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Jan Beinßen

 

Lebkuchen

mit

Bittermandel

 

Ein Fall für Paul Flemming

Mit einem Lebkuchenrezept von Jörg Beinßen

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage 2011)

© 2011 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Ulrike Jochum

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von © eyelab/photocase

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-392-8

 

Für Nina

 

»Die besinnlichen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr haben schon manchen um die Besinnung gebracht.«

 

anonym

 

1

Der arme Jan-Patrick schien zutiefst verstört, während er völlig unzureichend geschützt vor den bitterkalten Temperaturen die Front seines Lokals entlangging, hin und her und her und hin. Suchend ließ er den Blick in alle Richtungen wandern.

Der Goldene Ritter nahm sich in der winterlichen Umgebung ungemein romantisch aus: Das spitz zulaufende Giebeldach mit einem dicken weißen Polster bedeckt, der Fachwerk-Erker mit Puderschnee gezuckert, die Fenster vom Küchendunst und der Kälte beschlagen. Der Wirt jedoch nahm keinerlei Notiz von der Weihnachtsidylle, sondern setzte sein hektisches, ja verzweifeltes Suchen fort.

Paul Flemming näherte sich ebenso neugierig wie besorgt seinem Nachbarn und Freund. Erst, als er direkt vor Jan-Patrick stand, wurde dieser auf ihn aufmerksam.

»Oh, hallo, willst du etwa zu mir?«, fragte der Küchenmeister und rieb sich reflexartig seine vor Kälte gerötete Rübennase.

»Komme ich wohl ungelegen?«, fragte Paul zurückhaltend, da er die Panik in den Augen des anderen sehr wohl bemerkte.

»Ungelegen? Kommt drauf an: Wenn du mir beim Suchen hilfst, kommst du gerade recht.«

»Nach was genau hältst du denn Ausschau? Nach deinem Geldbeutel? Oder deinem Ehering? Oder was sonst hast du verloren?«

Ein wenig glückliches Grinsen zog sich quer über das wettergegerbte Gesicht des Gastwirts. »Wenn es doch nur so einfach wäre, Paul. Aber leider ist mir etwas weitaus Kostbareres abhandengekommen – zumindest in diesen Tagen ist es ungemein wertvoll.«

Jetzt wollte es Paul aber wissen. Um was machte sich sein Freund bloß so große Sorgen? »Rück raus damit: So, wie du klingst, muss es sich ja mindestens um ein Brillantencollier handeln.«

Der kleine Küchenmeister seufzte herzzerreißend, bevor er den Grund seiner Sorgen nannte: »Mein Weihnachtsbaum! Mein Baum ist weg. Verschwunden! Wie vom Erdboden verschluckt!«

»Moment, Moment!« Paul hob beruhigend die Hände. »Du willst mir sagen, dass du einen Tannenbaum verloren hast? Einen ausgewachsenen Christbaum? Und jetzt suchst du ihn hier auf dem Gehweg, wo er doch ganz offensichtlich nicht sein kann?«

»Aber ich habe ihn vor nicht einmal zehn Minuten an die Hauswand gelehnt. Ich wollte nur schnell ein Vorlegedeckchen für ihn herrichten und ihn dann hereinholen. Doch nun – futsch!«

»Tja, mein Lieber«, sagte Paul einfühlsam, »du wirst dich mit dem unschönen Gedanken anfreunden müssen, dass dir jemand den Baum geklaut hat. Da nutzt kein Suchen und kein Klagen, denn du könntest wahrscheinlich den ganzen Burgberg abklappern, ohne auf eine Spur zu stoßen. Es hilft leider alles nichts, höchstens eine Anzeige. Aber die bringt nur etwas, wenn du eine genaue Beschreibung deines Baums abgeben kannst. Wie sah er denn aus?«

Jan-Patrick kniff die Augen zusammen: »Wie er aussah? Grün, mit vielen spitzen Nadeln«, sagte er bissig.

»Sorry«, lächelte Paul, »ich wollte mich nicht lustig machen. Im Ernst: Warum kaufst du nicht einfach einen neuen?«

»Weil, verdammt, ich so kurz vor Weihnachten in ganz Nürnberg keine gut gewachsene Nordmanntanne mehr bekomme!«, platzte es aus Jan-Patrick heraus. »Allerhöchstens eine windschiefe Fichte aus dem Steckerleswald.«

Paul zuckte mit den Schultern. Dann fischte er einen Zettel aus seiner Winterjacke und faltete ihn auseinander. »Ob mit Tanne oder ohne: Unserer großen Sause heute Abend steht hoffentlich nichts im Wege, oder?« Er reichte dem Wirt das Papier. »Hier ist die Gästeliste. Die unterstrichenen Namen sind diejenigen, die ein Zimmer bei dir benötigen.«

»Eigentlich ist der Goldene Ritter ja kein Hotel«, meinte Jan-Patrick noch immer zerknirscht.

»Umso dankbarer sind wir, dass du jedes Jahr zum vierten Advent die Auswärtigen des Abi-Jahrgangs 1986 bei dir beherbergst.« Paul lächelte ihn gewinnend an.

»Du brauchst gar nicht deinen George-Clooney-Blick aufzusetzen, denn der zieht bei mir nicht.« Doch dann lächelte auch er. »Aber klar: Eure Nostalgie-Fete kann wie geplant bei mir stattfinden. Ich habe mir auch ganz speziell für euch einige weihnachtliche Leckereien ausgedacht. Lass dich überraschen …«

 

2

Wie immer, wenn der harte Kern des 86er-Abiturs des Dürer-Gymnasiums zusammenfand, war Paul von einer wohligen Vorfreude erfüllt: Er genoss es, frühere Weggefährten wiederzusehen, die es nach Ausbildung oder Studium in alle Himmelsrichtungen verschlagen hatte und die nun, in der Adventszeit, zurück in die alte Heimat nach Franken kamen. Während die Festtage an sich den Familien vorbehalten waren, blieb der Vorabend zum vierten Advent fest und unverrückbar reserviert für das Treffen der Ehemaligen – jedenfalls für die bis heute verbliebenen Unerschütterlichen. Diese mittlerweile mehr oder weniger gesetzten Persönlichkeiten zogen nun alle nach und nach an Paul vorbei, denn er hatte sich den besten Platz für die Begrüßung ausgewählt, den es im Goldenen Ritter gab: die mit zerstoßenem Eis gefüllte Frischfischtheke im Eingangsbereich des urig-rustikalen Altstadtlokals. Paul hatte Jan-Patricks Frau Marlen von dieser Position verdrängt und verteilte an ihrer Stelle die Sektgläser an die Neuankömmlinge.

Als Erstes trudelten David und Hilde ein, wobei Hilde eigentlich nicht zum Abi-Jahrgang dazugehörte, aber als Davids Frau geduldet wurde und durch ihren herben Charme und ihre Schlagfertigkeit inzwischen ein gern gesehener Gast in den Reihen der 86er geworden war. David, groß, gertenschlank und mit dem dichten, blonden Haar seiner Jugend derjenige, der sich am besten von ihnen allen gehalten hatte, grüßte Paul mit einem freundschaftlichen Klopfer auf die Schulter. Hilde ging beherzter zur Sache und umarmte ihn.

Gleich danach betraten Rüdiger und Giulia das festlich dekorierte Gasthaus: Rüdiger, der eine steile Karriere bei der Bundeswehr hingelegt hatte, trug den kommissüblichen Bürstenschnitt. Obwohl auch er als sportlich galt, hatte ihm sein Rang als höherer Offizier den einen oder anderen Marsch mit schwerem Gepäck erspart, so dass sein Pullover über einem nicht zu übersehenden Bäuchlein spannte. Giulia , seine temperamentvolle Gattin mit italienischen Wurzeln, drückte Paul zwei Küsschen auf die Wangen, bevor sie sich ihr Sektglas schnappte.

Jakob kam gleich nach ihnen. Das schlaksige, hochgewachsene Deutsch-Ass mit markanter Bogennase begrüßte Paul ungewohnt herzlich und umarmte ihn. Der freiberufliche Autor, der sich – soweit Paul wusste – mehr schlecht als recht über Wasser halten konnte, wirkte höchst zufrieden und optimistisch. Das freute Paul für den sonst eher zurückhaltenden und von Selbstzweifeln geplagten Grübler.

Ulrich erschien im Verbund mit Til. Beide kamen Paul schon leicht angetrunken vor, lehnten den dargebrachten Sekt aber dennoch nicht ab. Til machte auf Paul einen wie stets ausgeglichenen und mit sich selbst vollauf zufriedenen Eindruck. Auch wenn sein Haar nicht dichter und sein Körper nicht schlanker geworden war, ging es ihm offensichtlich gut. Designerbrille und Krokolederschuhe verrieten Paul, dass auch seine Geschäfte in der Medizintechnik ordentlich liefen. Er prahlte mit protziger Rolex und fettem Siegelring, und seinen Porscheschlüssel steckte er erst ein, nachdem er sicher sein konnte, dass ihn jeder gesehen hatte.

Til durfte offenkundig einen Wohlstand genießen, der Ulrich nicht vergönnt war: Dieser wirkte abgerissen und leicht heruntergekommen, was nicht allein seinen zu langen und fettigen Haaren zuzuschreiben war. Paul fragte sich, ob Ulrichs Einkommen als Landwirt zu schmal oder die Ansprüche seiner Exfrau zu hoch sein könnten – oder sogar beides zutraf.

Udo und Sonja hingegen boten ein in sich sehr homogenes Erscheinungsbild: Ihr guter Eindruck, der sich aus der sportlich modischen Kleidung ebenso wie aus der jovialen Art des Auftretens ergab, erfreute Paul. Er gönnte den beiden ihr gemeinsames Glück, das sie schon in ihrer Schulzeit begründet hatten und nun als Paar auslebten. Finanziell schien es um die Bankkauffrau und den Finanzberater mit eigener Agentur ebenfalls gut bestellt zu sein.

Matthias und Katja beendeten das Stelldichein der Ehemaligen. Auch bei ihnen handelte es sich um ein Ehepaar, das bereits im Gymnasium zueinandergefunden hatte. Gleichwohl waren beide ihren ursprünglichen beruflichen Lebenszielen treu geblieben: Während bei Katja stets das soziale Engagement überwogen hatte und sie ihre Erfüllung in einer Kindertagesstätte fand, war Matthias Ingenieur geworden und hatte sich zu einer Koryphäe im Brückenbau entwickelt. Er hatte promoviert und vor Kurzem sogar eine Professur ergattert. Paul drückte seinen alten Freund fest an sich.

Als Nachzügler schneite ein inzwischen etwas krumm gehender Senior herein, dessen rundes Gesicht von einem weißen Vollbart umrahmt wurde: Oberstudienrat a. D. Winfried Klugmann war die einzige Lehrkraft von einst, die den Kontakt zum legendären Jahrgang ’86 bis heute gehalten und noch kein einziges Adventstreffen versäumt hatte.

 

3

Der Platz an der Frischfischtheke verlor an Reiz, sobald der letzte Gast eingetroffen war. Paul beeilte sich, das Silbertablett mit einigen übrigen Sektkelchen loszuwerden und mischte sich unter die emsig plaudernde Gruppe.

Nachdem die Übernachtungsgäste ihre Zimmer bezogen hatten und nun wieder im Gastraum eintrudelten, wechselten zumindest die Männer sehr schnell vom Sekt zum Bier, hatte Jan-Patrick doch speziell für diesen Abend sein sonst eher auf Wein abgestimmtes Getränkesortiment um sechs Raritäten aus Kleinstbrauereien der Fränkischen Schweiz ergänzt. Paul prostete sich mit Udo zu, der ihn aus seinem wie stets gebräunten Gesicht zufrieden ansah. Udo, groß, breitschultrig und mit vollem schwarzem Haar gesegnet, wandte sich gleich darauf wieder seiner Begleiterin zu. Wie Paul neidlos eingestehen musste, hatte Udo mit seiner Sonja wirklich das goldene Los gezogen. Die hinreißend hübsche Blondine hatte noch immer die Figur einer 20-Jährigen, und ihre Augen konnten Männerherzen so mühelos schmelzen lassen wie auch schon vor einem Vierteljahrhundert.