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Über dieses Buch:

Ein heißer Herbstnachmittag in Barcelona. Ein kleiner Junge auf einem Roller. Und ein Mann am Steuer eines weißen Citroёn, der den Jungen mit eisigen Augen beobachtet … In der Metropole Kataloniens werden immer mehr Kinder als vermisst gemeldet – und die Polizei ist machtlos. Also beginnt die ehemalige Polizistin Pia gemeinsam mit den anderen Frauen ihrer Detektei Llimona 5 zu ermitteln. Doch plötzlich ist auch ihre Freundin Anna verschwunden! Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Wird es den Frauen gelingen, die Entführten noch rechtzeitig zu finden?

Über die Autorin:

Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, wurde u. a. mit dem Edgar-Wallace-Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von über zwei Millionen und als Drehbuchautorin (»Tatort«, »Ein Fall für Zwei«) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München.

Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5 »Schöner sterben in Barcelona«, »Das dunkle Netz von Barcelona«, »Eisiges Schweigen« und »Ein letztes Lächeln« sowie die Reihe »Krimi-Klassiker«, die folgende Bände umfasst: »Tod in St. Pauli«, »Bis morgen, Mörder«, »Wer barfuß über Scherben geht«, »Finderlohn«, »Küsschen für den Totengräber«, »Die netten Mörder von Schwabing«, »Ein bisschen Föhn und du bist tot«, »Du lebst auf Zeit am Zuckerhut«, »Der Tod hat hitzefrei«, »… trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet«, »Das Mädchen mit dem Engelsgesicht«, »Vielliebchen«, »Handgreiflich«, »Schlagschatten«, »Über die Klippen«, »Bei geschlossenen Vorhängen«, »Strandgrab« und »Friss, Vogel, oder stirb«.

Die Webseiten der Autorin: www.irenerodrian.com und www.llimona5.com

Die Autorin im Internet: www.facebook.com/irene.rodrian

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eBook-Neuausgabe August 2020

Dieses Buch erschien bereits 2003 unter dem Titel »Im Bann des Tigers« bei List

Copyright © der Originalausgabe 2003 Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, unter Verwendung von © Adobe Stock/ tilialucida

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95520-052-7

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Irene Rodrian

Das dunkle Netz von Barcelona

Kriminalroman

dotbooks.

I. SERGI MIT DEM SCOOTER

Kapitel 1

Er war neun, aber er wusste Bescheid.

Über die Einsamkeit. Die Liebe. Und die Macht.

Auf der Rambla de Catalunya staute sich der Verkehr. Die Sonne stand tief. Hitze flirrte über den Autodächern. Auf dem breiten, von Platanen gesäumten Mittelstreifen schmolz der Asphalt.

Die alten Bürgerhäuser waren in den letzten Jahren renoviert und frisch verputzt worden. Regelmäßig geölte Jalousien verschlossen die französischen Fenster, und helle Markisen bedeckten die Balkone. Hier gab es kaum noch Geschäfte und Cafés. Die Bänke unter den Bäumen waren leer.

Nur der kleine Junge mit dem Roller fuhr unermüdlich seine Runden. Er hatte dunkelblaue Ledersneakers an, dazu graue Bermudas mit Bügelfalte, ein hellblaues Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine grau-gelb-blaue Krawatte.

Ein weißer Citroën Berlingo stand halb auf dem Gehweg im löchrigen Schatten einer Platane. Der Mann am Steuer trug eine schwarze Uncle Sam-Snapcap und eine verspiegelte Sonnenbrille. Sein linker Arm ragte aus dem Fenster, die Finger waren oben in die Dachrinne gehakt. Ein knappes rotes Muscleshirt zeigte den durchtrainierten Körper und ein gewaltiges Tattoo auf Schulter und Oberarm: rot züngelnde Flammen und davor ein gelbäugiger Tiger mit langen spitzen Zähnen im weit aufgerissenen Maul.

Der Mann schnippte eine bis auf den Filter heruntergerauchte Zigarette aus dem Fenster, sie verglühte auf einem Berg anderer Kippen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag ein auf die Hälfte zusammengefaltetes Blatt Papier mit Schmutzspuren und zerfransten Ecken. Er nahm es hoch und klappte es auf. Ein digitales Farbfoto. Blauer Himmel, blaues Meer. Ein Junge kam aus dem Wasser gerannt und lachte in die Kamera. Er schob eine kleine Bugwelle vor sich her. Das nasse Haar klebte ihm wie eine Kappe auf dem Kopf, sein dünner Kinderkörper war braun gebrannt, die roten Badeshorts rutschten ihm über die Hüften. Kein Zweifel, es war derselbe Junge.

Jetzt legte er sich in die Kurve und kam ganz nah am Citroën vorbei. Der Mann duckte sich unwillkürlich, aber der Junge nahm ihn gar nicht wahr.

Der neue Scooter blinkte silbern in der Sonne, und die Bladeräder glitten fast lautlos über den Asphalt. Und dennoch: Es war kein Kickboard. Sergi fuhr mit einer Hand und zog einen Bogen, aber der Scooter reagierte nur langsam und schwerfällig. Die Großmutter hatte ihm immerhin den Scooter zum Geburtstag geschenkt. Aber sie sah die Unterschiede zwischen einem Scooter und einem Kickboard nicht, und sie verstand auch nichts, wenn er es ihr zu erklären versuchte. Zwei oder drei Räder, Lenker oder Knauf, Kinderkram oder Sportgerät. Für sie waren das alles nur diese neuen kleinen Roller.

Seit neun Monaten, seit Weihnachten war ein Kickboard Sergis allergrößter Wunsch gewesen. Aber der Vater machte es wie alles andere von den Mathenoten abhängig. In dem Fall hätte er nie eins bekommen. Sergi hasste Mathe, er verstand Zahlen einfach nicht. Er begriff nicht, wie sie zusammenhingen und was an ihnen so wichtig sein sollte. In allen anderen Fächern war er gut, aber für den Vater zählte nur Mathe. Mama hatte sowieso nie Zeit. Sie kaufte ihm Klamotten, meistens Anzüge oder alberne Blazer, aber er zog sie an. Nicht nur in der Schule. Einmal hatte sie auf einer fiesta mit ihm getanzt, das vergaß er nie. Das hätte in Jeans nicht halb so gut ausgesehen hatte sie gesagt. Und sie richtete ihm jedes Jahr eine Geburtstagsparty aus. Mit Torten und Luftballons, mit einem Zauberer und allen seinen Freunden. Aber dem Vater widersprach sie nie. Sie ging ihm aus dem Weg. Sergi konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt einmal etwas zusammen unternommen hatten. Nur sie drei, ohne Großmutter und ohne Onkel Eduard. Oder einfach nur ferngesehen, wie das die Eltern seiner Freunde taten. Der Vater war ein berühmter Architekt und keiner durfte ihm etwas sagen, außer der abuela, seiner Mutter. Die setzte immer ihren Kopf durch. Aber sie machte das geschickt, sie nickte und sagte si, si, aber dann machte sie doch, was sie wollte. Wie mit dem Scooter. Der Vater hatte es verboten, aber an Sergios Geburtstag hatte er doch vor der Tür gestanden. Mit einer roten Schleife am Lenker.

Sergi fuhr eine neue Kurve, flitzte über den Asphalt, sah sich schon hinausfahren, immer weiter, raus aus Barcelona, den grünen Berg hinauf bis zum Tibidabo. Er warf sich erneut herum und raste zurück.

Und sah sie.

Zuerst dachte er, es wäre ein Junge. Aber es war eine Frau, und viel zu alt für das supercoole Kickboard, das sie fuhr. Aber fahren konnte sie! Sie legte sich so steil in die Kurven, dass jeder andere umgekippt wäre, und sie sprang locker hundertachtzig Grad Volten wie mit einem Skateboard. Sergio fuhr full speed weiter, sie hielt voll auf ihn zu, und sprang erst in allerletzter Sekunde zur Seite. Stoppte. Lachte.

Sie hatte das absolute Superboard.

»Ich bin Anna. Und wer bist du?«

Die Frau war ziemlich groß und dünn, trug rote Sneakers zu 7/8 Hosen, und breite Rucksackträger zogen ihr bauchfreies Top glatt. Sie sah geil aus, fast so wie Britney Spears, nur eben mit dunklem Haar. Und so alt war sie doch noch gar nicht. »Leihst du mir mal dein Board?« Er grinste.

»Ist das dein Name? Leihst du mir mal dein Brot?«

»Sergio heiße ich. Und ich will nicht dein Brot. Äh ... Er spürte, dass er rot wurde und sprach hastig weiter. »B-o-a-r-d. Dein Kickboard würde ich mir gern mal ausleihen. Okay? Nur für fünf Minuten.«

»Ach. Brauchst du vielleicht sonst noch was? Ein Pferd? Einen Ferrari? Einen Hubschrauber?«

»Ich will doch nur einmal damit fahren!«

»Und das soll ich dir glauben?«

»Logo!« Sergi legte sich die Hand auf Herz. Aber er machte sich keine ernsthaften Hoffnungen. Sie nahm ihn nicht für voll. Wie alle Erwachsenen. Es war ein Spielchen. Es war vorbei, er wollte sich schon abwenden.

»Okay.« Anna hielt ihm den Knauf ihres Kickbords hin. Er glaubte ihr nicht. Aber sie nahm seinen Scooter und drückte Sergio stattdessen den silbernen Knauf in die Hand. Er war rund und glatt und warm. Sie sah auf die Uhr. »Eine halbe Stunde. Dann bin ich wieder hier. Und du auch. Ich verlass mich drauf!«

»Claro, hundertpro!« Er hätte ihr alles versprochen und auch alles gehalten. Er glühte. Er sah ihr nach, wie sie mit seinem Scooter blitzschnell über den Asphalt kurvte, sich an einem weißen Citroën Berlingo vorbeischob und in einer Nebenstraße verschwand.

Sergi fuhr. Es war dann doch völlig anders, nur mit einer Hand. Zweimal fiel er fast hin und knallte beinahe gegen eine Platane, bis er den Dreh raushatte. Mit der anderen Hand das Gleichgewicht halten wie die Rodeoreiter. Aber dann kurvte er los. Es war wie Fliegen. Nur schöner. Viel schöner.

Das war Glück.

Kapitel 2

Anna hatte mit dem Scooter keine Probleme. Leicht und elegant flitzte sie über die breiten Trottoirs der Mallorca, wich zwei alten Damen aus, bog rechts ab und sprang vor Dagmars Haus ab, ohne zu bremsen. Mit einer Hand riss sie den Scooter hoch, mit der anderen wollte sie läuten. Im gleichen Moment ging die Haustür auf.

Emilio, Dagmars Nachbar. Verbeulte Jogginghosen und ein uralter Einkaufskorb mit Blümchenrand. »Äh, die Señorita Anna, heute so sportlich ...« Sein Kugelkopf wurde rot, als sich Anna mit ihrem Scooter an ihm vorbeiquetschte und die Treppen hinaufrannte. Ohne sich umzusehen, wusste sie, dass er in der Tür stehen blieb und ihr nachglotzte. Die Zunge tropfnass zwischen den Wulstlippen.

Dagmar öffnete gleich beim ersten Läuten. »Anna, da bist du ja. Komm rein!« Sie nahm ihr den Scooter ab und umarmte sie. Anna machte sich vorsichtig los und folgte ihr in die Küche. Sie liebte Dagmar, und ihr ganzes Leben lang hatte sie sich nach einer Mutter gesehnt, die sie in den Arm nahm. Aber jetzt, da sie die Zuwendung bekam, konnte sie nicht damit umgehen. »War die Tür unten offen?« Dagmar stellte eine große Sangriakanne mit Zitronenlimonade auf den Tisch.

»Emilio, dein schlabbriger Nachbar, geht mit Tantchens Einkaufstasche Bier holen.«

»So schlimm ist er auch wieder nicht. Irgendwie unsicher, noch nicht ganz fertig gebrannt.«

»Seh ich da dein Rotkreuzmützchen aufleuchten? Willst du ihn etwa fertig brennen? Eigenhändig?« Anna lachte und trank. »Schmeckt super. Hast du nicht Angst, dass er nachts bei dir einbricht und dich abnuckelt?«

»Angst?« Dagmar grinste. »Im Gegensatz zu dir bin ich ja nicht mehr sweet seventeen. Und Emilio ist ein sehr höflicher junger Mann. Und bald auch noch reich. Wenn das Testament seiner Tante für gültig erklärt wird, dann gehören ihm nicht nur ihr Geld und Schmuck, sondern auch diese ganze Etage. Inklusive meiner Wohnung.«

»Und?« Anna goss sich nach. Zitronenstücke und Eiswürfel blieben in der Glasnase zurück.

»Er wird verkaufen, nehme ich an.« Dagmar brachte einen Teller mit kleinen roccas, knusprigen Haselnussbaisers, und setzte sich zu Anna. Sah nicht hoch. »Dann werde ich mir eine andere Wohnung suchen müssen.«

Anna starrte sie an. Sie kannte Dagmar erst knapp ein Vierteljahr, aber sie konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Die rundliche und schusselige Dagmar mit ihren uncoolen Klamotten, dem ungebändigten Krusselhaar und dem scharfen Verstand. Und mit ihrer schier unerschöpflichen Hilfsbereitschaft und Fürsorge.. »Aber er kann dich doch nicht einfach rausschmeißen!«

»Nicht einfach, aber er kann, wenn ihm die Wohnung erst einmal gehört. Eigenbedarf. Er wohnt seit dem Tod der alten Señora schon drüben, seine Bude in Girona hat er sofort danach aufgegeben. Der weiß genau, was er will.«

»Aber es gibt hier in Spanien doch einen sehr effektiven Mieterschutz. Und du bist Anwältin!« Anna fühlte so etwas wie Panik aufsteigen. Seit sie Dagmar und die anderen vier Llimonas kannte, seit die sie aufgenommen und vor Polly und Frank geschützt hatten, seit sie ein Teil von Llimona 5 war, hatte sie sich sicher gefühlt. Geborgen. Sie hasste Veränderungen. Sie hatte in ihrem Leben schon zu viele mitgemacht. Anna nahm einen rocca und biss hinein. Es krümelte süß in ihrem Mund. Diese Wohnung gehörte einfach zu Dagmar: die düsterhohen Räume, die verrückten Mosaikböden, die wenigen und viel zu kleinen Möbel, das chaotische Arbeitszimmer mit den Aktenbergen auf jeder waagerechten Fläche und mit dem wackligen Bücherregal. Und diese große Küche mit den uralten Armaturen, dem Ungetüm von Backofen und dem gewaltigen Familientisch.

»Ich habe drei Alternativen.« Dagmar schenkte Limonade nach. »Erstens: Ich prozessiere und gewinne ein Jahr, vielleicht auch zwei, sitze aber die ganze Zeit auf einem Pulverfass. Zweitens: Ich kaufe die Wohnung selbst, dazu brauche ich allerdings etwa eine Million Euro. Drittens: Ich heirate Emilio.«

»Nein!« Anna schrie fast auf, dann sah sie, dass Dagmar grinste.

»Keine Angst. Ich werde ihn ganz sicher nicht heiraten. Ich finde ihn zwar nicht so grässlich wie du, aber ... Nein!« Sie schüttelte sich und lachte. Anna war beruhigt. Sie holte die Mappe mit den Unterlagen aus ihrem Rucksack.

»Der Fall Arcas gegen Soler. Schöne Grüße von Pia. Und wenn du da durchfindest, bekommst du das goldene Pfadfinderabzeichen.«

Dagmar ließ die Mappe liegen. »Arcas war schon im Kreisverkehr, Soler ist reingefahren. Und er war betrunken. Auch, wenn er unser Klient ist.«

»Ja, so sieht's aus. Aber Arcas hat genau diesen Unfall schon dreimal vorher gehabt. Und kassiert. In Tarragona, Valencia und in Denia. Pia hat das rausgefunden.« Anna trank aus und stand auf.

»Immerhin mdash;der Mann kommt rum.« Dagmar klappte die Mappe auf. »Das ist ja wirklich sehr hübsch. Wunderbar!« Sie stand auch auf. »Was ich dich noch fragen wollte ...«

»Ja?« Anna blieb stehen, schaute Dagmar aber nicht an.

»Du hast morgen Geburtstag. Irgendwelche Wünsche?«

»Nein. Ich ... ich bin mit allem glücklich, so wie es ist.«

»Du wirst achtzehn. Volljährig.«

»Nicht so wichtig. Und danke für die Limo.« Anna nahm im Hinausrennen den Scooter. Hörte noch, wie Dagmar etwas hinter ihr herrief, verstand es aber nicht. Sie sprang auf den Gehweg und raste vor zur Mallorca und hinüber zur Rambla de Catalunya.

Der Platz unter den alten Platanen war inzwischen etwas belebter. Drei der Bänke waren besetzt. Zwei englische Touristen mit Sonnenhütchen und kurzen Hosen über geröteten Knien untersuchten ihre durchgefetteten Lunchbeutel, eine alte Frau in Kittelschürze strickte an einer rosa Babydecke, und ein bärtiger Mann blätterte in einem Buch. Keine Spur von Sergio.

Anna sah auf die Uhr. Sie war fast eine halbe Stunde weg gewesen. Sogar etwas länger. Scheiße. Sie war wütend. Sie hatte dem Jungen vertraut. Sie war reingefallen. Auf den Jungen, seine Art, sich auszudrücken, und die scheinwerfergroßen dunklen Augen.

Sie sah sich um.

Vorhin hatte da noch ein weißer Kombi geparkt, jetzt war er verschwunden. An seiner Stelle stand ein blauer Seat. Die Engländer probierten hart gekochte Eier und trockene Hühnerschenkel. Die Frau in der Kittelschürze war offensichtlich halbblind. Und der Bärtige mit dem Buch schien sowieso nicht von dieser Welt zu sein.

Anna fuhr bis zum Ende der Rambla, drehte eine Kurve, fuhr wieder zurück und suchte die Gehwege auf der anderen Seite der Fahrbahn mit den Augen ab. Keine Spur von Sergio. Na schön. Ein Kickboard verloren, dafür einen Scooter und ein Stück Lebenserfahrung gewonnen.

Anna wandte sich um und fuhr los. Legte sich in die Kurven und trat durch. Seltsam, dass sie sich in dem Jungen so getäuscht haben sollte. Mit Jungen kannte sie sich eigentlich aus. Sie war mit Jungen aufgewachsen. Sie war selbst wie ein wilder Junge gewesen, in all den Jahren in der Finca auf Ibiza. Als die Mutter sich mit Miles Davis und Whisky zudröhnte, und der Vater nur ab und zu vorbeikam, mit Geschenken beladen. Ein Fremder. Ihre Meister und Beschützer waren Polly und Frank gewesen, die großen Brüder.

Anna konnte besser rennen, Rad fahren, schwimmen, tauchen, surfen und Fußball spielen als alle Jungen in ihrem Alter. Sie akzeptierten sie, sie bewunderten sie. Anna kannte keine Angst.

Nur die Einsamkeit.

Sie fuhr unter den Platanen an den Cafés vorbei bis fast hinunter zum Hafen und bog dann beim Oriente nach links ab in die Ferran. Bis zur Plaça de Sant Jaume war es einfacher, zu laufen und den Roller zu tragen. Das Rathaus war bunt beflaggt, überall auf dem Platz standen lange Reihen schwarzer Luxuslimousinen, bewacht von Dutzenden von Polizisten. Anna erkannte Manolo. »Was ist denn hier los?«

»Hoher Staatsbesuch. Aus der Dominikanischen Republik.«

Anna rannte über den Platz und fuhr dann in die Avinyó und über die Comtessa hinauf zur Plaça del Regomir. Das letzte Stück ging's bergauf. Eng, düster und kühl zwischen den hohen Häusern. Vor einem vergitterten Eingangstor stand ein Stuhl. Ein Radio, mit Lederstreifen am Stuhlbein festgetackert, und daneben ein räudiger Schäferhund. Manchmal saß auch die alte Concierge da und strickte. Hunde liebten Anna. Der Schäferhund kannte sie. Manchmal brachte sie ihm Fleischreste oder ein Würstchen mit. Doch als sie jetzt vorbeifuhr, öffnete er ein trübes Auge und knurrte böse.

Anna zischte, wie es die Kellner in spanischen Bars machen, wenn sie Hunde vertreiben wollen, und fuhr weiter. Sie dachte immer noch an Sergio.

Kapitel 3

Die Sonne brannte flach über die Dächer. Fritz the cat sprang vom Nachbarhaus auf die Terrassenmauer, lief über die angeschrägten Tonplatten bis zum großen Oleanderbusch und kratzte sich ein Loch in die Topferde.

Pia war mit einem Satz bei ihm, packte ihn, bevor er sich hinhocken konnte, und trug ihn zu seiner Katzenkiste hinüber. »Hier ist dein Katzenklo! Lass endlich meine Blumen in Ruhe. Es ist mühsam genug, hier so was wie einen Dachgarten anzulegen.« Fritz verharrte so, wie sie ihn hingesetzt hatte, breitbeinig, unbequem schief, und wartete, dass sie endlich verschwand. Pia blieb stehen. »Ich weiß, dass du auf Blumentöpfe spezialisiert bist. Aber hier nicht, kapiert?« Fritz starrte sie kurz an, schaute dann weg, und machte, bevor er sich zurechtsetzte, ein paar Dehnübungen, damit niemand merkte, dass er nachgab.

Pia ging in die Küche zurück und füllte Kaffee in die Maschine. Wenn Fritz kam, war Barbara normalerweise nicht mehr weit.

Manchmal konnte sie es selbst kaum glauben. Noch vor ein paar Monaten war sie inspectora bei der brigada criminal gewesen. Und Barbara eine kleine Taschendiebin, des Doppelmordes verdächtigt und von den Medien bereits abgeurteilt.

Es läutete. Aber nicht an der Wohnungstür, sondern drüben, bei Llimona 5.

Pias Vater wurde bei einem Polizeieinsatz getötet, als sie zwölf war. Von seiner Lebensversicherung konnte sie sich später diese Wohnung kaufen, damals ein verrottetes Dachgeschoss, in dem sie sich in monatelanger Arbeit und mit finanzieller Hilfe der Stadt zuerst nur den vorderen Teil herrichtete.

Es läutete wieder. Anhaltend. Pia ging in den neuen Büroteil. In die Detektei Llimona 5, die sie vor drei Monaten gegründet hatten. Als sie Dagmar kennen lernte. Und Janet. Die dünne, sommersprossige Engländerin, deren sorgfältig recherchierte Gerichts- und Kriminalreportagen ihr schon lange aufgefallen waren. Janet, die sich vor nichts fürchtete und sich nie um die vorherrschende Meinung scherte. Auch nicht, als sie zusammen Barbaras Unschuld nachwiesen und Anna, die von ihren Brüdern verfolgt wurde, fanden und bei sich aufnahmen. Die Zeit seither kam Pia manchmal vor wie eine Ewigkeit. Und dann wieder nur wie ein paar Tage. Immer noch hing der Geruch frischer Farbe in den Räumen, dem Empfangs- und Wartezimmer mit den Rattanmöbeln und dem großen Büro mit Konferenzecke, Rollschränken, Schreibtischen und der supermodernen Multimediaanlage. Und mit einem Safe hinter dem Rififiposter. Wenn Pia hier war, vergaß sie den Schmerz über das abrupte Ende ihrer Karriere bei der Kripo, dann empfand sie nur noch Stolz. Sie öffnete die Tür, als es zum dritten Mal läutete.

»Na endlich!« Der Mann sprach mit englischem Akzent. Er war etwa dreißig, groß, schlank, dunkel gebräunt. Sein Schädel war glatt rasiert, und er trug eine Sonnenbrille, die bis zu den schmalen Lippen fast sein ganzes Gesicht verdeckte. Ein weißer Anzug mit auffallend weiten Hosen, weiß-graue Budapester Schuhe und ein silbergraues Seidenhemd mit einer silbergrauen Krawatte aus dem gleichen Material. Seine Nägel waren sorgsam poliert, am linken Zeigefinger trug er einen Ring mit einem daumennagelgroßen Smaragd. Nicht gerade der tägliche Durchschnittsklient von Llimona 5. »Darf ich reinkommen?« Ein angedeutetes Lächeln. Pia ging voraus ins Büro und bot ihm den Stuhl neben ihrem Schreibtisch an. Janet oder Dagmar hätten die bequemen Sessel gewählt, aber Pia fühlte sich immer noch wohler, wenn wie in ihrem Büro im Polizeipräsidium zwischen ihr und einem Fremden ein Tisch stand.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Name ist Jonathan Smith. Ich habe Sie im Internet gefunden. Unter www.llimona5.com. Lauter Frauen, richtig?«

»Stimmt.«

Er schaute zur Wand hinter Pias Tisch, wo die gerahmte Lizenz hing. »Und Sie sind Pia Cortés-Casares?«

»Richtig.« Pia wusste nicht recht, wie sie den Kerl einordnen sollte. Der Reichtum war nicht vorgespielt, der Name jedoch falsch, so viel war klar. Das allein allerdings war nicht besonders ungewöhnlich. Viele Menschen scheuten sich, zu einem Privatdetektiv zu gehen. Der Mann war auch nicht dunkel gebräunt, wie Pia zuerst geglaubt hatte, er stammte aus einem südlichen Land. Einem arabischen? Sie lächelte aufmunternd. Er lächelte zurück.

»Sie waren viele Jahre bei der Kriminalpolizei. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die Chefin sind?«

»Vielleicht kommen wir weiter, wenn Sie mir sagen, worum es geht.«

»Ich wüsste zuerst gern mehr. Vor allem, wie es um die Diskretion bestellt ist.«

»Hören Sie, Señor Smith, Sie haben unsere Website gelesen, Sie haben sich über uns erkundigt. Sie wissen, dass wir in der Machostadt Barcelona die einzige rein weibliche Privatdetektei sind. Und das genau ist der Grund, der Sie zu uns geführt hat.«

»Sie haben mich durchschaut.« Diesmal war das Lächeln echt.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Tee?«

»Danke, nein. Ich will es kurz machen: Ich vertrete einen, sagen wir, sehr hoch gestellten Herrn, der nicht genannt werden möchte. Wir sind nur auf der Durchreise, zwei Tage. Wir bewohnen Suiten im Claris, und die Damen würden gern shoppen gehen.«

»Wie viele Damen?«

»Sieben.«

»Es geht um Personenschutz? Sie suchen Bodyguards?«

»Ortskundige Begleiterinnen. Englischkenntnisse wären von Nutzen.«

»Waffen?«

»Barcelona ist eine Großstadt mit hoher Kriminalitätsrate. Wir erwarten höchste Sicherheit. Wie sind Ihre Preise?«

»Zweihundertsechzig die Stunde. Plus Spesen. Ich denke, zwei Body... Begleitpersonen genügen.«

»Sie haben eine Waffe und einen Waffenschein?«

»Ja. Und ich würde den Einsatz auch leiten.« Pia verschwieg, dass sie von den Frauen die Einzige mit Waffenschein war. »Gibt es bestimmte Kleidervorschriften?«

»Nein, natürlich nicht. Einfach nur eine gewisse internationale Eleganz. Keine engen Hosen, keine Miniröcke.«

»Natürlich. Selbstverständlich.« Pia war nahe dran, den Auftrag abzulehnen, als dieser Señor Smith ihr einen bereits ausgefüllten Scheck über den Tisch schob. Die arabischen Zeichen der Unterschrift konnte sie nicht entziffern, aber die Zahl war deutlich zu erkennen. Diezmil. Zehntausend. Eine Zehn, ein Punkt und drei Nullen. Euro. Pia berührte den Scheck nicht. Sie sah auf das Datum. Quinze de setiembre. Der fünfzehnte September war erst in drei Tagen. Sie blickte hoch.

»Sorry.« Ein winziges Lächeln. »Wir haben den Scheck vordatiert. Das ist kein Misstrauensvotum, nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme. Sie machen Ihren Job, diskret und zu unserer Zufriedenheit, und wir entlohnen Sie großzügig. Sehr großzügig. Zu unseren Bedingungen. Einverstanden?«

Pia nahm den Scheck und stand auf. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Der Typ war Gold, und sie nahm es, oder sie hatte sich geirrt, und musste ihr Lehrgeld zurückzahlen. Vermutlich kam er aus einem der Staaten, in denen einem bei Fehlverhalten Hände oder Kopf abgehackt wurden. Pia lächelte. »Sie können sich auf uns verlassen.«

»Kommen Sie morgen um zehn Uhr zum Hotel.« Der Mann wandte sich zur Tür. »Und lassen Sie hier auch mal einen Lift einbauen!«

Pia schloss die Tür und parkte den Scheck im Safe. Einen Lift einbauen. Aber gern, Señor Neffe vom Scheich von Oman oder Saudi-Arabien oder so ähnlich. Auch einen Lift, hatte er gesagt, er kannte also den Aufgang vom Patio zu ihrer Privatwohnung. Er überließ wohl nichts dem Zufall. Pia hörte Stimmen aus der Küche und ging schneller.

An der Theke saß Barbara mit Fritz und knabberte Chips und Käsewürfel, offenbar hatte sie Bonet mitgebracht. Er öffnete gerade eine Flasche 99er gran reserva. »Cariña mia!« Er strahlte Pia an, wie er es in all den Jahren in der prefectura nicht getan hatte, und zog den Korken aus der Flasche. »Das Leben bei der brigada criminal ist trostlos, seit du nicht mehr dabei bist! Dummheit und Korinthenkackerei geben sich die Hand. Silvi kennt alle Paragraphen auswendig und büffelt jeden Tag noch zehn dazu. Toni würde gern Isabel Vidal als Pressesprecher ablösen, dann käme er noch öfter ins Fernsehen, und el jefe Sánchez-García arbeitet mit vollem Einsatz daran, sein Handicap beim Golf unter zwölf zu bekommen.«

»Und mein Tisch?«

»Da sitzt ein Neuer. Víctor Genares. Vorher organisiertes Verbrechen.«

»Genares kenne ich. Der ist okay. Nicht so dumm wie Silvi und nicht so eitel wie Toni.« Pia stellte drei Gläser hin. Bonet füllte sie und schaute dann zu Barbara.

»Seit wann trinkst du Wein? Ich dachte, du musst auf deine Reflexe achten.« Pia hätte ihn für seine Taktlosigkeit ohrfeigen können. Es war noch gar nicht so lange her, dass Barbaras Hände bei dem grauenhaften Feuer in Barceloneta beinahe völlig verbrannt wären. Die Narben waren noch deutlich zu sehen. Aber Barbara nahm die Bemerkung anscheinend locker.

»Ich bin noch jung und spontan, Josep. Ich hab den Job gewechselt.« Sie ließ ihre Finger ein kleines Tänzchen aufführen, bevor sie den nächsten Chip schnappte. »Ich schule um. Auf Detektivin.« Sie hob ihr Glas und lachte. »Salud, señor colega.« Bonets Grinsen war verkniffen. Er hatte immer noch Probleme damit, dass eine ehemalige Taschendiebin jetzt als Detektivin arbeitete. Und natürlich hatte er ihr gegenüber Schuldgefühle, weil er sie damals für die Mörderin gehalten und viel zu spät reagiert hatte. Aber Barbara war jung, hübsch, absolut integer, ehrgeizig und professionell. Pia war sicher, dass sich Bonets Animositäten mit der Zeit legen würden.

»Wir haben einen neuen Auftrag«, sagte sie zu Barbara. »Personenschutz. Morgen um zehn vor dem Claris. Wir sollen so eine Art Harem beim Einkaufen bewachen. Und du bist mit Abstand die Beste beim Observieren.«

»Vor allem, wenn's um Gold und Klunker geht«, warf Bonet ein. Barbara kraulte Fritz, ein Zeichen dafür, wie sehr er sie getroffen hatte.

Pia fuhr ihn an: »Und du? Warum bist du hier? Weil's billiger ist als bei Paco & Lola?«

»Die tapas lassen noch etwas zu wünschen übrig. Obwohl König Alfons der Weise per Gesetz angeordnet hat, dass zum Wein kleine Essensportionen zu reichen sind.«

»Ja, vor zweihundert Jahren. Und in den Tavernen! Damit die Kutscher nicht vom Bock fallen. Wenn's überhaupt stimmt.« Pia mochte ihn eigentlich gern. Josep Bonet, den klugen Ermittler, der sich seit Jahren weigerte, seinen Frontjob den Jüngeren zu überlassen und sich nach oben in die Verwaltung zurückzuziehen. Aber Barbara hatte nicht nur an den Händen Narben. Pia musste sie schützen.

Bonet grinste und hob die Schultern. »Okay, tut mir Leid.« Er verzog das faltige Bassetgesicht. »Können wir noch mal bei null anfangen?« Er sah aus, als würde er gleich in eine tiefe Depression fallen. Selbst sein graues Borstenhaar schien schlapp zu machen.

»Mir kommen die Tränen. Josep, was willst du?«

Bonet schenkte sich nach und beugte seine dürre Gestalt nach vorn über die Theke. Keine Spur mehr von Depression. »Deinen Kopf. Dein geniales Hirn.«

Fritz sprang vom Hocker und lief auf die Terrasse. Barbara wollte ihm folgen, doch Pia hielt sie am Arm fest. »Bleib. Bitte.« Barbara zögerte.

Bonet hob in einer resignierenden Geste die Hände. »Euer beider Köpfe! Euer aller bekanntermaßen viel größere Frauenhirne!«

Pia lachte. Barbara setzte sich wieder hin. »Machos sind okay, solange sie wenigstens Charme haben.«

»Man bemüht sich.« Bonet sah nicht hoch. »Also: Ich arbeite gerade an einem vertrackten Fall, bei dem ich nicht von der Stelle komme. Wir hatten in den letzten drei Wochen vier verschwundene Kinder. Kleine Mädchen zwischen sieben und neun Jahren. Keine Auffälligkeiten, weder in der Familie noch in der Schule, keine Erpresserbriefe oder Anrufe, keine Geldforderungen. Folglich behandeln wir sie wie ganz normale Vermisstenanzeigen.«

»Und was vermutest du?«

»Einen Serienkiller Einen Sexmaniac. Einen, der auf kleine Mädchen steht. So was wie in Belgien damals. Wieso sollte das bei uns nicht auch möglich sein, verdammte Scheiße?«

»Und das will keiner hören.«

»Genau. Sánchez weigert sich, das auch nur in Erwägung zu ziehen.«

»Er hat Angst, logo.« Pia dachte an ihren früheren Chef. Den jovialen comandante, der es immer allen recht machen wollte. »Da hätte er ja auch sofort die ganzen Medien im Genick. Und vielleicht hat er sogar Recht.«

»Ja, gut. Vielleicht ...«

»Nein.« Barbara schaltete sich unerwartet heftig ein. »Diese Mädchen sind viel zu jung, das sind doch noch keine Ausreißerinnen! In dem Alter rennt man noch nicht weg. Da versucht man noch, sich zu arrangieren, so grauenhaft die Situation auch sein mag. Da hofft man noch auf ein bisschen Liebe und Zuneigung.«

»Soweit ich weiß, war die Situation für keins der Mädchen grauenhaft. Sie kommen offenbar aus liebevollen, intakten Familien.«

»Da kann man sich sehr irren.« Pia zog einen kleinen Faltplan von Barcelona aus einem Stapel alter Telefonbücher hervor und breitete ihn aus. »Vier Kinder unter zehn in drei Wochen, das ist auch für eine Großstadt sehr viel.«

»Mit Sánchez kann man im Moment nicht reden, und die anderen sind sowieso zu blöde. Außer Víctor, da hast du Recht, der ist in Ordnung. Aber eins muss ich dir leider sagen, Pia, du hast dein eigenes Geschlecht schmählich verraten. Du warst eine von winzigen drei Prozent weiblichen Ermittlern im oberen Drittel bei der Kripo, du hättest es noch viel weiter bringen können, aber du hast gekniffen.«

»Josep als Frauenrechtler, das ist neu. Du weißt ganz genau, dass ich nicht gekniffen habe. Noch nie. Und weit gebracht hätte ich es nur, wenn ich damals geschwiegen hätte. Dann säße Barbara lebenslang unschuldig in Nad Ras. Und es wäre immer so weitergegangen. Leute, die nachdenken und den Mund aufmachen, sind unbequem. Oder warum bist du jetzt hier?«

»Weil ich dich vermisse. In mehr als einer Hinsicht.« Bonet grinste kurz und goss Wein nach. »Und weil du in London warst.«

»Das hast du mir nie verziehen.«

»Nein, nie! Das Praktikum hätte mir zugestanden. Ich bin der capitán.«

»Aber dein Englisch ist leider very poor.« Pia lachte. Vor einem Jahr hatte es ein Austauschprogramm mit New Scotland Yard gegeben, und Pia hatte sich dafür interessiert, sobald sie davon hörte. Sie hätte trotzdem keine Chance gegen Bonet gehabt, wären da nicht ihre überragenden Sprachkenntnisse gewesen. Ein Vorteil, den sie den Erziehungsversuchen ihrer hochnäsigen Mutter verdankte. Immerhin. In London hatte Pia Dr. Ellen Steward kennen gelernt, eine der besten Profiler Europas. Plötzlich verstand sie, was Bonet von ihr erwartete.

»Ich bin kein Profiler.«

»Du hast ein Vierteljahr mit Ellen Steward zusammengearbeitet. Du weißt mehr als jeder andere hier.«

Pia sah zu Barbara. Sie war blass geworden, schien die Luft anzuhalten. Barbara hatte selbst eine Horrorkindheit in verschiedenen Heimen durchlebt, und auch sie war ausgerissen. Immer wieder. Bis sie in Barcelona landete und von Pablo ei Rey aufgenommen wurde, dem König der Taschendiebe. Dem großen Caballero aus längst vergangenen Zeiten. »Wieso sind diese Vermisstenanzeigen bei uns ... äh, ich meine, bei euch gelandet?«

»Ich hab's gehört. Uns. Du fühlst dich immer noch solidarisch mit der brigada criminal.« Triumph. Pia winkte müde ab.

»Was denn sonst nach so vielen Jahren ... Also?«

Die Anzeigen landeten zu verschiedenen Zeiten bei verschiedenen districtos. Wir hatten eine Anfrage aus Sants, und dann habe ich ein bisschen im Computer herumgestöbert.«

»Es ist also mehr oder weniger dein privater Feldzug?«

»Víctor weiß Bescheid.« Bonet zog einen Packen Fotokopien hervor. »Die hängen, erschießen und vierteilen mich standesrechtlich, wenn sie erfahren, dass ich interne Unterlagen außer Haus gebracht habe.«

Pia zog die Papiere zu sich herüber. »Ihr habt keinerlei Spuren von den Mädchen gefunden. Auch keine Leiche.«

»Nada.«

»Woher kommen sie?« Pia begann zu blättern. Sah die Fotos. Ein herzförmiges Gesicht mit Stupsnase, Sommersprossen, einem Kirschmund und blonden Locken. Und einem kleinen Hollywoodlächeln.

»Àngela Doménech. Acht Jahre alt, wohnt in der Reina D'Aragó 84. Ein kleiner Bruder von vier Jahren. Eine Tante, die unverheiratete Schwester des Vaters. Sie besorgt den Haushalt. Der Vater ist Lokführer, die Mutter Filialleiterin in einem Supermarkt. Sie hat die kleine Àngela immer wieder zu verschiedenen Schönheitswettbewerben und Castings für Werbespots geschleppt. Bisher nur mit minimalem Erfolg.«

»Was ist passiert?«

»Am zweiten Juli wollte Àngela ihren Papa am Bahnhof abholen. Er sollte mit dem Madrid-Zaragoza um 18 Uhr ankommen. Sie hat das öfter gemacht. Normalerweise begleitete die Tante Sie, aber diesmal hatte sie keine Zeit, es gab Streit, und Àngela lief heimlich allein zum Bahnhof. Das sind nur ein paar Straßen. Sie trug ein weißes Trägerkleid mit rosa Blümchen an Kragen und Saum, weiße Söckchen und Sandalen, und sie hatte ihre Lieblingspuppe dabei, eine Doktor-Barbie im weißen Ärztekittel mit Rotkreuzköfferchen und Stethoskop. Zwei Nachbarinnen haben gesehen, wie sie das Haus verließ und wie sie die Straße überquerte. Eine von ihnen will ein chinesisches Wäschereiauto gesehen haben, und ein Penner, der am Bahnhof seine Zeitung verkauft, gab vor, sich an ein blondes Mädchen zu erinnern, das allein da herumlief. Dann faselte er plötzlich von ihrem großen Bruder. Er war total betrunken, er konnte sich kaum auf den Beinen halten und nicht mal mehr seinen Namen nennen.

Von da an fehlt jede Spur. Der Vater kam pünktlich, schaute sich zwar nach Àngela und ihrer Tante um, aber sie holten ihn ja nicht immer ab. Er ging dann direkt heim. Vor dem Haus traf er auf die völlig aufgelöste Mutter und die Nachbarn. Er verständigte sofort die Polizei. Sie suchten das ganze Viertel ab und befragten alle Passanten. Es gab Aufrufe in der Presse und im Fernsehen, die Eltern pflasterten das ganze Viertel mit Fotos. Hubschrauber wurden eingesetzt, Suchmannschaften und speziell trainierte Hunde. Aber nada, absolut nichts. Es ist, als hätte sich das kleine Mädchen einfach in Luft aufgelöst.«

Kapitel 4

Barbara schwieg. Selbst, wenn sie gewollt hätte, sie hätte keinen Ton hervorgebracht. Diese Àngela hatte eine Mutter, einen Vater, einen Bruder und eine Tante. Menschen, die sie liebten, die sich um sie sorgten. Und trotzdem war sie verschwunden. Einfach so. Im Nichts.

Barbara holte sich ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank Sie hatte nie kapiert, warum Pia diesen Bonet so mochte. Jetzt bekam sie langsam eine Ahnung. Er nahm Anteil, er sorgte sich, er kam sogar her und bat Pia um Hilfe.

Barbara sah auf ihre vernarbte Hand, die das Wasser eingoss. Sie erinnerte sich an die Tage und Wochen im Klinikbett Die Schmerzen Die immer wiederkehrenden Verhöre Bonet war einer von den Guten gewesen, einer von den Freundlichen. Aber sie konnte damals keinem trauen. Pia hatte sich um Fritz gekümmert. Fritz the cat. Und Dagmar, die Anwältin, hatte sie gerettet, zusammen mit Pia und Janet. Sie hatten den Mord an Robert Reimann, dem verlogenen Playboy aufgeklärt, und den an Yolanda, Barbaras Freundin. Und damit ihre Unschuld bewiesen.

Sie hatten sie aufgenommen und brachten ihr seitdem alles bei, was sie wussten Seit dem Tod von Pablo hatte sich Barbara nicht mehr so geborgen gefühlt. So zugehörig. Sie war erst vierundzwanzig, aber sie fühlte sich wie fünfzig. Sie ölte, badete, massierte und trainierte ihre Hände regelmäßig, aber ihr war klar, dass sie niemals wieder als Taschendiebin arbeiten konnte. Nie wieder würde sie mit ihren Händen die Kunststücke vorführen können, in denen Pablo sie jahrelang geschult hatte. Aber er hatte sie auch Sprachen gelehrt, Umgangsformen und all sein Wissen.

Und jetzt lernte sie wieder. Es machte Spaß. Barbara konnte ihre Fähigkeiten einsetzen. Pia hatte sie die Beste beim Observieren genannt. Barbara wusste, dass sie gut war. Aber seit Pablo hatte ihr das niemand mehr gesagt. Und Pia meinte immer, was sie sagte. Pia kannte sich aus.

Barbara fragte sich, was diese Nachbarin unter einem chinesischen Wäschereiwagen verstand. Sie hatte in Barcelona noch nirgendwo eine chinesische Wäscherei gesehen. Und hatte man dem Penner Fotos von der kleinen Àngela gezeigt? Wen meinte er mit dem großen Bruder? Barbara schwieg. Pia würde den Fall schon lösen. Sie würde Àngela retten. Nur sie konnte das.

Pia machte sich Notizen und blätterte dann um. Barbara beugte sich vor.

Ein schmales Gesicht mit großen, dunklen Augen, einem vollen Mund und langem braunem Haar. Das Mädchen stand vor einer Achterbahn. Hellblaue Shorts und ein rosa-weiß geringeltes T-Shirt. Ein blauer Plüschaffe aus einer Schießbude baumelte an einem Bein in ihrer Hand. Kein Lächeln.

»Lídia Fornell«, kommentierte Bonet. »Sieben Jahre alt, wohnhaft in der Doctor Truëta, Nr. 17/VI. Eine vierzehn Jahre ältere Schwester, verheiratet in Alicante. Der Vater war Kranführer, vor vier Jahren bei der Arbeit verunglückt. Die Mutter bekommt von der Baufirma monatlich eine Entschädigung von knapp vierhundert Euro. Außerdem betreibt sie einen Strandkiosk Ihr Liebhaber ist Krankenpfleger im Hospital del Mar und etliche Jahre jünger als sie.«

»Seit wann ist Lídia verschwunden?« Pia kreiste den Wohnort auf dem Stadtplan ein.

»Seit dem 31 August, dem Tag des Tourismus. Am Strand unten war bis tief in die Nacht die Hölle los. Buden mit Losen, Mandelmilch und churritos, eine Hüpfburg und ein kleines Karussell. Dröhnend laute Musik und jede Menge Feuerwerk. Hunderte von Kindern. Mit und ohne Eltern. Kurz vor zwölf Uhr fiel der Mutter auf, dass sie Lídia schon länger nicht mehr gesehen hatte. Etwa um die Zeit hatte ihr Freund Dienstschluss. Er beruhigte sie und versprach, Lídia zu suchen, was er aber nicht tat. Kurz vor dem großen Feuerwerk drängelten sich die Leute am Kiosk, und er half beim Verkauf der Getränke mit. In dieser Nacht verschwanden drei Kinder und Jugendliche. Bis auf Lídia wurden alle wieder gefunden Dieses Foto ist am selben Tag von einem Strandfotografen gemacht worden. Die Mutter konnte nicht sagen, woher Lídia den blauen Affen hatte Es gab zwei Schießbuden, die diese blauen Affen als Preise anboten, aber an Lídia konnte sich keiner erinnern. Der Strand wurde durchgesiebt, die Mutter und der Freund, alle wurden durchleuchtet. Absolut nada.«

Das nächste Mädchen stand zwischen anderen Kindern vor der Schule. In der ersten Reihe, sie war eine der Kleinsten. Alle waren festlich zum ersten Schultag herausgeputzt, nur sie trug abgewetzte Jeans und ein Coca-Cola-T-Shirt. Afrolocken und ein Grinsen mit Zahnlücken.

»Agnès Estéban. Neun Jahre, wohnt Joachim 8. Vier Brüder und eine Schwester. Verschiedene Väter. Die Mutter ist allein erziehend und lebt von der Sozialfürsorge. Und vermutlich von Nebenjobs. Zwei der älteren Geschwister haben schon Verwarnungen wegen Diebstahls.«

Wieder zeichnete Pia den Wohnort an. »Ist das Foto neu?«