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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2015

ISBN 978-3-492-96974-1

© Piper Verlag GmbH, München 2015

Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin

Covermotiv: Oktay Ortakcioglu/Getty Images und Diana Walters/Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

[1] Das Glück ist ein lausiger Gastgeber. Es lädt dich zu sich nach Hause ein, spendiert dir großzügig einen Schampus, eventuell auch ein paar Lachshäppchen, etwas Fingerfood und lässt dich gönnerhaft Austern schlürfen. Und genau in dem Moment, wo du dich gerade an die gute Kost gewöhnst, räumt das Glück den Tisch ab, schmeißt dich wieder raus und sagt: Die Party ist zu Ende!

Das nennt man Schicksal und man macht dafür gerne die Vorsehung, schlechtes Karma oder irgendwelche höheren Mächte verantwortlich. Aber in der Regel sind die Gründe nicht im Übernatürlichen zu suchen. Manchmal hat das Schicksal auch einfach nur zu große Schuhe.

Til haben solche sogar das Leben gekostet. Dabei stand ihm eine außerordentliche Karriere im Showbusiness bevor. Alle waren sich einig, dass er das Zeug zu einem absoluten Star hatte. Weltweit hätten sich Kamerateams darum gerissen, über ihn berichten zu dürfen, seine Facebookseite hätte Hunderttausende von Freunden gehabt.

Til war ein Keinohrhase. Und zwar ein echter! Benannt nach Til Schweiger, dem Hauptdarsteller und Produzenten der Komödie »Keinohrhasen«. Er war ein total süßes, braun-weißes Kaninchen mit großen, dunklen Knopfaugen, das durch einen genetischen Defekt ohne Ohren zur Welt gekommen war. Anfang 2012 in einem Zoo in der Nähe von Chemnitz. Der kleine ohrlose Til war so goldig und putzig, dass sofort klar war, dass er die Attraktion des Tierparks werden würde und selbst Berühmtheiten wie Eisbär Knut, Krake Paul oder das schielende Opossum Heidi noch weit in den Schatten gestellt hätte. Doch kurz nach seiner Geburt geschah bei Filmarbeiten über ihn das fürchterliche Unglück. Es war die allerletzte Einstellung des TV-Drehs in Tils Stall. Der Kameramann ging in die Hocke, dann erhob er sich, trat einen Schritt zurück und merkte plötzlich, dass er auf etwas stand. Etwas sehr Weichem. Er drehte sich um, hob seinen Fuß und sah, dass das Weiche der löffellose Hauptdarsteller war, der sich im Stroh versteckt hatte. Und den er nun unter seinen zu großen Schuhen zerquetscht hatte.

Til wurde nur gut zwei Wochen alt und wird als der James Dean der Tierwelt in die Filmgeschichte eingehen. Zu früh gestorben, für immer eine Legende. Aber so ist das im Leben. Til hatte das Schicksal einfach nicht kommen hören. Wie auch, ohne Ohren?

Aber uns allen geht es nicht anders als Til, wir haben keine Ohren für solche Sachen. Wenn das Schicksal zu einem seiner berüchtigten Schläge ausholt, stehen wir ohne Deckung da und lassen uns von dem Miststück ausknocken.

So war es auch bei Marie Sander gewesen, sie hatte ihr Schicksal weder vorher gehört noch gesehen noch geahnt noch gespürt. Schließlich war sie keine Maus, die schon Tage vor einem schweren Erdbeben aus ihrem Loch flüchtet, kein Hund, der vor einem drohenden Vulkanausbruch zu jaulen anfängt, und auch kein Vogel, der mit solch feinen Sinnesorganen ausgestattet ist, dass er einen Tsunami kommen spürt.

Und deshalb lag Marie Sander jetzt zu Hause in ihrem Bett und schaute fern. Seit Tagen, seit Wochen oder genauer gesagt seit vier Monaten, elf Tagen und zwölf Stunden. So lange war es her, dass sie aus dem Krankenhaus und der Reha wieder nach Hause zurückgekehrt war. Insgesamt elf Monate nachdem ihr Leben ins Rollen gekommen war. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn Marie Sander saß im Rollstuhl. Seit dem Tag, an dem das Schicksal ihr einen Schlag versetzt hatte. Unvermittelt, hinterhältig, anfallartig. Deshalb heißt es ja auch Schlaganfall.

Früher bestand ihr Leben aus Rock’n’Roll, heute kaum noch aus Rock, dafür umso mehr aus Rollen. Früher war sie Sängerin und Bassistin, doch seit ihr linker Arm seinen Dienst verweigerte, war ans Bassspielen nicht mehr zu denken. Dabei war Marie Sander mal richtig gut im Geschäft gewesen. Sie hatte drei Nummer-1-Hits geschrieben, zwei goldene Schallplatten und einen Echo verliehen bekommen. Sie hatte schon ihr ganzes Leben lang Musik gemacht, doch eines Tages, vor ungefähr zehn Jahren, war der Erfolg plötzlich über sie hereingebrochen. Das Glück hatte sie zu sich nach Hause eingeladen und sie reich bewirtet. Hatte sie mit Lachsschnittchen nur so überschüttet. Sie hatte dankend angenommen und sich nie etwas drauf eingebildet, denn sie sagte sich immer: Erfolg steigt nur zu Kopf, wenn dort der erforderliche Hohlraum vorhanden ist. Sie hatte auch nie versucht, sich ihren Erfolg zu erklären. Sie sagte sich: Ich bin wahrscheinlich so ähnlich wie Heidi, das schielende Opossum. Das hatte sich auch nie gefragt, warum es so berühmt geworden war, und obwohl es nichts konnte, außer dumm herumsitzen und schielen, hatte es genau so viel Facebookanhänger wie Angela Merkel. Gut, manche sagen: Kein Wunder, denn dumm herumsitzen und blöd gucken, mehr macht Angela Merkel ja auch nicht.

Bei Marie Sander kam der Erfolg vielleicht daher, dass sie es nie auf den Erfolg angelegt hatte. Sie hatte ihn einfach mitgenommen und sich gesagt: Erfolg, das ist wie eine Wagneroper in Bayreuth. Man versteht es nicht, man weiß nur: So lange die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende.

Aber jetzt sang Marie Sander nicht mehr, sie stand nicht mehr auf der Bühne, die Oper war zu Ende.

Der Fernseher lief und tauchte ihr Wohnzimmer in ein Licht, als wenn eine Hundertschaft der Polizei nachts zum Großeinsatz mit Blaulicht durch ein Aquarium fährt. Marie schaute auf das gegenüberliegende Gebäude. Sie fragte sich, welche Opern dort hinter den Fenstern der ehemaligen Nähmaschinenfabrik, in der sich heute hippe Lofts befanden, jetzt gerade aufgeführt wurden. Waren es komische Opern? Waren es dramatische Opern, in denen am Ende immer einer stirbt? Vielleicht passierte genau in diesem Moment hinter einem der Fenster gerade etwas ganz Furchtbares. Raubmord, Totschlag oder noch schlimmer: eine nächtliche Wiederholung von »Wetten, dass …?« mit Markus Lanz als Moderator.

Marie Sander musste kurz auflachen. Bei all den Dramen, die sich eventuell in diesem Moment in dem Gebäude gegenüber abspielten, war da ihr eigenes Drama wirklich das schlimmste von allen? Dieser Gedanke half ihr oft, wenn sie mit ihrem Schicksal haderte. Dann dachte sie: Egal, wie scheiße dein Leben auch sein mag, es gibt immer irgendwo auf der Welt ein dickes Kind, dem gerade ein Eis runterfällt, bevor es dran lecken kann.

Marie selbst war alles andere als ein dickes Kind. Bei einer Größe von eins vierundsiebzig wog sie fünfzig Kilo, sie konnte essen wie ein Schaufelradbagger im Braunkohleabbau und nahm einfach nicht zu. Selbst jetzt mit zweiundvierzig im Rollstuhl sitzend nicht. Auch sonst hatte sie der Schlaganfall optisch nicht sehr verändert. Sie hatte leicht hagere, aber feine Gesichtszüge und Augen, auf die jeder sibirische Tiger neidisch gewesen wäre. Ihre Haare waren rot wie glühende Stahlschlacke, die frisch aus dem Hochofen fließt. Wenn sie nicht gerade mal wieder weißblond waren. Trotz wechselnder Farben waren sie aber immer zügellos in alle vier Himmelsrichtungen aufgetürmt und hochtoupiert. Sorgsam über Jahre mit so viel Haarspray, Gel und Chemie behandelt, dass jede Sondermülldeponie dagegen der reinste Kurpark war. Ihr Geschmack ließ sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Je wilder, umso besser! Das hatte durchaus Nachteile, denn ihre Haare führten ein Eigenleben und in ihnen verschwanden von Zeit zu Zeit Dinge wie in einem Bermudadreieck. Mit dem ihr eigenen Hang zu Übertreibungen beteuerte sie, nach dem Waschen darin schon Kämme, Schokoriegel, Kaffeetassen und einmal sogar den Wellensittich gefunden zu haben, der ihrer Nachbarin Frau Schmitz entflogen war.

[2] Marie schaltete den Fernseher aus. Dunkelheit legte sich wie schwarze Rinde über den ganzen Raum. Sie stemmte sich in ihren Rollstuhl, rollte ans Fenster und zündete sich eine Zigarette an. All ihre Ärzte hatten ihr nach dem Schlaganfall dringend dazu geraten, mit dem Rauchen aufzuhören. Aber für sie war das – so unvernünftig es auch sein mochte – ein letztes Stück Selbstbestimmung, das sie sich nicht nehmen lassen wollte. Sie sagte sich: Na, und? Rauchen ist vielleicht krebserregend, aber mir ist doch egal, was Krebse lüstern macht!

Sie nahm einen tiefen Zug und sah hinüber zur Wohnung des avantgardistischen Malers Carsten Rottmann, die in das bleigraue Licht eines in die Wand eingelassenen Koibeckens getaucht war. Drei ausgewachsene Zierkarpfen mussten sich dort ihre Unterkunft mit einem Dutzend aufgeschlitzter Barbiepuppen teilen. Warum? Weil Rottmann dies offenbar für Kunst hielt.

Marie ließ ihren Blick weiter durch den Raum schweifen und plötzlich fuhr ihr blankes Entsetzen in die Glieder. Eine Leiche hing an einem Galgen mitten in Rottmanns Loft! Das Blut tropfte aus den Mundwinkeln des leblosen Körpers, formte auf dem weiß getünchten Boden eine tiefrote Lache, während ein Vogel Fleischstücke aus dem baumelnden Kadaver herauspickte. Marie drehte sich der Magen um. Sie griff zum Telefon, um die Polizei zu rufen, schaute dann aber noch einmal hin und musste grinsen. Das war kein menschlicher Leichnam, der da am Strick hing, sondern eine Vogelscheuche in einem apricotfarbenen Businesskostüm und mit einem schwarzen Raben auf der Schulter. Die zur Raute geformten Hände der abstrusen Kunstinstallation sollten wohl an Angela Merkel erinnern und wahrscheinlich ein Fanal gegen deren Politik darstellen. Nach Maries Auffassung zeichneten sich Rottmanns Werke nicht durch Talent, sondern durch Geschmacklosigkeit aus. Er hatte am Hauptbahnhof vor den Toiletten dreihundertfünfundsechzig Plastikgartenstühle mit der Aufschrift »Harter Stuhl« aufgestellt und einen lebenden Hamster vierundzwanzig Stunden auf einen rotierenden Ventilator gebunden. Marie begriff einfach nicht, wie man mit so einem pubertären Unsinn Geld verdienen konnte. Und dass Rottmann damit offensichtlich viel Geld verdiente, war nicht zu übersehen. Seine Wohnung war zwar spärlich, aber sehr hochpreisig eingerichtet. Klare Linien, kein Schnickschnack, kahle mintgrüne Wände, eine davon mit alten Fix-und-Foxi-Heften tapeziert, vor der ein goldenes Regal stand. Dazu ein LC3-Sofa von Le Corbusier, eine Palisanderliege von Mies van der Rohe, ein Kirschholztisch von Frank Lloyd Wright, ein glänzender Chromsekretär und ein ungefähr drei Quadratmeter großer, pinkfarbener Bang&Olufsen-Fernseher. In diesem inhaltsleeren Ambiente bewegte sich Rottmann wie eine lebende Karikatur des modernen Kunstbetriebs. Nur heute nicht, heute war seine Wohnung leer bis auf die Koikarpfen im Aquarium, die arrogant-gelangweilt auf die Barbiepuppen starrten.

Eine Etage höher im Penthouse auf dem Dach der ehemaligen Fabrik ging das Licht an. Wie jeden Abend um diese Uhrzeit. Ein athletischer, kraftstrotzender Mittvierziger betrat nur in Jogginghose und Turnschuhen gekleidet sein Wohnzimmer, das allerdings eher einem Fitnessstudio glich. Bis auf ein altes Ikeasofa war es vollgestopft mit Hantelbänken, Rudermaschinen, Beinpressen, Bi-, Tri- und Quadrizepscurlern. Besäße der Mensch auch einen Octozeps und einen Monozeps, der Mann hätte sich bestimmt sofort die entsprechenden Foltergeräte angeschafft. Sein äußeres Erscheinungsbild ließ sich mit drei Wörtern zusammenfassen: »Muskelschmalz« und »unbewegte Miene«. Sein Vorname war Tarkan. Sein Nachname lautete Batman. Als Marie dies vor einigen Tagen durch einen neugierigen Blick auf sein Klingelschild herausbekommen hatte, dachte sie: Wow! Batman ist also im bürgerlichen Leben ein Bodybuilder aus Köln und muss allabendlich seine Muskeln stählen, um nachts Gotham City von allen Verbrechern zu befreien!

Sein Name rührte allerdings nicht von dem amerikanischen Comichelden, sondern von der gleichnamigen Stadt im Südosten der Türkei.

Der osmanische Batman von gegenüber stemmte gerade eine Hundertdreißig-Kilo-Langhantel in die Höhe, der Schweiß lief ihm dabei in Strömen über den nackten Oberkörper. Wie jeden Abend schaute Marie dem Spektakel gebannt zu. So gebannt, dass sie automatisch zu dem Fotoapparat griff, der neben ihr auf dem Tisch lag. Sie zoomte sich ihr Gegenüber näher heran, um es genauer betrachten zu können. Ihr gefielen die leicht asiatischen Gesichtszüge des Bodybuilders und seine großen, rußfarbenen Augen. Ihr Blick heftete sich an seinen Oberkörper. Jeder einzelne Muskel war definiert, und zwar eindeutig definiert als Quell des Entzückens. Ihr Blick folgte einem einzelnen Schweißtropfen auf seiner Reise durch die hügelige Dünenlandschaft seines kaum bewaldeten Sixpacks bis in tiefere Regionen, deren Fauna sie sich nicht vorzustellen wagte. Was waren das für seltsame Phantasien, die dieser aufgepumpte Adonis in ihr auslöste? Wahrscheinlich litt sie unter Entzug, vor allem nachdem sie ihrem Freund vor drei Monaten den Laufpass gegeben hatte. Einen Tag vor ihrem zweiundvierzigsten Geburtstag. Denn Manni-Hasi hatte sich zwar immer sehr gerne in ihrem Erfolg gesonnt und es geliebt, sie auf irgendwelche Preisverleihungen zu begleiten. Mit ihrer Krankheit konnte er allerdings wenig anfangen. Die würde ihn irgendwie überfordern und außerdem habe er irgendwie keine Schmetterlinge mehr im Bauch.

»Weißt du was, Sportsfreund?«, hatte sie erwidert. »Wenn du Schmetterlinge im Bauch willst, dann steck dir Raupen in den Arsch!«

Er hatte ihr dann noch vorgeschlagen, dass sie ja Freunde bleiben könnten, doch Marie hatte nur gedacht: »›Wir können ja Freunde bleiben‹ ist das Gleiche wie ›Dein Hund ist tot, aber du darfst ihn behalten.‹«

Und dann hatte sie ihn mit einem »Leck mich doch, du Sack!« achtkantig vor die Tür gesetzt. Ihren zweiundvierzigsten Geburtstag hatte sie danach in ganz kleinem Rahmen gefeiert, nur mit ihren Freunden Jonny Walker, Mai Tai und Veuve Cliquot. Noch vor Mitternacht war sie dann ins Bett gegangen, nicht ohne vorne noch lattenstramm eine Runde mit dem Porzellanbus gefahren zu sein.

Marie rollte in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Sie war gerade an ihren Fensterplatz zurückgekehrt und hatte sich ihren Fotoapparat geschnappt, da bemerkte sie, dass auch Tarkan den Raum verlassen hatte. Eine Minute später kam er mit einem Schild in der Hand aus dem Nebenraum zurück, ging ans Fenster und hielt den Karton dagegen. Darauf stand mit einem dicken Edding in großen Buchstaben geschrieben: »Bekomme ich einen Abzug?«

»Verdammter Bullshit!«, erschrak Marie. »Er hat bemerkt, dass ich ihn beobachte, weil ich Idiot das Licht in der Küche angelassen hab!«

Vor lauter Scham fing ihr Kopf an, hochrot zu leuchten, denn nun stand sie vor ihm da wie ein notgeiler Voyeur oder Spanner. Tarkan hingegen nahm den Pappkarton vom Fenster, beschriftete dessen Rückseite, um diese dann an die Scheibe zu drücken: »Wie heißt du?«

Marie überlegte lange. Dann rollte sie zu ihrem Schreibtisch, schrieb ihren Namen auf einen DIN-A3-Umschlag und zeigte diesen ihrem Nachbarn: »M A R I E«. Kurze Zeit später erhielt sie eine erneute Botschaft von gegenüber: »Freitag Frühstück?«

Sie nickte, winkte kurz, dann rollte sie in ihr Schlafzimmer, nicht ohne vorher das Licht in der Küche gelöscht zu haben.

[3] Marie wusste nicht, warum, aber sie fühlte sich am nächsten Morgen so leicht wie schon lange nicht mehr. Eine Stimmung, die so ganz anders war als die der vergangenen Monate, in denen sie auch noch die letzten Reste ihres verbliebenen Lebensglücks mit dem lähmenden Gips ihrer dunklen Gedanken verspachtelt hatte. Ihre Freunde machten ihr permanent Vorhaltungen, dass sie mehr und härter an sich arbeiten müsse, dass sie ihre therapeutischen Übungen ernster nehmen solle und dass sie nicht genug für die Wiederherstellung ihres lädierten Körpers tue.

Sie sagte dann immer: »Klar, mache ich, für den nächsten Marathon habe ich mich schon angemeldet!«

Aber sie war nun mal kein Leistungssportler, der es gewohnt ist, mit eiserner Disziplin zu kämpfen und zu trainieren. Wie kann man das von einem Menschen, der nie extrem viel Sport getrieben hat, plötzlich erwarten? Sie war doch nicht faul, sie war nur physisch etwas konservativ.

Amtsärzte dagegen versuchten permanent, den Grad ihrer Behinderung kleinzureden. Neulich fragte sie eine neurologische Ärztin allen Ernstes, ob sie denn ihren Haushalt alleine erledigen würde. »Ja, wie denn? Mit einem Arm? Und meine Füße haben diesbezüglich noch kein Talent! Aber wenn Sie meinen, dann geh ich demnächst morgens nach dem Aufstehen erst mal in die Küche, guck mir das schmutzige Geschirr vom Vortag an und schwinge dann munter meine Spülaxt. Alles, was dabei kaputtgeht, ist dann praktisch sauber, weil nicht mehr existent! Und was heil bleibt, hat eben Pech, muss puppenlustig so lange vor sich hin schimmeln, bis der linke Arm wieder funktioniert. Oder warten, bis es von der Spülaxt bei der nächsten Runde getroffen wird!«

Es war nicht so, dass sie gänzlich in Depressionen versunken war, sie war es einfach nur satt, auch gedanklich dauernd zu kämpfen und dauernd positiv denken zu müssen.

Unzählige Psychoratgeber, Glücksexperten und Gute-Laune-Propheten wollen den Leuten heutzutage weismachen, man müsse nur richtig denken und schon gebe es keine Probleme mehr auf der Welt. So ein Quatsch! Genauso wie: »Lächle und die Welt lächelt zurück!« Marie wollte aber nicht immer lächeln. Man lächelt doch nur, wenn es einen Grund dafür gibt. Sollte sie eines Tages zum Beispiel Wladimir Putin über den Weg laufen, dann würde sie ihn nicht anlächeln wollen, sondern ihm lieber eins in die Fresse hauen.

»Mein Gott!«, sagte sie sich. »Ich bin ein Homo sapiens und keine Grinsekatze!«

Als Marie hatte feststellen müssen, dass ihr Kopf es müde war, immer nur positiv zu denken, musste sie auch feststellen, dass stattdessen ein Unwetter in Form dunkler Gedankenwolken und bedrohlicher Geistesblitze in ihm aufgezogen war. Sie hatte eindeutig ein böses Tief erwischt. Der Zug ihrer Gedanken war entgleist und es sah so aus, als hätte es keine Überlebenden gegeben.

Doch dieser Zustand war seit heute Morgen plötzlich wie weggeblasen. Sie schaute zur Küche hinüber und fragte sich, ob das wohl mit ihrem Besuch zusammenhing. Es konnte eigentlich nicht sein, denn der Kerl, der dort lautstark seine Anwesenheit kundtat, war doch eigentlich gar nicht ihr Typ.

»Und? Hast du den Zucker gefunden?«, rief sie quer durch ihre Wohnung und erhielt als Antwort nur lärmende Geräusche von klirrendem Geschirr und polternden Töpfen.

»Nicht, dass du das irgendwie falsch verstanden hast. Du solltest uns nur einen Kaffee kochen und nicht gleich die ganze Küche abreißen. Verstehst du?«

Immer noch keine Antwort aus dem Raum am anderen Ende ihres Wohnzimmers.

»Ich weiß auch nicht, wie ihr Männer es immer schafft, euch ein einziges Spiegelei zu braten und dabei gleichzeitig die komplette Küche zu verwüsten. Der Mann meiner Freundin Suse hat neulich selbstständig Wasser gekocht. Hinterher musste Tine Wittler mit einem dreißigköpfigen Handwerkerteam zur Grundsanierung anrücken. Ich bin ja auch der festen Überzeugung, dass die Welt nicht durch einen spontanen, nicht erklärbaren Urknall entstanden ist. Ich bin mir sicher, das Universum war ursprünglich ein frisch geputztes Badezimmer, das im Chaos endete, weil Gott versucht hat, sich zu rasieren!«

Endlich hörten die Geräusche von nebenan auf und stolz wie Johann Lafer nach der Zubereitung eines Siebzehn-Gänge-Menüs stand der Meisterkoch mit zwei Tassen Kaffee im Türrahmen.

»Hast du mir überhaupt zugehört, Tarzan?«, griente Marie ihn an.

»Ich heiße nicht Tarzan, ich heiße Tarkan! Das weißt du genau!«, kam es missmutig zurück.

»Ja! Du siehst aber eher nach Tarzan aus! Ich mein, mit deinen ganzen Karnevalsmuskeln, die du dir mühsam antrainiert hast. Ich muss das ja jeden Abend mit ansehen, wie du drüben in deiner Fitnesshölle Eisen pumpst.«

Tarkan reagierte nicht, all ihre um Lockerheit bemühten Sprüche schienen an ihm abzuprallen. Er machte weder den Eindruck, dass er sich von ihnen provoziert fühlte, noch dass er sie in irgendeiner Art lustig fand. Er schaute ihr beim Reichen der Tasse nur eindringlich in die Augen, verharrte so einen Moment und sagte dann beiläufig: »Ich weiß, dass du darauf stehst.«

Sie verschluckte sich fast am Kaffee. Was erzählte er da? Das war völliger Unsinn! »Nee! Also, wenn du meine ehrliche Meinung hören willst: Du siehst aus wie ’n frisch rasiertes Mammut, und dein Oberkörper erinnert mich an ein mit Walnüssen vollgestopftes Kondom!«

»Und warum schaust du mir dann jeden Abend beim Training zu?«

»Das sind Naturstudien. Für mich ist das wie eine Tierreportage auf Discovery Channel: Neueste Berichte aus dem Leben der Primaten und Alphatierchen.«

»Du interessierst dich für Menschenaffen?«

»Klar, würde ich sonst mit dir reden?«

Ein ganz leichtes Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln, doch er schluckte es wie einen hängen gebliebenen Brotkrümel augenblicklich wieder herunter.

»Und du hältst mich also für ein Alphamännchen! Danke für das Kompliment!«

»Du musst ein Alphamännchen sein. Wie sonst kann man seinen Arsch nur so selbstsicher durch die Welt tragen? Das ist das typische Imponiergehabe von Primaten!«

»Na und? Was ist daran so schlimm, wir stammen doch alle vom Affen ab.«

Mittlerweile fing sie an, Spaß daran zu finden, sich mit ihm zu streiten: »Dass wir alle vom Affen abstammen, ist doch gar nicht die Frage, sondern die Frage ist, wie viele Generationen dazwischenliegen. Wenn du in den Zoo gehst, musst du dich garantiert am Ausgang immer ausweisen, damit sie dich wieder rauslassen, oder?«

Er nahm einen Schluck Kaffee, ließ diesen gurgelnd die Kehle hinunterlaufen und zeigte keinerlei Reaktion. Marie gelang es einfach nicht, ihn aus der Reserve zu locken. »Wahrscheinlich erzählst du mir gleich, dass du als Alphamännchen auch diesen enormen Drang besitzt, möglichst viele Weibchen zu begatten. Aber nicht aus Eigennutz, sondern zum Wohle der Menschheit – weil du weißt, dass deine Gene echte Qualitätsgene sind und weitergegeben werden sollten.«

»Qualitätsgene! Danke! Schon wieder ein Kompliment.«

»Ganz und gar nicht! Denn Alphamännchen sind in Wahrheit echte Luftkoteletts. Wusstest du zum Beispiel, dass im Tierreich die Schimpansen-Rudelführer den Rekord für die schnellsten Quickies halten? Drei Sekunden! Da wird Cheetah nicht oft auf ihre Kosten kommen.«

Er leerte seine Tasse, stellte sie auf den Tisch und ging einen halben Schritt auf sie zu.

»Weißt du was? Ich glaube, wenn du damals bei King Kong die weiße Frau gewesen wärst – der Affe hätte dich nach zehn Minuten wieder an den Marterpfahl zurückgehängt!«

Jetzt war sie es, bei der ein leichtes Lächeln auf den Mundwinkeln zuckte.

»Dabei träumst du doch insgeheim auch von King Kong. Würdest du mich sonst so oft beobachten?«

»Du meinst, ich träume von der archaischen Wildheit und dem Animalischen, das in euch Männern nun mal drinsteckt, weil es eure Natur ist? Du hast sie ja nicht mehr alle, Tarzan!«

»Ich heiße Tarkan!«, knurrte er zurück. »Ich bin auch nicht der König des Dschungels. Höchstens der König der Dummköpfe«, fügte Tarkan leise hinzu.

Auf Maries fragenden Blick fuhr er fort: »Früher war ich mal Polizist, hab aber wegen illegalem Handel mit anabolen Steroiden meinen Job verloren und schlage mich heute als Türsteher durch.«

Er schaute sie herausfordernd an und setzte sich lässig auf die Kante des giftgrünen Tisches. Ein Bein blieb auf dem Boden, das andere stellte er auf die Lehne ihres Rollstuhls. Marie hatte sofort den Impuls, ein Stück von seinem Bein wegzurücken, da sich seine Geste viel zu intim anfühlte. Doch dann ließ sie es geschehen. Er beugte sich zu ihr hinüber, und nun endlich öffneten sich seine Gesichtszüge wie ein Vorhang, durch den man das Sonnenlicht ins Zimmer lässt.

»Sag mal, redest du eigentlich immer so viel?«

»Nur wenn der andere so wenig zum Gespräch beiträgt. Wenn Schweigen wirklich Gold ist, dann musst du verdammt reich sein.«

Er schaute sie nun wieder ernst an: »Es gibt ja auch nicht so viel zu reden. Außer wenn du wirklich was von mir willst, dann sag das ruhig. Ich hab da keine Probleme mit.«

Beide sahen sich schweigend an.

»Was läuft denn hier gerade ab?«, fragte Marie schließlich nervös. Ihr lädiertes, lahmes Bein fing an, unkontrolliert zu zittern.

»Das weißt du genauso gut wie ich!«

»Wie? Meinst du, hier läuft gerade ›Love me tender‹?«

»Eher ›Ticket to ride‹ oder meinetwegen auch ›Sexual healing‹«, grinste er unverschämt zurück.

»Ja, klar: ›Sexual healing‹!«, stöhnte Marie laut auf. »Aber ich als Tierspezialistin hätte es ja wissen müssen. Shrimps haben das Herz im Kopf, Männer das Gehirn in der Hose. Wir Frauen sind da anders. Ich hab mal gelesen, dass nur drei Prozent der Männer, aber achtzig Prozent der Frauen für hunderttausend Euro ein Jahr auf Sex verzichten würden.«

»Bist du etwa arm? Brauchst du hunderttausend Euro?«

Sie schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Ihre Beinmuskeln bewegten sich wie von Geisterhand, und ein Schauer durchzuckte ihren gesamten Körper.

»Oder hast du Probleme damit?«, drängte er weiter, während sich Maries Gedankenkarussell ruckartig in Bewegung setzte. Was machte sie hier? War sie im Begriff, sich von dem wandelnden Fleischpalast, der ihr gegenübersaß, verführen zu lassen? Wollte sie das? Obwohl sie ihn erst heute kennengelernt hatte? Obwohl er gar nicht ihr Typ war?

Ja, sie wollte.

Nein, sie wollte nicht.

Ja … Nein … Ja … Das Karussell nahm immer mehr Fahrt auf. Drehte sich mit zunehmender Geschwindigkeit mal nach oben, mal nach unten. Änderte urplötzlich die Richtung, um auf einmal gegen den Uhrzeigersinn zu fahren. Ihr wurde schwindelig, und sie war kurz davor, aus dem Waggon geschleudert zu werden. Sie hatte die Kontrolle über ihr mentales Fahrgeschäft verloren und drohte, von ihren eigenen Gedanken hilflos mitgeschleift zu werden.

Er nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sie bei der rechten Hand fasste und sanft über den Ärmel ihres Sweatshirts fuhr. Sie spürte dies wie einen Windhauch und hörte augenblicklich auf zu denken. Es war einfach nur schön, sich endlich mal woanders als in seinen Gedanken aufzuhalten. Er ergriff ihre linke Hand, und sie rief dieser zu: »Mach mit!« Aber nichts passierte, alle Empfangsgeräte dort waren abgestellt.

[4] Tarkan hatte ihre Hand wieder losgelassen, die Mittagssonne leckte an dem grünen Holztisch, und Marie schaute aus dem Fenster. Ihr Blick wanderte hinüber zum Atelier von Carsten Rottmann, dem Maler. Und plötzlich sah sie dort zwei Gestalten durch sein Loft huschen. Sah, wie diese sich aus dem Schlafzimmer kommend umblickten und zum goldenen Bücherregal und zu Rottmanns Schreibtisch liefen. Sie kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können. Eine der beiden Gestalten riss nun hektisch die Schubladen des Chromsekretärs auf, und da war sie sich sicher: Einbrecher! »Tarkan! Drüben bei Rottmann wird eingebrochen!«, rief sie aufgeregt und griff zu ihrem Handy.

Doch Tarkan nahm es ihr aus der Hand und flüsterte: »Die schnappe ich mir. Bis die Polizei da ist, sind die doch längst über alle Berge!«

Noch bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er sich auch schon in Bewegung gesetzt. Er sprang vom Tisch, griff sich einen darauf liegenden Schraubenzieher und stürmte quer durch die Wohnung rennend aus der Wohnungstür.

»Hey!«, rief Marie ihm hinterher. »Was willst du denn mit dem Schraubenzieher? Die Einbrecher an die Wand schrauben, bis die Polizei da ist?«

Während Tarkans Schritte dumpf durch den Hausflur hallten, blickte sie wieder rüber zu Rottmann und sah, dass die eine Gestalt mittlerweile sämtliche Schubladen herausgerissen und auf den Boden geworfen hatte. Die andere hatte das goldene Bücherregal ausgeräumt und dessen Inhalt auf dem Parkett verteilt. Kein Handgriff der beiden schien zufällig zu sein, sie gingen mit solch einer Geschwindigkeit zu Werke, dass ihr sofort klar war: Das mussten echte Profis sein. Ab und zu begutachteten sie irgendetwas und warfen es dann desinteressiert hinter sich. Schließlich zerrten sie zwei an der Wand lehnende Bilder aus ihrer Luftpolsterfolie und steckten sie in eine Umhängetasche. Marie wollte nun doch die Polizei rufen. Aber Tarkan hatte in der Hektik vergessen, ihr das Handy zurückzugegeben, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als tatenlos von ihrem Rollstuhl aus das Geschehen gegenüber zu verfolgen. Die kleinere der beiden Gestalten rief die größere zu sich herüber. Anscheinend hatte sie etwas ganz Besonderes gefunden. Beide verharrten einen Augenblick regungslos und blickten auf ein weißes Ding, das wie ein kleines Paket oder ein dicker Briefumschlag aussah. Dann steckten sie dieses in ihre Umhängetasche, rannten los und verschwanden.

Rottmanns Atelier war wieder leer. War schon vorher kein einziges Geräusch des Einbruchs zu hören gewesen, so war die Stille jetzt regelrecht fühlbar und krabbelte wie ein Insekt durch Maries Ohren. Die Einbrecher waren fort, Tarkan hatte sie verpasst. Was war er nur für ein Idiot, ihr Handy mitzunehmen und zu versuchen, wie ein wild gewordener Berggorilla den Ärger in seinem Revier auf eigene Faust zu beenden. Ihr selbst war das ziemlich egal, da sie Carsten Rottmann und auch seine Bilder ohnehin nicht sonderlich mochte. Doch die plötzliche Aufregung tat ihr nicht gut. Seit dem Schlaganfall verhedderten sich die Verkabelungen ihres Hirns schnell wie ein Wollknäuel, das durcheinandergerät. Sie brauchte dann immer ein wenig Zeit, um alles in ihrem Oberstübchen wieder an seinen Platz zu stellen, und versuchte daher, sich diese gedanklichen Aufräumarbeiten möglichst zu ersparen.

Sie schaute zum Eingang ihrer Wohnung hinüber, in dem die Tür weit offen stand. Wo war Tarkan nur abgeblieben? Sie rollte mit ihrem Rollstuhl zur Tür und hörte plötzlich im Hausflur lautes, gellendes Kindergeschrei. Was bildeten sich diese Rotzlöffel nur ein? Sie hatte nichts gegen Kinder, aber sie hasste Kinder, die sich nicht zu benehmen wussten. So etwas nervte sie einfach. Wenn sich zum Beispiel an der Supermarktkasse Kinder laut schreiend auf den Boden warfen, weil sie unbedingt einen Schokoriegel wollten. Dann sagte sie den verzweifelten Eltern immer: »Tränen lügen nicht – aber Kondome schützen!«

In all das Kindergeplärr mischte sich jetzt eine lauthals fluchende Männerstimme.

»Wenn Sie Ihre Kinder nicht im Griff haben, kann ich Ihnen gerne die Nummer vom Jugendamt geben! Da arbeiten Profis, die sich mit Kindererziehung auskennen!«, rief sie in den Hausflur.

Der Krach kam nun immer näher, das mobile Krawallkommando war jetzt auf dem Treppenabsatz eine Etage unter ihr, und dann sah sie die Verursacher des Lärms: Es war Tarkan, der einen wild um sich schlagenden Jungen unter dem rechten Arm klemmen hatte und mit dem ausgestreckten linken ein Mädchen am Kragen hielt, das ebenso wild nach ihm trat. Wenn es nicht gerade mit aller Kraft seine Beine gegen das Treppengeländer drückte, um Tarkan am Vorwärtskommen zu hindern. Bei jeder neuen Stufe musste er seinen Arm beugen, um das Mädel gewaltsam auf den nächsten Absatz zu hieven. Und jedes Mal musste er einen gezielten Tritt mitten in die Weichteile einstecken. Jetzt schien Tarkan genug von dem endlosen Kampf zu haben, denn er packte sich auch das Mädchen unter den Arm. Er drückte mit beiden Armen so fest zu, dass die zwei Kinder fiepend und röchelnd nach Luft japsten. Mit einer letzten Kraftanstrengung rannte er die restlichen Stufen hinauf und stürmte in die Wohnung.

»Los, schließ die Tür zu!«, rief er keuchend und blieb in der Mitte des Wohnzimmers stehen. Er bewegte sich keinen Millimeter, stand da wie ein Fels mit zwei zappelnden Kindern unterm Arm. Den Blick in die Ferne gerichtet, sah er aus wie ein sowjetisches Kriegerdenkmal, an dem ein paar Tauben auf der Suche nach Nahrung herumflatterten.

»Wenn ihr mir versprecht, euch ruhig hinzustellen und nicht zu treten und um euch zu schlagen, dann lasse ich euch runter!«

Die Kinder schlugen weiter um sich, und Tarkan erhöhte zur Unterstreichung seiner Worte den Druck seiner Arme merklich. Ein eindringliches Röcheln und anschließendes Kopfnicken waren die Antwort darauf. Er setzte die beiden vorsichtig mit den Füßen auf den Boden. Langsam, wie ein Hobbybastler, der seinen Streichholzturm nicht durch den Windstoß einer überhasteten Bewegung zum Einsturz bringen will, ging er einen Schritt zurück.

Die beiden Kinder standen reglos nebeneinander. Die Augen des Jungen wanderten unstet und argwöhnisch durch den ganzen Raum. Bernsteinfarben funkelnd schossen sie von einem Punkt zum anderen wie bei einem Flipperautomaten, in dem zwei glänzende Stahlkugeln über das Spielfeld jagen. Er hatte dunkelbraune, halblange Haare, trug ein schwarzes Adidas-T-Shirt mit verblichenem goldenem Schriftzug, dazu Jeans und graue Turnschuhe. Ein durchaus hübscher Junge, ein wenig wie Mogli nach einer Neueinkleidung bei H & M. Er war auch ungefähr im gleichen Alter wie das Dschungelkind: zehn oder höchstens elf Jahre. Nur hatte er nichts von Moglis offenen Gesichtszügen, etwas sehr Hartes und extrem Misstrauisches lag in seinem Antlitz. Er sah dadurch aus wie ein Junge, hinter dessen zu dünner Haut sich wie hinter einem Vorhang ein verbitterter alter Mann versteckte.

Das Mädchen war ein wenig älter, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, die Pubertät hatte bei ihr gerade erst schüchtern an der Tür angeklopft. Sie trug einen braunen Kapuzenpullover, verblichene Jeans und rote Converse Chucks. In ihrem rechten Ohr klemmte ein kleiner goldener Ring, und durch braune, von blonden Strähnen durchsetzte Haare, die ihr ins Gesicht fielen, schaute sie starr geradeaus.

»Und? Wer seid ihr? Wie heißt ihr zwei Nervzwerge?«, fragte Tarkan, ohne die beiden aus den Augen zu lassen.

Er erhielt keine Antwort.

»Hallo! Ihr sollt mir eure Namen nennen.«

»Ja, los! Oder soll Onkel Eisenbieger euch wieder ein wenig in die Schrottpresse nehmen?«, fügte Marie hinzu und formte dabei ihren rechten Arm zu einem Schwitzkasten.

»Nix versteh …«, sagte das Mädchen ausdruckslos. »Nix Deutsch versteh …«

Tarkan und Marie schauten sich ratlos an. Das Mädchen blickte mit unbewegtem Auge nach vorn und sprach tonlos an ihren kleinen Kompagnon gewandt: »Spune pur și simplu că nu înțelegi limba germana.«1

»Eu nu sunt totuși prost«2, gab der Junge beinahe unhörbar zurück.

»Hai să plecăm. Număr până la trei. Apoi fugim … unu, doi …«3, fuhr das Mädchen fort, wurde aber von Tarkan schroff unterbrochen: »Nu! Voi rămâneți pe loc. Nix da! Ihr bleibt hier! Und wenn ihr kein Deutsch reden wollt, können wir uns gerne auf Rumänisch unterhalten!«

Verdutzt starrten die beiden Kinder und auch Marie den türkischen Bodybuilder an.

»Hey«, rief Marie, »seit wann gehst du abends nach dem Training noch in die Volkshochschule und lernst Fremdsprachen?«

»Nee, nicht Volkshochschule, rumänische Großmutter! Geboren in Ada Kaleh, einer Donauinsel. Oma war eine muslimische Tatarin. Von der hab ich das, weil ich als Kind lange bei ihr gelebt habe«, zischte er ihr zu.

»Ah, der Herr Tarzan ist ein halber Tartar. Also so eine Art Gehacktes halb und halb!«, frotzelte Marie in seine Richtung.

»Tatar, nicht Tartar! Tataren sind ein altes Turkvolk!«, korrigierte er sie barsch und wandte sich wieder an die beiden Kinder: »So, jetzt passt mal auf, băiat und fată …«

»Wenn ihr nicht augenblicklich ein bisschen kooperativer seid, dann gibt’s mächtig Ärger!«, fiel Marie ihm ins Wort. »Vor allem, wo wir schon mal wissen, wie ihr heißt. Du bist der Băiat und du bist die Fată …«

Tarkan und die beiden Kinder prusteten gleichzeitig vor Lachen laut los.

»Marie! ›Băiat‹ und ›fată‹, das heißt ›Junge‹ und ›Mädchen‹ auf Rumänisch, das sind keine Namen!«, erklärte Tarkan und verdrehte dabei die Augen.

»Kann man zu Junge statt băiat aber auch tânăr sagen«, rutschte es dem kleinen Mogli heraus, und als er daraufhin ertappt aus der Wäsche schaute, wirkte er auf einmal sehr jung und sehr zerbrechlich.

»So, das hätten wir geklärt. Mein Rumänisch lässt zwar ein wenig zu wünschen übrig, aber zum Glück sprecht ihr zwei Rabauken ja Deutsch. Und wie heißt ihr wirklich?«

»Ich Jordan und das Sorina«, sagte der Junge ein wenig bockig. Marie rollte auf den Jungen zu, stupste ihn halb gereizt, halb versöhnlich in die Seite. »Dann wollen wir doch mal gucken, welche Beute ihr bei eurem kleinen Überraschungsbesuch bei Rottmann erobert habt.«

Sie nahm dem Jungen die Umhängetasche, die er quer über der Schulter hängen hatte, ab und fuhr damit zum Schreibtisch am Fenster.

»Oh, zwei Bilder«, sagte sie mit einem oberflächlichen Blick in die Tasche. »Ob man in dem Fall von Beutekunst reden kann, weiß ich nicht. Denn ›Kunst‹ würde ich Rottmanns Machwerke nicht nennen.«

Ohne weitere Begutachtung schob sie die Bilder zur Seite, griff mit der Hand in die Tasche und holte daraus einen großen Umschlag hervor. Sie öffnete ihn und pfiff durch die Zähne: »Wow, was haben wir denn hier? Geld! Und zwar jede Menge Geld!«

Tarkan nahm ihr den Umschlag ab, holte ein ziegelsteindickes Bündel Hundert-Euro-Scheine heraus, das er augenblicklich zu zählen begann. Als er damit fertig war, rief er: »Meine Herren! Das sind fünfzigtausend Euro!«

Marie schob das Geld wieder in den Umschlag zurück und wog diesen prüfend in der Hand. »Jetzt weiß ich, was der Umrechnungskurs von Euro in Pfund ist. Fünfzigtausend Euro, das ist genau ein Pfund!«

Tarkan runzelte die Stirn. »Ich denke, wir müssen die beiden Kinder zur Polizei bringen.«

Diese zeigten sich erstaunlich unbeeindruckt von Tarkans Drohung.

»Macht nix!«, sagte Sorina, das Mädchen. »Kommen wir in Heim und hauen morgen wieder ab aus Heim!«

Tarkan als Exbulle war auch klar, dass die Polizei strafunmündige Kinder wie Sorina und Jordan nur dem Jugendamt übergeben kann und es in Köln keine geschlossenen Heime gibt, in denen sie zwangsweise festgehalten werden können.

»Irgendwie tun mir die beiden auch leid«, sagte schließlich Marie, »wie alt seid ihr?«

»Ich zehn, Sorina dreizehn«, nuschelte der Junge.

»Mit zehn bricht man doch nicht freiwillig in fremde Wohnungen ein, oder?«

Ein scheues Lächeln legte sich auf das Gesicht des Jungen, und er schüttelte verlegen den Kopf.

Dann schrie er plötzlich laut auf: »Vampirul! E aici!«

Er wies panisch mit dem Arm in Richtung Fenster und zitterte am ganzen Körper, während Sorina schlagartig totenbleich wurde.

»Da drüben! In Haus ist Andras! Der Vampir! Hat gesehen, wie wir Geld gezählt. Viel Geld!«

»Wenn wir Andras nicht Geld geben, er uns prügelt tot!«, rief Sorina und warf sich zusammen mit ihrem Bruder unters Fenster auf den Boden.

Marie und Tarkan blickten auf den Mann im Hausflur vor Rottmanns Wohnung. Er war untersetzt, ein wuchtiger Kraftzwerg mit langer, speckig glänzender Walhalla-Mähne, schwarzem Hemd und schwarz-weißer Harley-Davidson-Jacke, etwa Mitte vierzig. Er schaute sie direkt an, öffnete leicht lächelnd den Mund. Etliche Goldzähne flackerten ihnen wie gefahrkündende Warnblinklichter entgegen.

»Scheiße, der Typ sieht nicht sehr freundlich aus. Ruf die Polizei!«, befahl Tarkan, während Andras, der Vampir, sich vom Fenster wegdrehte und die Treppe hinunterlief.

»Nein!«, schrie Sorina. »Für Polizei zu spät. Andras sehr schnell und bestimmt sehr wütend!«

[5] Ohne lange zu überlegen, schnappte sich Marie die Umhängetasche mit den Bildern und dem Geld und setzte sich mit ihrem Rollstuhl in Bewegung.

»Das Mädchen hat recht, lass uns abhauen. Ich möchte mich mit dem Schmierlappen nicht auf einen Boxkampf einlassen. Jederzeit gerne, nur nicht jetzt, wo mein linker Haken ein wenig schwächelt!«

Sorina und Jordan packten sich Maries Rollstuhl und schoben sie Richtung Ausgang. Draußen im Flur stürzten alle in den Fahrstuhl. Tarkan hob den Arm, um auf »Erdgeschoss« zu drücken, doch Marie schlug ihm die Hand nach unten: »Bist du wahnsinnig, da laufen wir ihm direkt in die Arme. Drück auf ›Untergeschoss‹.«

Surrend setzte sich der Lift in Bewegung, während Sorina zitternd flüsterte: »Andras unsere Patron! Hat uns gekauft für tausend Euro in Rumänien. Müssen für ihn einbrechen in Häuser! Wenn wir nicht gut, er uns viel schlagen!«

Im Keller angekommen öffnete sich die Fahrstuhltür zu einem weißgekalkten Treppenraum. Durch eine Stahltür an dessen Ende gelangten sie in die Tiefgarage. Marie lenkte ihre drei Begleiter nach links. Neben einem hellblauen Renault Kangoo hieß sie sie anhalten.

»Du hast ein Auto?«, fragte Sorina ungläubig.

»Ja, das ist in Deutschland durchaus normal, dass Leute Autos besitzen!«, antwortete Marie, wohl wissend, dass das Mädchen auf etwas anderes anspielte. »Aber fahr du, Tarkan. Bis ich mich auf dem Sitz sortiert habe, ist das gegelte Spaghettilöckchen bestimmt längst hier!«

Sie wühlte in der Handtasche, die sie sich in ihrer Wohnung noch schnell gegriffen hatte, und stieß dann einen gewaltigen Fluch aus: »Verdammter Hurensalat! Die Drecks-Autoschlüssel liegen oben auf dem Flurtisch!«

Ratlos schauten sich Tarkan und die beiden Kinder an. »Los, ihr Ölgötzen!«, brüllte Marie. »Schiebt mich und rennt! Da geht’s lang!«

Der kleine Tross raste zum Eingang der Tiefgarage, preschte die Rampe hoch und gelangte draußen auf die Straße. Ihnen war klar, dass sie mit Marie im Schlepptau zu Fuß keine Chance haben würden, und so winkte Tarkan ein Taxi, das in dem Moment um die Ecke bog, zu sich heran. In Windeseile verstauten sie Marie auf dem Beifahrersitz und den Rollstuhl im Kofferraum. Tarkan und die beiden Kinder nahmen auf dem Rücksitz Platz. Der Fahrer am Steuer des alten Daimlers drehte sich in aller Ruhe eine Zigarette: »Na, Herrschaften, wat verschafft mir die Ehre? Betriebsausflug von der AOK? Wo wolle mer denn hin?«

Er trug eine verblichene Jeansjacke, die er in den Siebzigern aus einem Garagenverkauf von Bruce Springsteen erworben haben musste, dazu einen fusseligen fuchsroten Bart und eine Frisur, die eine Mischung aus Don King und Tinky Winky von den Teletubbies war. Insgesamt machte er den Eindruck, als bestünde seine Hygiene einzig und allein darin, einmal in der Woche in der Waschstraße im Wagen sitzen zu bleiben.

»Wo wir hinwollen?«, raunzte Marie ihn an. »Vor allem mal weg von hier. Und zwar heute noch!«

»Einmal nach weg! In Ordnung!«, grummelte der Taxifahrende Althippie. Er rückte sich auf seinem flokatibezogenen Sitz zurecht, griff mit der linken Hand ans mit Plastiksonnenblumen umwickelte Lenkrad und mit der rechten an den Schaltknüppel. Langsam setzte sich der beigefarbene Mercedes, Baujahr 1982, in Bewegung.

»Sag mal, fährst du schon? Oder hast du nur den Sitz nach vorne geschoben?«, rief Marie nervös. »Mann, gib Gas!«

Pille, so der Name des Althippies, zündete sich die Selbstgedrehte an und hielt Marie eine Postkarte entgegen. »Hier, guck ma, die hat mir ein Kumpel geschickt!«

Auf der Karte war ein Satellitenbild der Erdkugel abgebildet. Am Rand stand geschrieben: »Wünschte, du wärst auch hier.«

»Und ich wünschte, du würdest endlich Gas geben!«, erwiderte Marie wütend. Nervös holte sie eine Zigarette hervor, doch Pille raunzte sie an: »Hier im Taxi ist Rauchverbot!«

Er nahm einen tiefen Zug und zeigte auf ein Nichtraucherschild am Armaturenbrett. »Kannst du nicht lesen?«

Da tauchte plötzlich im Rückspiegel ein schwarzes BMW-M6-Cabrio auf und drängelte gefährlich. Am Steuer saß Andras, der offensichtlich die vier ins Taxi hatte steigen sehen und ihre Verfolgung aufgenommen hatte.

»Marie!«, schrie Tarkan. »Er ist hinter uns!«

»Marie?«, hakte Pille nach. »Doch nicht etwa Marie Sander? ›Die Chefin‹? Wow! Ich habe sämtliche CDs von Ihnen, meine Gnädigste. Denn ich bin Ihr größter Fan und ergebener Diener!«

»Und damit du das auch in Zukunft noch sein kannst, gib endlich Gummi!«

Pille nahm einen erneuten Zug von seiner Selbstgedrehten, deren Qualmgeruch verriet, dass sie nicht nur aus Tabak bestand. Dann drückte er das Gaspedal bis zum Anschlag durch und ging zur Attacke über. Wie vom Teufel besessen bretterte er los, überholte einen Kleinlaster rechts über den Bürgersteig, beschleunigte dann auf Tempo hundert und raste auf der Linksabbiegerspur an einem Stau vorbei, um im allerletzten Moment wieder rechts einzuscheren. Danach überfuhr er die nächsten beiden roten Ampeln und jagte über einen Fahrradweg an einem anhaltenden Müllwagen vorbei. Andras hatte mit seinem Zehnzylinder größte Mühe, an dem altersschwachen Mercedes dranzubleiben. Im Gegenteil, Pille gelang es mit seinen waghalsigen Manövern, den Abstand zu vergrößern.

»Wat sind zehn Zylinder gegen zehn Gramm Marihuana!«, juchzte er. »Ich sag euch, auf Dope fahr ich am besten. Ich bin der Niki Lauda unter den Kiffern.«

»Wollen wir hoffen, dass du nicht auch so endest wie Niki Lauda!«, rief Tarkan verängstigt von hinten.

»Und dass Polizei uns nicht anhält!«, fügte Sorina hinzu.

»Polizei? Die kann mich mal mit ihren Kontrollen! Neulich wurd ich sogar von der Bücherpolizei angehalten! Ich hatte in einem dreibändigen Lyrikbuch gegen die vorgeschriebene Leserichtung quergelesen und dabei ein Lesezeichen umgehauen. Gab drei Punkte in Weimar und einen Monat Leseverbot!«

»Pille hat also eindeutig einen Knall«, dachte sich Marie im Stillen, »wahrscheinlich verursacht durch übermäßigen Konsum von gewissen Substanzen in seinen Selbstgedrehten.« Aber er fuhr wie ein junger Gott. Im dichten Verkehr flog er über die Stadtautobahn, denn von »fahren« konnte in seinem Zustand nicht mehr die Rede sein. Andras’ schwarzer BMW war rund fünfhundert Meter hinter ihnen. Als Pille einen erneuten Stau vor sich sah, nahm er mit quietschenden Reifen die Ausfahrt in Richtung Industriegebiet im Osten der Stadt.

»Das Antizipieren von Situationen«, griente er, »setzt logisches Denkvermögen voraus. Ich bin ja eigentlich Philosoph! Also Student der Philosophie. Im siebenundachtzigsten Semester. Und ich sag euch, so eine Verfolgungsjagd ist reine Philosophie! Alles nur eine Frage der Logik!«

»Was sein das? Logik?«, fragte Sorina von hinten.

BMW

Marie, Tarkan und die Kinder taten wie ihnen befohlen. Pille sprang zurück in den Wagen. Mit durchdrehenden Reifen und rauchendem Auspuff rauschte er davon.