Sabine Bode

Nachkriegskinder

Die 1950er Jahrgänge und
ihre Soldatenväter

Klett-Cotta

Impressum

Die Rechte an dem Buchtitel »Nachkriegskinder« besitzt die Zeitgut Verlag GmbH mit ihrem Buch »Nachkriegs-Kinder«. Wir bedanken uns für die großzügige Überlassung des Titels für das vorliegende Buch.

Dieser Text beruht auf der Ausgabe aus dem Jahr 2011.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2011, 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,
gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © ullstein bild, Leber

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96489-9

E-Book ISBN 978-3-608-10246-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort und Dank

Seit meinem Buch »Die vergessene Generation« ein weiteres über »Kriegsenkel« folgte, wurde ich immer wieder auf Lesungen oder in Mails gefragt: »Ich bin weder Kriegskind noch Kriegsenkel, sondern Nachkriegskind. Haben Sie vor, sich auch mit meinen Jahrgängen zu befassen?« Meine Antwort darauf ist dieses Buch. An seinem Zustandekommen haben viele Menschen maßgeblich mitgewirkt, vor allem jene Nachkriegskinder, die darin zahlreich zu Wort kommen. Für ihre Offenheit bin ich ihnen sehr dankbar, vor allem auch für ihre Bereitschaft, die oft belastende Beziehung zum Kriegsvater vor dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrung und des Älterwerdens mit mir zu reflektieren. Fast alle biografischen Geschichten wurden anonymisiert und die geänderten Namen mit einem * gekennzeichnet. Mein Dank gilt auch den zwei ehemaligen Wehrmachtangehörigen sowie einigen Experten, die mir halfen, eine Reihe von wichtigen Fragen zu klären. Unsere Gespräche werden in diesem Buch in der Form des Interviews wiedergegeben.

Meinem Lektor Heinz Beyer danke ich sehr für seine Rückenstärkung, seine kluge Beratung und grundsätzlich für seinen Einsatz, einem schwierigen Thema Raum zu geben. Meinen besonderen Dank möchte ich dem Verlag Klett-Cotta sagen und dort allen jenen Mitarbeitenden, die nun schon seit vielen Jahren meine Buchprojekte unterstützen. Meinem Mann Georg Bode verdanke ich viele Anregungen. Manchmal lief ich Gefahr, mich in der Fülle des Stoffs mit seinen unzähligen Facetten zu verlieren, doch der Austausch mit ihm und vor allem sein Widerspruch halfen mir, in diesem komplexen Themenfeld meinen Standort wiederzufinden.

Dieses Buch ist dem Andenken an Uschi B. (1946–​1997) gewidmet, meiner Freundin seit den Kindertagen. Bis zu ihrem Tod haben wir oft gemeinsam über unsere Kriegsväter nachgedacht. Als Jugendliche zum Beispiel fragten wir uns, was von dem so oft gehörten Satz zu halten sei: »Was Adolf gemacht hat, war nicht alles schlecht, er hätte nur eher aufhören müssen …«

Der kollektive Nebel, der über der NS-Vergangenheit lag, hat lange Zeit unsere Wahrnehmung irritiert und uns in unserem Lebensgefühl verunsichert. Während meiner Arbeit an diesem Buch kam es immer wieder vor, dass ich unsere Gespräche in Gedanken fortsetzte.

Köln, im Juli 2011

Sabine Bode

Erstes Kapitel

Der Krieg war aus und überall

Die kleinen Hoffnungsträger

Als Kind sammelt man Wörter, jeden Tag kommen neue hinzu, und man lernt die wichtigen von den weniger wichtigen zu unterscheiden. »Krieg« gehörte zu meinem frühen Wortschatz. Als Dreijährige wurde ich mehrmals am Tag ermahnt: »Pst, Nachrichten! Krieg!« Die Erwachsenen wollten Radio hören. Etwas Unheimliches ballte sich in unserer Küche zusammen: Korea im Sommer 1950. Der Zweite Weltkrieg lag gerade fünf Jahre zurück, als die Angst vor einem Dritten Weltkrieg aufstieg.

In dieser Zeit konnte ich manchmal vor Angst nicht einschlafen. Da war ein Geräusch, von dem ich nicht wusste, was es war, dumpf, rhythmisch und sehr bedrohlich – ich nannte es »Krieg«. Erst viel später begriff ich, dass es die Bässe der Musik waren, die aus der Wohnung unter uns zu mir drangen. – Der Krieg war aus und überall.

Ich wurde 1947 geboren. Damit war ich etwas Besonderes. Es gab nur wenige Kinder in meinem Alter. Wie viele Säuglinge in den ersten Jahren nach Kriegsende an Epidemien starben, ist unbekannt; entsprechende Statistiken wurden nicht geführt. Keine Frage, wir waren die Hoffnungsträger des zerstörten Deutschland, das Licht am Ende des Tunnels. Das sagt sich so leicht dahin, aber in meinem Fall kann ich es beweisen. Meine Mutter hinterließ mir eine Mappe mit Glückwünschen zu meiner Geburt. Ich habe sie mir im Laufe meines Lebens öfter angesehen, und je älter ich werde, umso mehr berühren sie mich. Als ich geboren wurde, gab es kaum vorgedruckte Karten zu kaufen, man musste improvisieren. Dünne Bleistiftränder verraten, dass das Papier ursprünglich anders genutzt wurde. Viele gute Wünsche sind auf schwarzem Fotokarton zu lesen, oder auf braunem, gebrauchtem Packpapier, das gewendet wurde – wie der abgetragene Mantel vom Vater, aus dem ich eine dicke Winterjacke geschneidert bekam. Aus jedem Brief, aus jeder Karte spricht große Freude, fast so, als wäre mit mir noch einmal das Christkind auf die Welt gekommen. Die meisten Gratulanten hatten sich die Zeit genommen, etwas zu zeichnen: dekorative Schriftzüge, von Blumen umrankte Segenswünsche und kleine, sorgfältig ausgemalte Szenen, die das Familienglück beschworen. Manche hatten gedichtet: »Sabinchen ist nun auf der Welt, was uns allen sehr gefällt …« Es war eine liebevolle Begrüßung, die sich noch einige Jahre fortsetzte, weshalb sie mir in Erinnerung blieb.

Die Freiheit einer unbeaufsichtigten Kindheit

Wir wohnten in einer ländlichen Umgebung. Autos gab es nicht. Als kleines Kind durfte ich herumlaufen, wo ich wollte, auch ohne Aufsicht. Während meine älteren Geschwister in der Schule waren, ging ich auf Entdeckungsreise. Alle Erwachsenen, die mir auf meinen Wegen begegneten, blieben kurz stehen. Mein Auftauchen munterte sie sichtlich auf, denn sie sagten, wie schön es sei, mich zu sehen. Oft ging jemand in die Knie, sprach ein paar Sätze mit mir und steckte mir etwas Süßes zu.

Bei meinen Eltern war von Zuneigung dieser Art wenig zu spüren. Verständlicherweise waren sie alles andere als begeistert von der Ankunft eines vierten Kindes zu einem Zeitpunkt, als Deutschland am Boden lag und keiner wusste, ob es jemals wieder aufstehen würde, ob und wann der Vater Arbeit finden würde. Wie alle Eltern dieser Zeit brauchten sie ihre ganze Kraft für den Überlebenskampf. Außerdem waren sie der Meinung, ein Kind zu verwöhnen sei ein kapitaler Erziehungsfehler, sie waren Anhänger der Johanna Haarer, deren Bücher in der NS-Zeit Müttern nahegelegt hatten, ihre Kleinkinder wie Äffchen zu dressieren. Umso schöner für mich, dass es außerhalb unserer Wohnung nicht nur eine unbeaufsichtigte Kindheit gab, sondern auch Begegnungen mit Erwachsenen, die sich unverhohlen freuten, wenn sie mich sahen. Aus beidem entwickelte sich, was ich später als Journalistin gut brauchen konnte: zum einen die Neugier, Unbekanntes zu erforschen, und zum anderen das Gefühl, in einer mir fremden Umgebung grundsätzlich willkommen zu sein.

In den fünfziger Jahren war die Welt noch nicht in Ordnung. Auf ganz Europa lasteten die Folgen eines verheerenden Kriegs, und die Deutschen in West und Ost bemühten sich, möglichst wenig an den Holocaust zu denken. Noch 1970 empfand fast die Hälfte der Westdeutschen Willy Brandts Kniefall am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos als »übertrieben«, wie eine Umfrage ergab.

Ende der fünfziger Jahre begannen sich die Verhältnisse zu stabilisieren. Auch meinen Eltern war es gelungen, ihr Leben wieder in normale Bahnen zu lenken. Die Männer trugen noch Hüte, sie sahen eleganter aus als die Väter heute. Aber die Hüte schienen ihnen auch etwas Unnahbares zu geben, im Unterschied zu den kumpelhaften Vätern heute mit ihren Baseballkappen. Arbeitseifer und Wirtschaftswunder machten Dinge möglich, von denen man wenige Jahre zuvor nur geträumt hatte. Als immer mehr Nachbarn ein Auto besaßen, als Urlaubskarten vom Mittelmeer eintrafen, als die ersten italienischen Eisdielen öffneten und Elvis Presley als GI nach Deutschland kam, da war klar: Man hatte das Schlimmste hinter sich.

Brüder von Heinz Erhardt

Die Erwachsenen wurden etwas gelassener, auch fröhlicher und vor allem dicker. Viele gertenschlanke Männer legten sich innerhalb eines halben Jahres einen Bauch zu. Die Auswirkungen der Fresswelle lassen sich gut an den frühen Karnevalssitzungen »Mainz wie es singt und lacht« studieren, die als Kult gelten, weshalb das Fernsehen sie gern wiederholt. Da sieht man im Publikum recht junge, gut genährte Bürgersleute mit Doppelkinn – sie alle Brüder von Heinz Erhardt –, neben ihnen schunkelnde Damen, die ihre unbekleideten Speckärmchen links und rechts eingehakt haben. Als die Frauen pummelig wurden, hörte man sie immer häufiger kichern wie junge Mädchen. So lange hatten sie auf Luxus verzichten müssen, auch das war nun vorbei. Man konnte wieder ausgehen, man konnte sich etwas gönnen, eine Reise nach Paris zum Beispiel. Nur an ihren Normen und Einstellungen hatten die Erwachsenen nichts geändert. »Das tut man nicht!« war der Satz, den Kinder am häufigsten hörten. Warum man das nicht tat oder nicht tun sollte, wurde nicht erklärt.

An den Schulen der Bundesrepublik unterrichteten überwiegend ältere Lehrerinnen und Lehrer, streng und latent gereizt, mit Strafen waren sie schnell bei der Hand. In meiner Volksschule verbreitete eine Lehrerin mit dem Namen Lang nichts anderes als Furcht und Schrecken. Hinter ihrem Rücken sangen wir: »Die Lang, die Lang, die macht die Kinder bang. Mit Säbel und mit Schießgewehr ist die hinter den Kindern her.«

Wie neidisch war ich, als mir Verwandte aus der DDR erzählten, bei ihnen seien die Lehrer überwiegend jung – kaum älter als die Oberschüler der letzten Klasse. Das Lehrerkollegium auf meinem Gymnasium bestand überwiegend aus – ich will es mal vorsichtig ausdrücken – schwierigen älteren Menschen. Wenn sie das Klassenzimmer betraten, waren ihre Gesichter frei von Freundlichkeit. Bestenfalls schauten sie neutral, häufig aber einfach nur schlecht gelaunt. Jede kleine Unregelmäßigkeit schien sie zu stören. Heute weiß ich: Ihre Stressanfälligkeit war enorm hoch, ihnen steckte der Krieg noch in den Knochen. Als Kind dachte ich: Wenn man groß ist, lacht man nicht mehr, man weiß alles besser, man mag Kinder nicht.

Manche Lehrer schlugen noch mit dem Stock und wurden nur deshalb nicht gebremst, weil in vielen Elternhäusern nichts anderes geschah und Solidarität mit den eigenen Kindern ein Fremdwort war. Wer sich bei den Eltern über Prügel in der Schule beschwerte, bekam zu hören: »Hättest du dich anständig benommen, wäre dir das nicht passiert!«

Die meisten Erwachsenen duldeten keinen Widerspruch. Wie das im Alltag aussah, lässt sich an einer Szene aus dem Heinz-Erhardt-Film »Vater, Mutter und neun Kinder« von 1958 gut nachvollziehen. Alle sitzen am Tisch, die muntere Kinderschar benimmt sich aus heutiger Sicht völlig normal. Doch die Mutter ist um absolute Kontrolle bemüht, und so hagelt es ohne Pause Ermahnungen und Maßregelungen, genau so, wie es in der Nachkriegszeit üblich war: Sitz gerade, schling nicht so, sei nicht so vorlaut, wie sehen deine Fingernägel aus, man spricht nicht mit vollem Mund, sei nicht so neugierig, reiß dich endlich zusammen …

Eigentlich wurde man als Kind ständig eingeschränkt, frustriert, überfordert. Irgendwann, in der Jugend, als man dem Zugriff der Eltern entronnen war, ergab deren »komisches Verhalten« reichlich Stoff für fröhliche Runden auf Partys und später in Wohngemeinschaftsküchen. Ein damals beliebter Witz ging so: Ein Kind schreit: »Ich will aber nicht nach Amerika. Ich will nicht nach Amerika!« Darauf die Mutter: »Sei endlich still. Schwimm weiter!« Damals lachten wir nur über eine absurde Situation. Dass in diesem Witz die eigenen Eltern karikiert wurden, konnten wir als Jugendliche nicht sehen – dafür fehlte uns die Lebenserfahrung.

»Das wird bös enden!«

Wir machten uns gern lustig über den Erziehungsstil und die Schwarzmalerei in der Elterngeneration. Zu unseren Lieblingssprüchen gehörte »Das wird bös enden!« aus der Filmkomödie »Zur Sache, Schätzchen«. Der aufmüpfige Geist von 1968 erfasste auch jene, die keine Weltrevolution wollten, sondern einfach nur ein bisschen mehr persönliche Freiheit. Fast alle meine Gesprächspartner, deren Biografien diesem Buch zugrunde liegen, haben sich im Umgang mit ihrer eigenen Erziehung eine gewisse Ironie zurechtgelegt. Sie alle sind mit den aus dem Heinz-Erhardt-Film zitierten Sprüchen groß geworden. Sie ergaben die Melodie der vorherrschenden Pädagogik, die sich, etwas pauschal ausgedrückt, nur in einem Punkt unterschied: Es gab Schläge oder es gab keine Schläge. So waren auch die meisten Kinder vor dem Krieg und im Krieg behandelt worden. Aber ich bin mir sicher, dass die Eltern der Nachkriegszeit ihren Erziehungsstil noch rabiater praktizierten, einfach deshalb, weil sie ständig überlastet waren, das Nervenkostüm dünn war, ihre Selbstkontrolle versagte und sie auf diese Weise Dampf ablassen konnten – vor allem aber, weil diese Pädagogik so gut funktionierte. Viele Eltern waren stolz auf ihr konsequentes Handeln. Etwaige Nebenwirkungen wurden nicht mit Bestrafung in Verbindung gebracht. Oder doch? Wurden sie womöglich als das kleinere Übel in Kauf genommen? Der Gedanke muss erlaubt sein. Fortwährend eingeschüchterte Kinder machen vielleicht ins Bett, aber sie machen keinen Krach. Ganz ahnungslos können Eltern in den sechziger Jahren nicht mehr gewesen sein.

Auf Kaffeekränzchen wurde durchaus über die Ursachen von Bettnässen geredet, und man kann davon ausgehen, dass unter einem halben Dutzend Müttern wenigstens eine war, die unter Kindererziehung etwas anderes verstand als Drohen und Strafen.

Die bleierne Zeit

Oft sind die fünfziger und die Anfänge der sechziger Jahre nach einem Kinofilm von Margarethe von Trotta »Die bleierne Zeit« genannt worden. Für mich war es die Zeit der Abwertungspädagogik. Dass sie nun schon lange durch den Volkserzieher Fernsehen geächtet ist, dass in jeder Familienserie Eltern als vorbildlich gelten, die ihre Kinder respektieren, dafür werde ich den 68ern ein Leben lang dankbar sein. Mir ist meine Prägung durch die Nachkriegszeit sehr bewusst, und während ich mich beruflich mit Kriegskindern und später mit Kriegsenkeln beschäftigte, war mir klar, dass ich weder zur einen noch zur anderen Gruppe gehörte und dass mir diese Distanz bei meiner Arbeit half. Ein Buch zu schreiben, das auch meine eigene Altersgruppe in den Mittelpunkt stellte, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Doch als dem Buch »Die vergessene Generation« über die Kriegskinder das Buch »Kriegsenkel« folgte, das sich im Wesentlichen an die 1960er Jahrgänge richtet, stand bei jeder Lesung jemand auf und sagte: »Ich bin weder Kriegskind noch Kriegsenkel. Was ist mit uns? Was ist mit uns Nachkriegskindern?«

Ein Jahr ließ ich mir Zeit, um auszuloten, ob Recherchen über die Jahrgänge von 1946 bis 1960 tatsächlich ausreichend Neues zu Tage fördern würden. Ich wollte mich ja nicht langweilen, und ich wollte mich nicht wiederholen. So waren bei Kriegskindern, Nachkriegskindern und Kriegsenkeln die Gemeinsamkeiten in den Beziehungen zu den Eltern nicht zu übersehen. Wobei man im Blick behalten muss: Wir reden hier nicht von den Problemen ganzer Generationen, sondern von Auffälligkeiten innerhalb bestimmter Altersgruppen, von gesellschaftlichen Mustern, und natürlich lässt sich nur ungenau trennen, welche Defizite im Verhalten Erwachsener ursächlich auf Kriegstraumatisierungen zurückzuführen sind und welche einer gnadenlosen Erziehung oder anderen Faktoren geschuldet sind. Es gibt auch ohne den Hintergrund Krieg und Vertreibung ausreichend kranke Familien.

Mutter oder Vater wurden mir häufig als wenig emotional beschrieben; der Zugang in die Gefühlswelt eines Kindes, hieß es, sei nur selten gelungen. Seelischer Schmerz war keine Kategorie. Probleme wurden häufig nicht ernst genommen, sondern als »Problemchen« abgetan. Kinder wurden nicht getröstet, sondern beschwichtigt. Auffällig auch das auf den Kopf gestellte Eltern-Kind-Verhältnis: dass man sich für das Glück der Mutter oder des Vaters verantwortlich fühlte, und zwar von früher Kindheit an. War der Vater im Krieg gefallen, sah sich das Kind der Mutter gegenüber in der Rolle des Tröstenden – seinen eigenen Schmerz musste es unterdrücken. Fest stand, als Kind durfte man ihr nicht zusätzlich Sorgen bereiten, sie hatte es schon schwer genug.

Kinder trösten ihre Mütter

Parentifizierte Kinder, wie sie in der psychologischen Fachsprache heißen, sind angepasste Kinder, denen es als Erwachsene äußerst schwer fällt, sich abzunabeln. Es kann geschehen, dass sie ihr ganzes Leben der Liebe eines Elternteils hinterherlaufen, in der Hoffnung, doch noch ein bisschen Zuwendung zu ergattern – weil sie nicht verstehen, dass Mutter oder Vater als schwer Traumatisierte zu tiefen, aufmerksamen Beziehungen nicht fähig sind. Soviel zu den Gemeinsamkeiten von Kriegskindern und den später Geborenen, deren Eltern den Krieg noch miterlebt hatten.

Es ist mir am Anfang meiner Arbeit über die Spätfolgen des Krieges gelegentlich geraten worden, alle beeinträchtigten Altersgruppen zusammenzufassen, doch der Fokus Kriegskinder war mir wichtig, seit ich die Besonderheit in diesen Jahrgängen entdeckte: Hier handelt es sich um eine große Gruppe von Menschen, die in ihrer Kindheit verheerende Erfahrungen gemacht hatten, aber in ihrer Mehrzahl über Jahrzehnte eben nicht auf die Idee kamen, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Sie sagten übereinstimmend: »Das war für uns normal«, und es blieb für sie normal, das jedenfalls sagte ihnen ihr Gefühl. Ihnen fehlte der emotionale Zugang zu ihren Erlebnissen und damit der Zugang zu ihren wichtigsten Prägungen.

Nachdem die Kriegskinder 2005 zum ersten Mal in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, tauchten nach und nach, eine Generation tiefer, deren Kinder auf. Auch sie wollten gesehen werden mit ihren speziellen Problemen, mit dem, was die Eltern ihnen unbewusst weitergegeben hatten. Über diese nur schwer zu identifizierenden Spätfolgen des Krieges schrieb ich in meinem Buch »Kriegsenkel«. So entstand die Lücke zwischen den Generationengruppen, die das hier vorliegende Buch zu schließen versucht.

Schaut man sich an, was die Nachkriegskinder prägte, so sind auch sie – genau so wie die Kriegskinder und die Kriegsenkel – grob zu unterscheiden in die früh und die später Geborenen. Bei den Älteren, in etwa die Jahrgänge bis 1953, sah ich viele Parallelen zu den Kriegskindern der vierziger Jahrgänge: in Elend groß geworden, umgeben von verstörten, belasteten Erwachsenen, eine strenge Erziehung, die ansteckende Aufbruchsstimmung von 1968, Rock- und Popmusik, ausgezeichnete Berufschancen. Letzteres bezieht sich auf die wohl einmalige gesellschaftliche Situation, dass man sich in der Jugend gründlich daneben benehmen konnte, ohne dass es sich später zum Nachteil auswirkte – es sei denn, man geriet in den Verdacht, ein Verfassungsfeind zu sein und wurde auf Grund des »Radikalenerlasses« vom Staatsdienst ausgeschlossen. Genau genommen musste es jemand, der in den vierziger Jahren geboren war, schon ziemlich dumm anstellen, wenn ihm nach seinem Studium eine gut bezahlte Akademikerlaufbahn verschlossen blieb. Aber auch ohne Hochschulabschluss ergaben sich erstaunliche Karrieren, an der Spitze die von Joschka Fischer, der es vom ehemaligen Straßenkämpfer bis zum Bundesaußenminister brachte.

Stellvertretende Schuld

In den Nachkriegsjahrgängen war die Angst, der Vater könne ein schlimmer Nazi gewesen sein, weit verbreitet. Im Ausland wurde das Phänomen nicht verstanden. Es war ja auch mit Vernunft nicht nachzuvollziehen, dass sich Nachkommen, nur weil sie Deutsche waren, schuldig fühlten für die Massenverbrechen der Vergangenheit, während die Eltern sich durchweg als Opfer sahen. Schuld- und Schamgefühle hatten in der falschen Generation ihren Platz gefunden. Unter den Begriffen »stellvertretende Schuld« oder »übernommene Schuld« gingen sie in die psychotherapeutische Literatur ein. Dass die Nachkriegskinder stolz sind, Deutsche zu sein, kommt ihnen in dieser Schlichtheit nicht über die Lippen. Stattdessen hört man von ihnen Sätze wie: »Es ist nicht schlecht, Deutscher zu sein.« Oder: »Wir würden ja gern unser Land lieben, aber die Vergangenheit …«

Viele Nachkriegskinder schrieben mir, sie hätten sich teilweise in meinem Buch »Kriegsenkel« wiedergefunden. Das war dann der Fall, wenn im Elternhaus ein Klima der gedämpften Gefühle herrschte oder wenn Heimatvertriebene ihre Familie als »Burg« betrachtet und den Kindern Misstrauen gegen den Rest der Welt eingetrichtert hatten. In den Jahrgängen der Baby-Boomer schließlich – in etwa von 1958 bis 1964 – überschneiden sich viele prägende Erfahrungen der Nachkriegskinder mit denen der Kriegsenkel. Seit sie den Kindergarten besuchten, wissen sie: Wir sind zu viele. Auf mich kommt es nicht an. Ob in der Ausbildung, an der Universität oder im Berufsleben – eigentlich sind immer schon alle Plätze besetzt. Eine Generation in der Warteschleife.

Weder in meinem Buch »Die vergessene Generation« noch in »Kriegsenkel« spielen die Väter eine tragende Rolle. Überwiegend war zu hören, sie hätten als Ernährer gut für ihre Familie gesorgt, seien aber im Grunde abwesende Väter gewesen. Die Aufmerksamkeit lag auf der Mutter, auf sie war man ja als Kind hauptsächlich angewiesen gewesen, mit ihr hatte es offene oder verdeckte Spannungen gegeben, mit ihr hatte man sich womöglich ein Leben lang herumgezankt. Mit den Vätern weit weniger. Häufig war der Kontakt zu ihnen dünn gewesen, weshalb vor allem Töchter – anders als Söhne – über Jahrzehnte übersahen, dass auch die sogenannten abwesenden Väter auf bestimmte Aspekte der eigenen Entwicklung einen enormen Einfluss ausgeübt hatten. Vor allem von den jüngeren Nachkriegskindern wurden mir die Väter überwiegend als Männer beschrieben, die durch ihre Wehrmachtszeit und Gefangenschaft noch lange oder bis zum Tod seelisch belastet blieben und die mit viel Disziplin ihr Leben meisterten.

Täter oder Opfer oder beides?

Bei meinem Nachdenken über ein neues Buchkonzept rückten die Kriegsväter immer mehr in den Vordergrund. Sie waren auch in einem anderen Kontext nicht mehr zu übersehen. Seit Jahren bieten mein Mann und ich Seminare für »Kriegsenkel« an, die Kinder der Kriegskinder. Hier meldeten sich zunehmend auch Angehörige der fünfziger Jahrgänge an, obwohl deren Eltern Kriegserwachsene waren. Aber sie suchten nun mal ein Forum, um ihre Problematik zu reflektieren, und weil sie es woanders nicht fanden, reihten sie sich bei den Kriegsenkeln ein. Obwohl eine Minderheit, dominierten die Älteren unsere Seminare, da sie ihren Klärungsbedarf viel vehementer anmeldeten als die Kriegsenkel. Was sie herausfinden wollten, bezog sich fast immer auf Fragen zu den Kriegsvätern.

Wer war mein Vater eigentlich?

Was steckte hinter seinem Schweigen?

War er Täter oder Opfer oder beides?

Welche Bilder wurde er sein Leben lang nicht los?

In welchem Umfang hat er von der NS-Zeit profitiert?

Wie hat Vaters Krieg unser Familienleben geprägt?

Was habe ich von ihm »geerbt«?

Wie hätte ich mich als Frau/als Mann ohne einen Kriegsvater entwickelt?

Man kann sich vorstellen, dass solche Fragen für Kriegsenkel ohne großen Wiedererkennungswert waren, denn dem Alter nach handelte es sich um ihre Großväter, die ihnen in der Regel so wichtig nicht waren. Fragen nach deren Kriegserlebnissen oder mögliche Verstrickungen in die deutsche Schuld sind für die Enkel nur selten von Bedeutung. »Für uns sind das allenfalls sonderbare Opis gewesen«, erklärte mir ein Mann von Mitte Vierzig. »Über ihre Vergangenheit als junge Menschen haben wir nicht weiter nachgedacht und auch unsere Eltern haben sich diesbezüglich in Schweigen gehüllt.«

In unseren Seminaren für Kriegsenkel spiegelt sich der Befund des Buchs von Harald Welzer »Opa war kein Nazi«. Zum Beispiel: 12 Teilnehmer beschreiben ihren Familienhintergrund; fast alle sehen ihre Eltern und Großeltern als Opfer. Nur ein Mann berichtet, sein Großvater habe sich einen arisierten Betrieb billig unter den Nagel gerissen und damit sei Wohlstand in seine Herkunftsfamilie gekommen. Rein statistisch kann das nicht stimmen, 12 Teilnehmer bedeuten 24 Großelternpaare, bedeuten 48 Personen. Nur ein Opa war Nazi, vielleicht nicht einmal das, vielleicht war er auch nur ein Unternehmer, der von einer günstigen Gelegenheit profitierte. Inzwischen veranstalten mein Mann und ich auch Seminare speziell für Nachkriegskinder. Hier ist die Sicht auf die Generation der Kriegserwachsenen realistischer. Darüber hinaus ist das Wissen über historische Fakten und auch über die Bedingungen und Vorgänge des Alltags in der NS-Zeit sehr viel größer als bei den Kriegsenkeln.