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Jörg Böckem

Lass mich die Nacht überleben

Jörg Böckem

Lass mich die Nacht überleben

Mein Leben als Journalist und Junkie

Copyright: © 2013 Jörg Böckem

Für diese Ausgabe:

© 2014 by Rogner & Bernhard GmbH & Co. Verlags KG, Berlin

E-Book ISBN 978-3-95403-089-7

E-Book Konvertierung: Calidad Software Services, Puducherry, India

www.rogner-bernhard.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile.

Für meine Eltern

»I need excitement, oh I need it bad

And it’s the best I’ve ever had

I wanna hold her wanna hold her tight

Get teenage kicks right through the night«

The Undertones 1978

Hamburg 1999

Draußen an der Tür zu meinem Büro klopft jemand. Es ist ein schnelles, flüchtiges Klopfen. Die Tür öffnet sich, es ist Runhild, die Sekretärin. »Oh, entschuldige«, sagt sie, »ich dachte, du bist zu Tisch. Ich wollte nur Bescheid geben, dass die Konferenz auf 15 Uhr verschoben worden ist. Lass dich nicht stören.«

Sie ahnt nicht, wie sehr sie mich tatsächlich stört. Ich sitze mit dem Rücken zur Tür an meinem Schreibtisch im dritten Stock des Hamburger »Spiegel«-Gebäudes, in der rechten Hand halte ich ein Feuerzeug und in der linken einen rußgeschwärzten Suppenlöffel mit einer dampfenden braunen Flüssigkeit darauf. Unter der Tischplatte koche ich gerade mein Heroin auf. Ohne mich umzudrehen, schiebe ich den Löffel vorsichtig hinter einen Zeitschriftenstapel, den ich vorsorglich auf meinem Schreibtisch platziert habe. Sorgsam darum bemüht, meine Hände vor ihren Blicken abzuschirmen. Dann erst drehe ich mich um.

»Alles klar, vielen Dank«, antworte ich und lächele ein wenig verkrampft. Schweiß steht auf meiner Stirn, meine Stimme zittert, ich hoffe, dass sie nichts merkt. Sie gibt mir einen Computerausdruck mit Ort und neuem Termin der Konferenz, auf der die Themen für die nächsten Hefte besprochen werden sollen. Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hat, ziehe ich die braune Flüssigkeit in meine Insulinspritze, umwickele den Löffel mit Klopapier und verstecke ihn in der Schreibtischschublade.

Dezember 1999. Seit beinahe einem Jahr arbeite ich als Pauschalist für »Spiegel Special«, das seit vergangenem Monat »Spiegel Reporter« heißt. Ich bin unter anderem für den Themenbereich Film zuständig. Da ich Pauschalist bin und kein fest angestellter Redakteur, schreibe ich meist zu Hause. Mein Büro im Redaktionsgebäude betrete ich nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Wenn Konferenzen anstehen, zum Beispiel. Ich hasse Konferenzen. Die schier endlosen, ermüdenden Diskussionen um Themen, Inhalte und Konzepte sind der unangenehmste Teil meines Jobs.

Seit beinahe einem halben Jahr spritze ich wieder täglich Heroin, oft zusammen mit Kokain. Gebe jeden Tag 500 Mark für Drogen aus. Glücklicherweise verdiene ich gut, meine Wohnung verlasse ich so selten wie möglich, beschränke meine Kontakte mit den zuständigen Redakteuren auf E-Mail und Fax und gehe erst ans Telefon, wenn die Nachricht auf dem Anrufbeantworter keinerlei Aufschub mehr zulässt.

In der Redaktion muss ich mich jede Minute zusammenreißen. Niemand darf meinen Zustand bemerken. Nehme ich zu viel Heroin, fällt es mir schwer, die Augen offen zu halten und gerade auf meinem Stuhl zu sitzen. Ist die Dosis zu niedrig oder dauert eine Konferenz besonders lange, kriecht der Entzug in meinen Körper, stinkender Schweiß bricht mir aus allen Poren, Schmerzen wüten in meinem Darm und meinem Magen; es gelingt mir kaum, den Durchfall und das Erbrechen zu unterdrücken. Ich zittere am ganzen Körper.

Mit aller Kraft, die ich noch aufbringen kann, klammere ich mich an meine Arbeit. Gleichzeitig hasse ich sie. Bei jedem neuen Auftrag zerfrisst mich die Angst, all dem nicht mehr gewachsen zu sein. Ich begreife selbst nicht, wie es mir gelingt, Recherche-Reisen durchzustehen, Interviews zu führen, Texte zu schreiben. Arbeit auf Autopilot. Jeden Tag denke ich daran, alles hinzuwerfen. Toter Mann spielen.

Aber ich mache weiter. Die Arbeit finanziert meine Wohnung, meinen Wagen und vor allem meine Sucht, sie bewahrt mich vor der Kriminalität. Vor allem habe ich Angst, dass mir diese letzte Sicherheitsleine aus den Händen gleitet. Ich würde viel mehr verlieren als nur meinen Job.

Ich schiebe die aufgezogene Spritze vorsichtig in meine Hosentasche. Dann gehe ich auf die Toilette, vergewissere mich, dass der Raum leer ist. Ich nehme die Kabine links an der Wand, die am weitesten von der Eingangstür entfernt ist. Ich schließe die Tür hinter mir, klappe den Toilettendeckel hinunter und setze mich darauf. Ich ziehe meinen Gürtel aus der Hose und binde meinen linken Unterarm ab. An diesem Morgen habe ich eine Ader an meinem linken Handgelenk entdeckt, die noch nicht zerstört ist. Für ein oder zwei Tage werde ich sie noch benutzen können. Normalerweise wage ich es schon seit längerem nicht mehr, mir auf der »Spiegel«-Toilette eine Spritze zu setzen. In den letzten Monaten ist diese Prozedur so langwierig und blutig geworden, dass das Risiko, aufzufallen, mir zu groß erscheint. Doch wenn ich einen ganzen Tag in der Redaktion verbringen muss, bleibt mir keine Wahl. Mein Körper verlangt nach der Droge, ohne sie stehe ich Konferenzen und Besprechungen nicht durch.

In der Redaktion rauche ich meistens mein Heroin, entweder in meinem Büro oder auf der Toilette. Weil das ständige Klacken, mit dem das Feuerzeug zündet, wieder und wieder, und der eigentümlich riechende Rauch, der aus meiner Toilettenkabine oder meinem Büro quillt, Kollegen auffallen könnte, gehe ich meistens in der Mittagspause auf die Toilette, wenn die anderen Redakteure in der Kantine im Erdgeschoss sind. Trotzdem sitze ich dort mit vor Angst rasendem Puls, horche auf jedes Geräusch und wage kaum zu atmen, wenn jemand die Toilette neben mir benutzt.

Aber heute spritze ich, es dauert beinahe dreißig Minuten, bis ich die nur einen Millimeter große Ader treffe. Ich werde immer fahriger, mein Puls hämmert, mein T-Shirt habe ich ausgezogen, ich bin völlig verschwitzt. Immer wieder aufs Neue steche ich die Nadel in meinen Arm und ziehe den Bolzen mit dem Daumen nach hinten, hoffe sehnsüchtig, dass das Vakuum einen dünnen Blutstrom in die Spritze zieht. Jedes Mal versiegt das Blut schon nach wenigen Tropfen. Nach jedem vergeblichen Versuch entferne ich die Luft aus der Kanüle, dabei spritzen immer wieder Blutstropfen auf die Kacheln.

Endlich schießen dünne Blutschlieren aus der Ader in die braune Flüssigkeit. Vorsichtig drücke ich den Inhalt der Spritze in meinen Arm. Sofort breitet sich das Heroin in meinem Körper aus, besänftigt die Schmerzen und den Aufruhr in meinem Kopf. Ich sinke auf dem Toilettendeckel in mich zusammen, den Rücken an die weißen Kacheln gelehnt, und genieße einige wenige Minuten die Entspannung. Dann säubere ich sorgfältig die Kabine, wische alle Blutspritzer mit Toilettenpapier auf. Jetzt bin ich für die Konferenz gerüstet.

Erkelenz 1982

Der Streifenwagen bog langsam um die Ecke, ohne Licht. Keiner von uns sah ihn kommen. »Was machst du denn da? Lass mich mal.« Wir drängelten uns zu dritt um einen Süßwarenautomaten, Artur, Dieter und ich. Aus irgendeinem Grund gelang es uns nicht, dem Automaten mit unserem letzten Markstück eine Packung Gummibärchen zu entlocken. Vielleicht lag es an den Temperaturen, eine klirrend kalte Winternacht, unsere Finger waren in den Handschuhen steif gefroren. Oder an den Lichtverhältnissen, an dieser Straßenecke in Erkelenz brannte nachts um zwölf keine Laterne mehr. Oder es lag einfach daran, dass zwei von uns total bekifft waren.

Den Abend hatten wir in einem kleinen Laden mit einem Billardtisch, einem Flipper, einem Videospiel und rund einem Dutzend Geldspielgeräten vertändelt, der sich »Spielothek« nannte. Eine der wenigen Attraktionen, die unsere Kleinstadt am Niederrhein zu bieten hatte. Ich war gerade mal 16 Jahre alt und seit einem Jahr Stammgast. Eigentlich hätte ich den Laden gar nicht betreten dürfen, doch sie machten dort guten Umsatz mit Minderjährigen. Die Playstation war noch nicht erfunden. Und solange wir uns unauffällig verhielten und nicht zu viel Zeit an den Geldspielgeräten verbrachten, war alles in Ordnung. Als der Laden schloss, hatten wir uns auf dem Schulhof unseres Gymnasiums eine windgeschützte Ecke gesucht und Artur hatte sein Haschisch mit dem Feuerzeug erhitzt und in eine aus einem Wasserhahn gebastelte Pfeife gebröselt. Ich hatte das Haschischrauchen vor einiger Zeit aufgegeben. Es war mir einfach nicht mehr bekommen, das Haschisch bescherte mir immer häufiger Angstzustände und Verfolgungswahn. Ich wagte mich bekifft nicht mehr unter Menschen, weil ich dachte, jeder würde mir meinen Zustand sofort ansehen. Ich wollte mit niemandem reden, weil meine Zunge mir nicht mehr zu gehorchen schien.

In Erkelenz gab es nachts nicht viel zu tun. Nicht, dass es tagsüber wesentlich aufregender gewesen wäre. Für die beiden Jugendzentren, in denen wir die letzten Jahre zahlreiche Abende am Kicker zugebracht hatten, fühlten wir uns zu alt; außerdem öffneten sie nur an festgelegten Tagen und schlossen früh. Für die meisten Kneipen fühlten wir uns nicht alt genug. Und hofften, dass wir es niemals sein würden. Das einzige Kino der Stadt spielte nur sehr selten Filme, die uns interessierten, und die 24-Stunden-Tankstelle, die sich einige Jahre später zum Zentrum des jugendlichen Nachtlebens entwickeln sollte, war noch nicht gebaut. Der einzige Ort, an dem Artur und Dieter ihr durch Haschisch ausgelöstes Zuckerbedürfnis stillen konnten, war dieser Süßwarenautomat, geschickt in der Nähe des Schulzentrums platziert.

Den Polizeiwagen bemerkten wir erst, als er hinter uns bremste und die Beamten einen Scheinwerfer auf uns richteten. »Was ist hier los? Nehmen Sie die Hände über den Kopf und drehen Sie sich um!«

Die Polizisten hatten Dieter von hinten erkannt. Er hatte sich schon im Alter von 18 Jahren als notorischer Kleinkrimineller einen Namen gemacht, diverse Einbrüche und Diebstähle gingen auf sein Konto. Von ihm lernte ich später, mit welcher Methode sich Zigarettenautomaten am einfachsten knacken ließen und wie man ohne Geld genügend zu essen bekam, indem man die Frischwarenlieferungen für die kleineren Supermärkte abgriff, die damals ganz früh morgens unverschlossen im Hinterhof abgestellt wurden. Kartonweise schleppten wir auf unseren Fahrrädern Mokkatorten, Quark und Joghurt weg. Dieter stellte sich bei seinen Einbrüchen oft so ungeschickt an, dass sie ihn regelmäßig erwischten. Einmal war er in einen Imbiss eingebrochen, hatte die Kasse und die Geldspielautomaten geknackt und sich anschließend über Alkohol- und Lebensmittel hergemacht. Am nächsten Morgen fand ihn der Imbissbudenbesitzer sturztrunken und schlafend auf dem Tresen.

Dass wir nur Gummibärchen ziehen wollten, glaubten uns die Polizisten nicht für eine Sekunde. Sie spulten die Verhaftungsroutine ab, wie ich sie bisher nur aus »Die Straßen von San Francisco« kannte. Wir mussten uns an den Wagen stellen, breitbeinig, die Hände auf dem Dach, und wurden durchsucht. Sie fanden nichts. Also suchten sie die Umgebung nach Tatwerkzeugen ab. »Sagt uns am besten gleich, wo ihr die Brechstange hingeworfen habt«, sagte der eine. »Wir finden sie eh.« Der andere hielt den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf uns gerichtet und herrschte uns an. »Keine Bewegung!« Dann legten sie uns Handschellen an und fuhren uns ins Revier. Mein Herz raste. Ich fühlte mich großartig, verwegen und lebendig. Und das beste war, ich hatte nicht einmal etwas verbrochen. Sie konnten mir nichts anhaben. Laut machte ich meiner Empörung Luft. Was für ein Spaß! Es war das letzte Mal, dass ich mich bei einer Verhaftung so fühlen sollte.

Als sie Artur und mich wieder laufen ließen, ungefähr nach einer Stunde, verzogen wir uns auf einen Spielplatz, in eine Lokomotive für Kinder, die ein wenig Schutz vor der Kälte bot. Da sie uns kein Verbrechen nachweisen konnten, hatten sie davon abgesehen, meine Eltern zu informieren. Dieter hatten sie dabehalten, vielleicht konnten sie ihm noch den einen oder anderen ungelösten Einbruch anhängen. Artur holte seinen letzten Krümel Dope aus der Tasche. Er hatte ihn bei unserer Verhaftung unbemerkt in die Fingerspitzen seiner Handschuhe geschoben. Ich klopfte ihm auf die Schulter. Dieses Mal wollte ich auch einen Zug. Wir saßen auf dem Spielplatz, bis die Sonne aufging.

Das Ende der Straße

Meine Zeugung war eine Mischung aus Unfall und Kontrollverlust aus Liebe. Nicht, dass meine Eltern mich das hätten spüren lassen. Im Gegenteil, es sollte viele Jahre dauern, bis mir auffiel, dass der Hochzeitstag meiner Eltern und mein Geburtstag nur wenige Monate auseinander lagen.

Meine Mutter war 20 Jahre alt, als sie schwanger wurde. Damals arbeitete sie als Arzthelferin, für ein Mädchen vom Dorf ein Aufstieg. Da sie nicht nur jung und strebsam war, sondern auch schön, hofierten sie die jungen Männer in der Umgebung. Ihr weiteres Leben malte meine Mutter sich in leuchtenden Farben aus. Mein Vater war 26 und ein einfacher Handwerker, im Alter von 14 Jahren hatte er gelernt, aus Eisen Werkzeug zu schmieden, zwei Jahre später hatte er sich zum Heizungsmonteur weiterbilden lassen. Sein vornehmlicher Zukunftsplan war, meine Mutter zu heiraten. Als meine Mutter ihn am Tag meiner Zeugung bat, aufzupassen, sagte er »Jaja« und lies dann doch, von Lust und Liebe übermannt, den Dingen ihren Lauf. Einige Wochen später erfuhr meine Mutter, dass sie schwanger war. Sie gab ihren Beruf auf, heiratete meinen Vater und widmete ihre Zeit, ihre Energie und ihre ehrgeizigen Zukunftspläne stattdessen ihrem Sohn.

Meine Eltern mühten sich nach Kräften. Ein großer Teil des Einkommens meines Vaters wurde für Spielzeug oder Familienausflüge in den Zoo und Vergnügungsparks ausgegeben, meine Mutter bastelte mit mir in zeitentrückter Versunkenheit oder las mir aus Kinderbüchern vor. Als zweieinhalb Jahre nach meiner Geburt mein Bruder zur Welt kam, entschied sie sich, mich nicht in die Obhut eines Kindergartens zu geben. Die Aufgabe, ihr Kind zu erziehen, wollte sie nicht auf andere abwälzen. Außerdem zweifelte sie daran, dass andere diese Aufgabe mit der gebotenen Sorgfalt erfüllen würden. Derweil schuftete mein Vater auf dem Bau. Häufig ließ er sich von seinem Arbeitgeber auf weit entfernten Baustellen einsetzen, kassierte Überstunden- und Entfernungszuschläge, arbeitete bis zur totalen Erschöpfung und kam nur an den Wochenenden nach Hause.

Damals erhielt ich einen klar umrissenen Auftrag für meinen weiteren Weg in der Welt. Jeder von uns bekommt so einen Auftrag in der Kindheit von seiner Familie erteilt, unausgesprochen meist, aber deswegen nicht minder eindeutig und verbindlich. Vor allem auf das älteste Kind werden die Träume, Wünsche, Erwartungen und Ängste der jungen Eltern mit großer Kraft projiziert. Mein Auftrag war simpel – ich sollte möglichst immer unter den Besten sein. Der perfekte Sohn. Wie in vielen Familien der unteren Mittelschicht zu jener Zeit fokussierte sich das stetige Bemühen meiner Eltern um ein besseres, sprich wohlhabenderes und gesellschaftlich respektiertes Leben in ihren Kindern. »Ihr sollt es einmal besser haben« war ihr Lebenscredo, und wie selbstverständlich erwarteten sie, dass wir mit der gleichen Aufopferung diesem Ziel nachstrebten. Aber ich sollte es nicht nur besser haben, ich sollte es vor allem besser machen. Schließlich hatte meine Mutter auf ihre Zukunft verzichtet. Also würde sie dafür sorgen, dass ich auf nichts würde verzichten müssen und an ihrer statt all die Dinge erreichte, die außerhalb ihrer Möglichkeiten lagen.

Sie bereitete mich gründlich auf den Erfolg in der Welt vor. Förderte meine intellektuellen und kreativen Interessen, soweit es ihr möglich war, und gab mir das Gefühl, dass irgendwo in der Welt am Fuße eines Regenbogens ein Topf mit Gold auf mich wartete. Sie belohnte mich für jede meiner Leistungen und versuchte alle Ambitionen zu unterdrücken, die ihr schädlich erschienen. Meine Mutter schlug mich niemals, ließ mich aber jedes Mal, wenn ich ihren Erwartungen nicht entsprochen hatte, ihre Enttäuschung spüren. War sie wütend auf mich, litt ich Qualen. Jedes ungeduldige Stirnrunzeln, jeder böse Blick, jedes laute Wort traf mich wie ein Stockschlag. Also mühte ich mich meinerseits nach Kräften, ihren Vorstellungen des idealen Sohns zu entsprechen. Ich lernte lesen, lange bevor ich eingeschult wurde. Und in den ersten zehn Jahren meines Lebens war ich ein gelehriger Schüler.

Meine Kindheit verlebte ich in dem kleinen Dorf, aus dem meine Mutter stammte. Erkelenz, die nächste Kleinstadt, ist sieben Kilometer entfernt. Bis Düsseldorf sind es ungefähr 40, bis Köln 50 Kilometer. Mehr als anderthalb Jahrzehnte waren diese beiden Städte für mich nur Namen auf den Straßenschildern. Die Grenze zu den Niederlanden dagegen ist gerade mal 10 Kilometer entfernt. Jenseits dieser Grenze kauften meine Eltern Kaffee, Zigaretten und Diesel. Einige Jahre später verbrachten wir die ersten Familienferien auf einem holländischen Campingplatz.

Das Dorf, in dem ich aufwuchs, bestand im Wesentlichen aus einer Durchgangsstraße, die zu beiden Seiten mit einigen Dutzend Häusern und Höfen bebaut war. Ein wenig erinnerte es mich an die Western-Dörfer, die ich aus Fernsehserien kannte – ein Saloon, ein Drugstore und eine Handvoll Häuser links und rechts der Mainstreet, umgeben von Prärie und Ackerland. Der Drugstore ein Tante-Emma-Laden, in dem wir Kinder unsere Kaugummis kauften, der Saloon eine verrauchte Eckkneipe, in der mein Großvater sonntagmorgens zum Frühschoppen verschwand. In der Mitte des Dorfes die Kirche, katholisch, der Glockenturm überragte alle anderen Gebäude. Die Schule auf der anderen Straßenseite war schon vor Jahren wegen Schülermangels geschlossen worden. Dahinter nichts als Felder, Wiesen und ein kleiner Wald. Statt der Pferde und Postkutschen preschten Autos und Motorräder durch das Dorf, die Landstraße verband einige der größeren Ortschaften in der Umgebung. Die Bauern rumpelten mit ihren Traktoren meist über die Wirtschaftswege jenseits dieser Straße. Sobald sie die Hauptstraße nehmen mussten, bildeten sich hinter ihnen lange Autoschlangen. Diejenigen Fahrer, deren Nummernschild sie als Bewohner der größeren Städte auswies, machten ihrem Ärger oft mit der Hupe Luft. Mir war, als würden die Landwirte dann ganz besonders gemächlich fahren.

Den Verkehr und die Gebäude trennte nur der Gehsteig. Zur Straße hin zeigten die Häuser und Höfe hohe Ziegelmauern und vereinzelt Fachwerk, darin große Holztore, die meist geschlossen blieben und so die Tiere und Kinder drinnen und neugierige Blicke von Fremden draußen hielten. Die Fenster verhängten die Hausfrauen mit schweren weißen Gardinen. Meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich lebten im Haus meiner Großeltern mütterlicherseits. Unsere Wohnung lag im ersten Stock, das Erdgeschoss bewohnten meine Großmutter und ihr zweiter Ehemann. Der Vater meiner Mutter war im Krieg gefallen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ihr Stiefvater, den ich ganz selbstverständlich Opa nannte, mir immer ein wenig fremd blieb. Selbst dann noch, als er mir Skat beibrachte und mir zeigte, wie ich aus Schnur und Ästen Pfeil und Bogen bauen konnte.

Meine Oma hatte das Haus nach dem Krieg gebaut, nur mit ihrer bescheidenen Witwenrente, etwas Hilfe von Nachbarn und Verwandten und einer Menge Schweiß. Darauf war sie sehr stolz. Vor dem Haus hatte sie Rasen und einige dekorative Blumen gepflanzt und mit einer niedrigen Ziegelmauer eingefaßt; ein Vorgarten, der hier an der viel befahrenen Straße merkwürdig deplatziert wirkte. Da mir meine Eltern verboten hatten, in der Nähe der Straße zu spielen, erschien mir dieser Vorgarten meine ganze Kindheit hindurch gänzlich überflüssig.

Hinter dem Haus hatten meine Großeltern einen Gemüsegarten angelegt, darin zogen sie Tomaten, Gurken, Bohnen, Erdbeeren, Himbeeren und Stachelbeeren. In ihrem Garten pflanzten und ernteten sie den größten Teil ihrer Zeit, nachdem der Stahlbetrieb in Erkelenz meinen Großvater mit einer Dankurkunde und einer goldenen Uhr in Rente geschickt hatte. Als ich 15 war, starb mein Großvater dort in seinem Garten, sein Herzschrittmacher versagte, als er am Abend einen kleinen Spaziergang zu seinem Gemüse unternahm. Nach der Beerdigung wurde in derselben Gaststätte Kaffee und Kuchen serviert, in der mein Großvater vor seinem Ableben jeden Sonntagmorgen sein Bier getrunken hatte. Mir erschien sein Tod wenig tragisch. Schließlich war er an dem Ort gestorben, an dem er sich besonders wohl fühlte. Und außerdem, fragte ich mich, hätte er mit einem Herzen, das den Anstrengungen der Gartenarbeit nicht mehr gewachsen war, tatsächlich weiterleben wollen? Ich an seiner Stelle hätte das nicht gewollt. Damals dachte ich, dass so ein Ende wohl nicht das Schlechteste war. Meine Großmutter aber war danach nie mehr dieselbe.

Hinter dem Haus meiner Großeltern, in der Mitte des Gartens, lag eine großzügige Rasenfläche, auf der vier Obstbäume und eine Birke wuchsen. Für einige Jahre war mir diese Birke der liebste Platz der Welt. Immer, wenn ich traurig oder wütend war, kletterte ich bis in die letzte Astgabel oben im Wipfel, dorthin, wo mir niemand folgen konnte, da die schlanken Äste das Gewicht eines Erwachsenen nicht trugen. Wenn ich dort oben saß, hoch über den anderen, die Baumkrone schaukelte leicht im Wind, schrumpften die Dramen und Ängste, die das Leben eines kleinen Jungen beschatten, auf Spielzeuggröße und wirkten weniger bedrohlich.

An einem dieser Tage erteilte ich mir selbst einen Auftrag. Nach einem Streit mit meinen Eltern war ich vor der Ignoranz und dem Unverständnis der Erwachsenen auf meine Birke geflüchtet und hatte dort einige Stunden auf meiner Astgabel in der Baumkrone gesessen, empört und wütend. Abends, vor dem Einschlafen, schrieb ich einen Brief an mich selbst. Ich konnte nicht begreifen, dass all die Erwachsenen, die, wie ich wusste, selbst einmal Kinder gewesen waren, so wenig Verständnis für meine Wünsche und Bedürfnisse hatten. Ich ermahnte mich in diesem Brief, niemals zu vergessen, was ein kleiner Junge von sieben Jahren so fühlt, träumt und fürchtet. Dann schwor ich mir, niemals selbst so zu werden wie all die Erwachsenen, die ich kannte, meine Eltern im Besonderen. Ich steckte den Brief in einen Umschlag, schrieb mit meiner Kinderschrift in großen Buchstaben »Achtung! Für Jörg Böckem, erst mit 18 lesen. Öffnen bei Todesstrafe verboten!« darauf, versiegelte den Umschlag gewissenhaft mit rotem Kerzenwachs und grünem Isolierband und versteckte ihn in meiner Spielzeugkiste. Der Brief ging im Laufe der Jahre verloren, die Botschaft nicht.

Auf der anderen Straßenseite, ungefähr 200 Meter vom Haus meiner Großmutter entfernt, lag der Bauernhof meiner Urgroßeltern. Dort war meine Großmutter aufgewachsen. Ihre Eltern waren tot, der Hof wurde mittlerweile von ihrer jüngeren Schwester und deren Mann bewirtschaftet. Meine Großtante und mein Großonkel hatten keine Kinder, ein großes Unglück für einen landwirtschaftlichen Familienbetrieb. Und ein großes Glück für meinen Bruder und mich. Es gibt kaum einen spannenderen Ort für kleine Jungs als einen Bauernhof, wir tobten durch Ställe und Scheunen, ritten auf Schweinen, Kühen und Pferden, tollten mit den Hofhunden und versuchten die verwilderten Katzen zu zähmen, was meist mit blutigen Striemen und Tränen endete. Als ich älter wurde, lernte ich Traktor fahren. In den Ferien halfen mein Bruder und ich bei Saat und Ernte und besserten so unser Taschengeld auf. Mein Großonkel war Herr in seinem kleinen Reich. Zusammen mit meiner Großtante erledigte er alle anfallenden Arbeiten, er wusste genau, wann die Ferkel von ihrer Mutter entwöhnt werden mussten und wann das Getreide reif war, erledigte kleinere Reparaturen und hatte für alle Schwierigkeiten auf einem Bauernhof eine Lösung und auf alle meine Fragen eine Antwort. Ich bewunderte und liebte ihn dafür. Dass er herrisch und launisch war, verzieh ich ihm. Und dass er strammer CDU-Wähler war, wurde erst zum Problem, als ich im Alter von 13 Jahren meine Haare wachsen ließ und offen mit den Grünen sympathisierte.

Ich spielte ganze Tage auf dem Bauernhof meines Großonkels und in den umliegenden Wäldern, zusammen mit meinen Freunden baute ich Bretterbuden in den Bäumen und tiefe Höhlen im Stroh. Die ganze Welt war mir ein einziger Spielplatz. Am Baggersee bliesen die älteren Jungs Frösche auf, bis sie anschwollen und platzten. Später inhalierten wir dort den Rauch der ersten, verbotenen Zigaretten, bis unsere Gesichter die Farbe der Frösche annahmen. Doch davon ließ ich mir den Spaß nicht verderben.

Immer, wenn mich das Wetter oder eine Grippe von den Wiesen und Wäldern fernhielt, las ich. Ich verschlang »Robin Hood«, »Tom Sawyer & Huckleberry Finn«, »Robinson Crusoe«, »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, und was mir sonst noch an Abenteuergeschichten in die Hände fiel, Comics mit Batman und Spiderman, der damals noch »Die Spinne« hieß, Romanhefte um den Geisterjäger John Sinclair. Ich lauschte völlig gebannt Hörspielplatten von EUROPA, »Winnetou«, »Der Schatz im Silbersee«, »Siegfried und die Nibelungen«, allesamt vorgetragen von Hans Paetsch, dessen Stimme mich noch Jahrzehnte später rühren sollte, als ich im Auftrag des »kulturSpiegel« ein langes Interview mit ihm führte. All diese Geschichten erfüllten mich mit einer tiefen Sehnsucht nach Aufregung und Abenteuer. Mit einer Sehnsucht nach einem Leben, das bald nichts mehr mit dem zu tun haben würde, wie es sich meine Eltern für mich erträumten.

Die Bücher waren nur der Anfang. »Raumschiff Enterprise« und »Arpad, der Zigeuner« im Fernsehen folgten, verwegene Weltraumcowboys, die dahin gingen, wo nie ein Mensch zuvor gewesen war. Arpads rassige Zigeunerfreundin, die erste Frau, in die ich mich so heftig verliebte, dass ich wie im Fieber war. Ein neues, wunderbares Fieber, von dem ich nicht genug bekam. Bruce-Lee-Filme in unserem zwei Kilometer entfernten Provinzkino, danach flog ich nach Hause und trat schattenhafte Gegner durch die Luft. Nichts hätte in der Dunkelheit lauern können, dem ich mich nicht gewachsen fühlte. Die ersten Singles aus der Musikbox meiner Eltern, »Ticket to Ride« von den Beatles und »Kenn ein Land« von dem deutschen Country-Sänger Ronny, die mich von fremden, wilden Orten und Gefühlen träumen ließen. Später meine ersten eigenen Platten, The Sweet und Smokie, dann AC/DC und Blondie, die verführerische Kraft von Wut und Ekstase. Debbie Harry, die erste und einzige Sängerin, in die ich mich je verliebte. Dass sie heroinabhängig war, wusste ich damals nicht.

Als ich sechs Jahre alt war, hatten meine Eltern mit den Bauarbeiten an ihrem Bungalow in einem neu erschlossenen Wohngebiet in dem Nachbarort begonnen, in dem ich eingeschult worden war, ungefähr zwei Kilometer vom Haus meiner Großmutter entfernt. Zwei Jahre später zogen wir dort ein. Nach und nach veränderte sich mein Leben. Im ersten Jahr fuhr ich noch beinahe täglich mit dem Fahrrad zu den Spielplätzen meiner frühen Kindheit. Irgendwann wurde mir die Entfernung lästig. Ich fand neue Freunde, mit denen ich auf Parkplätzen Rollschuhhockey spielte, und neue Wälder, in denen wir Baumhütten zimmerten. Außerdem nahm die Schule mich mehr und mehr in Anspruch. Seit meiner Einschulung waren die Erwartungen meiner Mutter immer konkreter geworden. Meine schulischen Leistungen standen von nun an im Mittelpunkt ihres Interesses. Glücklicherweise machte mir die Schule keine nennenswerten Probleme. Ich hatte Spaß daran, täglich etwas Neues zu lernen, die Hausaufgaben erledigte ich schnell. Und für jedes Zeugnis, das mich als Klassenbester auswies, wurde ich von meiner Mutter mit Zuneigung überhäuft.

Bis zu meinem elften Geburtstag teilte ich mir mit meinem Bruder ein Zimmer im Erdgeschoss, dann zog ich um in den Kellerraum, der bis dahin unser Spielzimmer gewesen war. Mein Vater hatte dieses Zimmer mit einem großzügigen Lichtschacht und einem zweiflügeligen Fenster versehen. Schnell entdeckte ich, dass ich durch dieses Fenster von meinen Eltern unbemerkt ins Freie klettern konnte. Gemeinsam mit einem Freund stromerte ich nachts durch die Straßen, erkundete mit in der Dunkelheit wild klopfendem Herzen den nahe gelegenen Waldfriedhof. Bei meinem vierten oder fünften Ausflug, in einer Vollmondnacht, traf ich meine Eltern, Hand in Hand bei einem Spaziergang im Mondschein. Ich erinnere mich nicht, wer von uns dreien das verdutzteste Gesicht machte. Die nächsten Wochen bekam ich Hausarrest.

Im Jahr zuvor war ich auf das Jungengymnasium in Erkelenz versetzt worden. Erkelenz liegt ungefähr acht Kilometer entfernt, bis zur Gemeindezusammenlegung von 1973 war es Kreisstadt gewesen, mittlerweile hatte Heinsberg diesen Titel übernommen. Der Kreis Heinsberg besteht aus einigen Dutzend Dörfern und sieben Kleinstädten, verteilt auf 627,7 Quadratkilometer und nur durch schmale Landstraßen verbunden. Von diesen Landstraßen waren die umliegenden Orte schon von weitem zu erkennen, abgesehen von einigen wenigen Abraumhalden des Steinkohle-Tagebaus verstellte kein Hügel den Blick. Meist hing der Himmel so tief über den Häusern und Höfen, dass es aussah, als würden die Wolken die Gebäude am Wachsen hindern. Eine Anbindung an die Bahnstrecke Düsseldorf–Aachen gab es nur in Erkelenz, dort hielt der Regionalexpress. Die einzelnen Orte im Kreis verband lediglich ein lockeres Netz von Linienbussen, das hauptsächlich dazu bestimmt war, die Schüler aus den umliegenden Dörfern zu den weiterführenden Schulen in Wegberg, Erkelenz, Hückelhoven und Heinsberg und wieder zurück zu befördern. Für die acht Kilometer von meinem Heimatdorf nach Erkelenz benötigte der Schulbus ungefähr dreißig Minuten, da er auf seinem Weg alle Dörfer in der Umgebung ansteuerte. Außerhalb der Schulzeit fuhren die Busse nur sporadisch. Wer hier aufwuchs, sehnte sich früh nach einem Auto, einem Moped oder was immer ihn schnell von hier fort brachte.

Das Gymnasium veränderte meinen Blick auf die Welt. Gute Noten und ebensolches Benehmen waren plötzlich kein Garant mehr für den Respekt und die Sympathie der Mitschüler. Eine große Klappe, die richtige Jeansmarke und später die Bandnamen, die mit schwarzem Edding auf die Army-Taschen geschmiert waren, zählten deutlich mehr. Anfangs fühlte ich mich ziemlich verloren dort, zumal ich niemanden in meiner neuen Klasse kannte. Von meinen ehemaligen Mitschülern in der Grundschule war keiner aufs Gymnasium gewechselt. Noch einige Jahre war ich unter den Klassenbesten. Aber mehr und mehr begann ich, mich für andere Dinge zu interessieren. Ich wurde täglich daran erinnert, dass jenseits der Schule und der Erwartungen meiner Eltern eine aufregende Welt auf mich wartete, der Schulhof des benachbarten Mädchengymnasiums, beispielsweise. Und dass die Erwartungen und Tugenden meiner Eltern mir in dieser Welt nicht viel nutzten. In meinem dritten Jahr auf dem Gymnasium wählten meine Mitschüler mich zum Klassensprecher, im Jahr darauf zum Sprecher der gesamten Mittelstufe. Ich brachte mehr Zeit damit zu, mit den Lehrern über Schülerrechte zu streiten und Arbeitsgemeinschaften zu gründen, als dem Unterrichtsstoff zu folgen. Meine Mutter reagierte panisch auf meinen schleichenden Wertewechsel und versuchte mit aller Macht, mich in der richtigen Spur zu halten. Bald schienen mir der Erwartungsdruck und ihre vereinnahmende Zuneigung nur zwei Möglichkeiten offen zu lassen – die völlige Anpassung oder die totale Verweigerung. Anpassung hätte bedeutet, dass ich einige der Türen, durch die ich in diesen Jahren die ersten neugierigen Blicke geworfen hatte, wieder würde schließen müssen. Aber ich wollte selbst herausfinden, was die Welt jenseits unseres Neubaugebiets zu bieten hatte. Ich entschied mich für die totale Verweigerung und warf mich von nun an kopfüber in alles, was nach Gefahr, Protest und Abenteuer aussah. Je weniger es meinen Eltern gefiel, desto interessanter erschien es mir.

Mit 13 Jahren begann ich ehrenamtlich in einem selbst verwalteten Jugendzentrum in meinem Heimatdorf zu arbeiten. Thomas, ein gleichaltriger Junge, nahm mich das erste Mal mit dort hin. Wir hatten uns auf dem Kirmesplatz angefreundet, nachdem wir auf dem Autoscooter eine halbe Stunde lang wild ineinander gerast waren. Das Jugendzentrum lag in einem Viertel, das Welten vom Neubaugebiet meiner Eltern mit seinen Doppelgaragen, Vorgärten und Partykellern entfernt schien. Viele Menschen dort waren arbeitslos, andere schufteten unter Tage. In den Garagen wurden Mofas frisiert, statt der Vorgärten gab es nur die Straße und statt der Partykeller Kneipen, die zu jeder Tageszeit gut gefüllt waren. In unserem Jugendzentrum herrschten raue Sitten. Der Umgangston war barsch und laut, regelmäßig flogen die Fäuste und die eisernen Aschenbecher. Mehrmals im Monat stand der Krankenwagen vor der Tür. Der Träger der Einrichtung, die evangelische Kirche, drohte ständig mit Schließung. Bis sie einen jungen, idealistischen Sozialarbeiter fanden, der sich der Sache annahm und der in den ersten Jahren beinahe verzweifelte.

Ich war einer der jüngsten Mitarbeiter dort. Alles, was ich sah und hörte, sog ich gierig auf. Ich verliebte mich in ein 16-jähriges Hippie-Mädchen, das mich mitnahm zu Ostermärschen der Friedensbewegung, Treffen der SPD-Jugendorganisation »Die Falken« und später zu Partys in besetzten Häusern. Eine neue, aufregende Welt, die ich voller Leidenschaft und Eifer erkundete. Aber landen konnte ich bei ihr nicht. Ich war ihr wohl zu jung und zu schüchtern.

An drei Abenden in der Woche öffneten wir den Partykeller in unserem Jugendzentrum und spielten bis um 22 Uhr bei gedämpftem Licht laute Musik. Diese Veranstaltungen nannten wir »Disco«. Wir legten Platten von Nina Hagen und Janis Joplin auf, aktuelle Hits von Madness, Talking Heads oder Judas Priest und Klassiker von den Doors, David Bowie, Iggy Pop, The Who und Deep Purple, dazwischen obskure Krautrock-Bands wie Kraan oder Guru Guru. Die Mädchen tanzten zu »Video Killed the Radio Star« von den Buggles oder »I Was Made for Lovin You« von Kiss, die Jungs lehnten betont lässig an den Wänden, Lederjacke um die Schultern, Bier und Zigarette in der Hand, bliesen Rauchringe und nickten zu »Paranoid« von Black Sabbath mit dem Kopf. Ab und an stakste einer von ihnen gemessenen Schrittes auf die Tanzfläche, stellte sich breitbeinig hin, reckte zu »T.N.T« von AC/DC die Faust gegen die Decke und spielte Luftgitarre.

Die meisten Besucher waren zwischen 13 und 16, aber da unser Dorf für all jene, die Schützenverein oder Kegelclub nicht interessierte, sonst kein Nachtleben zu bieten hatte und die Getränke hier billiger waren als in den Kneipen, lungerten viele noch mit 18, 19 Jahren in unserem Jugendzentrum herum. Wir jüngeren sahen bewundernd zu ihnen auf, sie hatten mit den Jahren den gleichermaßen gelangweilten wie überheblichen Blick perfektioniert und meist ein Mädchen dabei, dem sie die Hand auf den Hintern legten und demonstrativ die Zunge in den Mund steckten. Jeder von ihnen trank übermäßig oder kiffte, sogar von härteren Drogen war die Rede, und einige hatten in gelegentlichen Schlägereien das Image eines harten Kerls errungen.

Bevor der neue Sozialarbeiter seinen Dienst antrat, führten einige engagierte Mütter, Mitglieder im evangelischen Gemeindeverein, die offizielle Aufsicht. Meist saßen sie rauchend in ihrem Büro. In der Disco und der so genannten Teestube im Erdgeschoss bestimmten wir Jugendlichen den Ablauf des Abends. Wir legten die Platten auf, kochten Tee, verkauften Getränke, räumten die Scherben und den Müll beiseite und fühlten uns ziemlich reif und abgeklärt. Außer mir gab es dort noch einen anderen Jungen, der auch das Gymnasium besuchte. Es kostete uns viel Anstrengung, den anderen zu beweisen, dass wir keine verweichlichten Klugscheißer waren.

In unserem Jugendzentrum lernte ich Detlef kennen. Er war drei Jahre älter als ich, besuchte die Handelsschule und sang in der einzigen Rockband unseres Dorfes. Auf seinen linken Unterarm hatte er mit blauer Tinte schwungvolle chinesische Schriftzeichen tätowiert, über deren Bedeutung er sich ausschwieg.

Detlef war ein kluger, einfühlsamer Junge, der beim Fußball die meisten Tore schoss und sich gut bei Schlägereien wehren konnte. Vielleicht der Einzige dort, der mit Sätzen ebenso gut umzugehen verstand wie mit seinen Fäusten. Die Jungs respektierten ihn, die Mädchen himmelten ihn an. Mit Detlef rauchte ich meinen ersten Joint. Wir kauften unser Haschisch von Harald. Harald mochten wir nicht besonders. Ein älterer Typ, um die zwanzig, der noch bei seinen Eltern wohnte, schlechte Witze erzählte und, wenn er breit war, damit prahlte, dass er seinen Hund regelmäßig mit der Grillzange befriedigte. Sein liebstes Hobby, noch vor Hundewichsen, bestand darin, deutlich jüngere Mädchen bekifft zu machen und sie, wenn sie völlig weggetreten waren, zu vögeln. Aber Harald hatte gutes Dope, und wir waren keine Hunde und keine Mädchen.

Wir kauften für 30 Mark zwei Gramm Haschisch, auf Haralds gläsernen Couchtisch klebte Detlef sorgfältig zwei Zigarettenblättchen zusammen und legte Tabak darauf. Dann hielt er die Flamme seines Feuerzeuges an das Haschisch und bröselte es auf den Tabak. Am Ende rollte er den Joint, zündete ihn an und sog den würzig riechenden Rauch tief in seine Lungen. Ich sah ihm fasziniert zu und nahm den nächsten Zug.

Von meinen ersten Zügen wurde mir ziemlich schlecht. Detlef beruhigte mich, das sei immer so, ich solle einfach weiter machen. Bei dem zweiten Joint verflog meine Übelkeit. Ich lag weggetreten auf Haralds Fußboden, mein Kopf unter dem Glastisch, und sah wie verzaubert den Ringen aus Rauch zu, die Detlef mit dem Mund formte und auf der Glasscheibe über mir tanzen ließ. Haschisch begeisterte mich sofort. Nicht nur seine Wirkung, auch alles, was damit zusammenhing. Die konspirativen Drogenkäufe an abgelegenen Orten, später die Fahrten mit dem Fahrrad nach Roermond, der nächstgelegenen Kleinstadt in den Niederlanden, das rituelle Zubereiten der Dope-Tabak-Mischung, die ausgeklügelten selbst gebauten Rauchutensilien. Ich vertiefte mich ins Kiffen wie die Jungs im Informatik-Unterricht in ihre Programmiersprachen.

Jeden Morgen traf ich Detlef vor dem Unterricht auf dem Sportplatz und rauchte den ersten Joint des Tages, abends lagen wir stundenlang auf dem Boden seines Zimmers, hörten »Shine on You Crazy Diamond« von Pink Floyd und konnten die Musik in unserem Körper spüren. Dass dieses Lied Syd Barrett gewidmet war, einem Gründungsmitglied der Band, der sich im Drogenrausch verloren hatte und in der Psychiatrie gelandet war, wussten wir nicht. Aber es hätte uns sicher gefallen. Als im gleichen Jahr Bon Scott, Sänger meiner damaligen Lieblingsband AC/DC, nach einer durchzechten Nacht an seinem Erbrochenen erstickt war, erschien mir das ein würdiger Abgang für einen Rocker. So einer taugte zum Helden. Radikale Lebensentwürfe, jenseits des bigotten Kleinstadtkatholizismus in der Welt meiner Eltern, faszinierten mich.

War ich halbwegs nüchtern, legte ich »Macht kaputt was euch kaputt macht« und »Keine Macht für niemand« von Ton Steine Scherben auf. Ich hatte der bürgerlichen Gesellschaft den Krieg erklärt. Meine Eltern wurden mein größter Feind. Wir stritten beinahe täglich, wegen meiner Haare, meiner Kleidung, meiner Freunde, den ständigen Beschwerden der Lehrer. Mit 15 schleppten sie mich völlig ratlos nacheinander zu einem Neurologen und einem Erziehungsberater, keiner konnte ihnen die erhofften Antworten und Ergebnisse liefern. Ich suchte mir woanders eine neue Familie, eine, die meinem Erfahrungshunger nicht im Wege stand, meine Freunde. Mein Dope-Konsum, meine Haare und die Anzahl der Löcher in meinen Jeans wuchsen ebenso schnell wie meine verstockte Ablehnung von Autorität.

Bis ich ungefähr zwei Jahre nach meinem ersten Joint immer häufiger Angstzustände bekam und der Verfolgungswahn mir die Freude am Haschischrausch verdarb. Nächtelang lag ich mit galoppierendem Herzen wach, kontrollierte ständig, ob meine Zimmertür abgeschlossen war, und horchte auf Geräusche. Haschisch, musste ich bald einsehen, war keine Droge für mich.

Später, bei meinen ersten Therapieversuchen, sollte die Frage, ob Haschisch als Einstieg für harte Drogen wie Heroin und Kokain anzusehen ist, immer wieder auftauchen. Ich habe das nie so gesehen. Sicher, Haschisch war die erste illegale Droge, die ich ausprobierte. Weil sie auch für einen Teenager einfach zu bekommen war, vor allem im holländischen Grenzgebiet. Natürlich war Bier noch einfacher zu haben und machte einen auch ziemlich wirr im Kopf. Aber Alkohol gehörte in die Welt meiner Eltern, langweiliges, legales Zeug. Genau wie Zigaretten, die schon früh ihren Reiz für mich verloren hatten. Ich wollte etwas Neues, Eigenes, Verbotenes. Haschisch war nur eines der vielen Dinge, die mich damals anzogen.

Und wenn es diesen einen Moment tatsächlich geben sollte, an dem alles seinen Anfang nahm, dann lag der wohl viel weiter zurück als mein erster Joint. Möglich, dass alles mit einer Autofahrt vor mehr als 30 Jahren begann, noch bevor ich lesen lernte. An einem sonnigen Frühlingsmorgen holte mich ein Freund meiner Eltern kurz nach Sonnenaufgang zu Hause ab. Er war Postbote, und ich durfte in seinen großen, gelben Wagen steigen und ihn für einen schier endlosen Vormittag auf seiner Tour begleiten. Meine Mutter musste mit meinem jüngeren Bruder zum Arzt. Es war der aufregendste Tag meines bisherigen Lebens. Wir fuhren durch diesen strahlenden Morgen, vorbei an Wäldern und Wiesen, und besuchten Orte und Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich konnte kaum still sitzen vor Aufregung. Schließlich kamen wir an eine kleine Straße, die kurz hinter dem letzten Haus endete. Der Asphalt hörte einfach auf. »Wo sind wir hier?«, wollte ich wissen. Der Postbote nannte den Namen des Ortes. Aber das meinte ich nicht. Ich war mir sicher, das hier musste das Ende der Welt sein. Denn warum sollte die Straße wohl sonst aufhören? Ich fragte ihn. Er lachte. Nein, sagte er, es gibt kein Ende, es geht immer weiter, auch wenn die Straßen aufhören. Ich war wie elektrisiert. Eine Welt jenseits der Straßen schien mir unvorstellbar. Irgendwann musste ich herausfinden, wie es dort aussah.

Als ich dann alt genug war, die Straßen meines kleinen Dorfes zu verlassen, waren Drogen- und Sex das Aufregendste, was ich dort fand, wo der Asphalt endet.

Artur

Artur lernte ich 1981 auf einer Party des Cusanus-Gymnasiums in Erkelenz kennen. Ein Jahr zuvor hatte die Schule, die wir beide besuchten, noch ganz profan »Jungengymnasium« geheißen. Doch im vergangenen Schuljahr hatte die Verwaltung beschlossen, auch Mädchen aufzunehmen, und Nicolaus von Kues, genannt Cusanus, den einzigen Gelehrten, der je in Verbindung zu Erkelenz stand, als Namenspatron gewählt. Uns Schülern gefiel die Veränderung. Endlich mussten wir uns nicht mehr auf den Schulhof des benachbarten Mädchengymnasiums schleichen und drastische Sanktionen riskieren.

Artur war mit seinen 17 Jahren zwei Jahre älter als ich. In seinem schwarzen Lodenmantel sah er ziemlich erwachsen aus. Artur war in der Schule als Kiffer bekannt, und da mich mein Dealer am Nachmittag versetzt hatte, war ich verzweifelt auf der Suche nach ein paar kleinen Brocken Haschisch. Noch hatte ich das Kiffen nicht ganz aufgegeben, und eine Schulparty nüchtern erleben zu müssen wäre einfach zu öde gewesen. Wir verließen das Schulgelände, Artur wollte nicht riskieren, von einem Lehrer erwischt zu werden. Der Direktor wartete nur auf einen Grund, ihn von der Schule zu verweisen. Und es war ein offenes Geheimnis, dass die »We Don’t Need No Education«-Schmierereien auf dem Schulhof von Artur stammten. Beweisen konnte ihm die Schulleitung das allerdings nicht.

Hinter der Sporthalle holte Artur sein Haschisch aus der Tasche, hielt sein Feuerzeug daran und brach ein Stück ab, nachdem die Hitze es warm und brüchig gemacht hatte. »Ich verkaufe nichts«, sagte er und drückte mir das Stück in die Hand. »Hier, das wird wohl reichen für heute Abend. Viel Spaß damit. Und frag mich bitte nie wieder.«