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Peter Höhn – Leben aus Liebe – Vom Himmel her die Welt bewegen – SCM R.Brockhaus

Edition

AUFATMEN

ISBN 978-3-417-22802-1 (E-Book)

Inhalt

VORWORT

EINLEITUNG

Entscheidung

KAPITEL  1: Lieben oder beeindrucken?

KAPITEL  2: Mein Konzept von „Liebe“ heilen lassen

Annahme

KAPITEL  3: Geliebt mit Scham, Schuld und Schlagseiten

KAPITEL  4: Lieben ohne Angst

KAPITEL  5: Sich gegenseitig „brutto“ annehmen

Berufung

KAPITEL  6: Auf meine einzigartige Weise lieben

KAPITEL  7: Gott und mir selbst treu sein

Geschenk

KAPITEL  8: Liebe – ein Geschenk auf Augenhöhe

KAPITEL  9: Lieben mit leeren Händen

Respekt

KAPITEL 10: Staunen als Weg zu reifer Liebe

KAPITEL 11: Lieben jenseits von Rivalität

Ganzheit

KAPITEL 12: Liebe verbindet Himmel und Erde

KAPITEL 13: Das größere Ganze sehen

Gesinnung

KAPITEL 14: Freiheit und gegenseitige Unterordnung

KAPITEL 15: Immer neu Liebe „essen“ und um Liebe beten

Hingabe

KAPITEL 16: Die Frage Jesu nach der Liebe

KAPITEL 17: Sich an die Liebe hängen

Sendung

KAPITEL 18: Den Weg der Liebe wagen

KAPITEL 19: Heilige Agenten der Liebe Gottes

Zukunft

KAPITEL 20: Orte der Gegenwart Gottes

KAPITEL 21: Sich auf den Himmel vorbereiten

FRAGEN ZUR PERSÖNLICHEN VERTIEFUNG

DANK

ANMERKUNGEN

Vorwort

Als Peter Höhn mich fragte, ob ich ein Vorwort zu seinem Buch schreiben würde, willigte ich mit überraschender Schnelligkeit und Leichtigkeit ein. Da war diese innere Überzeugung, dieses Mitgehen des Herzens: Ja, das kann ich. Ja, das will ich. Ja, das ist gut.

Später entdeckte ich ebendiesen Vorgang in seinem Buch beschrieben und fand mich darin wieder. Peter erklärt ausführlich, wie die Liebe Gottes in unserem Herzen tickt, und er tut das kompetent und mit anschaulichen Beispielen. Eines der von Peter so gut gemalten Kennzeichen der Liebe Gottes ist definitiv dieses: Sie drückt nicht, sie zwingt nicht, sie demotiviert nicht, sondern sie ermuntert, bewegt von innen heraus. Sie löst niemals ein Müssen aus, sondern ein Wollen. Wer auf die echte Liebe Gottes ehrlich antwortet, sagt nie: Ich muss. Sondern: Ich will. Das tue ich von Herzen. Auch wenn es nicht leicht sein wird und wieder tüchtig Zeit kostet – die man nicht einfach so hat.

Als das Manuskript dann per E-Mail bei mir eintraf, war meine zweite Reaktion ehrlicherweise diese: Na, mal sehen, was der Peter so zu bieten hat. Schlecht wird es sicher nicht sein, so wie ich ihn kenne. Aber ist dieses Buch wirklich nötig? Und hoffentlich ist es nicht zu mühsam zu lesen …

Dann wurde ich überrascht. Überrascht durch die Qualität, durch die gute Lesbarkeit und durch das starke Empfinden: Das Buch hat mit mir, mit meinem Leben zu tun. Es ist bodenständig, „down to earth“. Es ist schon richtig: Peter fügt ein weiteres Buch zu unzähligen bereits geschriebenen Büchern über die Liebe Gottes hinzu. Und das auf einem reich gesättigten Büchermarkt. Trotzdem sollte es gelesen werden. Weil es nämlich quellfrisch ist. Es ist dieser neue, frische Blick auf die Liebe Gottes, der beeindruckt und einlädt, einen neuen Schluck aus dieser Quelle zu nehmen.

Man könnte es auch anders sagen: Die Liebe Gottes fließt in diesem Buch durch drei Bachbetten hindurch, die jeweils durch ihre Mineralien das Wasser wohlschmeckend machen. Man kann sich gut niederbeugen und seine leeren Hände füllen.

Das eine Bachbett, das Wichtigste, ist die Schrift. Peter spaziert in der ganzen Bibel herum und erweist sich als profunder Schriftkenner, zitiert und entfaltet immer wieder Gottes Wort. Und immer passend. Hier rate ich dem Leser, langsam zu lesen und nicht in die „Kenne ich schon“-Falle zu laufen. Langsam lesen, neu wirken lassen. Nicht überfliegen, sondern verweilen.

Das zweite Bachbett sind die reichhaltigen persönlichen Erfahrungen von Peter und auch seiner Frau Barbara. Spannend, echt und sehr glaubwürdig. Peter tritt immer wieder als Zeuge der Liebe Gottes auf, gemäß dem wunderbaren Wort aus 1. Johannes 1,1-3a (GNB):

Was von allem Anfang an da war, was wir gehört haben, was wir mit eigenen Augen gesehen haben, was wir angeschaut haben und betastet haben mit unseren Händen, nämlich das Wort, das Leben bringt – davon reden wir. Denn das Leben ist offenbar geworden, und wir haben es gesehen; wir sind Zeugen dafür und verkünden euch das unvergängliche Leben, das beim Vater war und sich uns offenbart hat. Was wir so gesehen und gehört haben, das verkünden wir euch.

Genau das macht Peter, und das macht sein Buch so schmackhaft.

Das dritte Bachbett gibt noch einmal eine besondere Würze: das Andocken an viele geistliche Persönlichkeiten der Geschichte, indem Peter ihre Gedanken und von ihnen niedergeschriebene Worte in seinen Text einstreut und sie in der richtigen Dosierung einsetzt.

Das Miteinander von Schrifterkenntnissen, persönlichen Erfahrungen und hochkarätigen Zitaten macht das Buch wirklich ansprechend. Doch was ist die Botschaft? Die Kernbotschaften scheinen mir zu sein: Gott allein ist Liebe. Ich darf sein, wer ich bin; ich bin geliebt als der, der ich bin; ich darf lieben als der, der ich bin. Zu lieben bedeutet, der zu sein, der man ist: Das schreibt Peter nicht exakt so, aber ich lese es zwischen den Zeilen. Es ist für mich eine der gewichtigeren Erkenntnisse dieses Buches, die wirklich unter die Leute gebracht werden muss. Die Liebe Gottes ist so geartet, dass sie sich immer mit unserer Person verbindet, uns total ernst nimmt. Ganz im Sinn der vier Stufen der Liebe nach Bernhard von Clairvaux (1090–1153), Gründer des Zisterzienserordens:

Stufe 1: Ich liebe mich selbst um meiner selbst willen.

Stufe 2: Ich liebe Gott um meiner selbst willen.

Stufe 3: Ich liebe Gott um seiner selbst willen.

Stufe 4: Ich liebe mich selbst um Gottes willen.

Vieles in Peters Buch ist eine schöne Beschreibung der vierten Stufe, aber nie auf Kosten der dritten Stufe. Denn sie setzt diese voraus.

Jens Kaldewey, Theologe, Berater und Autor

Einleitung

Am Dienstag vor Christi Himmelfahrt 2012 klagt mir ein nahestehender Mensch in der Mittagspause sein Leid; es sei ihm alles zu viel, er fühle sich überlastet und brauche dringend Erholung. Das Gejammer nervt und stresst mich, und um das Problem möglichst schnell vom Tisch zu haben, sage ich kurz angebunden, ich übernähme das, was ihm zu viel ist. In den folgenden Tagen stürze ich mich in meinen gewohnten Pflichterfüll- und Aufopferungsmodus, um die zusätzliche Aufgabenlast zu bewältigen. Gleichzeitig hoffe ich, mein „lieber Mitarbeiter“ wird gebührend dankbar für meine Hilfe sein, er wird in Zukunft das Jammern lassen und sich stattdessen an meiner Hingabe ein Beispiel nehmen. Hatte Paulus wohl damals ein ähnliches Problem mit seinen Korinthern? Ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle (1. Korinther 15,10).

Als ich eine Woche später auf diese „Übung“ zurückschaue, bin ich erschöpft und fühle mich schlecht. Im Herzen schwingt die leise Frage von Jesus: „Peter, du hast dich gewaltig ins Zeug gelegt – aber mal ehrlich, warst du von Liebe erfüllt?“ – „Nein“, brumme ich innerlich, „die Arbeit ist zwar getan, aber ich habe mich nicht wirklich auf mein Gegenüber eingelassen, und die Beziehung zwischen uns ist eher getrübt.“– „Weißt du“, taucht die Antwort von Jesus in meinen Gedanken auf, „es geht nicht darum, sich aufzuopfern, sondern zu lieben, denn nur wenn etwas aus Liebe geschieht, bringt es auch Leben hervor.“

Liebe – Die Essenz des Heiligen Geistes

Mir geht das ganz nah – nicht dass ich mein Verhalten gespiegelt bekomme (das ist mir nur allzu vertraut), sondern dass ich erfasse, wie es mir selten so klar vor Augen stand: Was nicht aus Liebe geschieht, bringt kein Leben hervor! Ich erkenne, wie wir Menschen von Natur aus versuchen, dem Leben nachzuhelfen: mit Aufopfern und Leisten, mit Druck und Drohen, mit Streben nach Lohn und Beifall, mit Handeln aus Angst, Minderwertigkeitsgefühlen und Scham. Aber nur die Liebe vermag Leben hervorzubringen. Die Liebe allein kann Menschen verändern und Herzen in Bewegung setzen.

Das will mir Jesus jetzt, zwischen Himmelfahrt und Pfingsten, offenbar noch einmal tiefer ins Herz pflanzen, aber er will wohl auch den Blick weiten, was denn Liebe überhaupt ist und warum die Liebe so zentral ist. Der Zeitpunkt im Kirchenjahr, an dem er das tut, ist bemerkenswert. Denn am Tag seiner Himmelfahrt hat Jesus seinen Jüngern den Missionsauftrag gegeben: Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern […] und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe (Matthäus 28,19-20; EÜ). In mir taucht die Frage auf: Was geschähe, wenn wir Christen unsere erste Mission im Ausleben und Weitergeben von Liebe sähen? Denn: Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt (Johannes 13,35; LUT). Allein die Liebe kann Menschen und die Welt von Gott überzeugen und von innen heraus verwandeln (vgl. Johannes 17,23).

„Gelebte Liebe ist die explosivste Kraft und der heiligste und unwiderstehlichste Virus, den Gott in diese Welt gesetzt hat. Keine Vollmacht von oben ohne erlöste Beziehungen hier unten!“, schrieb 1995 Wolfgang Simson im Hinblick auf eine der entscheidenden Prioritäten für die christliche Gemeinde des 21. Jahrhunderts und gibt zu bedenken: „Wenn Sie nach dem Herzen von christlichen Bewegungen suchen, die wirklich die Welt verändert haben, werden Sie nicht bei einer Person landen, sondern in aller Regel bei einer verschworenen Gemeinschaft von Freunden und deren Jüngern.“1

So gesehen steht die Liebe an Christi Himmelfahrt ganz im Zentrum. Aber auch an Pfingsten ist sie die treibende Kraft. Dr. Graham Tomlin, leitender Theologe der Alpha-Bewegung und Dekan des St. Mellitus College, definiert den Heiligen Geist als „die Liebe, die zwischen Vater und Sohn fließt“2. Als Glaubende sind wir in erster Linie berufen, in die Liebe Gottes einzutauchen und uns darin unserer Identität als Gotteskinder bewusst, gewiss und darüber froh zu werden. In dieser Liebe werden wir als Menschen ganz und lebendig.

So pointiert habe ich es noch nie gesehen: Der Heilige Geist ist die Liebe, und ein geisterfülltes Leben ist ein von der Liebe durchdrungenes und überfließendes Leben. Liebe ist der eigentliche Sinn und das höchste Ziel von allem, was der Heilige Geist wirken will. Darum ermuntert Paulus nicht nur zu einem Streben nach den größeren Gnadengaben des Heiligen Geistes, sondern zu einem Weg noch weit darüber hinaus, nämlich zum „alles überragenden Weg der Liebe“ (vgl. 1. Korinther 12,31). Diesen Weg führt er anschließend im 13. Kapitel des Korintherbriefes weiter aus und betont als Erstes, dass auch die größte Erkenntnis, Vollmacht und Opferbereitschaft nichts nützen, wenn die Liebe fehlt – weder anderen noch mir selbst:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.

(1. Korinther 13,1-3; LUT)

Das Entscheidende ist somit nicht, was wir Gutes tun, sondern wie weit wir es in Liebe tun – aus einer Haltung, wie sie in den folgenden Versen beschrieben wird:

Die Liebe ist geduldig und freundlich. Sie ist nicht neidisch oder überheblich, stolz oder anstößig. Die Liebe ist nicht selbstsüchtig. Sie lässt sich nicht reizen, und wenn man ihr Böses tut, trägt sie es nicht nach. Sie freut sich niemals über Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich immer an der Wahrheit. Die Liebe erträgt alles, verliert nie den Glauben, bewahrt stets die Hoffnung und bleibt bestehen, was auch geschieht.

(1. Korinther 13,4-9; NLB)

Die Liebe ist Gott

Bemerkenswert ist, dass Paulus hier verschiedene Wesenszüge der Liebe beschreibt, aber nirgends „Liebe“ als solches definiert. Doch was ist „Liebe“? Wann bin ich „in der Liebe“ und wann nicht?

Rund um diese Frage stoße ich im Herbst 2012 – ich lese zum ersten Mal die Ethik von Dietrich Bonhoeffer – zufällig auf einen spannenden Gedanken. Bonhoeffer schreibt anknüpfend an die ersten Verse in 1. Korinther 13:

„Es gibt eine Christuserkenntnis, einen mächtigen Christusglauben, ja es gibt eine Gesinnung und eine Hingabe der Liebe bis zum Tod – ohne Liebe. Das ist es. Ohne diese ‚Liebe‘ zerfällt alles und ist alles verwerflich, in dieser Liebe ist alles geeint und alles Gott angenehm. Was ist diese Liebe? Nach allem, was wir bisher gesehen haben, scheiden hier sämtliche Definitionen aus, die das Wesen der Liebe als menschliches Verhalten, als Gesinnung, als Hingabe, als Opfer, als Gemeinschaftswillen, als Gefühl, als Bruderschaft, als Dienst, als Tat verstehen wollen. Dies alles, ohne Ausnahme – so hörten wir eben – kann es geben ohne ‚Liebe‘.“3

Bonhoeffer stellt die Frage, was denn nun laut der Bibel „Liebe“ sein könne, und definiert sie schließlich anhand von 1. Johannes 4,16 schlicht so: „Gott ist Liebe.“ Interessant ist, dass er die Betonung nicht da setzt, wo wir es allgemein tun: „Gott ist die Liebe.“ Er setzt sie vorn:

„Gott ist Liebe, das heißt nicht ein menschliches Verhalten, eine Gesinnung, eine Tat, sondern Gott selbst ist die Liebe. […] So ist also Liebe Offenbarung Gottes. Offenbarung Gottes aber ist Jesus Christus. […] So ist Liebe etwas, was am Menschen geschieht. […] Liebe bedeutet das Erleiden der Umwandlung der gesamten Existenz durch Gott. […] Liebe ist also nicht Wahl des Menschen, sondern Erwählung durch Gott.“4

Es ist nicht ganz leicht zu verstehen, was Bonhoeffer schreibt, aber es öffnet mir einen neuen Raum, „Liebe“ nochmals ganz anders zu begreifen: Wenn Gott die Liebe ist und die Liebe Gott ist, besteht die Liebe zuerst einmal nicht darin, dass wir Menschen etwas tun, uns „Mühe geben“ oder „aufopfern“, sondern lieben beginnt eher damit, einen Schritt zurückzutreten und Gott Raum zu schaffen. Liebe ist in jeder Situation das Suchen und Zulassen Gottes; das Empfangen, was Gott (bzw. die Liebe) hier und jetzt für alle Beteiligten tun will.

Was wäre wohl im Rückblick auf jene Auseinandersetzung mit meinem Mitarbeiter am Dienstag vor Himmelfahrt der bessere Weg der Liebe gewesen? Wahrscheinlich wäre es in diese Richtung gegangen: innezuhalten, mich ohne Vorurteile auf mein Gegenüber einzulassen und innerlich gut zu hören, was Gottes Liebe jetzt an uns beiden wirken will. Ich bin sicher, Gott hätte uns eine Lösung gezeigt, bei der nicht nur die Arbeit getan, sondern auch unsere Beziehung gestärkt worden wäre.

Suchen, was Liebe ist

Als ich am Ende des Jahres 2012 mein Tagebuch durchblättere, bin ich überrascht, als ich beim 22. April einen unscheinbaren Eintrag wiederfinde: „2. Thessalonicher 3,5: Der Herr richte eure Herzen auf die Liebe Gottes und auf das Ausharren des Christus. – Ein Vers, der mich stark angesprochen hat und mir als Gebetsauftrag aufs Herz gelegt wurde.“

Ich erinnere mich jetzt, dieses Bibelwort tatsächlich im Frühjahr längere Zeit für mich, meine Mitarbeiter und meine Nächsten gebetet zu haben. Offensichtlich hat Gott dieses Gebet initiiert und es dann am Dienstag vor Himmelfahrt und im weiteren Verlauf des Jahres konkret erhört. Und er sollte weiter mit mir dranbleiben. Im darauffolgenden Mai und Juni, in einer zweimonatigen Auszeit, die ich zusammen mit meiner Frau Barbara und unserer Freundin Brigitte in Wales und Irland verbringe, taucht das Thema „Liebe“ unverhofft und stark wieder auf. Ich erlebe in einer fast überwältigenden Dichte, wie Gott mir weitere Dimensionen eröffnet, was es mit der Liebe auf sich hat. Dabei entdecke ich zu meiner Überraschung auch ein großes Spannungsfeld in mir: einerseits eine Sehnsucht, diesem Geheimnis der Liebe als alles verwandelnde Kraft weiter auf den Grund zu gehen, andererseits seltsame Anflüge von Misstrauen und Ängsten, die offensichtlich von gewissen Zerrbildern rund um die Liebe herrühren. Gerade deswegen lassen mich die Fragen nicht mehr los: „Warum tue ich mich – und andere sich – zuweilen so schwer mit der Liebe? Warum trauen wir ihr nicht über den Weg? Warum sind wir mit ihr so oft überfordert? Warum sind wir immer wieder versucht, der Liebe mit anderen Mitteln nachzuhelfen?“

Neulich erzählte mir ein befreundeter Pfarrer, er sei in seiner Jugend gewarnt worden, und das sei irgendwo noch in ihm drin: „Man muss mit der Liebe aufpassen. Sie muss immer mit der Wahrheit im Gleichgewicht stehen!“ Ich fragte ihn zurück: „Sind denn für dich Liebe und Wahrheit Gegensätze? Dann hätte die Liebe ja mit der Lüge zu tun. Die Liebe freut sich aber an der Wahrheit (1. Korinther 13,6; LUT). Wahrheit ist in der Liebe inbegriffen und nicht etwa ein Gegensatz zu ihr.“

Immer mehr verdichtet sich mein Eindruck: In Sachen Liebe hätten wir Christen noch viel Land einzunehmen! Liebe wäre unsere Königsdisziplin, aber wir drucksen irgendwie herum. Wir verwechseln sie mit Gefühlsduselei und Harmoniesucht und tun sie als „gefährlich“ ab. Oder sie scheint in der harten Realität des Alltags schlicht irrelevant und belanglos. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, wenn jemand leicht herablassend als ein „lieber“, aber eigentlich harmloser Mensch bezeichnet wird. Liebe scheint zu weich und zu schwammig. Darum verspricht man sich selbst unter Christen mehr von Einfluss und Power, gesellschaftlicher Relevanz und medialer Präsenz als von gelebter Liebe.

Rund um die Liebe gibt es unglaubliche Missverständnisse. Was würde wohl geschehen, wenn sich diese in Luft auflösten? Was, wenn wir besser verstünden, was Liebe ist und was nicht? Was, wenn wir lernen würden, wozu wir als Ebenbilder Gottes von Anfang an berufen sind? Was, wenn wir es ganz an uns heranließen, dass Gott „Liebe“ ist und wir seine „Geliebten“ sind? Was, wenn wir mit diesem Selbstverständnis überall, wo wir hinkommen, entsprechend reden, handeln und so gleichsam als „Agenten der Liebe“ Gottes Wirken den Weg bereiten würden?

Diesen und vielen weiteren Fragen nach der Liebe möchte ich in diesem Buch nachgehen – im Bewusstsein, dass ich selbst ein Lernender bin, aber auch ein Ergriffener, Bewegter und Überzeugter: Liebe ist das Einzige, was Menschen tiefgreifend und nachhaltig zum Guten verändert; Liebe ist das, wonach wir uns alle zutiefst sehnen. Liebe ist das, woraus alles Leben entsteht.

Darf ich Sie auf den folgenden Seiten auf meine eigene, sehr persönlich gehaltene „Entdeckungsreise zur Liebe“ einladen? Die Stationen dieser Reise, alles Schlüsselaspekte der Liebe – Entscheidung, Annahme, Berufung, Geschenk, Respekt, Ganzheit, Gesinnung, Hingabe, Sendung, Zukunft –, markieren im Wesentlichen den geistlichen Weg, den ich selbst in der oben erwähnten Auszeit in Wales und Irland zurückgelegt habe. Dabei blende ich auch in andere Zeiten und zu anderen Schauplätzen, in denen Gott mir wichtige Lektionen seines Herzensanliegens der Liebe vermittelt hat.

Ich hoffe, dass Sie etwas davon spüren, wie begeistert ich von der Liebe und damit von Gott selbst bin. Ich wünsche Ihnen, dass Sie inspiriert werden, für sich persönlich die Liebe, die Gott ist, tiefer zu erkennen, zu „umarmen“, ihr zu trauen und sich täglich neu auf sie einzulassen. Lassen wir uns von der Tatsache, dass die Liebe das „Größte“ ist und dass sie „bleiben“ wird (vgl. 1. Korinther 13,13), ein Leben lang motivieren, ihr Geheimnis immer tiefer zu begreifen! Denn wir leben aus Liebe. Und aus Liebe leben wir.

EntscheidungEntscheidung

Kapitel 1

Lieben oder beeindrucken?

St. Beuno’s ist eine klosterähnliche Anlage am Abhang der Clwydian Hills in Nordwales. Von hier schweift der Blick weit über das Tal von St. Asaph bis zur Irischen See und in die Berge von Snowdonia. Es ist ein lieblicher Ort, an dem ich mich nach dreißig Jahren Dienst bei Campus für Christus zum ersten Mal auf das Abenteuer „Schweigeexerzitien“ einlasse – zusammen mit meiner Frau Barbara sowie unserer Freundin und Arbeitskollegin Brigitte, die sich für ihre eigene Auszeit uns angeschlossen hat.

Ich erwarte von diesen Tagen des Schweigens und betenden Hörens, dass Gott mir für meine persönlichen und dienstlichen Schwerpunkte in den kommenden Jahren den Weg weist. Gleichzeitig will ich meinen Horizont erweitern. Deshalb haben wir uns nicht für ein evangelisches, sondern ein jesuitisches5 Retraitenzentrum entschieden, das uns der evangelische Pfarrer Jens Kaldewey empfohlen hatte, der hier schon zwei längere Zeiten verbrachte. Wie es uns in dieser katholischen Umgebung wohl ergehen wird?

Am Freitag nach Christi Himmelfahrt 2013 rücken wir zu dritt an: Wir sind in Einzelzimmern untergebracht und werden uns eine Woche lang nur noch schweigend, lächelnd und nickend begegnen. Ich darf ein schönes Eckzimmer im Dachgeschoss beziehen und bekomme mit der sechzigjährigen Mary eine, wie sich herausstellen wird, geistlich hellwache Begleiterin zugeteilt. Die weitherzige und gastfreundliche Atmosphäre im Haus und der Garten mit seinen blühenden Wiesen, Osterglocken und Apfelbäumen lassen uns schnell heimisch fühlen. Die hügelige Umgebung mit Schafweiden und leuchtend gelben Ginstersträuchern tut unserer Seele wohl und lädt uns zu ausgedehnten Spaziergängen ein.

Dankbarkeit

Als am Samstag die Exerzitien beginnen, finde ich überraschend schnell in den „Fluss“ des Geistes hinein. Ich bin bewegt, wie sich jeden Tag ein oder zwei Themen herausschälen und sich schließlich zusammenfügen zu einem Weg ins „weite Land“ (vgl. Psalm 18,20), der mich zutiefst beglückt und mir auf einzigartige Weise Klarheit gibt, wie es in meinem neuen Lebensabschnitt weitergehen soll. Ohne es zunächst bewusst wahrzunehmen, stelle ich zusehends fest: Jesus macht genau dort weiter, wo er letztes Jahr angefangen hat, zu meinem Herzen zu reden: Es geht um die Liebe.

Natürlich tut er das nicht so, dass ich eine Stimme vom Himmel höre, die sagt: „Peter, ich rede jetzt mit dir über die Liebe!“ Vielmehr erlebe ich auch jetzt wieder das Reden Gottes so, dass im stillen Warten vor ihm, im Beten, im Lesen in der Bibel und im Tagebuchschreiben Gedanken aufsteigen und sich zu neuen Einsichten verdichten. Mir fällt etwas ins Auge oder es wird in meinem Herzen lebendig. Daraus erwächst ein nächster Impuls, eine Idee, ein Gebet. Denkfetzen spinnen sich wie lose Fäden zu einem Strang zusammen und weisen plötzlich in eine klare Richtung. Das geschieht meistens spontan, ungesucht und ungeplant. Wichtig ist nur, dass ich darauf achte, was in der Stille aus der Tiefe meines Inneren aufsteigt, und dass ich dem, was kommt, weiter nachspüre.

So geschieht es auch an diesem ersten Morgen. Ich bete für diese Woche und um die rechte Nahrung für Geist und Seele. Gleichzeitig empfinde ich von den vergangenen Monaten und Jahren her ein geistliches Völlegefühl, einen gewissen Überdruss an theologischen Erkenntnissen und christlichen Appellen. Ich bete um ein Verdauen- und Entsorgenkönnen von dem Zuviel, von Überholtem, von Sich-überlebt-Habendem. Ich bitte Gott um eine Erneuerung dessen, was bleibt und bleiben soll.

Unverhofft bemerke ich, dass in mir das Lied von Andrea Adams-Frey aufsteigt: „Danke, danke für die Blumen, danke für die Farben und für die Musik …“ Ja, ich bin dankbar für mein Leben, für Barbara und unsere Familie, für alles Gelingen in diesen dreißig Campus-Jahren, für diese Auszeit, für den schönen grünen Ort hier. Ich bin dankbar für das Eckzimmer und die Aussicht, ich bin dankbar für die vor mir liegenden Wochen.

Dankbarkeit ist angesagt. Dankbarkeit – das legt mir Jesus als Erstes ans Herz. Manchmal stehe ich in der Gefahr, schon wieder zum Nächsten zu eilen. Ich werte aus, analysiere und beurteile, was gut war und was nicht, was nun dran ist und was nicht. Aber das endet oft in der Sackgasse. Dankbarkeit hingegen öffnet das Herz und den Geist für das, was ist. Ich muss jetzt nichts beurteilen, nichts bewerten, sondern darf alles, was war und was ist, aus Gottes Hand annehmen. Paulus schreibt in seinem Brief an Timotheus sinngemäß: Was ich aus seiner Hand im Dank und Gebet annehme, wird geheiligt (vgl. 1. Timotheus 4,4-5). Es verwandelt sich – egal, wie „nützlich“ oder richtig es war – in Gnade. Gott lässt daraus Gutes entstehen. Dankbarkeit lässt mich gelassen sein in Gottes Hand. Dankbarkeit ist meine Aufgabe, Gott kümmert sich um den Rest.

Dankbarkeit schließt auch ein – und das wird mich in den nächsten Tagen noch begleiten –, mich selbst ganz aus Gottes Hand anzunehmen. Dankbarkeit ist der Weg zur Selbstannahme, und diese ist eine zentrale Voraussetzung für wahre Liebe.

Die Gier meiner Bedränger

Bei den „Bedrängern meiner Seele“ scheint Jesus als Nächstes anzusetzen. Am Sonntagmorgen, dem zweiten Tag, lese ich in den Losungen den Wochenpsalm 27 und bleibe beim Vers 12 hängen: Gib mich nicht preis der Gier meiner Bedränger [oder: Feinde]; denn falsche Zeugen sind gegen mich aufgestanden und der, der Gewalttat schnaubt.

Ja, ich kenne diesen Druck nur zu gut, der zuweilen auf meiner Seele lastet. Ich will das Gebet, das David hier spricht, zu meinem Gebet machen und frage Gott: „Herr, was sagst du mir heute, wer sind meine Feinde, die Bedränger meiner Seele?“

Als Antwort kommt mir Folgendes in den Sinn: Es sind die christlichen Ansprüche, Erwartungen und Ideale: das Geistlichkeitsideal, das Bet-Ideal, das Erweckungsideal, das Fruchtideal, das Eifern-um-die-Frucht-Ideal. Diese Ideale sind meine Bedränger. Sie sind gierig, sie sind nie zufrieden. Dazu kommen die falschen Zeugen, die inneren Ankläger und Polizisten, die mir mangelnde Motivation, Einsatz und Ausdauer vorhalten. Und am Ende wartet noch der, der Gewalttat schnaubt – das sind alle eigenen Versuche, diese Ideale mit Druck und Gewalt zu verwirklichen.

Mir fällt beim Lesen des Psalms 27 auf, dass er voller Verheißungen und Zusagen ist. Ich erkenne, wie ich der Gier dieser Feinde und Bedränger entkommen kann: allem voran dadurch, dass ich dem Herrn ganz besonders vertraue und bei ihm Zuflucht nehme, ich in seiner Nähe bleibe, seine Freundlichkeit anschaue und mir seine bedingungslose Annahme vergegenwärtige. Er ist meine Schutzburg, in der mein Leben und mein wahres Ich aufgehoben und vor dem Zugriff meiner Bedränger geschützt sind. Er macht mich frei von Angst, stärkt mein Herz und lässt mich das Gute schauen im Land der Lebendigen. Das tröstet mich auch jetzt.

Doch die Frage bleibt und meldet sich konkret: „Warum höre ich eigentlich trotzdem immer wieder auf die Gier meiner Bedränger?“

Ich höre vor allem dann auf sie, wenn nichts läuft, wenn mir nichts in den Sinn kommt, wenn ich mich leer fühle oder wenn es, wie jetzt, in einen neuen unbekannten Lebensabschnitt geht. Dann steigt die altbekannte Angst vor Langeweile, Sinnlosigkeit, Abgeklärtheit und Ohnmacht auf. Dann meine ich, etwas tun zu müssen, um meine Leere zu füllen. Aber hat nicht Jesus gesagt: Ohne mich könnt ihr nichts tun (Johannes 15,5; LUT)? Und Paulus: Ich vermag alles [nur] durch den, der mich mächtig macht, Christus (Philipper 4,13; LUT)? Gerade aus dem Zusammenhang dieses Pauluswortes wird mir heute bewusst: Christus macht mich auch mächtig, Mangel an Sinn und Perspektive zu leiden, Leere auszuhalten, warten zu können, bis es und wie es weitergeht. Tief im Innern empfinde ich: Es ist ihm wichtiger, dass ich diese Leere aushalte und annehme, statt – wie es heute Mode ist – ständig nach „mehr“ Ausschau zu halten.

Schließlich meldet sich neben der Frage, warum ich immer wieder auf die Gier meiner Bedränger höre, auch noch diese Überlegung: Ist es eigentlich mein gut getarnter Ehrgeiz, der mich Erwartungen auf Gott projizieren lässt, die er gar nicht hat und gar nicht an mich stellt? Mittlerweile würde mich das nicht mehr wundern. Ich möchte ja für Gott wichtig sein, gebraucht werden, mich bei ihm in Erinnerung bringen …

Die zwei Banner

In diese Überlegungen hinein gibt mir meine geistliche Begleiterin zwei ignatianische Grundregeln für den ersten Tag: Prinzip und Fundament sowie Die zwei Banner. Ich lese sie zum ersten Mal. In ihrer Einfachheit erinnern mich die Texte an Jüngerschaftskonzepte von Campus für Christus aus früheren Jahren. Aber wie es so ist: Manchmal erreichen einen die eigenen altbekannten Wahrheiten nicht mehr, man muss sie mit frischen Worten hören. Heute verwendet Jesus diese ignatianischen Texte, damit ich mich den grundlegenden Fragen stelle: Wonach strebe ich zutiefst in meinem Leben – nach Ehre oder nach Liebe? Und was möchte ich für den Rest meiner Tage eigentlich noch erreichen – wie ich mehr Eindruck machen kann oder wie ich mehr lieben lerne?

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