nur mit alten Quittungen, Gutscheinen und Lottoabschnitten.

Barbara schätzte das Bargeld in seiner Börse auf maximal fünfundzwanzig Euro. Sie bewegte ihre Finger. Die automatische Aufwärmbewegung einer Taschendiebin kurz vor dem Zugriff. Sie musste grinsen. Sie hatte schon vor einiger Zeit die Seiten gewechselt, sie war jetzt Detektivin. Seit dem schrecklichen Brand in Barceloneta hatten ihre Finger die alte Beweglichkeit noch nicht ganz wieder erlangt. Aber viel fehlte nicht mehr.

Barbara blieb dicht hinter José Alonso. Sie war klein, und unauffällig. Er merkte nichts. Barbaras Gedanken schweiften ab. Vor ein paar Wochen hatte sie in einer Fernsehshow einen Taschendieb gesehen, der da so dilettantisch herumhampelte, dass sie kaum hinschauen konnte. ‘Greif dein Glück’ war eine Wohltätigkeitsveranstaltung und lief einmal im Monat. Mit großem Erfolg. Berühmte Sportler, Schauspieler, Künstler und Artisten traten vor einem Millionenpublikum auf.

Barbara wäre von selbst gar nicht drauf gekommen, aber Anna hatte ihr eines Tages das Programm hingelegt, und sie gedrängt, sich zu melden. Auch Pia hatte sie unterstützt, aber Barbara traute ihren Fähigkeiten nicht mehr. Sie pflegte und trainierte ihr Hände regelmäßig, aber die Sicherheit und das Selbstvertrauen von damals waren damals in Barceloneta mit verbrannt.

Alonso blieb so plötzlich stehen, dass Barbara kaum noch reagieren konnte. Aber er sah nur zurück, um den Verkehr abzuschätzen und lief dann über die Straße hinüber zur Boquería, noch bevor die Ampel umgeschaltet hatte.

Barbara kam etwas zu spät in die Markthalle. Hohe Bögen über den Gängen, Sonnenlichtspritzer in allen Farben durch das bunte Glas der Jugendstilscheiben und das schattenlose Licht der Leuchtstoffröhren. Sie musste nicht lange suchen. Er stand bei den Trockenfrüchten. Dunkel glänzende Datteln, von Kräutern ummantelte Feigen, knusprig dünne Bananenscheibchen und goldgelbe Aprikosen. Barbara war plötzlich hellwach. José Alonso war nicht der Mann, der sich hier von seinem kleinen Gehalt exotisches Obst kaufte. Vielleicht hatte seine Frau doch recht. Und ihr José traf sich heimlich mit einer anderen Frau. Auf dem Markt? Die hier war eindeutig zu alt. Alonso schaute auch nicht zum Trockenobst, er sah hinüber zu den Süßigkeiten. Am Nachbarstand stapelten sich Schokonüsse von dunkelbraun bis weiß, gebrannte Mandeln, kandierte Äpfel, gezuckerte Trauben. Dahinter standen zwei Frauen, die eine alt und dürr, die andere jung und drall.

Alonso starrte die junge an. Sie schaufelte gerade für eine ältere Frau in Jeans und T-Shirt ein durchsichtiges Tütchen mit glasierten Walnüssen voll. Sie schaute nicht zu ihm herüber. Er bewegte sich nicht.

Barbara war dicht hinter ihm. Und spürte plötzlich etwas hinter sich. Jemanden. Sie wurde beobachtet. Sie fuhr herum.

Hinter ihr stand Felip.

Hoch aufgeschossen, mit seinem hübschen glatten Kindergesicht und den vollen Trompeterlippen. Felip, ihr Ex. Im letzten Jahr hatten sie eine heiße Affäre gehabt, fast schon eine richtige Beziehung. Barbara hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Felip war der erste Mann gewesen, den sie nach dem schrecklichen Feuer wieder so nah an sich heran gelassen hatte. Aber das hatte ihm nicht genügt. Er wollte sie mit Haut und Haar, er wollte die ständige Verfügbarkeit, die absolute Kontrolle. Für Barbara aber war Freiheit das höchste aller Güter. Persönliche Freiheit rangierte für sie noch vor Freundschaft oder Liebe.

Sie machte Schluss, aber Felip wollte das nicht akzeptieren. Es hatte ein paar ziemlich hässliche Szenen gegeben, aber in den letzten Monaten hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

Er trug hautenge Radlerhosen und hatte einen flachen roten Expressrucksack mit gelben Leuchtstreifen über den Schultern. Anscheinend arbeitete er im Moment als Fahrradkurier. Was ihm offensichtlich genug Zeit gab, hinter ihr her zu spionieren.

Seine Augen glänzten, als hätte er Fieber. Er starrte sie an, schwieg. Erst, als Barbara sich umwandte, um wegzulaufen, griff er nach ihr. »Bitte ... hör mir zu!«

Sie nahm seine Hand von ihrem Arm. Das Halogenlicht ließ die Narben rot aufleuchten, aber das hatte Felip nie gestört. »Nein ...«

»Nur eine Minute! Lass uns reden, bitte!« Er stand so dicht vor ihr, dass sie hochschauen musste. Sie konnte seinen scharfen Körpergeruch wahrnehmen und das frische After Shave, Lacoste. Er benutzte es noch immer. Sie hatte ihm eine Flasche zum ersten gemeinsamen Dreikönigsfest geschenkt. Als sie sich noch liebten. Als sie glaubten, ein langes gemeinsames Leben vor sich zu haben. Als sie noch nicht wussten, dass es auch ihr letztes gemeinsames Weihnachten sein würde.

»Felip, es gibt nichts mehr zu reden, wir haben alles gesagt!« Wenn sie ihm so nah war, konnte sie die Vertrautheit seines Körpers spüren, und immer noch einen deutlichen Rest seiner Anziehungskraft. Barbara machte einen Schritt zurück. Er folgte ihr synchron wie ein Tangotänzer. Das war zu nah. Sie musste seitlich ausweichen, um wieder Luft zu bekommen und stolperte fast über eine halbvolle Abfallkiste. Er griff nach ihrem Oberarm, fester diesmal, so als wollte er sie stützen. Aber sie spürte den Druck als Schmerz. Riss sich heftig los. »Nein! Lass mich endlich in Ruhe! Es ist aus, verdammt nochmal! Kapier das doch endlich!«

»Barbara, bitte! Ich liebe dich!«

»Nein. Nein, verdammt!«

»Ich kann nicht mehr! Ich kann keine Musik mehr machen, ich hab mich von meiner Band getrennt ...Ich kann nicht mehr leben ohne dich!« Seine Stimme stieg an, die Augen wurden feucht.

»Wir haben uns getrennt! Es ist aus. Schluss! Ende! Finito!« Sie schrie fast, drehte sich ab und rannte davon.

Erst als sie am anderen Ende der Markthallen ankam, fiel ihr José Alonso wieder ein. Wütend, dass sie ihn völlig vergessen und nun wohl auch endgültig verloren hatte.

Kapitel 4

Trotz der späten Nachmittagsstunde gab es noch frischen bacalao. Da konnte Pia nicht widerstehen. Kabeljau war einer ihrer absoluten Lieblingsfische, völlig zu Unrecht verkannt und unterschätzt. Getrocknet und gesalzen gab es ihn immer, aber frisch nur selten. Sie nahm acht weißrosa Filets, dazu ein Viertelpfund Rogen für die Soße und zwei Dutzend gambas für die Vorspeise.

Die ersten Stände wurden bereits geschlossen. Auf dem Rückweg zur Rambla hinaus bekam Pia noch Tomaten, Zwiebeln, Zucchini und Artischocken und kaufte einen Stand weiter letzte Kirschen ein, erste Trauben und orangepralle Mispeln. Sie begegnete weder José Alonso, der sich gerade mit der jungen drallen Nussverkäuferin unterhielt, noch Barbara, die genau zur selben Zeit auf der anderen Seite, die Boqueria verließ und auf die carrer de Jerusalem hinaustrat.

Pia liebte Märkte und sie liebte es, einzukaufen. Das war eine der schönen Seiten ihres Berufswechsels. Seit sie nicht mehr bei der Polizei war, sondern selbstständig als Detektivin mit ihren vier Freundinnen bei Llimona 5 arbeitete, gab es öfter die Möglichkeit, den Tag selbst einzuteilen. Und es fanden sich viel mehr Anlässe zu gemeinsamen Mahlzeiten.

Pia überquerte die Straße, als ihr Handy sich meldete. Sie setzte die vollen Tüten ab und fischte es aus der Westentasche. »Diga?«

Dagmar. Sie war auf dem Weg zum Wad Ras, dem Frauengefängnis. Sie machte sich Sorgen, dass ihre Kinderchen verhungern könnten. Und sie fragte nach Mónica Vidal. Pia kannte Mónica. Sie setzte sich seit vielen Jahren für misshandelte Frauen ein, schon zu Zeiten, als es in Barcelona noch keine Notrufstationen und keine Frauenhäuser gegeben hatte.

»Mónica ist absolut engagiert und integer«, beruhigte Pia Dagmar, »du kannst ihr vertrauen.«

»Es geht um Gewalt in der Familie. Elena und Adrián Saura. Josep Bonet ist für den Fall zuständig. Adrián hat Elena jahrelang ungehindert geschlagen und misshandelt, jetzt hat sie zum ersten Mal zurückgeschlagen und sitzt prompt im Knast. Sein Verteidiger ist Jorge Carod, dieser scharfe Hund. Und der Staatsanwalt - halt dich fest - ist Sanz Lleida. Könntest du dich bitte mal ein bisschen umhören und schlaumachen?«

Pia hätte am liebsten ihre Tüten abgestellt und wäre zu Dagmar ins Frauengefängnis geeilt. Dieser alte Bau mit dem arabischen Namen, dem runden Innenhof und den völlig überfüllten Gemeinschaftszellen, der sich allen Renovierungsversuchen widersetzte. Sie kannte Inés Alvarez, die Direktorin. Den Ladestock, wie sie sie in der Laietana immer genant hatten. Eine durch und durch sture und immer frisch gestärkte Vollzugsbeamtin, die alle Paragraphen kannte und nichts daneben gelten ließ. Und mehr Macho als jeder Kerl. Dagmar hatte keine Chance gegen sie.

Pia nahm ihre Tüten wieder auf. Der Spaß, den sie eben noch am Einkauf gehabt hatte, war verdorrt. Sie war keine Hausfrau, keine Köchin. Sie war Ermittlerin, sie gehörte auf die Straße. Sie überquerte die Ramblas und ging hinüber zur Ferran. Sie dachte an ihren Vater, mit dem sie als Kind immer in der Boqueria eingekauft hatte. Er war ein guter Koch gewesen und ein sehr guter Polizist.

Dagmar war eine hervorragende Köchin. Sie bekam die Tortilla hin wie sonst keiner. Aber sie war auch eine gute Anwältin. Und Detektivin. Meine Güte, sie würde schon mit diesem Ladestock fertig werden. Das hatte sie doch schon öfter bewiesen.

Pia bog in die schmale düstere Comtessa ein und stieg hinauf zum Pati Llimona. Wie immer saß die alte Maria vor dem Haus und strickte. Neben ihr auf einem Stuhl dröhnte blechern das kleine Kassettenradio, und der räudige Schäferhund döste in der Hitze. Pia grüßte, aber keiner sah auf, keiner knurrte.

Ich muss loslassen, redete Pia auf sich selber ein, ich kann ja nicht alles machen. Dafür sind wir ja fünf. Im Café des Altenzentrums waren alle Tische besetzt, einige Leute winkten ihr zu. Pia winkte zurück, obwohl sie die meisten Gesichter noch nie gesehen hatte.

War das möglich? Sie wohnte seit Jahren hier, das Seniorencafé gab es mindestens ebenso lange. Sie kam mehrmals am Tag hier vorbei. Und die alten Leutchen wurden ja schließlich nicht alle Wochen ausgetauscht. Ich schaue nicht hin. Pia überquerte den Platz und ging ins Haus. Ich, die ich mir einiges auf meine Beobachtungsgabe einbilde, ich, die dazu noch auf genauestes Beobachten gedrillt bin, ich schaue hier, in meiner allernächsten Umgebung nicht wirklich hin.

Pia ging über den Patio und schloss die Haustür auf. Der Fahrstuhl war da. Sie stieg ein und drückte auf den obersten Knopf. Einen kurzen Moment lang hatte sie noch ein schlechtes Gewissen und suchte nach Gründen, aber dann waren ihre Gedanken wieder bei Dagmar und dem neuen Fall.

Sie schloss die Wohnungstür auf und ging hinein. Keine Musik, keine Stimmen. Nicht mal Fritz the cat kam zur Begrüßung. Pia ging durch den Flur in die Küche und begann, ihre Tüten auszupacken.