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Wenn wir von Normen sprechen, denken wir zumeist an Vorschriften, die unser Leben regeln – die uns sagen, was wir tun sollen oder was wir nicht tun dürfen. Normen, so könnte man meinen, verlangen stets bestimmte Handlungen oder Unterlassungen und erfordern eine moralische Rechtfertigung. Aber stimmt das überhaupt? Lässt sich damit das Gemeinsame all jener sozialen Praktiken erfassen, die wir als normativ bezeichnen möchten?

 Christoph Möllers bestreitet das und behauptet, dass unser Umgang mit Normen an falschen Erwartungen leidet. Wir überfordern, so seine These, die Praxis des Normativen mit moralischen Ansprüchen und mit Hoffnungen auf Wirksamkeit. Beides verfehlt sie, denn die meisten Normen, denen wir begegnen, sind weder moralisch überzeugend gerechtfertigt, noch haben sie eindeutige Wirkungen.

 Dies ist kein Zufall, ja, es ist noch nicht einmal ein Problem, denn Normen erfüllen einen anderen Zweck: Indem sie eine bestimmte Möglichkeit des Weltverlaufs kennzeichnen und mit einer Bewertung versehen, erlauben sie es uns, inmitten einer Praxis zu ebendieser Praxis auf Abstand zu gehen und Alternativen zu ihr gegenwärtig zu halten. Dies funktioniert aber nur, wenn Normen eine distanzierende Spannung zur Welt aufbauen und auf Dauer stellen können. Ihre eigene Übertretung zuzulassen, so ein Ergebnis dieses Buches, ist deshalb nicht die geringste Aufgabe von Normen.

 

Christoph Möllers, geboren 1969, ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

 Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik (es 2545) und Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht (zus. mit Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius und Christoph Schönberger) (es 2638).

 

 

Christoph Möllers
Die Möglichkeit der Normen

Über eine Praxis jenseits von
Moralität und Kausalität

Suhrkamp

 

 

der Erinnerung an Patrick Ley

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Christoph Möllers

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-73886-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung: Über Normen – nicht weniger, nicht mehr

 

I Probleme

 

1 Gute Gründe? Defizite philosophischer Normativitätskonzepte

2 Begriffliche Hypotheken empirischer Forschung

 

Zwischenbetrachtung: Falsche Alternativenpaare zur Beschreibung von Normen

 

II Begriffe

 

3 Die Möglichkeit der Normen: ein begriffliches Modell

 

Zwischenbetrachtung: Fällt Kunstästhetik in die Sphäre des Normativen?

 

4 Die Wirklichkeit der Normen: Operationsbedingungen des Normativen

 

III Erträge

 

5 Bedeutung und Funktion sozialer Normen

6 Perspektiven der Forschung

 

Danksagung

Sachregister

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

»Ein Instrumentarium für Möglichkeit muß vielfach umfangreicher, subtiler sein als ein solches für die akute Wirklichkeit.«

Hans Blumenberg

 

 

»Wäre aber die Welt so, wie sie sein soll, so fiele damit die Tätigkeit des Willens hinweg. Der Wille fordert also selbst, daß sein Wille auch nicht realisiert werde.«

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

 

 

»[…] but never mind. Rules were made to be broken. Which meant, if that was a rule, that sometimes they should be observed.«

Edward St Aubyn

Einleitung:
Über Normen – nicht weniger, nicht mehr

Wovon wir sprechen, wenn wir von »Normen« sprechen. Wir wissen von Normen deswegen so wenig, weil wir so sehr damit beschäftigt sind, sie zu rechtfertigen. Unsere Rede von Normen ist von Intuitionen geleitet, von normativen und von anderen.[1] Wenn wir an Normen denken, denken wir an angemessene Normen oder an das, was sie angemessen macht oder machen könnte. Es fällt uns schwer, unsere Vorstellung von dem, was eine Norm ist, von dem zu trennen, was sie sein sollte. Wenn wir an Normen denken, dann denken wir zudem an etwas Konkreteres, das uns exemplarisch für eine Norm erscheint. Die Rede von einer »Norm« ist so unanschaulich, dass wir zu Beispielen greifen, die den Begriff illustrieren sollen. Wir nehmen ein geschriebenes Gesetz, eine Benimmregel, ein religiöses Gebot, eine glückliche Familie, eine unglückliche Familie als Vorbild für alles Normative. Den Begriff der Norm oder des Normativen dagegen vermeiden wir, weil wir uns zu wenig unter ihm vorstellen können.

Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn wir unseren Umgang mit Normen mit unserem Umgang mit Aussagen vergleichen.[2] Unsere Idee einer Aussage ist sicherer, formalisierter und umfassender. Maßgeblich ist sie durch die Grammatik geprägt. Eine Aussage ist ein Satz, bestehend aus Subjekt und Prädikat sowie unter Umständen noch einer Verbindung zwischen beiden, einer Kopula. Wer über Sprache nachgedacht hat, kennt diese Form und kann mit ihr arbeiten. Nicht zufällig ist der propositionale Satz bis heute die wesentliche analytische Einheit der Sprachphilosophie. Eine entsprechende Form kennt die Theorie des Normativen nicht. Dem Aussagesatz entspricht in der Theorie des Normativen so wenig eine elementare Einheit wie im Alltag. Behauptungen des Typs, es sei der Befehl oder die Regel, das Urteil oder der Handlungsgrund die Basiseinheit des Normativen, dürften ausnahmslos auf Widerspruch stoßen.

Eine ähnliche Diskrepanz entdecken wir bei der Frage, wie sich eine Norm rechtfertigen lässt, was sie angemessen macht. Ein Aussagesatz ist »gerechtfertigt«, wenn er wahr ist. Natürlich ist das Wahrheitskriterium umstritten. Mitunter wird sogar bezweifelt, ob die Wahrheit einer Aussage für unsere sprachliche Praxis von Bedeutung ist.[3] Doch trotz aller Umstrittenheit im Einzelnen verleiht die wahrheitstheoretische Debatte um Korrespondenz und Kohärenz, also um die Bedingung, dass eine Aussage, um wahr zu sein, den Fakten entsprechen und/oder anderen wahren Aussagen nicht widersprechen darf, dem Begriff der Wahrheit ebenso Stabilität wie der Form der Aussage.[4] Diese Stabilität wird greifbar, wenn man sie mit der Situation für Normen vergleicht. Die Rechtfertigung von Normen kennt keine Kategorie, die dem Wahrheitskriterium entspräche. Der moralische Realismus, die Theorie, die moralische Richtigkeit als faktische Wahrheit versteht, ist nur eines von vielen Modellen der Ethik. Mit der Bedeutung des Wahrheitsbegriffs für Aussagen kann sie sich nicht messen. Unsere Vorstellungen von der Richtigkeit einer Norm sind ungleich heterogener als unsere Vorstellungen von der Wahrheit einer Aussage.

Weil wir die Form der Aussage haben, können wir Aussagen aus ganz verschiedenen Zusammenhängen mit bestimmten Methoden gemeinsam behandeln, mit den Instrumenten der Logik, der Sprachanalyse oder der Grammatik. Entsprechende Instrumente stehen uns für Normen nicht zur Verfügung. Wir haben keine Grammatik der Normen, allenfalls eine deontische Logik, die für die meisten normativen Praktiken aber nur von geringer Bedeutung ist. Normen scheinen einfach zu unterschiedlich zu sein, um sich auf eine überschaubare Zahl von Formen und Richtigkeitskriterien reduzieren zu lassen.

Diese Diversität hat mehrere Ursachen. Eine dürfte darin liegen, dass uns viele Normen weniger als Fakten denn als Artefakte vorkommen, als Produkte sozialer oder kultureller Leistungen, die sich nicht durch wahre Aussagen festnageln lassen. Trotz der Rede von der fabrication of facts halten wir Fakten für etwas, das sich entdecken oder finden lässt. Ob Normen gefunden werden können oder gemacht werden müssen, ist dagegen eine hoch umstrittene Frage. Eine zweite Ursache für unsere Probleme könnte darin liegen, dass normative Aussagen stets eine anspruchsvolle Doppelung erhalten, weil sie sich auf Fakten beziehen und zugleich eine zweite, die normative Ebene bedienen. Schlicht formuliert: Jeder Sollenssatz setzt eine Bezugnahme auf Seiendes voraus, ohne sich auf diese beschränken zu können.

Angesichts dieser Komplexität ist es keineswegs zwingend, für Normen unterschiedlicher Provenienz, für rechtliche, religiöse, ästhetische, politische und moralische Normen oder für im engeren Sinn soziale Normen wie Umgangsformen, einen gemeinsamen Begriff, nämlich den der »Norm«, einzuführen. Dennoch reden wir von »Normen« und vergleichen Recht, Moral, religiöse Gebote und gesellschaftliche Konventionen. Ich vermute, dass wir häufig einen gemeinsamen Begriff des Normativen implizit unterstellen. Es ist eines der Ziele dieses Buches, diese implizite Unterstellung explizit zu machen.

Die begriffliche Unsicherheit im Umgang mit Normen führt zu ihrer Überkategorisierung. Weil es an bestimmbaren, aber offenen Formen wie derjenigen des Aussagesatzes ebenso fehlt wie an Kriterien wie demjenigen der Wahrheit, geraten Versuche einer begrifflichen Bestimmung normativer Probleme schnell zu eng. Trotz eines großen Reichtums an Phänomenen, die wir im Einzelnen intuitiv als normativ charakterisieren würden, greifen wir zu Kategorien, die viele von ihnen ausschließen. Das theoretische Denken über Normen kreist dann um Alternativen, die für eine angemessene Beschreibung der sozialen Praxis zu exklusiv sein dürften: Sind Normen entweder gesetzt oder gefunden, sind sie vernünftig oder zwingend, sind sie formalisiert oder doch formlos? Das Denken über Normen ist überkategorisch – oder als Reaktion darauf kategorienlos. Dagegen müsste es darum gehen, über Normen zwar in Kategorien zu denken, aber in solchen, die den Phänomenen Luft lassen.

Einschränkung des Gegenstandes. Mit dem vorliegenden Buch versuche ich, für einen Teil dieser Problemlandschaft einen Beitrag zu leisten, indem ich einen Begriff des Normativen entwickele, also die Frage zu klären suche, was wir meinen, wenn wir von Normen als solchen sprechen. Damit sind zwei Einschränkungen verbunden. Es wird, zum Ersten, nur darum gehen, einen Begriff des Normativen zu entwickeln, also einen Begriff dessen, was eine Norm als Norm auszeichnet. Es wird nicht darum gehen, einen Begriff der Richtigkeit von Normen zu präsentieren, der dem Wahrheitskriterium entspricht. Vielleicht wird man, wenn Ersteres geleistet wurde, besser verstehen, warum Letzteres so schwer zu bewerkstelligen ist. Zum Zweiten werde ich mich darauf beschränken, einen Begriff sozialer Normen zu bestimmen, also von Normen, die sich in einem sozialen Zusammenhang entäußert haben. Das Interne, das für die neuzeitliche Theorie des moralischen Handelns so wesentlich ist, soll am Rande bleiben – aber nicht außen vor, schon weil eine kategorische Trennung von innen und außen, von Internem und Sozialem nicht möglich ist. Meine Perspektive auf die Fragen, denen sich jede Praxis sozialer Normen gegenübersieht, soll dabei durchaus mit philosophischen Theorien des moralisch Angemessenen abgeglichen werden.[5] Was bedeutet der Umstand, dass es für soziale Normen einen Ort, eine Zeit, eine Darstellungsform geben, dass man sie wahrnehmen können muss, für den Wert philosophischer Theorien moralisch richtigen Handelns? In dieser Fragestellung werden moralische Normen eine wichtige, aber häufig nur im Kontrast verwendete Referenz darstellen. Denn soziale Normen wie religiöse Gebote, juristische Vorschriften, Benimmregeln funktionieren, so die Vermutung, anders als die Normen, über die in der praktischen Philosophie gestritten wird. Die Gemeinsamkeiten sozialer Normen sind der Gegenstand dieses Buches.

Diese Gemeinsamkeiten können nicht darin bestehen, dass soziale Normen in irgendeiner Weise, sei es moralisch, sei es anderweitig, gerechtfertigt sind. Rechtsnormen mögen ungerecht, politische Spielregeln undemokratisch, religiöse Gebote häretisch oder abstrus und Benimmregeln unpraktisch und antiquiert sein. Solche Mängel, solche fehlenden Möglichkeiten einer Rechtfertigung gleichgültig welcher Art, sind hier jedenfalls im Ausgangspunkt nicht von Interesse. Damit muss sich die Fragestellung nicht als wertfrei oder nichtnormativ erweisen. Es mag Gründe geben, über die Form des Normativen selbst in rechtfertigender oder kritischer Absicht zu sprechen. Man mag auf einer weiteren Ebene untersuchen, ob Gründe für oder gegen den Gebrauch von Normen sprechen. Man mag beispielsweise fragen, ob es »besser« ist, Kinder durch Verbote und Lob zu erziehen, oder ob es sinnvoll ist, einen politischen Prozess durch Normen einzuhegen. Hier muss sich die Normativität des Normativen rechtfertigen. Diese Fragen werden am Ende des Buches zur Sprache kommen – aber um zu verstehen, was wir meinen, wenn wir von Normen sprechen, dürfen wir den Begriff der Norm nicht schon im Ausgangspunkt auf richtige oder gerechtfertigte Normen verengen.

These. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, einen begrifflichen Rahmen für soziale Normen zu entwickeln, der hinreichend weit für unterschiedlichste Phänomene ist, ohne konturenlos zu werden.[6] Normen sind, so die Annahme, für die ich im Folgenden argumentieren werde, als positiv markierte Möglichkeiten zu verstehen. Normen verweisen auf einen möglichen Zustand oder ein mögliches Ereignis. Unmögliches zum Gegenstand einer Norm zu machen, ist sinnlos. Die positive Markierung einer Möglichkeit zeigt an, dass diese sich verwirklichen soll. Von Normativität – so die Vermutung – ist also nur dort die Rede, wo unterstellt wird, dass die Welt anders sein könnte, als sie ist, und wo diese Unterstellung kenntlich gemacht wird. Normativität hängt an der Möglichkeit einer abweichenden Weltbeschaffenheit – oder einer Weltbeurteilung, deren Maßstab sich nicht auf die Welt, wie sie ist, beschränkt.

Paulus schreibt im Brief an die Römer: »[…] wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung.«[7] Das Gesetz erfüllt den Zweck, die Sündhaftigkeit der Menschen erkennbar zu machen, die danach streben, es zu befolgen. Das Gesetz ist eine negative Folie für das, was mit Erlösung durch Gnade gemeint ist, und gehört daher zum Gnadengeschehen. Paulus' Feststellung macht keine inhaltliche Vorgabe, was zu tun ist. An anderer Stelle gibt er der Gemeinde in Korinth den Rat, sich von den anderen, die ihren Glauben nicht teilen, fernzuhalten,[8] sich, in einer freieren Formulierung, mit der Welt nicht gemein zu machen. Beide Hinweise können – völlig unabhängig von jedem Bekenntnis zum Christentum – einen ersten Eindruck davon geben, worum es in diesem Buch gehen soll. Mein Interesse an Normativität betrifft nicht die Frage der angemessenen Rechtfertigung bestimmter Handlungen oder Lebensformen, sondern die Darstellung und Sicherung der Unterscheidbarkeit zwischen dem, was ist, und einer Norm. Paulus' Bemerkungen sind von systematischem Interesse, weil sie nicht dabei stehenbleiben, Vorgaben zu machen, sondern darüber hinaus Unterscheidungen einführen, durch die in der Welt Distanz von der Welt genommen werden soll. Solche Techniken der Selbstdistanzierung machen, so meine Vermutung, den Kern normativer Praktiken aus. Wie sie funktionieren, wie Normen dargestellt und verwirklicht werden, wenn sie in Bezug auf ein Geschehen sich zugleich von diesem distanzieren müssen, sind Fragen, um die es gehen wird. Sie werden übergangen, wenn die Theorie des Normativen sich zu früh dem Problem der Rechtfertigung zuwendet.

Diese Richtung des Arguments, die zunächst nicht weiter begründet werden soll, hat vielerlei Implikationen, die auch als praktische Probleme im Umgang mit Normen in Erscheinung treten. Mit Möglichkeiten zu operieren ist prekär, weil deren ontologische Beschaffenheit ungewiss und ihre Erkennbarkeit zweifelhaft ist. Aus diesem Grund drehen sich viele praktische Probleme um Fragen der Darstellbarkeit, um die Folgen der Verschriftlichung einer Norm, um die Kenntlichmachung von Normbrüchen und Sanktionen oder um den Umgang normativer Praktiken mit Zeit.[9]

Mit der Bestimmung des Normativen soll der Versuch unternommen werden, sich zugleich von zwei dominanten Deutungen zu distanzieren: einerseits von einer Sicht, die Normen auf Gründe reduziert, das heißt auf Entitäten ohne räumliche und zeitliche Dimension, die sich allenfalls sekundär oder akzidentiell verkörperlichen können, ohne dass dies ihr Eigentliches berühren würde; und andererseits von einer Sicht, die Normen nur über Wirkungen oder Effekte beschreiben will. Gegen diese beiden Sichtweisen werden Normen hier als soziale Praktiken verstanden, in denen sich eine Gemeinschaft von der eigenen Realität distanziert, nicht notwendig, aber unter bestimmten Umständen, um diese zu verändern, und dies, unter noch weiter gehenden Umständen, mit Erfolg. Als soziale Form aus eigenem Recht, so meine Kernthese, lassen sich Normen weder auf moralische Gründe noch auf kausale Wirkungen reduzieren.[10]

Zu enttäuschende Erwartungen an das Buch. Theorien der Normativität jagen häufig zwei Phantomen nach. Sie suchen zum einen nach Methoden einer angemessenen Anwendung von Normen. Damit bewegen sie sich jedoch auf einem Gebiet, das für die Sphäre des Normativen nicht spezifisch ist. Für Normen mag es wegen ihrer Orientierung an praktischer Verwirklichung besonders dringlich sein, angemessene Anwendungsstandards zu finden. Wir können unter Umständen mit der Vieldeutigkeit eines beschreibenden Satzes besser leben als mit der eines Gesetzes. Trotzdem erweist sich jeder Versuch, für Praktiken richtiger Anwendung allgemeine Regeln zu finden, als fruchtlos. Dass dies der ästhetischen Theorie früher und gründlicher klar geworden ist als der Rechts- und der Moraltheorie, mag am unterschiedlichen praktischen Problemdruck liegen. Die Einsicht in die Unergiebigkeit dieser allgemeinen Fragestellung leugnet im Übrigen nicht die Möglichkeit von Argumenten, die für oder wider eine bestimmte Art der Anwendung in einem konkreten Kontext sprechen.

Eine zweite, strukturell ähnliche und ähnlich unergiebige Suche ist die nach einer praktisch handhabbaren Definition des Normbegriffs. Hier sind zwei Dinge voneinander zu unterscheiden. Um die Beantwortung der Frage, was wir meinen, wenn wir von Normen sprechen, also welche Gemeinsamkeit juridischer, religiöser, ästhetischer oder anderer sozialer Praxis wir mit der Kategorie des Normativen bezeichnen, soll es in diesem Buch gehen. Dies ist aber etwas grundsätzlich anderes als der Versuch, mithilfe von Theorie eine deutliche Grenze zwischen normativen und nichtnormativen Phänomenen zu ziehen, möglichst um damit ein handhabbares Angebot für eine Praxis zu machen.[11] Der Übergang von einer Norm zu einer Nichtnorm wird sich als nicht so klar und die Beschreibung dieses Übergangs wird sich eben als eine Beschreibung erweisen, die einem in der Praxis des Normativen nicht weiterhelfen wird. In diesem Buch wird ein Spiel beschrieben, nicht gespielt.

Erträge. Was kann es dann bringen, auf diesem Abstraktionsniveau soziale Normen in einen gemeinsamen begrifflichen Rahmen zu spannen? Auf einer ersten Ebene kann eine solche Begriffsbildung, wenn sie sich als plausibel und kohärent erweist, viele Fragen der Normtheorie neu stellen und zu ihrer Lösung beitragen. Bedarf es Sanktionen für das Vorliegen einer Norm? Wie lässt sich die »Anwendung« von Normen rekonstruieren? Wie verhalten sich handlungsanweisende Normen zu sogenannten konstitutiven Normen? Wie können wir die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen in einer für eine soziale Praxis plausiblen Art und Weise verstehen?

Auf einer zweiten Ebene sind die Bedingungen der empirischen Erforschung von Normen zu klären. Hier stoßen wir auf ein wissenschaftsinternes und auf ein praktisches Problem. Zwar ist die empirische Erforschung normativer Praktiken ein wichtiger Gegenstand der Sozialwissenschaften, doch wird sich zeigen, dass diese oftmals von anfechtbaren theoretischen Vorannahmen aus der praktischen Philosophie geprägt ist, die eine Rückwirkung auf die Befunde nehmen können. Wie ist es genau möglich, als Anhänger einer humeanischen oder einer kantischen Theorie der Normativität normative Praktiken empirisch zu erforschen? Eine Neubestimmung des Normativen mag Parameter in den Blick rücken, die wesentlich für das Gelingen oder Scheitern der Beschreibung normativer Praktiken sind.

Durch die Arbeit am Begriff geraten zudem Gemeinsamkeiten von Normen in den Blick, die für eine Reihe von geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Paradigmen von Bedeutung sind. Die gemeinsame Erforschung von Normen unterschiedlicher Provenienz – politischer, ästhetischer, religiöser und rechtlicher – könnte Zweifel an einem starken Modell funktionaler Differenzierung begründen. Oftmals ist die Zurechnung von Normen zu einem dieser Funktionssysteme ungewiss oder umstritten. Menschenrechte sind hierfür ein Beispiel, religiös inspirierte politische Programme ein anderes.[12]

Schließlich dürften verbreitete Erwartungen an Normen in zwei Richtungen relativiert werden. Normen sollen sich auf der einen Seite in ihren Wirkungen erweisen. Zeitigen sie keinen Effekt, gelten sie als bloße Fiktionen. Das aber verfehlt ihren Begriff. Die Praxis des Normativen ist, weil auf eine Möglichkeit fixiert, stets eine mit ungewissen Folgen. Wer zuverlässig Effekte erzeugen will, sollte versuchen, Ursachen zu setzen, keine Normen. Dies dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass ein instrumentalistisches Verständnis von Normen wenig erklärt. Eine Norm mag viel darüber verraten, wer wir sind oder sein wollen; als Mittel zum Zweck verwendet, stößt sie aber schnell an Grenzen, gehört doch die Möglichkeit, von der Norm abzuweichen, zu ihren praktisch folgenreichsten Eigenschaften. Trotzdem sollen Normen auf der anderen Seite erstaunliche Leistungen erbringen, von denen sie schnell überfordert werden, etwa ganze Gesellschaften »zusammenzuhalten«. Eine begrifflich präzisierte Sicht wird genauer bestimmen, was Normen in einem zu definierenden Kontext leisten können und was nicht.

Terminologie. Ein Wort zur Terminologie, die in dieser Einführung bereits vorausgesetzt wurde. Ich werde im Folgenden den Begriff der Norm und den der Eigenschaft, die Normen zu Normen machen, ihre Normativität, als Überbegriffe verwenden. Regeln, Befehle und Urteile, Werte und Bewertungen, staatliche Gesetze, moralische Gebote und Geschmacksurteile sind allesamt Normen. Evaluative und präskriptive Akte fallen gleichermaßen in das Reich des Normativen.[13] In der Philosophie finden sich viele davon abweichende Terminologien. In ihr spielt die Gegenüberstellung zwischen moralischen Normen, die einem Universalisierungskriterium genügen, und ethischen Werten eine wichtige Rolle.[14] Diese Debatte dreht sich allerdings um die angemessene Art der Normbegründung; dass sowohl Normen im so verstandenen Sinne als auch Werte normativ sind, wird dagegen kaum bestritten. Hier geht es ausschließlich um die Gemeinsamkeiten, die Vorschriften und Werte zu etwas Normativem machen.

Einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Normen, die sich auf gleiche Mechanismen zurückführen lassen, bezeichne ich als eine normative Ordnung. Normative Ordnungen bestehen aus verschiedenen Arten von Normen, unter Umständen auch aus solchen, die einander widersprechen. Unter sozialen Normen verstehe ich Normen, die in einem sozialen Kontext, zu einer konkreten Zeit und an einem konkreten Ort in Erscheinung treten.[15] Soziale Normen werden hier als Überbegriff für Benimmregeln, Rechtsnormen und andere sozial relevante normative Praktiken verwendet. Ob moralische Normen soziale Normen sind, hängt davon ab, ob man diese in Abhängigkeit von sozialen Praktiken bestimmt oder nicht – eine umstrittene Frage, die hier nicht zu beantworten ist. Aber klar dürfte sein, dass es viele soziale Normen gibt, die wir nicht aus moralischen Gründen befolgen müssen.[16] In jedem Fall können moralische Normen, die unabhängig vom Bestand sozialer Praktiken verstanden werden, soziale Relevanz entfalten und zu sozialen Normen werden. Wie ergiebig es ist, all dies unter einen gemeinsamen Überbegriff zu fassen und zu untersuchen, muss sich zeigen. Der künstliche Begriff der Normativität hat jedenfalls den Vorzug, nicht zu viele Konnotationen zu transportieren und den Blick auf die Phänomene nicht vorschnell zu verengen.



[1] Zur hier nicht weiter interessierenden Geschichte des Begriffs: Hasso Hofmann/Wolfgang H. Schrader, »Artikel Norm«, in: Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. VI, Darmstadt 1984, S. 906-920; H. ‌E. Hasso Jaeger, »La norme d'après la doctrine des humanistes et des auteurs du droit naturel«, in: Universidad de Navarra (Hg.), La Norma en el Derecho Canónico, Pamplona 1979, S. 291-346; Herbert Oppel, Kanon: zur Bedeutungsgeschichte des Wortes und seiner lateinischen Entsprechungen (Regula-Norma), Leipzig 1937; Leopold Wenger, Canon in den römischen Rechtsquellen und in den Papyri, Wien 1942, S. 70f.

[2] Dies zeigt sich im Ausgangspunkt der modernen Sprachphilosophie in Freges Zweifel, wie Imperative zu behandeln sind: Gottlob Frege, »Logik«, in: ders., Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, hg. von Gottfried Gabriel, Hamburg 31990, S. 35-73, hier S. 40.

[3] Zweifelnd: Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1990, S. 31-34, 146-157.

[4] Wolfgang Künne, Conceptions of Truth, Oxford 2005, Kap. 3 und 7.

[5] Eine zu wenig rezipierte Reflexion über das Verhältnis sozialwissenschaftlicher und philosophischer Untersuchung von Normen findet sich bei Dorothy Emmet, Rules, Roles, and Relations, London 1966.

[6] Zu diesem – möglichen – Vorzug des Normbegriffs auch Scott J. Shapiro, Legality, Cambridge, Mass. 2011, S. 40-42; ein einheitlicher Begriff der Normativität wird auch bei Christine M. Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge 1996, S. 21, befürwortet.

[7] Röm 4,15. Das Folgende verdankt sich frei Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, S. 263-270, insbes. S. 266f.

[8] 2 Kor 6,17.

[9] Die Frage der Erkennbarkeit von Normen als Normen wird in ihrer Bedeutung notorisch unterschätzt, angesprochen wird sie in den sehr ergiebigen Überlegungen von Heinrich Popitz, Soziale Normen, Frankfurt/M. 2006, S. 69.

[10] Dieses Anliegen findet sich in der Literatur selten, vgl. aber nunmehr Geoffrey Brennan/Lina Eriksson/Robert E. Goodin/Nicholas Southwood, Explaining Norms, Oxford 2013, S. 15-19.

[11] Um ein scheinbar unproblematisches Beispiel zu nehmen: Die Annahme, eine soziale Regel sei etabliert, wenn sie von einer Mehrheit anerkannt würde (Ursula Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin 1984, S. 16, 20), ist auf den zweiten Blick voraussetzungsreich. Woher kommt diese Mehrheitsregel? Gibt es keine Beispiele für wirkmächtige soziale Regeln, die nur von Minderheiten anerkannt werden? Wenn es solche gibt, dann mag das Mehrheitsprinzip für die Frage der Legitimation der Regel brauchbar sein, aber nicht für die Frage nach deren Existenz.

[12] Man mag kurz überlegen, was als »politische Norm« in Frage kommen könnte. Zu denken ist an Normen, die den politischen Prozess gestalten, ohne verrechtlicht zu sein, also Verfassungsnormen ohne gerichtliche Überprüfung, sowie an politische Programme.

[13] Ausdrücklich Herbert Schnädelbach, »Rationalität und Normativität«, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt/M. 1992, S. 79-103, hier S. 88-93, unter Berufung auf die beide zusammenführende Darstellung bei Paul W. Taylor, Normative Discourse, Englewood Cliffs 1961 (dort insbes. S. 279-282). Ähnlich Georg Henrik von Wright, Norm and Action, New York 1963, S. 1-16; anders beispielsweise Wolf, Problem, S. 12.

[14] Vgl. etwa Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2013, S. 36f. Eine knappe Historisierung zwischen Antike und Moderne bei Korsgaard, Sources of Normativity, S. 2-5.

[15] Die Abgrenzung von sozialen zu moralischen Normen wird sehr unterschiedlich vorgenommen (Wolf, Problem, 8f.; Jaeggi, Kritik, S. 147, Fn. 12). Man kann auch moralische Normen als Teilmenge aller sozialen Normen verstehen oder soziale Normen durch ihren Geltungsgrund von moralischen abgrenzen, so Brennan u. ‌a., Explaining Norms, Kap. 4. Dies führt etwa zu dem Ergebnis, dass religiöse Normen – abweichend vom vorliegenden Ansatz – nicht als soziale Normen behandelt werden, siehe ebd., S. 76, Fn. 49.

[16] Nicholas Southwood, »The Authority of Social Norms«, in: Michael Brady (Hg.), New Waves in Metaethics, London 2011, S. 234-248, hier S. 239.

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Probleme