Umschlag

Helmut Vorndran, geboren 1961 in Bad Neustadt/Saale, lebt mehrere Leben: als Kabarettist, Unternehmer und Buchautor. Als überzeugter Franke hat er seinen Lebensmittelpunkt ins oberfränkische Bamberger Land verlegt und arbeitet als freier Autor unter anderem für Antenne Bayern und das Bayerische Fernsehen.
www.helmutvorndran.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv:© mauritius images/imageBROKER/
Helmut Meyer zur Capellen
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-879-3
Franken Krimi
Originalausgabe

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Wie lange, oh Ewiger, habe ich gefleht,

und du hörst nicht.

Ich schreie zu dir über Gewalt,

und du hilfst nicht!

Warum lässt du mich Unheil schauen

und siehst Elend an und Gewalt vor meinen Augen,

und Hader entsteht, und Zank erhebt sich.

Darum ist ohnmächtig das Gesetz,

und nicht siegreich geht das Recht hervor.

Denn der Frevler umringt den Gerechten,

darum geht das Recht gekrümmt hervor.

Habakuk

Nach wahren Begebenheiten

Prolog

Er schob das Paket zu seinem Bruder hinüber, der gar nicht so recht wusste, was er sagen sollte. Eigentlich wollte Benjamin nur weg, das mit dem Geld hätte er erst viel später zur Sprache gebracht. Er starrte das Geldpaket an, dann stand er auf und nahm seinen Bruder in den Arm.

»Mach’s gut, Felix«, sagte er, dann ging er, ohne sich umzudrehen.

Es war das letzte Mal, dass sich die beiden Brüder begegneten.

Das Sommerloch

Die erste Begegnung mit der seltsamen Frau hatte Bernd Schmitt. Der dünnhaarig bezopfte, Sonnenbrille tragende und deshalb irgendwann einmal von irgendwem mit dem Spitznamen »Lagerfeld« bedachte Kommissar der Polizeidienststelle Bamberg saß am Montagmorgen nichts ahnend an seinem Schreibtisch und versuchte, die brütende Sommerhitze an diesem 1. August irgendwie zu überstehen.

Größere Delikte oder gar Mordfälle hatte die Dienststelle gerade nicht zu bearbeiten, es war aus kriminalistischer Sicht ausnahmsweise einmal ruhig in Bamberg. Die bayerischen Schulferien hatten gerade begonnen, und auch die Unterwelt in Bamberg schien ein bisschen unter Hitzebeschwerden zu leiden, jedenfalls hielt sie sich mit lästigen Straftaten, die den jungen Kriminalkommissar aus seinem Stuhl scheuchen würden, bisher zurück. Dieser Umstand führte dazu, dass die Kollegen Haderlein und Huppendorfer sich heute freigenommen hatten und dass Lagerfeld endlich einmal dazu kam, den liegen gebliebenen Krimskrams aufzuarbeiten, der schon seit gefühlten Jahrzehnten in der untersten Schreibtischschublade vor sich hin moderte.

Als er jene ominöse Schublade mit der imaginären Aufschrift »Darum kümmere ich mich irgendwann« nun jedoch herauszog, signalisierte ihm diese durch das Herausfallen des Schubladenbodens, dass auch sie dringend der Zuwendung und Hilfe bedurfte. Die ganzen Papiere, Fotos und Schnipsel, die er eigentlich für das Archiv sortieren wollte, verstreuten sich in Gauß’scher Normalverteilung über den Dienststellenboden, und er ließ entnervt die Stirn auf die Platte seines Schreibtisches fallen.

Riemenschneider, das Dienststellenschweinchen, hatte das ganze unglückliche Manöver mit größtem Interesse verfolgt und beobachtete nun mit schief gelegtem Kopf, wie Lagerfeld leise fluchend alles aufsammelte und auf seinen Schreibtisch stapelte.

Lagerfeld beobachtete seinerseits das Ermittlerferkel aus dem Augenwinkel und meinte, ein mühsam beherrschtes Grinsen in Riemenschneiders Physiognomie erkennen zu können, was seine Laune nicht unbedingt zurück in den grünen Bereich katapultierte. Haderlein und Huppendorfer saßen jetzt ganz sicher gerade auf irgendeinem Bamberger Keller und tranken ein Seidla oder zwei oder auch drei, und er blamierte sich in der Sommerschwüle bei langweiligsten Aufgaben im Büro vor einem grinsenden Schwein. Na toll.

Hinzu kam eine gewisse nervöse Grundspannung, die jeder werdende Vater verspürt, wenn er sekündlich damit zu rechnen hat, dass Frauchen anruft und vermeldet, dass der Nachwuchs gedenkt, den Boden dieser Welt zu betreten. In diesen Tagen sollte es bei seiner Ute so weit sein, ein Umstand, der bei Lagerfeld eine gewisse Fahrigkeit und unkonzentriertes Handeln auslöste. Da war ein ruhiger Tag im Büro mit gleichmäßiger, stumpfsinniger Aktenarbeit eigentlich ganz gut geeignet, um Stress abzubauen – vorausgesetzt, man hatte es nicht mit altersschwachen Schubladenböden und hämisch dreinblickenden Zimmergenossen zu tun.

Der bleierne Zustand sommerlicher Hitzeträgheit hielt noch ein paar Stunden an, dann kam der momentan einzige menschliche Mitinsasse, Marina Hoffmann, die Bürofee der Dienststelle Bamberg, mit eindeutigem Blick auf Lagerfeld zu.

Honeypenny hatte eine Frau im Schlepptau, die sie Lagerfeld auch sogleich vorstellte. »Bernd, das ist Angelika Schöpp. Frau Schöpp möchte unbedingt einen Kommissar sprechen, mir wollte sie nicht sagen, um was es sich handelt«, stieß sie mit schnippischem Unterton hervor, dann machte sie kehrt und ließ die gute Frau Schöpp einfach bei Lagerfeld am Schreibtisch stehen.

Verwirrt blickte diese der davoneilenden Marina Hoffmann hinterher, bis Lagerfeld ihr einen Stuhl anbot, auf dem sie sich zögernd niederließ.

Lagerfelds erster Eindruck von der Frau auf der anderen Seite seines Schreibtisches war der einer noch recht jungen, ausgesprochen nervösen, fahrigen Person Mitte zwanzig, die zwar gut gekleidet war, ansonsten aber etwas verlebt daherkam. Unauffällig musterte er sie.

Angelika Schöpp war, fränkisch betrachtet, ein sogenanntes »langes Elend«. Bestimmt eins achtzig groß, hager, die dünnen, langen braunen Haare mit einem Seitenscheitel nach hinten zu einem Zopf gebunden. Ihr Gesicht, das sich hinter einer großen Brille mit dunkelblauen Rändern versteckte, wirkte äußerst blass, fast grau und im Grunde ungesund. Die Augen schienen zwar wach und aufmerksam, machten aber einen irgendwie überkandidelten Eindruck. Ihr Blick irrlichterte ohne Ruhe über ihn hinweg und stolperte ziellos über alles, was die Dienststelle in seinem Rücken optisch so zu bieten hatte.

Wenn ihn nicht alles täuschte, war diese Frau seelisch gerade etwas derangiert. Aber es blieb erst einmal abzuwarten, was Frau Schöpp eigentlich von der Bamberger Kriminalpolizei wollte.

»Nun, Frau Schöpp, wo drückt denn der Schuh?«, versuchte es Lagerfeld mit einer aufmunternden Gesprächsofferte, und der Blick der Angesprochenen huschte in Windeseile aus den Tiefen des Raumes zurück zu ihm.

Lagerfeld sah am Gesicht der Frau, dass es gewaltig in ihr arbeitete. Eine Weile schien sie heftig mit sich zu kämpfen. Sie saß stocksteif und verkrampft auf ihrem Stuhl, die Augenlider zuckten, ihre Finger krampften sich in das Kunstleder ihrer braunen Handtasche.

Erst als erste Schweißperlen auf ihrem Gesicht erschienen, wurde der innere Druck offensichtlich zu groß, und sie stieß mit zitternder Stimme ihre Botschaft hervor: »Sie müssen mir helfen!«

Ihre Augen flackerten, und die Finger flüchteten von der Handtasche nach oben und bewegten sich nun unruhig über die Tischoberfläche, als würden sie diese nach irgendwelchen Unregelmäßigkeiten absuchen. Davon gab es auf der durch jahrelange Polizeiarbeit malträtierten Resopaloberfläche reichlich, sodass die Fingerbewegungen zu einem eklatanten Ablenkungsmanöver für Lagerfelds Augen wurden. Da nun aber der Mann im Allgemeinen und Bernd Schmitt im Speziellen für parallel laufende Aufgabenstellungen eher weniger geeignet ist, hatte der Kommissar sofort Stress, noch bevor er überhaupt wusste, worum es hier eigentlich ging.

Mühsam löste er seinen Blick von den zehn Unruhestiftern, die da hektisch vor ihm über die Tischplatte tanzten. Dann versuchte er, hier irgendwie weiterzukommen.

»Ja gern, Frau Schöpp, aber dafür müsste ich, mit Verlaub, erst einmal wissen, worum es überhaupt geht«, meinte er lakonisch.

Der Blick der Frau blieb starr auf ihn gerichtet, nur ihre Finger hörten schlagartig auf zu tanzen und gingen, ganz plötzlich flach auf dem Tisch liegend, in den Ruhestand. »Wie meinen Sie das?«, fragte sie atemlos, und ihre Augen bekamen einen leicht fiebrigen Glanz.

Lagerfeld schaute sie einen Moment lang ratlos an, schließlich war er, was seine Rechengeschwindigkeit betraf, gerade auch nicht ganz auf der Höhe. Dann versuchte er es noch einmal. Die Frau war, wie es schien, einigermaßen durcheinander. »Nun, ich meine das so, dass ich gern gewusst hätte, wie genau ich Ihnen helfen soll. Also was genau das Problem ist, bei dem Ihnen die Bamberger Kriminalpolizei behilflich sein kann.«

Lagerfeld hatte alles, was er noch an Konzentration, Geduld und Formulierungsfähigkeit aufzubieten hatte, in diese Fragestellung hineingelegt. Hoffnungsfroh lehnte er sich zurück, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und harrte des Redeschwalls, der da kommen musste oder jedenfalls üblicherweise kam, wenn Menschen ihre Anliegen hier bei der Polizei vortrugen.

Aber nichts dergleichen geschah, im Gegenteil, die Unruhezustände der Besucherin wurden nur immer auffälliger. »Sie wollen mir also nicht helfen«, stellte sie mit Fassungslosigkeit in der Stimme fest, während ihre Finger sich nun, wahrscheinlich als spontane Sicherheitsmaßnahme, ineinander verschränkt hatten.

Lagerfeld war völlig perplex. Er starrte zuerst diese Angelika einige Sekunden lang konsterniert an, dann wandte sich sein Kopf hilfesuchend zu dem in einigen Metern Entfernung am Boden sitzenden Ferkel hin, das aber mit ebenfalls einigermaßen ratlosem Gesichtsausdruck, das rosa Haupt diesmal auf die andere Seite geneigt, die merkwürdige Frau betrachtete. Von hier war also keine große Hilfe zu erwarten.

Als Lagerfeld seinen Blick ratlos in die andere Richtung schickte, zu Honeypenny, die etwa vier Schreibtische weiter zu Hause war, bemerkte er, dass die Gute mit auffällig unnatürlicher Konzentration die Ergebnisse ihrer Internetrecherche auf ihrem Computerbildschirm betrachtete. Das konnte er auch vergessen, er war vollkommen allein mit dieser Durchgeknallten.

Nun gut. Er hatte keine Zeit und schon gar keine Lust, sich weiter diesen inhaltsleeren Mist anzuhören. Er ließ seine Arme nach vorne auf den Tisch fallen und bohrte seinen Blick in die Augen der guten Frau Schöpp. »Wobei helfen?«, knurrte er einigermaßen genervt, was bei seinem weiblichen Gegenüber zwar zu einer Reaktion führte, aber nicht zu der gewünschten.

Es kam keine Entgegnung, schon gar keine plausible Erklärung. Angelika Schöpp war zur Salzsäule erstarrt. Dann, urplötzlich, senkte sie ruckartig den Blick, und ihre Hände machten sich fluchtartig auf den Weg zurück zur Handtaschenoberkante, wo sie mit besagtem Blick von ihrer Besitzerin festgenagelt wurden.

Weitere Sekunden voller nervöser Spannung folgten. Wahrscheinlich wären sämtliche Beteiligten noch bis zum Ende ihrer Tage so dagesessen, hätte Riemenschneider nicht mitten in diese quälende Stille hinein niesen müssen. Es war ein herzhafter Ausbruch schweinischer Wollust im vorderen Rüsselbereich, der durch die verkrampfte Stimmung in der polizeilichen Stube schnitt wie ein Messer durch Gelee.

Lagerfeld drehte missbilligend den Kopf, während Angelika Schöpp wie aus einem sehr tiefen Schlaf aufschrak und fast mitsamt ihrem Stuhl nach hinten gefallen wäre.

Derweil die Riemenschneiderin noch schniefend versuchte, die schleimartigen Fäden, die sich von ihren Lefzen in Richtung Fußboden zu verabschieden drohten, irgendwie wieder zu inhalieren, schaute Angelika Schöpp fassungslos von dem kleinen Ferkel zu Lagerfeld und dann gleich wieder zurück. »Was ist das?«, fragte sie mit weinerlicher Stimme und hielt die Handtasche schützend vor ihre nur ahnungsweise erkennbare Brust.

»Na, wonach sieht es denn Ihrer Meinung nach aus?«, gab Lagerfeld bissig zurück und überkreuzte die Arme auf dem Tisch. »Könnte ein kleines Schwein sein, meinen Sie nicht? Bestimmt hat Riemenschneiders Immunabwehr auf unsere hochinteressante Unterhaltung reagiert und Maßnahmen zur weiteren Gesprächsführung ergriffen.«

Der Sarkasmus in seiner Stimme war unüberhörbar, was Angelika Schöpp aber nicht daran hinderte, stumpf zu schweigen und einfach nur das kleine Ferkel anzustarren. Erneut drohte die Stimmung in das zähe Gelee von gerade eben abzudriften, da sprang Angelika Schöpp auf und rief mit hektischer, lauter Stimme: »Haben Sie hier eine Toilette?«

Einen Augenblick lang schaute Lagerfeld sie verblüfft an, dann deutete er wortlos am Glasgehäuse seines Chefs vorbei auf die rechte von zwei weißen Türen. Auf deren Außenseite hatten die männlichen Bediensteten der Bamberger Kriminalpolizei mit pinkfarbenem Edding ein Strichmännchen mit einer Art Rock gemalt, nachdem Honeypenny bei ihrem Dienstantritt seinerzeit darauf bestanden hatte, dass diese Tür, auch wenn sie die einzige weibliche Mitarbeiterin war, eindeutig und erkennbar den Damen vorbehalten sein müsse. Es hatte ein längeres Hin und Her gegeben, das von Haderlein mit einem Griff zum nächstbesten Filzstift beendet worden war.

»So, das reicht erst mal, bis wir ein ordentliches Schild besorgt haben«, hatte er genervt verkündet und die rosafarbene Strichfrau auf die Toilettentür gepinselt.

Und da bekanntermaßen nichts so lange hält wie ein Provisorium, wurde das Gemälde in unregelmäßigen Abständen lediglich ausgebessert. Ein richtiges Schild würde diese Tür wohl nie mehr bekommen.

Honeypenny hatte irgendwann resigniert und sagte inzwischen gar nichts mehr. Auch nicht dazu, dass die sogenannte Damentoilette als Rumpelkammer für allgemeine Putzutensilien herhalten musste. Besen, Eimer und Putzmittel standen hier herum, weil ihre Toilette 0,27 Quadratmeter größer war als das Männer-Pendant. Dort war dafür anscheinend kein Platz vorhanden.

Das hatte sie geschluckt. Dafür konnte sie in einer abendlichen Krisensitzung im Büro als Gegenleistung die Anschaffung eines eigenen dreilagigen Toilettenpapiers mit Kamillenduft aushandeln. Nach der mühsamen Beschlussfassung hatte sie die Regale ihres Hygienerefugiums gleich am nächsten Tag mit einem gelb geblümten Spitzenprodukt der Klopapierwelt bestückt, das in seiner Menge den Bedarf der Damentoilette der Bamberger Kriminalpolizei für ziemlich genau drei Jahre abdeckte. Und wehe, einer dieser ignoranten Schwanzträger hier kam auf die widerwärtige Idee, hygienetechnisches Fremdmaterial einzuschleusen und auf ihren Regalen zu platzieren. Niemand außer Honeypenny und der Putzfrau hatte die Erlaubnis, diesen geschützten Bereich zu betreten.

Einmal, genau ein einziges Mal hatte es ein Mann gewagt, die verbotene Zone zu entern. Auf der Weihnachtsfeier vor sieben Jahren hatte sich vor dem Männerklo kurzzeitig eine Schlange gebildet, und der Dienststellenleiter Robert Suckfüll war der irrigen Auffassung gewesen, den mühsam ausgehandelten Verhaltenskodex in seinem Büro mal kurz unterlaufen zu können. Er schaffte es auch durchaus in die Damentoilette hinein und sogar, diese abzuschließen. Dort angekommen, thronte er geraume Weile mit einer juristischen Fachzeitschrift, da er zu der Spezies Mann gehörte, die einer Toilette die Eigenschaften eines gut beheizten Wohnzimmers zuordnen, in dem man sich sehr gern und sehr lange aufhalten möchte, und das mit ausgesprochener Behaglichkeit. Das führte, da die Damentoilette ja tabu war, im polizeilichen Alltag gerne mal zu grenzwertigen Blasendehnungen bei den männlichen Nachrückern, wenn diese den richtigen Zeitpunkt zur Entleerung zuvor verpasst hatten.

Bei diesem singulären, weihnachtlichen Ereignis nun verbrachte Robert Suckfüll seine übliche Zeitspanne in der verbotenen Zone, um dann, nach Säuberung der adäquaten Körperteile, die Tür in die Freiheit wieder zu öffnen. Vor ihm stand mit verschränkten Armen seine wohlbekannte Bürokraft Marina Hoffmann und schaute ihn an wie ein aufgeschrecktes Nashorn, das fest entschlossen war, sein Junges zu verteidigen.

»Ach, Frau Hoffmann, müssen Sie auch mal?«, konnte er gerade noch unbedarft äußern, bevor ihm, wie die Gallier zu sagen pflegten, der Himmel auf den Kopf fiel.

Das, was folgte, war der Grund, warum sich fürderhin kein Mann der Dienststelle Bamberg dieser Tür auf mehr als einen Meter näherte.

Angelika Schöpp klemmte sich ihre Handtasche unter den Arm und stürmte in Richtung der sanitären Einrichtung davon. Lagerfeld und Riemenschneider schauten einander fragend an, während Honeypenny sich nun ebenfalls mit skeptischem Blick, ihre Toilette immer im Auge behaltend, zu ihnen umgedreht hatte.

Für Lagerfeld war der Abgang der Schöpp das eindeutige Signal, sich wieder seiner Schublade beziehungsweise deren gestapeltem Inhalt auf seinem Schreibtisch zuzuwenden. Er griff sich den erstbesten Ordner und vertiefte sich in selbigen, während Riemenschneider weiterhin intensiv mit sich selbst beschäftigt war.

Honeypenny bewachte ihre Toilettentür mit starrem Blick, bis Angelika Schöpp die Bedürfnisanstalt nach ein paar Minuten wieder verließ und schnurstracks zurück an Lagerfelds Schreibtisch stakste. Hager wie ein Storch stand sie vor ihm, murmelte ein leises »Ja, dann vielen Dank auch« und eilte ohne weitere Umschweife zur Bürotür hinaus.

Lagerfeld schaute mit bedeutungsvollem Blick zu Marina Hoffmann, die entgeistert den Kopf schüttelte und meinte: »Na, die hat doch an Batscher?«

Das war die fränkische Bezeichnung für verhaltenstechnische Ungereimtheiten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf mangelnde Harmonie im psychischen Bereich zurückzuführen waren. Oder einfacher gesagt: Honeypenny war der Ansicht, dass bei der Dame im Oberstübchen nicht mehr alles ganz rundlief.

Heftig nickend wandte sich Lagerfeld wieder seinem Stapel unerledigter Aufgaben zu, während sich das Polizeiferkel Riemenschneider seinem nächsten Niesanfall hingab.

Die zweite Begegnung mit Frau Schöpp hatte Lagerfeld dann genau eine Woche später. Es war noch genauso heiß, und das Kind war immer noch nicht da. Ute war eine Woche über dem Termin, doch der Nachwuchs machte keinerlei Anstalten, das mütterliche All-inclusive-Hotel zu verlassen.

Es war wieder um die gleiche Zeit, als es an der Bürotür der Dienststelle Bamberg zaghaft klopfte. Die Bitte um Einlass war so dezent, dass sie drinnen von niemandem gehört wurde. Die gute Angelika Schöpp stünde vermutlich noch immer vor dieser weißen Bürotür, wäre nicht Kriminalkommissar César Huppendorfer von einem Außeneinsatz in Laibarös zurückgekehrt und hätte die Wartende angesprochen, warum sie hier den Eingang ins Büro verstopfte.

Für Lagerfeld und Honeypenny war die Überraschung groß, als Huppendorfer mit seinem weiblichen Anhängsel das Büro betrat und an seinem Schreibtisch Platz nahm, nachdem er ihr den Besucherstuhl zurechtgerückt hatte.

Lagerfeld stützte seinen Kopf in die rechte Hand und beobachtete aus etwa fünf Metern Entfernung das Geschehen an Huppendorfers Schreibtisch durch einen schmalen Spalt zwischen seinen Fingern. Honeypenny hatte den Bildschirm ihres Computers so weit gedreht, dass sie aus dem Augenwinkel heraus ebenfalls sehen konnte, was da bei Huppendorfer vor sich ging.

Die beiden vom Besuch in der letzten Woche bereits deutlich Vorgeschädigten verfolgten gespannt, wie Huppendorfer zunächst noch sehr relaxt mit der Frau sprach. Dann wurde seine Mimik immer hilfloser, und seine Körperhaltung war zunehmend unentspannt. Als Angelika Schöpp schließlich aufsprang und am völlig konsternierten Kollegen Huppendorfer vorbei zur Damentoilette eilte, musste sich Lagerfeld das Grinsen mühsam verkneifen, und auch bei Marina Hoffmann führte der Anblick zu einer seltsam verkrampften Körperhaltung.

César Huppendorfer schickte zwar hilfesuchende Blicke durchs Büro, aber sowohl Honeypenny als auch Lagerfeld beschäftigten sich bereits wieder angelegentlich mit außerordentlich wichtigen Tätigkeiten.

Kurz darauf kam Frau Schöpp zur großen Erleichterung von Marina Hoffmann von der Damentoilette zurück und begab sich, ihre Handtasche eng an den Körper gepresst, wieder auf ihren Stuhl an Huppendorfers Schreibtisch.

Nun begann eine ähnliche Art des peinlichen Schweigens, wie Lagerfeld es bereits eine Woche zuvor erlebt hatte. Schließlich, nach einigen Minuten eisiger Stimmung, schien auch Huppendorfer die Geduld zu verlieren und beugte sich mit einer ruckartigen Bewegung vor. Seine Arme gestikulierten wild in der Luft, und sein Kopf war rot angelaufen. Angelika Schöpp schien von dem plötzlichen Ausbruch rücklings an ihre Stuhllehne gepresst zu werden, die Handtasche, die sie weiterhin mit beiden Händen von oben umklammerte, wanderte in einer instinktiven Schutzhaltung bis fast unter das Kinn. Mit großen Augen schaute sie dem wilden Gebaren des Kommissars zu, ansonsten war bei ihr keinerlei Regung zu erkennen.

Von Lagerfelds Platz aus präsentierte sich das Geschehen an Huppendorfers Schreibtisch wie eine Szene aus einem Scherenschnitttheater. Die morgendliche Sonne schien waagerecht durch das Fenster hinter César, sodass das absurde Schauspiel nur in dunklen Umrissen wahrzunehmen war. Der Scherenschnitt löste sich erst auf, als die weibliche Darstellerin, die von Angelika Schöpp gegeben wurde, ebenfalls heftig mit ihren Armen zu fuchteln begann und dann zu Lagerfelds größtem Bedauern linkisch in seine Richtung zeigte. Daraufhin kam die ganze Gesellschaft in Form von César Huppendorfer mit reichlich angesäuertem Gesichtsausdruck und einer mitleiderregend dreinschauenden Angelika Schöpp zu ihm herüber.

»Bernd, stemmt des, du hast mit der Frau Schöpp letzte Woche schon geredet?«

Lagerfeld nickte, blieb aber ansonsten stumm und saß mit vor der Brust verschränkten Armen hinter seinem Schreibtisch, was Huppendorfers Gemütslage nicht unbedingt anspornte, in den positiven Bereich zu wechseln.

»Ach ja? Und dann lässt du uns beide die ganze Zeit da drüben sitzen und diskutieren, obwohl du längst Bescheid weißt? Na, du bist mir ja vielleicht ein Freund und Kollege, herzlichen Dank!«

Huppendorfer war definitiv sauer, allerdings fühlte sich Bernd Schmitt völlig zu Unrecht beschuldigt. »Du, César, es ist deine Sache, wen du – zu welchen Zwecken auch immer – an deinen Schreibtisch holst. Und wenn sich Frau Schöpp unbedingt mit dir unterhalten möchte, bitte, ist ja nicht so schlimm, jetzt weißt du wenigstens auch Bescheid.«

»Nein, weiß ich nicht!«, rief Huppendorfer genervt und warf der völlig eingeschüchterten Angelika Schöpp einen wilden Blick zu. »Ich habe keine Ahnung, was die Frau will, vielleicht kannst du es mir ja erklären, Bernd, ich komme hier nämlich nicht weiter!«

Die Begegnung mit Angelika Schöpp hatte Huppendorfer zweifelsfrei erregt, und das nicht im sexuellen Sinne.

Lagerfeld seufzte, dann meinte er gönnerhaft: »Also gut, dann setzen Sie sich doch bitte, Frau Schöpp, und versuchen Sie, uns beiden begriffsstutzigen Kommissaren einmal ganz langsam und mit einfachen Worten zu erklären, um was es sich bei Ihrem Problem eigentlich handelt, okay?«

Zögernd nahm Angelika Schöpp Lagerfelds Angebot an und setzte sich, während sich César Huppendorfer wie ein nasser Sack schnaufend neben Bernd auf einen Stuhl fallen ließ, den er sich vom Nachbartisch gegriffen hatte.

»Also, wir hören«, sagte Lagerfeld auffordernd, lehnte sich zurück und verschränkte wieder abwartend seine Arme.

Angelika Schöpp schaute wie ein gehetzter Hund von einem Kommissar zum anderen, bis sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte flüsterte: »Sie müssen mir helfen.«

Lagerfeld zog nur die Augenbrauen hoch, während César Huppendorfer neben ihm laut zu schnaufen begann und auf seinem Stuhl herumrutschte, als würde er auf einer heißen Herdplatte sitzen.

»Ach was«, meinte Lagerfeld sarkastisch.

Honeypenny hatte inzwischen an der Seite des Tisches Platz genommen, um voll unverhohlener Neugier dem Geschehen zu folgen. Niemand sagte ein Wort. Drei Augenpaare waren auf Angelika Schöpp gerichtet und brannten ungeduldige Löcher in deren Handtasche, die langsam immer höher und höher wanderte und ernsthaft Anstalten machte, sich vor das Gesicht ihrer Herrin zu schieben.

»Also entweder sagen Sie uns jetzt, was Sie wollen, oder Sie gehen«, raunzte Huppendorfer schroff, als er es einfach nicht mehr aushielt. Er hatte ja nun wirklich Besseres zu tun, als seine Zeit an diese durchgeknallte Frau zu verschwenden. Er bedachte sein weibliches Gegenüber mit einem derart angriffslustigen Blick, dass auf der anderen Seite des Schreibtisches tatsächlich etwas Fundamentales passierte: Angelika Schöpp legte ihre Handtasche vor sich auf den Tisch und faltete ihre Hände.

Diese Handlung löste bei allen Beteiligten allerhöchste Aufmerksamkeit aus. Das war neu, das war sensationell, das könnte den Durchbruch bedeuten! Gespannt rutschte Lagerfeld auf seinem Stuhl ein Stück nach vorn. Und Angelika Schöpp hatte tatsächlich Außerordentliches zu vermelden.

»Es ist das Waldsterben«, murmelte sie halblaut, was bei den Kommissaren ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut auslöste. »Und dann der ganze Müll, der sortiert werden muss«, schob sie nahezu entfesselt hinterher, während ihr Blick von einem zum anderen irrlichterte.

Lagerfeld und Huppendorfer starrten stumm auf Frau Schöpp, die jetzt nicht mehr an sich halten konnte. »Und dann die Klimakatastrophe und das ganze Schwermetall in unserem Essen, das wir auch unseren Kindern vorsetzen müssen. Das macht doch alle zu schlechten Menschen, kein Wunder, dass alle zu schlechten Menschen werden«, sprudelte es zur Überraschung aller aus ihr heraus.

»In unserem Essen«, stellte Lagerfeld hilflos fest, während sich Honeypennys Miene zusehends verdüsterte. Die Herdplatte auf Huppendorfers Stuhl schien sich derweil eine oder zwei Stufen höher geschaltet zu haben.

»Ja, natürlich im Essen«, fuhr die Schöpp eifrig fort. »Aluminium, Cadmium, Blei. Wenn Sie wüssten, was das im Gehirn alles auslösen kann«, dozierte sie mit absolut überzeugtem Blick.

Lagerfeld war von der inbrünstig postulierten Schädlichkeit der in Deutschland verfügbaren Lebensmittel auf Anhieb überzeugt. Stellte die gute Frau vor ihm doch das beste Beispiel für gravierende Schädigungen dar, die der Genuss von verseuchtem Essen im Gehirn auslösen konnte.

Solcherlei Gedanken trieben César Huppendorfer nicht um, ihm langte es jetzt. »Wissen Sie was, Frau Schöpp«, hob er an, »ich habe keine Lust mehr, mir Ihren wirren Mist anzuhören. Kann es sein, dass Sie die Absicht haben, die Bamberger Polizei zu verarschen, kann das sein, ja?«

Mühsam beherrscht verharrte Huppendorfer auf seinem Stuhl, während der missionarische Glanz in Angelika Schöpps Augen schlagartig erlosch. Ihr Blick blieb noch einen Moment an Huppendorfer hängen, dann machte er sich bereits wieder sehnsüchtig auf den Weg in Richtung Damentoilette.

Honeypenny, deren Kopf ob des sensationellen Verhaltens der hageren Frau puterrot angelaufen war, hob abwehrend die Hand. »Vergessen Sie es lieber gleich.«

Ein kurzes Flackern war in Angelika Schöpps Augen zu sehen, dann sprang sie auf und stürmte aus dem Büro. Die Tür fiel lautstark hinter ihr ins Schloss. Zurück blieben drei konsternierte Mitarbeiter der Bamberger Kriminalpolizei, die sich mit ratlosem Blick gegenseitig musterten.

Honeypenny war die Erste des Trio frustrato, die ihre Stimme wiederfand. »Ich kann mich bloß wiederholen, Herrschaften. Die Madame hat an Batscher, und zwar an gewaltichen.«

Und mit dieser für alle Anwesenden durchaus akzeptablen Einschätzung der Lage war die Diskussion dann auch beendet.

Wiederum eine Woche später kam der Leiter der Dienststelle, Robert Suckfüll, etwas verspätet ins Büro, weil seine Frau, die die allgemeine Lebensaufsicht über ihren fahrigen Ehemann ausübte, ihn an der Haustür gerade noch abgegriffen und zurück ins Schlafzimmer gezerrt hatte. Nicht etwa, weil es sie wegen einer plötzlichen Gefühlswallung überkommen hätte und sie auf einen lustvollen Akt mit ihrem Robert hoffte, nein, es war wieder einmal die desaströse Farbgestaltung seines Outfits, die ihr die Schamesröte ins Gesicht getrieben hatte. Ihr Mann war vielleicht ein glänzender Jurist, aber für das normale menschliche Leben ansonsten absolut untauglich. Ein paar schnelle Griffe, dann waren das grob karierte Jackett und die pinkfarbene Krawatte Geschichte.

Robert Suckfüll war solch ästhetischer Krimskrams nur lästig, kostete er doch wertvolle Lebenszeit, die er sinnvoller verbringen wollte. Aber so war das nun mal. Wer sich mit Frauen einließ, hatte die Konsequenzen zu tragen.

Suckfüll kam also wegen der umgebauten Kleiderordnung zu spät in die Dienststelle. Als Fidibus, der sich seinen Spitznamen durch einen Zimmerbrand eingehandelt hatte, die Tür hinter sich geschlossen hatte, eilte er langen Schrittes zu seinem gläsernen Büro. Den Glaskasten hatte man ihm seinerzeit hauptsächlich deswegen konstruiert, damit die ihm eigene Vergesslichkeit in Kombination mit seinen glimmenden Havannas nicht erneut seinen Arbeitsplatz abfackelte.

Auf halbem Wege fiel ihm auf, dass ihn, obwohl er an jedem Schreibtisch ein »Guten Morgen allerseits« absonderte, niemand zurückgrüßte. Verdutzt blieb er stehen und schaute sich um.

Sämtliche Mitarbeiter hatten sich an einem Fenster versammelt und schauten höchst interessiert auf den Vorplatz der Polizeidienststelle hinunter. Kriminalhauptkommissar Franz Haderlein schlürfte dabei schmunzelnd an einer Tasse Kaffee herum, während Marina Hoffmann Riemenschneider auf dem Arm trug, damit das kleine Ferkel auch etwas sehen konnte. Selbst mit dem schweinischen Gepäck auf dem Arm schaffte sie es noch, durch das Fenster hindurch mit ihrem Handy ein Foto von der Szene auf dem Vorplatz zu schießen. Das brauchte sie unbedingt, um es ihren Freundinnen zu zeigen, sonst glaubte ihr ja niemand. Die beiden jüngeren Kommissare César Huppendorfer und Bernd Schmitt standen mit ihren Honigbroten daneben und wirkten trotz des obligaten süßen Frühstücks nicht gerade so, als würden sie sich über das, was sie dort unten zu sehen bekamen, amüsieren.

Von der Ankunft des Chefs hier schien niemand etwas bemerkt zu haben – oder sie wurde im Moment als nicht besonders wichtig empfunden, was Robert Suckfüll für die wahrscheinlichere Variante hielt. Angeregt vom seltsamen Verhalten seines Personals, wurde Fidibus nun ebenfalls neugierig, was es denn so Erstaunliches vor dem Haupteingang der Dienststelle zu sehen gab. Er stellte seine schwarze Aktentasche im Mittelgang auf dem Boden ab und begab sich zu seinen Angestellten ans Fenster. Quasi aus der zweiten Reihe versuchte er als relativ großer Mensch, über die vor ihm stehenden Kommissare hinweg einen Blick auf den Vorplatz zu erhaschen.

Merkwürdig, als er gerade unten durch den Haupteingang hereingekommen war, hatte er nichts Ungewöhnliches bemerkt. Allerdings musste er zugeben, dass er, wenn er mit seinen eigenen, manchmal etwas konfusen Gedanken zugange war, für die Außenwelt wenig Aufmerksamkeit übrig hatte.

Als er nun seinen Blick nach unten lenkte, konnte er eine hagere junge Frau mit langen braunen Haaren erkennen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Zaun zum Eichendorff-Gymnasium stand. Sie schien allerdings nicht so recht zu wissen, was sie hier wollte. Ohne Unterlass wandte sie sich nach allen Seiten um und schaute ab und zu ängstlich zum Gymnasium hinüber. Mal tigerte sie nach rechts, mal nach links. Dann, ganz plötzlich, machte sie Anstalten, die Straße zu überqueren, und steuerte schnurstracks auf den Haupteingang der Polizeidienststelle zu, nur um auf dem Mittelstreifen unversehens wieder kehrtzumachen. Während der ganzen Zeit hielt sie ihre Handtasche so fest umklammert, als würden sich Brillanten im Wert von mehreren Millionen Euro darin befinden.

»Ich setze zehn Mäuse, dass sie beim nächsten Anlauf reinkommt«, meinte Lagerfeld, stopfte den Rest seines Honigbrotes in den Mund und zückte seine Brieftasche. Ein Zehn-Euro-Schein wanderte auf die Fensterbank.

»Da halte ich dagegen, das wagt sie nicht«, entgegnete Huppendorfer und legte ebenfalls einen Geldschein auf die Fensterbank, bevor er sich wieder seinem Brot widmete.

Honeypenny wettete nicht, sondern beschloss, im Fall der Fälle die Damentoilette abzuschließen.

Huppendorfer und Lagerfeld schauten auffordernd zu Haderlein hinüber, dem dienstältesten Kollegen, aber der stand nur schweigend da und amüsierte sich.

Da bemerkte Lagerfeld Suckfülls Anwesenheit, und ein erfreutes Lächeln überzog sein Gesicht. Ein weiterer willkommener Gast in seinem privaten Wettbüro. »Ah, hallo, Chef. Mir wardn noch auf Ihren Einsatz, ob die Schöpp jetzt reikommt oder ned. Zehn Euro, und Sie ham größde Chancen, den Jäggbod Ihres Lebens zu gnaggn.«

Aber Fidibus hatte keine Lust, sich auf so etwas Unsicheres wie eine Wette einzulassen, zumal Glücksspiel in Deutschland verboten war. Aus seiner Sicht wurde es Zeit für etwas mehr Disziplin in diesen Räumlichkeiten.

»Herr Schmitt, ich habe keine Ahnung, was es mit dieser armen Frau dort unten auf sich hat, aber ich werde mich sicher nicht an illegalen Freizeitbeschäftigungen beteiligen. Und außerdem, wenn ich ganz ehrlich sein soll, Herr Schmitt: Ich traue Ihnen nicht. Ich halte es für recht wahrscheinlich, dass Sie sich mal wieder einen Ihrer schlechten Scherze erlauben und mir ein Blatt aufbinden wollen, schlitzbübisch, wie Sie nun mal sind.« Zur Bekräftigung fuchtelte er erregt mit dem ausgestreckten Zeigefinger in der Luft herum. »Aber lassen Sie sich das gesagt sein, Herr Schmitt, und da werde ich auch in Zukunft keinen Bären vor den Mund nehmen: Ich werde Sie und Ihre Unsinnigkeiten von nun an ein bisschen mehr unter die … äh, Lupe nehmen. Und wehe, ich erwische Sie noch einmal dabei, wie Sie hier, quasi in Ihrer Dienstzeit, Ihren lässigen Lebensstil pflegen. Das wird sonst beizeiten Konsequenzen für Sie haben, Herr Schmitt. Irgendwann werde ich andere Saiten, äh … also, da werden Ihnen noch die Augen aus den Ohren fallen, mein lieber Schmitt.«

Sehr zufrieden mit seiner Ansprache blickte Fidibus in die Runde, denn aller Augen waren nun auf ihn gerichtet. Weniger aus Ehrfurcht dem Chef gegenüber denn aus Neugierde, ob er wohl noch mehr sprachliche Rohrkrepierer im Gepäck hatte.

Aber Robert Suckfüll war fertig. Er schaute noch einmal theatralisch auf seine klobige Armbanduhr, die so mächtig an seinem Handgelenk baumelte, dass er dafür eigentlich einen Waffenschein gebraucht hätte, und meinte abschließend: »So, und nun hurtig an die Arbeit, wir wollen ja nicht den ganzen Arbeitstag mit sinnlosen Plaudereien vergeuden, nicht wahr? Es ist schon nach sieben Uhr und damit höchste Eisenzeit.« Er schickte einen letzten entschlossenen Blick in die Runde, wandte sich um und eilte in Richtung seines Glaspalastes davon. Unterwegs stolperte er en passant noch kurz über seine Aktentasche und verschwand leise fluchend in seinem gläsernen Büro.

Lagerfeld stand sprachlos und mit offenem Mund da, während sich die übrigen Umstehenden mühsam das Lachen verbissen. Haderlein stellte seine Tasse auf der Fensterbank ab und schlug Schmitt freundschaftlich auf die Schulter. »Also dann, mein junger Kollege, frischauf ans Werk. Du hast es ja gehört, es ist allerhöchste Eisenzeit«, meinte er lachend.

Huppendorfer und Honeypenny stimmten in das fröhliche Montagmorgengelächter ein, und auch Lagerfeld grinste schief. Bevor sie sich an ihre Plätze zurückbegaben, warf er noch schnell einen Blick aus dem Fenster. »He, die Schöpp is weg«, rief er überrascht.

Alle schauten daraufhin aus dem Fenster und sahen nur, dass sie nichts sahen. Angelika Schöpp war verschwunden.

Lagerfeld reichte dem triumphierend dreinblickenden Kollegen Huppendorfer missmutig die zwanzig Euro von der Fensterbank und machte sich auf den Weg zu seinem Schreibtisch. Den erreichte er jedoch nicht mehr, denn genau in dem Moment, in dem er seine Brieftasche weggesteckt hatte, klingelte sein Mobiltelefon. Als er sich meldete, hörte er die hektische Stimme seiner Freundin Ute von Heesen: »Bernd, ich glaub, es is so weit.«

Lagerfeld stutzte einen Moment und blieb stocksteif mitten im Raum stehen. Dann murmelte er so etwas wie »Ganz ruhig, ich komme gleich« und setzte sich in Bewegung: Er rannte zum Ausgang. Sämtliche Schöpps und Suckfülls dieser Welt waren für ihn auf einmal absolute Nebensache, denn Kriminalkommissar Bernd Schmitt war im Begriff, Vater zu werden.

Ach, was muss man oft von bösen

Kindern hören oder lesen!

Wie zum Beispiel hier von diesen,

Welche Ben und Felix hießen

Die, anstatt durch weise Lehren

Sich zum Guten zu bekehren,

Oftmals noch darüber lachten

Und sich heimlich lustig machten.

Ja, zur Übeltätigkeit,

Ja, dazu ist man bereit!

Menschen necken, Tiere quälen,

Äpfel, Birnen, Mopeds stehlen,

Das ist freilich angenehmer

Und dazu auch viel bequemer,

Als in Kirche oder Schule

Festzusitzen auf dem Stuhle.

Aber wehe, wehe, wehe!

Wenn ich auf das Ende sehe.

Drum ist hier, was sie getrieben,

Mitgehört und aufgeschrieben.

Frei nach Wilhelm Busch

Felix und Benjamin

Felix John saß mit seinem Bruder Benjamin in Ebern am Marktplatz und überlegte, wie der schwierige Plan am besten durchzuführen war. Eigentlich konnten sie das beide recht gut, die Langeweile vertreiben und Pläne aushecken. Das war inzwischen schon so was wie ihr Markenzeichen in Ebern und sogar in den umliegenden Ortschaften geworden. Die zwei waren Spitzbuben, wie sie im Buche standen. Wenn der gute Wilhelm Busch, Gott hab ihn selig, in der Neuzeit wiederauferstanden wäre, er hätte sich ganz sicher diese beiden Vögel als adäquaten Max-und-Moritz-Ersatz gesucht.

Im Sommer des Jahres 2009 gab es zwei große Hindernisse für die beiden, die es permanent zu umgehen galt: Eltern und Schulpflicht. Allein das Wort »Pflicht« löste bei den zwei Burschen schon heftige Pickelbildung und spontane Fluchttendenzen aus. Statt stumpfsinniger, sinnentleerter Tätigkeiten in Schule und Haushalt gab es schließlich jederzeit und überall weit Spannenderes, was das Leben zu bieten hatte. Experimente, die man hier, auf dem Land, wunderbar ausprobieren konnte.

Ben versuchte gerade, das soeben mit einem Tesafilmchen reparierte Band seiner Musikkassette, das vorhin vom Laufwerk seines Walkmans gefressen worden war, mit einem Bleistift zurückzuspulen. Schließlich gelang ihm das auch, er klappte zufrieden den Deckel seines tragbaren Musikspielers zu und stellte das heilige Teil vorsichtig zur Seite.

Inzwischen war derartige Technik ja regelrecht antik. Aber er stand drauf, genauso wie ihn alte, analoge Fotoapparate oder Radios mit Röhrentechnik begeisterten. Dieses ganze neue Zeugs mit digitaler Technik und so, damit konnte er nichts anfangen. Handys waren zwar praktisch, aber die sich weit verbreitende digitale Inkontinenz beim Fotografieren zum Beispiel machte ihn gar nicht an. So eine schöne alte Kamera dagegen, mit Film innen drin, mit Vorspulen, manuellem Scharfstellen und dann eine Woche lang auf die Bilder warten, das war genau seine Welt. Benjamin John war mindestens aus technischer Sicht einfach zu spät geboren.

Eigentlich wohnten die beiden in Reckendorf, dem nördlichsten Zipfel des Bamberger Landkreises im Baunachgrund. Aber ihre Unternehmungslust trieb sie eher nach Ebern und in die angrenzenden Haßbergdörfer wie Gerach, Kirchlauter oder Jesserndorf. Da kam man schnell mit dem Mofa hin, da war man meistens ungestört – und man kam vor allem auch ganz schnell wieder weg, wenn es brenzlig wurde.

Jetzt gerade hatten sie eine richtig gute Idee ausgeheckt, ein richtig großes Ding. Genauer gesagt hatte Benjamin die Idee gehabt. Er war im Allgemeinen derjenige, dem der ganze Mist einfiel, und Felix, über ein Jahr älter und mit fünfzehn bereits auf dem Gymnasium, kümmerte sich um Planung und Durchführung. Außerdem war er für den theoretischen Unterbau zuständig.

Das Problem war nun, einen Mechanismus zu basteln, der zuverlässig die ihm zugedachte Aufgabe erfüllte. Schließlich wollten sie ja kein Allerweltsevent, sondern eine richtig große Sache veranstalten. Das heißt, eigentlich wollten sie nur fischen. Aber da ihnen Angeln mangels Angelscheins vonseiten der Eltern verboten worden war, hatten sie eine kreative Lösung gefunden, wie man viel leichter an die Fische kam.

Sie hatten auch schon alles beisammen. Bis eben hatte ihnen noch ein Zündmechanismus gefehlt, aber den hatten sie sich gerade in einem Eberner Laden besorgt, der Mopeds und Mofas reparierte. Perfekt.

Felix steckte die soeben erworbene Zündspule in seine Jackentasche und meinte zu Ben: »Also, ich habe mir das noch mal genau überlegt, es muss einfach funktionieren. Jetzt müssen wir aber los, sonst wird’s noch dunkel, bevor der Beton abgebunden hat.«

Benjamin nickte nur, ließ den Walkman in seine Jackentasche rutschen und setzte den Helm auf. Sein Bruder saß bereits in voller Montur und mit laufendem Motor auf seinem Mofa und nickte ihm kurz zu. Dann verließen die beiden die Eberner Innenstadt und machten sich mit konstanten fünfundzwanzig Kilometern pro Stunde auf den Weg immer bergauf in Richtung Unterpreppach.

Sie durchquerten die kleine Ortschaft mit dem beliebten Tanzsaal, ließen die Gastwirtschaft »Kaiser« hinter sich und steuerten nach dem Ortsende ihre Mofas auf einen kleinen Weg, der leicht bergauf an dem kleinen Bach Preppach entlangführte. Als hinter ihnen schon lange keine Häuser mehr zu sehen waren, stoppten sie an einer Lücke zwischen zwei großen Schlehenhecken. Von hier aus konnte man bequem zu dem kleinen Bach hinabsteigen, der um diese Jahreszeit wenig Wasser führte und gut mit Gummistiefeln zu durchqueren war. Also genau richtig für ihre Zwecke.

Im Laufe der letzten Tage hatten sie alles generalstabsmäßig geplant und sämtliche Einzelteile, die ihr Geheimprojekt benötigte, mit den Mofas nach und nach herbeigeschafft. Ihr ganzes Taschengeld war dafür draufgegangen. Wenn das hier schiefging, hatten sie verdammt viel Kohle sozusagen in die Preppach gesetzt. Aber sie waren sehr zuversichtlich, dass alles genauso laufen würde wie geplant.

***

Der Dezember war dieses Jahr genau so, wie man ihn sich nicht wünschte. Es war nicht mehr warm, aber auch nicht wirklich kalt. Es war vor allem eines, nämlich nass. Einstellige Plusgrade, die Welt grau in grau und feucht. Das, was es im Sommer zu wenig geregnet hatte, kam jetzt anscheinend als Zugabe. Zwei Wochen vor Weihnachten drohte Bamberg allmählich in den Fluten zu versinken. Bis zu einem gewissen Grad ließen sich die Pegelstände von Main und Regnitz einigermaßen im Zaum halten, aber ab einem gewissen Punkt musste jeglicher Krisenplan die Waffen strecken. Zwei Unterführungen waren bereits gesperrt worden, weshalb im gedrängten innerstädtischen Bamberger Verkehr das Chaos ausgebrochen war. Zu bestimmten Zeiten ging in der Innenstadt gar nichts mehr.

Diese widrigen Umstände führten dazu, dass Lagerfeld morgens noch mehr Zeit für seine Fahrt von Loffeld nach Bamberg einplanen musste. Und das passte ihm gar nicht, war er doch als frischgebackener Vater einer Tochter froh über jede Minute, die er zum Schlafen nutzen durfte. Aber nichts da, stattdessen musste er auch noch zwanzig Minuten früher los, um just in time die Dienststelle in der Schildstraße zu erreichen. Das war nicht das Leben, wie er es sich vorgestellt hatte, ganz und gar nicht. In dem Augenblick, in dem seine Tochter Lena ihren Kopf an die frische Luft gesteckt hatte, war der Spaß vorbei gewesen, jedenfalls für ihn. Schon die Entbindung im Bamberger Klinikum war der absolute Höllentrip. Lena, ein kräftiges und vor allem sehr selbstbewusstes Neugeborenes, wollte nämlich zuerst nicht. Das musste man sich einmal vorstellen.

Er war damals fast panikartig, sämtliche Verkehrsregeln missachtend, in Rekordzeit von Bamberg nach Loffeld gerast, um seine geliebte Ute in ihrem kritischen Zustand abzuholen und ins Bamberger Klinikum zu fahren. Das hatte auch leidlich gut geklappt, was man von den Stunden danach guten Gewissens wirklich nicht behaupten konnte. Irgendwie war er in seiner männlichen Einfalt nämlich der Meinung gewesen, dass das ganze Prozedere nur eine Frage von einer oder maximal zwei Stunden sei, dann könne er das Kind auf den Arm nehmen, das Frauchen am Kindsbett besuchen und nix wie weg. Das medizinische Personal würde alles Weitere schon richten, hatte er sich gedacht. Aber das war allem Anschein nach etwas zu optimistisch gewesen.

Zuerst einmal war auf der Entbindungsstation auf Ebene fünf rein gar nichts passiert. Das lag zum einen daran, dass keiner der vier Kreißsäle frei gewesen war. Der, für den sie kurzfristig gebucht worden waren, wurde noch von irgendeiner türkischsprachigen Familie belegt, die in voller Mannschaftsstärke versammelt war, um die Geburt des Nachwuchses auf einem Gebetsteppich unter lautem Geschnatter zu zelebrieren. Er hatte ab und zu durch die Tür gelugt, ob die dort drinnen nicht bald fertig würden, aber das schien sich zu ziehen.

Zum anderen war Ute hinsichtlich der Frage, wie sie das Kind denn nun auf die Welt bringen wollte, immer unentschlossener geworden. Da gab es ja anscheinend mannigfaltige Möglichkeiten, wie ihnen die für sie zuständige Hebamme bereitwillig erklärte. Bei der resoluten Endvierzigerin hörte sich das aber eher weniger nach einem empathischen Angebot an. Lagerfeld hatte vielmehr das Gefühl, er bekäme gerade seine Rechte vorgelesen.

Die Hebamme baute sich wie ein Gefängniswärter vor ihnen auf und blubberte in geschäftsmäßigem Ton drauflos: »Hallo, ich bin Gerlinde Schneyer, Ihre Hebamme. So, dann wollen wir mal mit den jungen Eltern. Wir werden ja jetzt entbinden und haben dafür viele Möglichkeiten. Also, es gibt hier im Klinikum vier Kreißsäle, die wir Ihnen zur Unterstützung des Geburtsverlaufs anbieten können. Sie haben entschieden, dass der Vater bei der Geburt des Kindes dabei sein soll, das ist gut, das ist für uns ein selbstverständlicher Prozess. Um Ihre Mobilität zu erhalten und den physiologischen Geburtsverlauf zu fördern, ermutige ich Sie, die aufrechte Position einzunehmen, um die für Sie optimale Gebärposition zu finden. Dazu stehen Ihnen eine Matte, ein Pezziball, ein Gebärhocker, eine Gebärwanne, ein Gebärseil sowie verstellbare Betten zur Verfügung. Zur Unterstützung des natürlichen Gebärvorgangs bieten wir Ihnen außerdem alternative Heilmethoden wie Homöopathie, Aromatherapie und Akupunktur an. Haben Sie das alles verstanden? Und wie machen wir es jetzt? Welche Zusatzleistungen sollen wir in Anspruch nehmen?«

Sie hatte während des ganzen Vortrages in ihre wichtigen Unterlagen geschaut und wirkte dabei sehr geschäftsmäßig und sehr geübt.

Lagerfeld war das erste Mal genervt. »Wir machen gar nichts, ich zumindest nicht. Aber vielleicht haben Sie ja so etwas Ähnliches für meine Frau?«, meinte er angefressen und ungeduldig, wie er gerade war. Warum quatschte die immer von einem »Wir«, wenn Ute doch letztendlich allein entbinden musste?

Zuerst erfolgte keinerlei Reaktion, dann bekam er von seiner Freundin einen Stoß mit dem Ellenbogen, der einen veritablen blauen Fleck in Lagerfelds Rippengegend hinterließ. Anschließend, nachdem die Erkenntnis ein paar Sekunden lang eingesickert war, hob die Entbindungsmanagerin vor ihm irritiert den Kopf und bedachte ihn mit einem Blick, der für Angehörige anderer Berufsgruppen als Kriminalkommissar sicher die Hölle hätte zufrieren lassen.

Gerlinde Schneyer überlegte eine Weile, ob sie etwas sagen sollte oder nicht, und entschied sich dann, Ute von Heesen mitleidig anzublicken. Auf diese Weise brachte sie ganz eindeutig ihre Bedenken zum Ausdruck, ob es für die Menschheit wirklich sinnvoll war, dass dieser Mann da seine Gene fortpflanzte. Weil Ute von Heesen aber gerade mit sich und ihren Wehen beschäftigt war, nickte sie nur stumm und ging nicht weiter darauf ein. Die Hebamme warf noch schnell einen Blick der tiefsten Verachtung in Lagerfelds Richtung, dann drehte sie sich brüsk um und verschwand eiligst in Richtung Kreißsäle.

Sie waren erst einmal wieder auf sich selbst angewiesen, also lief Lagerfeld mit Ute geduldig in den Gängen des Klinikums auf und ab und beobachtete mit ihr, ob die Wehen stärker wurden. Wurden sie aber nicht, im Gegenteil, zwischenzeitlich konnte man als ahnungsloser Erzeuger den Eindruck gewinnen, das Kind hätte es sich doch noch einmal anders überlegt.

Mehrere Male kam die Hebamme zurück und legte Ute ein paar Sensoren auf den Bauch, um irgendetwas zu messen. Wehenschreiber nannte sie das Gerät, an dem die Strippen hingen. Sie überprüfte auch jedes Mal mit kritischem Blick die Öffnung des Muttermundes, was jedoch keine richtige Freude aufkommen ließ. »Das sind maximal vier Zentimeter, des langt fei ned«, brummelte sie unzufrieden, schrieb etwas auf ihren Zettel und verschwand dann wieder. Die Frau wirkte nicht wie eine Pflegekraft, sondern mehr wie eine überarbeitete Lageristin in einem Hochregallager während der Revision.