Titelbild
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Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

ISBN 978-3-492-97089-1

November 2016

© für diese Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München / Berlin,

2015

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2015

Covergestaltung: Cornelia Niere, München

Covermotiv: Andy & Michelle Kerry / Trevillion Images

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

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Studieren Sie intensiv, was Sie am meisten interessiert,
und vertiefen Sie sich so undiszipliniert, hemmungslos
und ausgefallen in den Stoff wie nur möglich!

Richard P. Feynman, Physiker und
Nobelpreisträger aus den USA

Freitag, 8. September 2000

11:15 Uhr
Cleveland Clinic, Cleveland, Ohio

Hätte der Mann mit den traurigen Augen Sara Zuckerman ein Jahr und drei Tage später aufgesucht, vielleicht hätte sie ihm geholfen. Sie hätte sich die Fotografie, die er vor sie auf den massiven Schreibtisch aus dunkler Eiche legte, vermutlich genauer angesehen. Nun aber betrachtete sie das Bild nur flüchtig, schob es dann weg und schüttelte den Kopf.

»Den habe ich noch nie gesehen.«

Ein entwaffnendes Lächeln. Mit der rechten Hand schob sie ihre Haare hinters Ohr, ehe sie die Lüge besiegelte: »Noch nie im Leben.«

»Sicher?«

Der Mann ließ ihren Blick nicht los. Seine vermutlich blauen Augen wirkten in der scharfen Sonne schmutzig grau. Sie waren groß, auch mit zusammengekniffenen Lidern, und die Augenwinkel zogen sich in einem Ausdruck ewiger Tristesse nach unten. Sara nahm an, ein Mann in seiner Position habe allen Grund, niedergeschlagen zu sein. Der Mund war groß unter einem sorgfältig gestutzten kräftigen Schnurrbart.

Sara Zuckerman war nach kurzer Zeit klar gewesen, woher er kam. Ihr wurde oft vorgeworfen, von allen das Schlechteste anzunehmen. Auch diesmal war sie sich schnell sicher, ohne dass sie hätte sagen können, weshalb. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, um seinen Ausweis zu bitten. In der Branche, in der dieser Mann arbeitete, wurde man mit Papieren ausgestattet, die so falsch wie meisterlich hergestellt waren. Als er ihr dennoch eine Dienstmarke des US. Marshals Service hinhielt, schüttelte sie den Kopf.

»Was soll dieser ... was haben Sie gesagt, wie heißt er?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber was soll er denn angestellt haben?«, fragte sie beiläufig und schob das Foto noch ein Stück weiter von sich weg.

»Darüber darf ich nichts sagen.«

»Nein. Das dürfen Sie wohl nicht.«

»Wir wissen aus zuverlässiger Quelle, dass er hier gewesen ist.«

»Das ist natürlich möglich. Die Cleveland Clinic ist ein großes Krankenhaus. Bei mir war er allerdings nicht.«

»Dann erlauben Sie vielleicht, dass ich mich ein wenig umhöre? Bei den anderen Ärzten auf der Station, bei den Krankenschwestern, bei ...«

»Nein.«

»Nicht?«

Der Mann, der sich als Charles Gerstner vorgestellt hatte, hob die Augenbrauen und ließ sich im Sessel zurücksinken. Sara Zuckerman nahm die Andeutung eines Lächelns wahr, als er hinzufügte: »Eine Spur unpatriotisch, was? Es geht immerhin um ...«

»Sie sind so wenig US. Marshal, wie ich die Ministerpräsidentin von Israel bin«, fiel sie ihm ins Wort. »Und es ist auch kein Zufall, dass Sie gerade zu mir kommen.«

Sie glaubte, ihn schlucken zu hören.

»Ich mag Sie nicht«, sagte sie eilig. »Ich mag Ihre Arbeitsweise nicht. Ihre und die Ihrer Organisation. Ich mag auch die Politik nicht, die Ihr Land führt, wo ich schon mal beim Thema bin. Und es provoziert mich, dass Sie davon ausgingen, ich wäre so leicht an der Nase herumzuführen.«

Sein Blick glitt zu dem goldenen Davidstern hinunter, der über dem obersten Knopf ihres weißen Kittels gerade noch zu sehen war.

»Der macht mich auch nicht pflegeleichter«, sagte Sara Zuckerman mit scharfer Stimme.

»Offenbar nicht.«

»Bei Ihrer Organisation sind Sie möglicherweise an größeres ... Entgegenkommen von anderen Juden gewöhnt. Als Ärztin habe ich jedoch nur meinen Patienten gegenüber Verpflichtungen.«

»Er war also Ihr Patient?«

»Nein.«

Die Lüge kam um eine Zehntelsekunde zu spät. Sie war aus der Übung; Lügen fielen ihr in der Regel leicht. Verärgert strich sie mit der Hand über die Tischplatte, um sich wieder zu fassen.

»Ziemlich unpatriotisch«, wiederholte der Mann, »dass Sie mir nicht helfen wollen. Unamerikanisch, würde ich sagen.«

Sara schaute auf. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben. Seine Augen waren wirklich blau, seltsam eisblau unter den pfefferschwarzen Haaren.

»Aber ich bin ja auch Norwegerin. Ursprünglich.«

Er zuckte nicht mit der Wimper.

Sie fügte hinzu: »Und ich bin alt genug, um mich an die Sache in Lillehammer zu erinnern, 1973. Ich war noch ein Kind, aber dieser Wahnsinn hat meinen Eltern arg zu schaffen gemacht. Kinder merken sich solche Dinge. Empörte, verzweifelte Eltern. Wissen Sie noch?«

Weiterhin keine Reaktion.

»Ein ganzes Team«, sagt sie, jetzt lauter, während sie den rechten Zeigefinger auf ihn richtete. »Ein ganzes verdammtes Team aus Mossad-Agenten auf norwegischem Boden. Mit Decknamen und falschen Papieren ...«

Der Finger zeigte auf die Brusttasche, in der seine U. S.-Marshal-Dienstmarke steckte.

»... mit Waffen, konspirativen Wohnungen und Fluchtfahrzeugen. Alles, um einen marokkanischen Kellner umzubringen, der absurderweise hinter dem Münchner Massaker stecken sollte. Einen redlichen Kellner. Mit norwegischer Frau und Kind. Ein Neger in Lillehammer, als es noch ›Neger‹ hieß und sogar Araber als solche galten.«

Charles Gerstner saß noch immer bewegungslos da. »Ich kenne diese Geschichte leider nicht«, sagte er schließlich. »Das war 73, haben Sie gesagt? Da habe ich in Boston gelebt. Harvard. Ich war dreiundzwanzig und habe mich vor allem für Mädchen, Eishockey und das nächste Fest interessiert.«

Sara deutete ein Lächeln an. »Love Story.«

»Was?«

»Der Film. Boston. Die Zeit.«

Keine Reaktion. Sara lächelte weiter. Die Lüge des Mannes war jetzt so offenkundig, dass sie stutzte. Das Buch Love Story war 1970 auf den Markt gekommen, der Film wurde für sieben Oscars nominiert und bekam einen. Fünf Golden Globes. Und es ging um unsterbliche Liebe und Eishockey. Und um Harvard.

»Ich höre keinen Bostoner Akzent?«

»Nein. Ich bin aufgewachsen ...«

Er zuckte kurz mit den Schultern. »... hier und da. Überall und nirgends.«

»Ein US. Marshal, der in Harvard studiert hat«, sagte sie. »Beeindruckend.«

Er gab keine Antwort. Sara dehnte das Schweigen bewusst aus. Sie wollte ihn noch einmal sprechen hören, jetzt, wo sie auf den winzigen Beiklang von angelerntem US-Akzent in seiner Stimme aufmerksam geworden war. Er hätte, wie sie, leicht als Amerikaner durchgehen können. Im Alltag. Seine Aussprache war akzentfrei und fast perfekt. Aber nur fast.

»Wir haben nichts mehr zu besprechen«, sagte Sara endlich. »Ich habe das Gefühl, dass es denen, auf die Sie auf diese Weise Jagd machen, übel ergeht, egal, was sie getan oder nicht getan haben. Mir wäre es lieb, wenn Sie jetzt gingen. Sofort. Ich weiß ja nicht, ob ... ob unsere Jungs wissen, dass Sie hier sind. Ihr steht ja wohl auf ziemlich gutem Fuß. Aber darauf können Sie sich verlassen: Ich werde die zuständigen Stellen informieren, wenn Sie auch nur einer der Schwestern hier auf der Station zuzwinkern. Das könnte dann zu Verwicklungen führen. Praktischen. Diplomatischen.«

Sie wurde nicht einmal lauter. Die Augen des Mannes wurden noch ein wenig trauriger.

Mit einer groben Faust zog er das Foto zu sich heran und steckte es in seine innere Jackentasche.

»Sie irren sich.«

»Sicher. Aber diesen Burschen habe ich jedenfalls nie gesehen.«

»Natürlich nicht.«

Charles Gerstner erhob sich langsam, mit einer Grimasse, als hätte er Schmerzen. Stumm ging er auf die Tür zu. Er hinkte, wie Sara Zuckerman jetzt bemerkte, er zog den linken Fuß ein bisschen nach. »Sie machen einen Fehler«, sagte er, ohne sich umzudrehen.

»Nein.«

Sein Rücken war breit und knochig. Von hinten wirkte er untersetzter, älter.

»Wir wollen ihn nicht festnehmen. Ich suche, ich fahnde nicht.«

Er versuchte offenbar, sein schmerzendes Bein zu entlasten, als er sich zu ihr umdrehte. »Warum tragen Sie den Davidstern?«

»Weil es mir richtig vorkommt.«

»Richtig?«

Er schüttelte kurz den Kopf und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Thanks for your time.«

Die Tür glitt langsam hinter ihm zu.

»Freitag, der 8. September 2000«, sagte Sara mechanisch und öffnete eine schmale Schreibtischschublade. Sie legte den Zeigefinger auf ein Tonbandgerät, das kleinste, das sie hatte auftreiben können. Es stieß ein fast unhörbares Klicken aus und war dann tot.

In New York City, fast siebenhundert Kilometer östlich von Cleveland, wo Sara Zuckerman beschloss, eine frühe Mittagspause einzulegen, kratzten die Zwillingstürme noch immer am Himmel über Manhattan. Die Muslime waren noch nicht zu den bad guys des Abendlandes geworden.

Ein Jahr später würde die Welt anders aussehen.

Wäre der falsche U. S. Marshal ein Jahr und drei Tage später aufgetaucht, hätte Sara Zuckerman sich vermutlich entgegenkommender verhalten. Hätte er noch eine Weile gewartet, bis die Konspirationstheoretiker ihre Geschichten über die Rolle der Juden im schlimmsten Terrorangriff aller Zeiten verbreitet hätten, wäre sie möglicherweise sogar bereit gewesen, Charles Gerstner zu helfen.

Aber er kam zu früh. Sara war noch nicht bereit, Außenstehenden Auskünfte über ihre Patienten zu erteilen. Schon gar nicht Besuchern, die nicht einmal offen sagen konnten, wer sie waren.

Der Mann auf dem Foto, das Charles Gerstner ihr gezeigt hatte, war zwei Wochen zuvor in elendem Zustand in die Notaufnahme gebracht worden. Er litt unter starken Brustschmerzen, und ihm wurden noch am selben Tag zwei Stents in ein Herzkranzgefäß eingesetzt. Der Patient hatte sich als Shane Holmes vorgestellt, ein Name, der in Anbetracht des Aussehens und des starken Akzents des Mannes noch offenkundiger falsch war als Charles Gerstners. Für Sara Zuckerman spielte das kaum eine Rolle. Es war auch nicht weiter wichtig, dass Shane Holmes keine Papiere vorweisen konnte. Ein Patient von Mitte vierzig brauchte sofort Hilfe, und die bekam er. Als der Mann anderthalb Tage nach dem Eingriff in aller Stille verschwand, stand neben dem Bett ein Koffer voller Bargeld. Ein Träger glaubte, einen Besucher im selben Alter gesehen zu haben, ansonsten wusste niemand, wohin Shane Holmes verschwunden war.

Es interessierte Sara Zuckerman auch nicht. Sie hatte sich zunächst wegen des Verschwindens Sorgen gemacht. Der Patient brauchte Pflege, Ruhe und Medikamente. Andererseits stand er offenbar nicht allein. Der Freund, der ihn ins Krankenhaus gebracht und der die Behandlung auf eher unorthodoxe Weise beendet hatte, würde sich vermutlich um Shane Holmes kümmern. Es gab andere Ärzte, andere Orte, andere Krankenhäuser, und Shane Holmes war nicht Sara Zuckermans erster Patient aus dem Schattenland.

Ihr Magen knurrte. Sie stand auf und ging zur Tür, wo ein schwacher Duft nach Rasierwasser noch an den Israeli erinnerte. Der Besuch hatte sie beunruhigt, auch wenn sie kaum hätte sagen können, warum. Sara Zuckerman wusste, dass die jüngeren Ärzte ein hübsches Bündel Spitznamen für sie hatten. Der schmeichelhafteste war angeblich The Dragon. Sara waren Konflikte nicht fremd, weder nach oben im System noch nach unten. Zweimal war sie vor Gericht gelandet, nachdem sie eine Spur zu weit gegangen war. Sara hatte in beiden Fällen gesiegt, ohne auf dem Weg zum Sieg auch nur eine Sekunde Schlaf einzubüßen. Solange sie eine von äußerst wenigen Oberärzten war, die in ihrer ganzen Karriere noch keine einzige Klage von Patienten erhalten hatten, trug sie den Kopf hoch und ließ Konflikte und Kritik gleichermaßen an sich abprallen.

»Vergiss ihn«, ermahnte sie sich und machte sich auf den Weg zur Cafeteria. »Und das ist ein Befehl!«

Montag, 3. März 2003

15:50 Uhr
Avenue Road, London, Großbritannien

Insgeheim liebte Gabrielle Conrad ihren zwölf Wochen alten Sohn mehr als die drei älteren Schwestern des Jungen. Wenn sie nicht so glücklich darüber gewesen wäre, endlich einen Jungen zur Welt gebracht zu haben, wäre der Säugling nicht lebensgefährlich verletzt worden. Najib Aysha sorgte nämlich gut für seine Enkelkinder. Seine eigenen Kinder waren schon fast erwachsen, als die beiden Häuser in der Avenue Road gekauft und zu einem umgebaut wurden, aber da er einen Sohn und vier Töchter hatte, hoffte er auf eine ganze Heerschar von Nachkommen. In einem von vier Kinderzimmern im zweiten Stock stand eine königlich ausgestattete Wiege. Dort hatte der kleine Caspar gelegen, in tiefem Schlaf, ehe die Katastrophe über die Familie hereingebrochen war. Und ohne den eitlen Stolz der Mutter auf ihren ersten Sohn hätte er vermutlich alles verschlafen.

Aber es sollten Fotos gemacht werden.

Fotos für Najib Ayshas persönliche Website, von ihm selbst, von seiner Frau und den Enkelkindern. Der Fotograf war bekannt, einer der besten, die sich auftreiben ließen, und Gabrielle wollte auch Caspar dabeihaben. Der Junge sollte in den Armen seiner Großmutter liegen, eingehüllt in eine hellblaue Babydecke mit Stickereien, das Blau zeigte sich auch in den Kleidern, in denen seine Schwestern herumtobten. Der Fotograf stand wie eine Sphinx mitten im Zimmer, die Arme verschränkt und den Rücken zur Tür des riesigen Wohnzimmers gekehrt. Wenn er sich verspätet hätte, wie er es auf seine arrogante Weise bei seinen meisten Terminen hielt, wäre er am Leben geblieben. Der zweiundzwanzig Jahre alte Kofi Nkrumah aus Ghana, ein Mann, dessen Anwesenheit dem bekannten Fotografen unbegreiflich war, hätte vermutlich ebenfalls überlebt, wenn nicht einer der Eindringlinge die Beherrschung verloren hätte.

Es ging ihnen um die Gemälde.

Von Najib Ayshas vier großen Leidenschaften – Aysha war ein solide gebauter Mann mit Platz für viel Leidenschaft hinter dem breiten Brustkasten – war die Malerei die zweitgrößte. Unter Fachleuten wurde immer wieder diskutiert, wie wichtig seine Sammlung war. Da er sich nur ungern darüber äußerte, was er besaß, und da er häufiger über Strohmänner kaufte, statt in eigener Person auf Auktionen zu erscheinen, war das schwer zu sagen. Die meisten stimmten jedoch darin überein, dass Najib Aysha zu den zehn bedeutendsten privaten Sammlern der Welt gehörte. Und dabei ging man nur von den Kunstwerken aus, die sich mit Sicherheit in seinem Besitz befanden.

Wie die drei Gemälde in einer fast unsichtbaren Glasvitrine in Ayshas Wohnzimmer. Das eine, Vincent van Goghs »Porträt des Dr. Gachet«, hatte er vier Jahre zuvor von einem Japaner gekauft. Das zweite war das fünfte Bild aus Paul Cézannes Kartenspielerserie.

Links vom »Porträt des Dr. Gachet« hing das Bild, das Najib Aysha ganz besonders liebte. Erst vor drei Monaten hatte es das Certificate of Authenticity erhalten. Das Bild war um die Mitte der Neunzigerjahre in Frankreich aufgetaucht, angeblich auf dem Dachboden eines alten Freudenhauses, hinter einer Bretterwand, die eine versteckte Nische gebildet hatte, trocken und unbesucht, seit über hundert Jahren. Es war ein Nachthimmelbild von Vincent van Gogh, gemalt in der Zeit, als der Künstler in der Anstalt von Saint-Rémy-de-Provence geweilt hatte. Es erinnerte stark an die berühmte »Sternennacht«, die sich seit 1941 im Besitz des Museum of Modern Art in New York befand. Das Bild hatte außerdem klare Ähnlichkeit mit »Sternennacht über der Rhone«, aber die Blautöne waren noch dunkler, die Sterne noch intensiver. Anders als seine beiden Schwesterbilder fand das neu aufgetauchte Bild in der Korrespondenz zwischen dem Künstler und seinem Bruder keine Erwähnung, sodass es lange Zeit nicht als echt anerkannt worden war. Najib Aysha jedoch hatte sofort das begriffen, wofür die Fachleute fast fünf Jahre brauchen würden, hatte es gekauft und »Namenloser Himmel« getauft.

Es war sein liebster Besitz.

Und der wertvollste.

Die drei Bilder waren nicht groß. Der rechteckige flache Glaskasten, der alle drei bedeckte, war an jeder Ecke zum Schutz gegen Missgeschicke aller Art mit schlichten Bolzen an der Wand befestigt. Zum Schutz vor Staub. Kinderfingern. Zudringlichen Gästen am späteren Abend. Aber nicht vor Dieben. Das Haus selbst war eine Festung. Gerüchte wollten wissen, dass Najib Aysha zehn Prozent eines schwindelerregenden Baubudgets für Sicherheitsvorkehrungen ausgegeben hatte, als er die beiden benachbarten Grundstücke erworben und sein Haus erbaut hatte.

Dennoch standen sie plötzlich da, die drei maskierten und bewaffneten Männer, in der bogenförmigen Öffnung zwischen den Räumen, und einer befahl allen mit lauter Stimme, sich ruhig zu verhalten. Die großen Schwestern des kleinen Caspar schrien hysterisch und rannten zu ihrer Mutter, die mit dem Säugling auf den Armen dastand. Die vier Kusinen der Kinder, alle noch keine fünf Jahre alt, rannten Zuflucht suchend zwischen Großvater, Tante und Großmutter hin und her. Einzig der Fotograf harrte in stoischer Ruhe aus. Während seine Assistentin sich hinter einen japanischen Wandschirm aus papierdünnem Holz flüchtete, hob der Fotograf langsam und vorsichtig die Arme, ohne sich umzusehen.

Vielleicht ging deshalb alles schief.

So, wie er dort stand, breitschultrig, groß, eine Spur übergewichtig, versperrte er den Eindringlingen den Blick auf die Sofagruppe, auf der Najib Ayshas Frau sich offenbar soeben hatte niederlassen wollen. Einige Sekunden lang konnten die Männer sie nicht sehen. Und sie hatten keine Ahnung von der Pistole in ihrer Handtasche, der Glock in der blassgelben Louis-Vuitton-Tasche, ohne die sie nie auch nur zwei Meter ging, nicht einmal im Haus.

Später sollte sie erzählen, dass sie auf den hintersten Eindringling gezielt habe. Reflexartig habe sie nach der Pistole gegriffen und dann einen Schritt zur Seite gemacht, um die Eindringlinge sehen zu können. Nur der Letzte der drei stand in ihrer Schusslinie. Sie feuerte. Sie hatte sich zwar den Gebrauch der Waffe beim Kauf vor drei Jahren erklären lassen, aber eine gute Schützin war sie keinesfalls. Sie konnte die Pistole entsichern und hatte vom Verkäufer auf einem Schießplatz eine Einführung in die Benutzung der Waffe erhalten. Seither hatte die Glock unberührt in der Tasche gelegen, abgesehen von den wenigen Malen, wenn Joumana Aysha mit einem Linienflug unterwegs war und eine Sicherheitskontrolle passieren musste. Die Waffe war immer geladen, ein Stück Geborgenheit nach einem unangenehmen Erlebnis eines Abends, als sie allein im Park spazieren gegangen war.

Joumana Aysha hatte auf einen Eindringling gezielt, der fünfzehn Meter entfernt stand, noch immer halb verborgen hinter dem Fotografen.

Und sie hatte getroffen wie eine Scharfschützin.

Der Mann griff sich an den Hals und war tot.

»Ganz ruhig bleiben!«, schrie der Anführer noch einmal und schoss dem Fotografen in den Rücken.

Auch das mochte ein Reflex gewesen sein. Vielleicht auch die Verblüffung über diese nicht mehr junge und wild schießende Frau. Auf jeden Fall wirkte der Eindringling überrascht, als der kräftige Promifotograf nach vorn kippte, ohne den Sturz mit den Händen abzufangen. Der Eindringling griff sich mit der Hand an den Kopf und ging zwei Schritte auf die Leiche zu.

»Setzen, allesamt. Sofort. Setzen!«

Es war Najib Aysha, der das gebrüllt hatte.

Die Kinder kamen aus allen Ecken des Zimmers auf das riesige tiefrote Sofa zugerannt. Dort kletterten sie zu ihrer Oma hoch, die nun auch saß, aber noch immer die Pistole in der rechten Hand hielt.

»Leg die weg!«, befahl ihr Mann. »Sofort. Auf den Tisch!«

Sie zögerte.

»Leg die weg«, wiederholte der größte der maskierten Männer. »Hör auf ihn. Wir wollten doch nur ...«

Es sollte viel Zeit vergehen, ehe Joumana überhaupt zu einer Aussage in der Lage wäre. Als es dann so weit war, mehrere Tage später und unter Einfluss starker beruhigender Medikamente, konnte sie keine zusammenhängende Geschichte erzählen. Schuss Nummer zwei, der ironischerweise den heiß ersehnten Enkel traf und ihn für das Leben lähmte, war aus ihrer Erinnerung verschwunden. Joumana wollte auch nichts über Kugel Nummer drei hören, die einfach in die Luft abgegeben worden war, schräg zum Fenster hinüber, ohne Sinn und Ziel, und die dann Kofi Nkrumah in der rechten Schläfe getroffen hatte.

Najib schickte sie, die verängstigten Kinder und seine Tochter in ein angrenzendes, etwas kleineres Zimmer. Dort saßen sie in einer Kakofonie aus Schreien und panischem Weinen, während die überlebenden Eindringlinge drei Gemälde an sich rissen und verschwanden.

Zwei Bilder wurden einfach von der Wand genommen.

Bei dem hektischen Versuch, den Schutzschirm zu lösen, zerbrach das angeblich unzerbrechliche Glas. Die »Kartenspieler«, das einzige an der Wand befestigte Bild, das deshalb nicht mit dem Rahmen entfernt werden konnte, wurde in der Mitte durchgerissen. Ob es die Frustration darüber war, nur zwei Drittel der geplanten Beute mitnehmen zu können, wusste später natürlich niemand. Aber der eine Eindringling machte sich seltsamerweise die Mühe, den Rest der Leinwand mit einem Messer zu zerschneiden. Nur traurige kleine Fetzen hingen noch aus dem Rahmen, als die Diebe verschwanden.

Um niemals gefasst zu werden.

Der Eindringling, der tot auf dem Boden lag, erwies sich als staatenloser Palästinenser aus Jericho, der sich sein ganzes Erwachsenenleben hindurch als Schwindler und Dieb in aller Welt herumgetrieben hatte. Eigentlich hieß er Ahmed Farez, und sein Leben wurde bis ins geringste Detail in den Massenmedien breitgetreten.

»Namenloser Himmel«, »Porträt des Dr. Gachet« und die Reste der übel misshandelten »Kartenspieler« waren ebenso spurlos verschwunden wie die beiden überlebenden Diebe. Als sich Najib Aysha mehr als fünf Wochen nach dem Vorfall zum ersten Mal vom Fernsehen interviewen ließ, nicht ohne die Fragenliste sorgfältig durchgegangen zu sein, wurde er gegen Ende des Gesprächs gegen jegliche Abmachung gefragt, wie hoch die Versicherungssumme sei, die er erhalten werde. Nicht nur für die berühmten Gemälde, fügte der Interviewer hinzu, der Fußballspieler Kofi Nkrumah war erst zwei Wochen vor seinem Tod von kaufbereiten Clubs in Europa auf 35 Millionen Pfund geschätzt worden. Wie viel davon werde Najib Aysha als Eigentümer des Premier-League-Vereins Notting Hill FC zufallen?

Eine peinlich lange Pause, während die Kamera Najib Ayshas Gesicht in Großaufnahme zeigte.

»Ich hätte fast meinen neugeborenen Enkel verloren«, sagte er endlich, presste sich die Faust auf den Mund und schluckte. »Er wird in seinem ganzen Leben nicht laufen können. Mein enger Freund und Protegé Kofi ist tot. Meine Familie wurde terrorisiert und traumatisiert. Meine Frau. Meine Tochter. Meine Enkelkinder. In meinem eigenen Heim. Ihre Frage nach dem Geld ist beleidigend, unbegreiflich und geradezu bösartig.«

»Entschuldigen Sie«, sagte der Interviewer und blickte in seine Unterlagen. »Ich wollte wirklich nicht ...«

»Geld«, unterbrach ihn Najib Aysha und beugte sich im Sessel vor, ehe er abermals eine Pause einlegte und dann hinzufügte: »Geld ist ein Mittel. Kein Ziel. Meine Kunstwerke sind für mich kein Geld. Sie sollen genossen werden. Gesehen. Drei unersetzliche Kunstwerke zu stehlen, das ist ein Verbrechen. Gegen die Kunst. Gegen die Menschheit.«

Der Interviewer, ein magerer kahlköpfiger Mann in einem dunklen Anzug, öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

»Deshalb habe ich mich entschlossen, zwei meiner übrigen Bilder als Dauerleihgabe der Tate Britain zu überlassen«, sagte Najib Aysha unangefochten. »Im Namen meines verletzten Enkels. Zu seinen Ehren. Einen van Gogh und einen Cézanne. Das Museum zeigt schon seit Langem Interesse. Im Learning Room des Museums, in einem eigenen Schaukasten, werden Kopien der gestohlenen Gemälde zusammen mit einer Tafel zu sehen sein, die ihre Geschichte erzählt. Als Erinnerung an die Unverletzlichkeit der Schönheit. Um uns daran zu erinnern, was Bosheit ist.«

»Wir reden hier über Gemälde«, konnte der Interviewer einwerfen. »Das sind trotz allem leblose ...«

»Dann wären wir fertig«, erklärte Najib Aysha.

Er erhob sich, löste das Mikrofon von seinem Revers und verließ das Studio mit einem Schweif aus dunkel gekleideten Leibwächtern. Es sollte mehr als vier Jahre dauern, bis der Finanzmagnat einen Journalisten näher als hundert Meter an sich herankommen ließ.

Samstag, 25. Mai 2013

21:38 Uhr
Wembley-Stadion, London

Der Lärm überwältigte sie. Die fast neunzigtausend Menschen machten einen Krach, wie sie es noch nie erlebt hatte, oder vielleicht war es nur die Hälfte der neunzigtausend, die den Sieg feierte. Fünfundvierzigtausend jubelnde Menschen. Irgendwer hatte verloren, und sie glaubte, dass es sich um Borussia Dortmund handelte. Sara Zuckerman sah, dass die Fans mit den scheußlicheren Trikots weinten. Erwachsene Männer in Gelb. Sie verbargen die Gesichter in ihren gelben Schals, während sie sich wie nach einer furchtbaren Todesnachricht hin und her wiegten.

Wie nach einer Katastrophe.

Gegen Ende des Spiels war alles so schnell gegangen. Ein Tor, als sie eigentlich schon aufbrechen wollte, endlich. Die Horden von rot gekleideten Fans hoben die Arme zum Abendhimmel und schrien, sie warfen Mützen und Fahnen ins Licht der riesigen Scheinwerfer und riefen einen Namen. Sie konnte nicht hören, welchen.

»In der neunundachtzigsten Minute«, schrie Johannes Funkel ihr ins Ohr, als sie seinen Arm packte, um nicht umgeworfen zu werden. »Arjen Robben. Was für ein Spieler! Was für ein Spiel! War das nicht fantastisch?«

»Doch, schon«, sagte sie so leise, dass niemand es hören konnte.

Es war grauenhaft gewesen.

Als Johannes Funkel sie eine Stunde vor dem Spiel in die VIP-Lounge des Wembley geführt hatte, hatte sie sich noch gut unterhalten. Die Herren im Anzug mit ihren ergrauenden Haaren und der Andeutung von Bauch unter dem teuren Gürtel drängten sich um die Häppchen und plauderten mit Kopien ihrer selbst. Sie hätten auch Teilnehmer eines Kongresses zum Thema Herz- und Gefäßkrankheiten sein können, wenn nicht die klapperdürren, viel jüngeren Frauen gewesen wären, deren einziges Talent es zu sein schien, auf Absätzen zu balancieren, die so hoch waren wie die Champagnerkelche, an die sie sich klammerten. Der Lärm aus dem Stadion wurde von riesigen Aussichtsfenstern und weichen Teppichen zu einem fernen Rauschen reduziert. Alle kannten Johannes. Er strahlte, stellte sie vor und hielt Saras linken Ellbogen in einem leichten Griff.

Als sie die Lounge verließen, wurde Sara klar, was für einen Fehler sie gemacht hatte.

Vor zehn Monaten hatte sie Johannes Funkel kennengelernt, hatte aber immer eine Ausrede gefunden, um kein Fußballspiel zu besuchen. Es ergab sich sozusagen nie. Nach einem halben Jahr mit immer fantasievolleren Gründen, warum sie kein Spiel von Notting Hill sehen könne, begriff Johannes endlich, was er längst hätte wissen können, wenn er nicht so verliebt gewesen wäre. Sara Zuckerman konnte Fußball nicht ausstehen. Sie mochte überhaupt keinen Sport. Sie trainierte viermal die Woche, aber nur aus Pflichtgefühl ihrer Gesundheit gegenüber. Zweimal eine Stunde Spinning. Sie hasste jeden Tritt in die Pedale. Bei den Aerobics zählte sie die Sekunden, im wahrsten Sinne des Wortes, von 3600 rückwärts. Sie war inzwischen ungeheuer temposicher. »Null«, stöhnte sie leise, ehe der Trainer diese Runde für beendet erklärte und Sara in ihrer schweißnassen Trainingskleidung nach Hause fahren konnte, um diese Tortur so schnell wie möglich zu vergessen.

Von allen Sportarten war Fußball sicher die schlimmste.

Sie begriff die Regeln nicht. Johannes hatte versucht, ihr den Unterschied zwischen erlaubten und unerlaubten Angriffen zu erklären, aber sie hatte nur verstanden, dass Fußball ein gewalttätiger Sport war. An der Trainertafel hatte er ihr enthusiastisch zehn unterschiedliche Abseits-situationen vorgeführt. Sara wusste weiterhin nur, dass man sich auf dem Platz nicht zu weit nach vorn wagen durfte.

Sara hasste Uniformierung und schreiende Menschenmengen und wollte sich in nichts hineinziehen lassen, was ihr als Sippenkult erschien, so energisch, dass sie diesen Widerstand für angeboren hielt. Einen genetischen Protest dagegen, was ihrem Volk im Laufe der Jahrhunderte angetan worden war, so hatte sie es schließlich erklärt. Johannes hatte angefangen, fähige jüdische Fußballspieler aufzuzählen, die Liste war aber kurz und stockend gewesen.

Diesmal war sie nicht entkommen. Johannes Funkel war fünfzehn Jahre lang bei der Bundesliga Trainer gewesen, ehe er sich von der Premier League, dem Notting Hill FC und Najib Ayshas schwindelerregenden Ambitionen hatte locken lassen. Bei zwei deutschen Mannschaften im Endspiel und so vielen Einladungen zu VIP-Plätzen und Bewirtung in der Wembley-Suite, dass er seine ganze Verwandtschaft hätte mitnehmen können, hatte Sara keine Chance gehabt.

Und jetzt herrschte Chaos.

»Komm!«

Johannes packte ihre Hand und zog sie hinter sich her. Ein Mann vom Wachpersonal wartete beim ersten Sitz in der Reihe auf sie. Er nickte kurz und setzte sich in Bewegung. Johannes folgte ihm, noch immer mit festem Griff um Saras rechte Hand. Sie musste hinter ihm herlaufen, vorbei an den Tribünensitzen, Treppen hinunter, durch Gänge und wieder hinaus ins Freie. Er ließ ihre Hand nicht los, sagte nichts, lief so schnell, dass sie am Ende versuchte, sich loszureißen.

»Hier«, sagte er und blieb abrupt stehen, während der Wächter an seine Mütze tippte und in der Menschenmenge verschwand. »Das ist der heilige Rasen von Wembley. Jetzt kannst du die Jungs begrüßen.«

Auch hier herrschte Chaos. Auf dem Spielfeld jubelten die rot gekleideten Spieler, sie umarmten einander und posierten für die Kameras, während die Borussen sich auf den Rasen sinken ließen und die Gesichter auf die Knie pressten, ehe sie sich wieder aufrappelten und auf die gelbe Kurve zutrotteten, weg von den Siegern, um den Fans zu danken. Alle gingen mit gesenktem Kopf, nur einer nicht.

Er stand vielleicht fünfzehn Meter von ihr entfernt. Dunkle Haare, das Trikot klebte ihm am Leib. Es war etwas an der Art, wie er fiel. Nicht so, wie die anderen nach der Niederlage in sich zusammengesunken waren, langsam, fast theatralisch, als hätte alles Gute im Leben ein Ende. Dieser Mann stürzte. Ohne sich mit den Händen abzufangen. Fast neunzigtausend Augenpaare waren auf die Spieler der Siegermannschaft gerichtet, die Menschen hörten den Jubel, sie brüllten, und nur Sara sah Nr. 17 stürzen.

Als sie sich sechs Sekunden später den Mantel vom Leib gerissen hatte, den leblosen Körper auf den Rücken drehte und die Finger an seinen Hals legte, schrie sie: »Medic! Medic here! Sechs, sieben, acht, neun ...«

»Was ist passiert? Was ist ...«

Es war Johannes. Sie schaute nicht auf.

»... achtzehn, neunzehn, zwanzig ...«

Die Kompressionen würden ihm wohl zwei Rippen brechen, wenn sie von dem Schmerz in ihren Handgelenken ausging.

»Weg da«, schrie jemand, sie wurde zur Seite geschoben.

»... dreißig«, flüsterte Sara, holte tief Luft und presste ihren Mund auf den des Leblosen.

Seine Lippen schmeckten nach Salz.

Neben ihr krachte ein vertraut aussehender Koffer zu Boden. Er wurde von einem hochgewachsenen bärtigen Mann geöffnet.

»Weg da«, sagte der Mann. »Wir müssen den Defibrillator anwenden.«

»Lasst sie das machen«, hörte sie Johannes rufen. »Sie kennt sich damit aus! Nicht ...«

Hinter ihr kam es zu einem Handgemenge. Von allen Seiten eilten Leute herbei. Jemand versuchte, die Menschen zurückzudrängen, Sara lag auf den Knien und merkte erst jetzt, dass sie ihre Schuhe verloren hatte. Sie schob das Hemd von Nr. 17 bis zum Hals hoch. Ehe der Bärtige protestieren konnte, riss sie den Herzstarter an sich und platzierte die eine Elektrode mitten auf dem Brustbein, die andere schräg unter der linken Achselhöhle.

»Flimmern«, flüsterte sie, als sie das EKG-Signal sah. »Verdammt ...«

Ein Mann in gelbem Overall versuchte, den Spieler zu intubieren.

»Nicht!«, fauchte Sara und schlug seinen Arm weg, ehe sie sich eine Kanüle mit einer groben Nadel aus einem der vielen Medizinkoffer schnappte, die jetzt wie Abfall um sie herum verstreut waren. »Scheißt auf die Heilmittel. Zweihundert Joule!«

Das war ein Befehl. Der Bärtige gehorchte.

Keine Veränderung in der Kurve auf dem Bildschirm.

»Dreihundertsechzig Joule!«

Noch ein Stoß.

»Ventrikeltachykardie«, stöhnte der Mann neben ihr.

Sara holte Luft. »Geben Sie mir Cordarone«, sagte sie und bohrte dem Spieler resolut die Kanüle in die rechte Halsseite.

Dunkles Blut. Sie hatte die Vene beim ersten Versuch getroffen.

»Hier.«

Jemand reichte ihr eine Ampulle mit Adrenalin.

»Ich habe Cordarone gesagt«, rief sie. »Adrenalin ist nur ein Scheißaberglaube. Cordarone! Schnell!«

Der Bärtige war zu einem Helfer geworden. Mit geübten Händen brach er die Spitze von einer Ampulle, zog den Inhalt in eine leere Spritze und reichte sie Sara. Sara hatte bereits den rosa Korken von der Kanüle entfernt und injizierte dreihundert Milligramm Cordarone direkt in den Blutkreislauf des Spielers.

»Salzwasser.«

Der Helfer hielt die nächste Spritze bereit. Sara spülte die Kanüle gründlich aus, jedes Milligramm Cordarone sollte in die Blutbahn.

»Dreihundertsechzig Joule«, sagt sie und hob die Hände.

Noch ein Stoß.

Ein besorgtes Murmeln lief wie eine Welle um die Rasenfläche, aber es war, als sei ganz plötzlich auf einen gigantischen Knopf gedrückt worden. Das Handgemenge in Saras Nähe war ebenfalls zum Stillstand gekommen. Ärzte von beiden Mannschaften, Spieler und Funktionäre, die VIPs im Anzug, die sich auf das Spielfeld begeben hatten, um Bayern München zu huldigen, alle standen wie die Salzsäulen da und beobachteten Sara Zuckerman.

Sara und der bärtige Helfer starrten den Herzstarter an.

»Don’t you just love this picture?«, fragte sie ihn lächelnd und zeigte auf die Sinuskurve, ehe sie die rechte Hand unter die nassen Shorts des Spielers schob, bis ihre Finger den richtigen Punkt an seiner Leiste fanden.

»Puls. Jetzt können Sie weitermachen. Danke.«

Mit steifen Bewegungen versuchte sie, sich zu erheben. Ihr enges Kleid erschwerte es, aber ehe sie noch einen Versuch machen konnte, wurde sie von zwei Spielern in rotem Trikot auf die Beine gestellt.

»Geht es ihm jetzt besser?«

Johannes Funkel breitete die Arme aus und wollte sie an sich ziehen. Sie wich aus.

»Ich bin schmutzig«, sagte sie und schaute an sich hinunter. »Und ja, es geht ihm wohl besser. Weißt du, was aus meinen Schuhen geworden ist? Und aus meinem Mantel?«

Hinter ihr luden die Hilfsmannschaften den Spieler auf eine Trage. Johannes Funkel hielt ihr die Schuhe hin, überlegte es sich dann anders, sank auf dem Rasen auf ein Knie und schob die Schuhe vorsichtig auf ihre Füße. Das eng sitzende tiefrote Kleid war an der Seitennaht aufgerissen. An der rechten Hand hatte sie ein wenig Blut.

Spieler Nr. 17 konnte eine Hand zu einem schwachen Gruß heben, als er hinausgetragen wurde. Jubelgebrüll schlug ihm entgegen, und Sara legte Johannes den Mund ans Ohr. »Bring mich hier weg. Ich will nach Hause! Sofort!«

Er legte ihr den Arm um die Schultern und versuchte, auf die Spielerbänke zuzugehen. Es war unmöglich. Alle wollten grüßen, klatschen, loben und umarmen. Sara senkte den Kopf. Sie schob die linke Schulter vor und schmiegte sich enger an Johannes. »Bring mich weg.«

»Geht leider nicht«, sagte er und blieb stehen.

Ein Mann versperrte ihnen den Weg. Er war kräftig und groß gewachsen, seine Haare waren wie Borsten, kurz geschnitten und grau gesprenkelt. Er mochte um die sechzig sein, möglicherweise auch um die siebzig, dem dichten Netz aus Runzeln um die Augen nach zu urteilen. Aber seine Zähne waren weiß, als sich sein Mund zu einem so breiten Lächeln öffnete, dass Sara einfach zurücklächeln musste.

»Dr. Zuckerman, I presume.«

Sara nickte und nahm zögernd die ausgestreckte Hand des Mannes. Seine Haut war erstaunlich weich, und statt ihre Hand zu drücken, zog er sie an seine Lippen. Trotz Blut und Grasflecken.

»Ich bin Najib Aysha.«

Natürlich. Sara blinzelte verwirrt, ehe sie abermals lächelte und ihre Hand zurückzog. Sie hatte nicht nur in Zeitungen zahllose Fotos des unermesslich reichen Besitzers des Notting Hill FC gesehen, der Mann war zudem Johannes’ Arbeitgeber. Übrigens nicht nur der von Johannes; Saras alter Freund und Kollege Ola Farmen hatte sechs Monate zuvor das Angebot angenommen, nach London zu ziehen und für das medizinische Team von Notting Hill zu arbeiten. Das streng genommen kein Team war, sondern eine hypermoderne Klinik. Seinen E-Mails nach war Ola dankbar für Johannes’ Strippenzieherei, durch die Ola aus seiner Finanzkrise gerettet worden war, aber er fühlte sich dennoch nur halbwegs wohl als »Arzt für spieltüchtige Leute«, wie er geschrieben hatte.

Sara hätte den Mann erkennen müssen, aber Najib Aysha war eine Gestalt für drei Dimensionen. Sie begriff sofort, was Johannes gemeint hatte, wenn er immer wieder halb gereizt, halb bewundernd geklagt hatte, es sei unmöglich, Najib Aysha nach einer Diskussion, egal über welches Thema, nicht zuzustimmen. Wenn Johannes seinem leicht exzentrischen Chef hatte nachgeben müssen, verbreitete er sich über dessen irritierende Fähigkeit, einen Raum zu füllen, Begeisterung über seine Entscheidungen zu entfachen und selbst intelligenten, fachlich begründeten Widerstand wie kindischen Trotz wirken zu lassen.

»Diese Vorstellung«, begann Najib Aysha und beugte sich mit dem Oberkörper ein klein wenig vor, ohne seinen Blick von ihrem zu lösen.

Sara registrierte die haarfeinen Linien, die die Kontaktlinsen um seine dunkelbraune, fast schwarze Iris zeichneten.

»Das war ungeheuer beeindruckend und, wenn ich das sagen darf ... ziemlich sexy.«

»Ich weiß nicht so ganz, was ich darauf antworten soll.«

Sara schaute an sich hinunter. Das Kleid konnte sie nur noch wegwerfen.

»Eine Antwort wird weder erwartet noch verlangt«, sagte er. »Das Einzige, worum ich bitte, ist, dass Sie morgen mit Johannes zum Abendessen zu mir kommen. Ein richtiges Sonntagsmahl haben Sie wirklich verdient.«

»Leider.« Sara schaute kurz zu Johannes hinüber, aber von dort war keine Hilfe zu erwarten. »Ich fahre morgen früh nach Hause«, sagte sie. »Nach Norwegen.«

»Nicht doch«, sagte Najib Aysha. »Sie bleiben bis Montag. Dann fliegen Sie in meiner Privatmaschine nach Norwegen. Das ist bequemer als mit ... SAS

»Norwegian«, sagte Sara verwirrt. »Aber ich muss morgen wirklich nach Hause, da ...«

»Sagen wir, um sieben?«

»Ja ... nein, ich ...«

»Dann sehen wir uns um sieben. Ganz zwanglos. Nur meine Frau, ihr beide und ich.«

»Genau, ja ... na gut. Danke.«

»Johannes weiß den Weg«, sagte Najib Aysha, machte kehrt und verschwand in der Menge aus Spielern, Trainern und Eminenzen im Anzug.

Auf dem Spielfeld hätte das medizinische Personal inzwischen ein mittelgroßes Krankenhaus bemannen können, noch immer damit beschäftigt, die gelben und roten Medizinkoffer einzusammeln. Pompöse Musik schallte aus den Lautsprechern. Es war endlich Zeit für die Siegerehrung.

»Was war das eben?«

Sara sah verzweifelt Johannes an, der mit den Schultern zuckte und sich in Bewegung setzte. Sie lief hinterher und nahm seine Hand.

»Das war Najib Aysha«, sagte Johannes, und sie ahnte einen Unterton, den sie nicht richtig deuten konnte. »Den Rückflug morgen kannst du vergessen.«

»Aber ich muss ...«

»Vergiss es. Wir sind zum Essen eingeladen, Liebste. Ob wir wollen oder nicht.«

21:45 Uhr
Manette Street, Soho, London

Ein Mann saß allein vor einem auf Lautlos gestellten Fernseher.

Aron Apter hatte nur begrenztes Interesse an Fußball. Dennoch hatte er die zweite Halbzeit des Pokalendspiels gesehen. Einerseits, weil er sonst nichts Interessantes gefunden hatte, andererseits, weil das Spiel am Montag im Büro das große Gesprächsthema sein würde. Jetzt wünschte er, er hätte es gelassen. Eine vage Unruhe ließ ihn aufstehen. Er trat ans Fenster und schaute hinunter auf die Straße, versteckt hinter den dichten Vorhängen, die seine Frau unbedingt hatte aufhängen wollen, ehe sie es für gut befunden hatte, sich in einen zwölf Jahre jüngeren Mann zu verlieben und ihren Koffer zu packen, nach fast dreißig Jahren Ehe und drei erwachsenen Kindern.

Eine Berufskrankheit, dachte Aron Apter und trat vom Fenster zurück. Er hatte nicht Ausschau gehalten. Es war auch nur eine Katze zu sehen, die sich an einer Mülltonne putzte. Er zog die Vorhänge zusammen, verärgert, weil er noch immer so viele alte Gewohnheiten bewahrt hatte. Gewohnheiten aus einer Zeit, als er noch nicht in einem Büro in Palace Green saß und sich zu Tode langweilte, bis irgendwer beschließen würde, dass er sein Teil geleistet habe und nach Hause fahren dürfe. Für immer. Er setzte sich auf das Sofa und starrte die stumme Jubelszene aus Wembley an. Die Spieler von Bayern München würden bald ihren Heiligen Gral erhalten.

Er hatte vor Jahren zuletzt von Dr. Zuckerman gehört. Sie hatte fast allein einen schwindelerregenden Finanzskandal bei Mercury Medical entlarvt, einem der weltgrößten Produzenten von medizinischer Elektronik. Sie hatte in der gesamten westlichen Welt Schlagzeilen gemacht.

Es war lange her.

Drei Jahre? Er könnte in seinem Archiv nachsehen, das in einem großen Pappkarton untergebracht war, nur ihm gehörte und niemals auch nur in die Nähe eines Computers gekommen war. Selbst die großen Karteikarten waren handgeschrieben. Er könnte den Karton aus dem versteckten Fach im Kleiderschrank ziehen, sich das Dossier für »Zuckerman, Sara« heraussuchen und nachsehen. Aber es war nicht wichtig.

Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen.

Doch er hatte sechsundzwanzig Jahre lang dadurch überlebt, dass er nie achtlos war. Immer schaute er sich noch einmal um. Führte Protokoll über alle, die ihm begegneten und die zu einem späteren Zeitpunkt zum Problem werden könnten. Oder zu einem Hilfsmittel. Er war hindurchgekommen, hatte alles überlebt, und hinter einem sicheren Büroschreibtisch in der israelischen Botschaft in London gab es keinen Grund mehr, sich Sorgen zu machen.

Aron nahm die Fernbedienung und ließ sich aufs Sofa sinken.

Der Pokal gehörte jetzt Bayern München. Die Spieler hoben ihn abwechselnd in die Luft. Aron schaltete den Ton ein und ließ die Sendung rückwärtslaufen. Ein wenig zu weit, stellte er fest, als er aufhörte und auf »Play« drückte. Die Kameras hatten Sara Zuckermans Rettungstat auf dem grünen Rasen noch nicht eingefangen. Er ließ langsam vorwärtslaufen. Er interessierte sich nicht für die lebensrettende Aktion, und er ließ die Bilder der knienden rot gekleideten Herzspezialistin vorüberflimmern. In komischem Stummfilmtempo erhob sie sich, stellte fest, dass ihr Kleid ruiniert war und dass sie keine Schuhe trug. Ein grauhaariger Mann hatte sie am Arm gefasst.

Da. Er hielt das Bild an.

Najib Aysha.

Die Kameras richteten sich auf den Industriemagnaten und Fußballenthusiasten Najib Aysha, als er Sara Zuckermans Hand ergriff und sie an seine Lippen zog. Das Gespräch zwischen den beiden dauerte nicht lange, und bald verschwand Najib Aysha in Richtung von Borussias Funktionären und Helfern, ohne dass Sara Zuckerman und ihr Begleiter sich ihm angeschlossen hätten.

Kein Grund zur Sorge.

Eine kurze Begegnung in einem Hexenkessel von Fußballstadion, mehr nicht. Natürlich wollte Najib Aysha die Frau begrüßen, die eben unter so spektakulären Umständen einem Spieler das Leben gerettet hatte. Bei fast neunzigtausend Zuschauern auf den Tribünen und fast sechshundert Millionen vor den Fernsehapparaten musste ihr Auftritt die beste Werbekampagne aller Zeiten für den Ärztestand sein. Najib Aysha würde sich die Gelegenheit zu einer solchen Begegnung niemals entgehen lassen.

Eine zufällige kurze Begegnung. Nichts anderes.

Der Mann auf dem Sofa schaltete den riesigen Flachbildschirm aus. Es wurde dunkel. Er fürchtete, dass es hier im Zimmer nach altem Mann roch. Nach älterem Mann ohne Frau, wie er sich selbst in Gedanken korrigierte. Einmal war es hier gemütlich gewesen. Nicht wie zu Hause in Netanja, aber doch einigermaßen gemütlich.