Daniel Schreiber

Susan Sontag

Geist und Glamour

Biographie

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Inhaltsübersicht

Vorwort

Prolog

Erinnerungen an eine sogenannte Kindheit
(1933–1944)

Die Erfindung Susan Sontags
(1945–1948)

Im akademischen Delirium
(1949–1957)

Paris, eine Romanze
(1958–1959)

Im Nexus New York
(1959–1963)

Camp
(1964)

Stile der Avantgarde
(1965–1967)

Radical Chic
(1967–1969)

Hinter der Kamera
(1969–1972)

Im Semi-Exil
(1972–1975)

Das Reich der Kranken
(1975–1979)

Die letzte Intellektuelle
(1980–1983)

Politik im Kleinen
(1984–1988)

Die Rückkehr zum Zauberberg
(1989–1992)

Ideelles Front-Theater
(1993–1997)

Leben und Nachleben
(1998–2001)

Das Leiden anderer
(2001–2004)

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Auswahlbibliographie

Dank

Personenregister

Informationen zum Buch

Über Daniel Schreiber

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Vorwort

Vor kurzem verbrachte ich einen Nachmittag mit einem befreundeten Autor, der an einer eigenen Biografie über Susan Sontag arbeitet. Eine der ersten Fragen, die er mir stellte, war, ob ich auch so ambivalente Gefühle ihr gegenüber gehabt hätte, als ich nach ihrem Tod im Dezember 2004 an meiner Biografie über sie schrieb. Er war nicht der erste, der mich das gefragt hat.

Im Gegenteil. Bis heute berichten mir Menschen, die sie kannten, immer wieder, wie schwierig der Umgang mit Sontag war. Wenigen Autorinnen schlug so viel Bewunderung für ihr Schaffen entgegen, wenigen so viel Enttäuschung und Verbitterung auf privater Ebene. Sie konnte warmherzig, auf sympathische Weise verrückt und eine gute Ratgeberin sein. Sie war aber auch egomanisch, neigte zur Selbstüberschätzung und verhielt sich manchmal auf eine regelrecht grausame Weise. Auch wenn diese Eigenschaften für die überragende Klugheit, die stilistische Brillanz und die einschneidende Klarheit vieler ihrer Texte mitverantwortlich waren, sorgten sie in ihrem persönlichen Leben für großes Unglück.

Ich begann eher aus Zufall an diesem Buch zu schreiben. Ich lebte damals in Brooklyn und hatte gerade beschlossen, meine Unikarriere an den Nagel zu hängen, weil ihre Fortsetzung eine Rückkehr nach Deutschland nötig gemacht hätte und ich mich dafür nicht gewappnet fühlte. Sontags Essays waren für mich immer sehr wichtig gewesen, ein Hoffnungsschimmer und eine Rettungsleine. So konnte man auch Texte schreiben, hatte ich immer gedacht, intellektuell, aber nicht akademisch. So konnte man auch über Themen nachdenken. Selbst ihre Texte, mit denen ich nicht übereinstimmte, beeindruckten mich. Nach der Kontroverse, die ihr harscher Artikel zu den Anschlägen vom 11. September im New Yorker auslöste, war ich ihr kurz bei einer Diskussionsrunde an der New York University begegnet. Ich war nicht ihrer Meinung, konnte es nicht sein, weil ich noch zu traumatisiert war von den Ereignissen, die die Stadt heimgesucht hatten, in die ich vor kurzem gezogen war. Aber ich wusste zu schätzen, dass sie eine andere Stimme in den damaligen »Wie ziehen in den Krieg« – Medien-Chorus einbrachte. In seiner Einstimmigkeit nämlich hatte mich dieser Chorus an die öffentlichen Diskussionen während meiner Kindheit in der DDR erinnert.

Sontags Tod im Dezember 2004 bewegte mich nachdrücklich. Ich versenkte mich in ihr Leben und schrieb für einen langen, in Deutschland viel gelesenen Nachruf über ihr faszinierendes Leben. Er gab den Startschuss für die Arbeit an dieser Biografie. Geplant war diese von Anfang an als ein kleines Buch, als ein Porträt, in dem es mehr um die öffentliche Figur Susan Sontag und ihre Leben in der in der intellektuellen Kultur New Yorks ging als um ihre intimen Belange. Es sollte die Chronik einer beispiellosen intellektuellen, durch und durch kosmopolitischen Karriere werden. Es sollte auch das erste Porträt werden, das Sontags ganzes Leben umfasste. Die einzige Biografie, die über sie existierte – »The Making of an Icon« von Lisa Paddock und Carl Rollyson, die wichtige biografische Arbeit geleistet hatten – war stellenweise tendenziös und sie ließ das letzte, überaus bewegte Jahrzehnt von Sontags Leben aus.

Prolog

Am 17. Januar 2005 versammelte sich bei feinem Nieselregen ein kleiner Kreis von Künstlern, Autoren und Verlegern aus aller Welt auf dem Pariser Friedhof Montparnasse, um Susan Sontag zu Grabe zu tragen. Der britische Literat Salman Rushdie traf auf die französische Schauspielerin Isabelle Huppert, Robert Wilson kreuzte seinen Weg mit Punkrock-Star Patti Smith. Sontags deutscher Verleger Michael Krüger begegnete der Starfotografin Annie Leibovitz. David Rieff hatte den letzten Aufenthaltsort seiner Mutter bestimmt und mit Hilfe ihrer Pariser Freunde das Begräbnis organisiert. Huppert trug den Baudelaire-Vers »Je t’aime, ô capitale infâme!« aus dem Epilog der »Blumen des Bösen« vor, ein Verweis auf Sontags mitunter schwieriges Verhältnis zu der französischen Hauptstadt, die ihr neben New York zum zweiten Zuhause wurde. Statt Trauerreden wurden Ausschnitte aus Texten von Sontags Vorbildern Roland Barthes und Emile Cioran gelesen, deren Grabstätten sich nunmehr in unmittelbarer Nähe befanden. Auszüge gab es auch aus Sontags eigenem Werk zu hören1, das neun berühmt gewordene Essaysammlungen, vier umstrittene Romane, zwei weitgehend unbekannt gebliebene Filmscripts und ein relativ obskures Theaterstück umfasst und in insgesamt 32 Sprachen übersetzt wurde. Der symbolische Gehalt des Begräbnisses schien offensichtlich: Die Autorin fand ihre letzte Ruhestätte in jener Welt des Geistes, deren Teil sie seit ihrer frühsten Kindheit in der tristen Wüstenlandschaft von Arizona sein wollte. Nicht weit von den letzten Ruhestätten Becketts, Sartres und de Beauvoirs konnten von nun an die Verehrer der westlichen Nachkriegsintellektuellen auch das Grab von Susan Sontag besuchen.

Den meisten Europäern wird Susan Sontag wohl als die altersweise Essayistin und Amerikakritikerin in Erinnerung bleiben, die 2003 vor den laufenden Kameras der Welt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegennahm. Die deutschen Nachrufe auf die Autorin, wie der von Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung oder der von Henning Ritter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erinnern an Sontags mitunter etwas theatralisch wirkende »Aura der Dissidenz«2 und an ihre Rolle als »kritische Mahnerin, als moralische Instanz«.3 In diesem Sinne betonen sie auch Sontags kulturkritisches Werk, während ihre literarische Arbeit und ihre Rolle als Medienfigur als Randnotiz behandelt werden.

In Amerika hingegen teilte sich die Nachricht von Sontags Tod die Titelseiten der wichtigsten Tageszeitungen des Landes mit den Schreckensmeldungen vom damaligen Tsunami in Südostasien. Repräsentativ für die Gefühle, die Sontag entgegengebracht wurden, war der glänzende Nachruf in der New York Times. Sontags Arbeit gehöre, so die Times, »seit nunmehr vier Jahrzehnten zum zeitgenössischen Kanon und wird überall diskutiert – von Doktorandenseminaren über die Seiten populärer Zeitschriften bis zum Hollywoodfilm ›Bull Durham‹«.4 Nicht nur sei sie »eine der am meisten vergötterten – und polarisierendsten – Personen der Geisteswelt« gewesen, auch »ihr Image« sei inzwischen »ein sofort erkennbares Artefakt der Populärkultur des 20. Jahrhunderts«.5 Superlative allerorten. Dass in der Heimat Sontags auf eine andere Art getrauert wurde, bewies auch die Gedenkveranstaltung, die am 30. März in New York stattfand. 500 Freunde, Weggefährten und Bekannte der Schriftstellerin trafen sich an diesem Tag in der Carnegie Hall und hörten zu ihren Ehren das Brentano String Quartet Beethovens »Streichquartett Nr. 15« und die legendäre Pianistin Mitsuko Uchida Schönbergs »Sechs kleine Klavierstücke« und Beethovens »Sonate No. 32« spielen. Das unter den Gästen verteilte Gedenkbuch bestand aus Aufnahmen der bis ins hohe Alter auf dramatische Weise schönen Sontag. Mehr als Dokumente eines bewegten Lebens, bebilderten die Fotos von Andy Warhol, Henri Cartier-Bresson, Robert Mapplethorpe, Annie Leibowitz, Peter Hujar, Jill Krementz, Richard Avedon und Thomas Victor den beeindruckenden Bildungsroman, den Sontags Biographie bildete, und ihre verschiedenen, mit Leidenschaft eingenommenen Rollen im öffentlichen Leben: die avantgardistische Kritikerin, die bei einer Anti-Vietnamkriegsdemonstration festgenommene, politische Radikale, die ernsthafte Filmemacherin in Schweden, die trotz fortschreitenden Alters jugendlich wirkende Intellektuelle und schließlich die engagierte Romanautorin mit Hang zur Künstler-Romantik. Anstatt einen Grabstein zu setzen, wurden hier die Bilder gesammelt, die Susan Sontag im medialen Gedächtnis der westlichen Kultur hinterlassen hatte – einer Kultur, deren unabdingbarer Bestandteil sie geworden war.

Erinnerungen an eine sogenannte Kindheit
(1933–1944)

Es ist gerade die Distanz zu meinen Ursprüngen, die mir gefällt. Ich habe nichts, wohin ich zurückkehren könnte.6

Erinnerungen sind fragil. Besonders die an unsere Kindheit. Nicht nur fehlt es den blanken und mit zunehmendem Abstand verblassenden Fakten des Wer, Wann und Wo an Aussagekraft. Es ist das Wesen jeder Kindheit, dass sie immer nur als eine Ansammlung von Erinnerungen existiert, deren Status ungewiss ist. Wir durchleben die Zeitspanne zwischen drittem und zwölftem Lebensjahr, ohne uns ihrer besonders bewusst zu sein. Ein Nachmittag scheint sich unendlich in die Länge zu ziehen. Ein Tag erscheint in tief empfundenen Momenten des Überschwangs, der Kränkung oder des In-Sich-Versunkenseins wie eine Ewigkeit. Jede Erinnerung kann nur eine Annäherung an die wahren Ereignisse sein. Sie ist von den Erzählungen unserer Eltern, Geschwister und Verwandten geprägt, oder sie nimmt die Form eines Fotos an. Erinnerungen werden im Lichte aktueller Ereignisse neu bewertet oder infolge einer Psychotherapie uminterpretiert. Manchmal können wir uns nicht einmal wirklich sicher sein, ob es sich bei ihnen nicht um impulsive Erfindungen handelt. Unsere Erinnerungen sind selektiv. Wir schneiden sie auf einzelne Momente, Botschaften oder Bilder zurecht. Und wenn wir diese preisgeben, dienen sie, ob wir es wollen oder nicht, immer auch den trügerischen Prozessen der Selbstinszenierung.

Die Kindheitserinnerungen von Susan Sontag, die in ihren Essays »On Photography« (1977) und »Where the Stress Falls« (2001) viele dieser Gedächtnismechanismen mit rigoroser Schärfe analysiert hat, sind überraschenderweise ein besonders unsicheres Feld. Was an Sontags Anmerkungen über ihre Kindheit heraussticht, sind bestimmte Szenen, mit Bedacht ausgeleuchtete Vignetten, die mitunter wirken, als stammten sie aus dem leicht vergilbten Fotoalbum eines altklugen, von Büchern berauschten Mädchens.

Sontag war zeitlebens stark auf ihre Privatsphäre und die Kontrolle ihres öffentlichen Images bedacht. Es ist also schwer, hinter die Bilder zu schauen, die Sontag selbst von ihrer Kindheit entwarf. Erst die Inkonsistenzen, die sich in ihre Angaben über diese Zeit einschlichen, und die Episoden, die sie später ihren Freunden preisgab, eröffnen den Blick auf das Leben eines isolierten und überdurchschnittlich begabten Mädchens, das von seiner allein erziehenden, alkoholkranken und emotional unzugänglichen Mutter vernachlässigt wurde.

Erst nach ihrem vierzigsten und verstärkt nach ihrem sechzigsten Geburtstag machte die Schriftstellerin auf vorsichtig inszenierte Weise Teile ihrer Kindheitserinnerungen öffentlich. Im Zentrum ihrer autobiographischen Erzählung »Project of a Trip to China« (1973) stehen die Suche nach ihrem früh verstorbenen Vater und ihre Faszination für das Land im Fernen Osten, welches für Sontag unauslöschlich mit ihm verbunden ist. Im Ton einer Beichte dagegen berichtet sie im bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten »Pilgrimage« (1987) von ihrer Audienz beim Exilanten Thomas Mann in den Pacific Palisades von Los Angeles. Die Details in beiden Geschichten sind authentisch, wie unter anderem Sontags Sohn David Rieff bezeugt – inzwischen ein bekannter amerikanischer Journalist und Autor politischer Sachbücher, der für die New York Times, die Los Angeles Times oder die Washington Post über die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, im Irak und in Südamerika berichtet hat.7

Sontags vereinzelte Selbstaussagen über ihre Familie und Kindheit in Zeitungsinterviews und Portraits in den 1970er und 1980er Jahren weichen Anfang der 1990er Jahre bereitwilligen Reminiszenzen, die sie mit Journalisten teilt, wenn sie sie in ihrer lichtdurchfluteten Wohnung im New Yorker Stadtteil Chelsea empfing. In der Rolle der Portraitierten schien sich Sontag wohl zu fühlen und ließ ihren Erinnerungen oft freien Lauf, auch wenn sie dabei manchmal von unwillkommenen Emotionen überwältigt wurde, ihr zuweilen die Stimme stockte und Tränen in die Augen stiegen.

Susan Lee Rosenblatt wurde am 16. Januar 1933 im Woman’s Hospital in Manhattan, New York, geboren, weil ihre Mutter Mildred, geborene Jacobson, Angst davor hatte, in Asien zu entbinden. Sontags Vater, Jack Rosenblatt, war Besitzer des im chinesischen Tianjin stationierten Pelzhandelsunternehmens Kung Chen Fur Corporation. Mildred schien eine jener typischen Kolonialherren-Hausfrauen gewesen zu sein, die bisweilen im Familienunternehmen mitarbeitete. Die Rosenblatts waren eine junge, äußerst wohlhabende Familie mit charakteristisch amerikanischem Unternehmergeist. Mildred blieb nach der Geburt von Susan nur für kurze Zeit in New York. Sie kehrte bald allein nach Tianjin zurück und überließ Susan, ebenso wie drei Jahre später Susans jüngere Schwester Judith, der Pflege der irisch-amerikanischen Nanny Rose McNulty oder Rosie, wie Susan sie nannte.

Die improvisierte Familie aus Kinderfrau und Kleinkind lebte zunächst bei den Rosenblattschen Großeltern und später bei anderen Verwandten, bevor sich die Eltern ein Haus in Great Neck, einer teuren Wohngegend auf der New Yorker Halbinsel Long Island, kauften.

Das Wohnzimmer ihrer Eltern in Great Neck, so erinnert sich Sontag in »Projekt einer Reise nach China«, war mit chinesischen Dekorationen aus Elfenbein und Rosenquarz sowie Kalligraphie-Rollen aus Reispapier ausgestattet gewesen. Ein chinesisches Geburtstagsgeschenk blieb ihr aus jener Zeit ebenfalls in Erinnerung: ein Armband aus grünen Jade-Steinen, so wertvoll, dass sie es niemals zu tragen wagte.

Doch die kolonialen Trophäen, die ihre Eltern aus China mitbrachten, erinnerten Susan vor allem an das chinesische Haus der Eltern, das sie nie zu Gesicht bekommen sollte. Das Ausgeschlossensein aus dem Leben von Vater und Mutter war für die Heranwachsende eine tiefgreifende und schmerzvolle Erfahrung, wie Sontag in ihrer Erzählung rückblickend selbst analysierte. Ihre Eltern kamen immer nur für wenige Monate nach New York und kehrten danach wieder nach China zurück, um »Great Gatsby und Daisy in der britischen Kolonie« zu spielen, wie Sontag in einer sarkastischen Anspielung auf F. Scott Fitzgeralds High-Society-Roman schilderte.8

Es ist ein Kennzeichen von Erlebnissen traumatischer Natur, dass sie über lange Zeit verdrängt werden, dabei aber ihr seelisches Erregungspotential beständig wächst. Je größer der Abstand von solchen Erlebnissen ist, desto stärker wird oft das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Die Kindheitserinnerungen der älteren Susan Sontag sind, wie die der meisten Menschen, nicht nur von einer stimmungsvollen Nostalgie, humoristischen Reminiszenzen und manchmal von mythischen Untertönen geprägt. Oft schleicht sich ein außergewöhnlich bitterer Ton ein, manchmal regelrechte Wut. Und wahrscheinlich sind das die treffenderen Empfindungen für eine Lebensphase, die Sontag selbst als ihre »unüberzeugende sogenannte Kindheit« beschrieb.9 Vieles spricht dafür, dass für das hochsensible Kind das sich regelmäßig wiederholende Alleingelassen-Werden eine Reflexion auf den vermeintlichen Wert seiner eigenen Person darstellte. Einige Erinnerungen, die Sontag niederschrieb und erzählte, werfen traurige Schlaglichter auf diese Wunde. So berichtete sie von dem brennenden Wunsch, den sie als Kind verspürte, zusammen mit den Eltern nach China reisen zu dürfen. Die eifrige und intelligente Susan lernte schon als Kleinkind, mit Stäbchen zu essen und versuchte in gewissem Sinne »chinesisch« zu werden, damit sie es verdiene, von ihren Eltern mit in das exotische Land genommen zu werden. Auch die 50-jährige Sontag erinnert sich noch mit einem gewissen Stolz daran, dass ausländische Freunde ihrer Eltern die Vierjährige einmal lobten, sie sehe ›chinesisch‹ aus. Vielleicht glaubte das Mädchen, dass es schuld sei an der unerklärlichen Tatsache, dass ihre Eltern sie immer wieder verließen, und wollte diese Schuld mit der Bereitschaft zur Anpassung aus der Welt räumen. Mildred Rosenblatt schien dieses Identitätsspiel ihrer Tochter zu unterstützen, ja auf eine gelangweilte und etwas herzlose Art zu provozieren. Um sie ruhigzustellen, erzählte sie Susan, dass kleine Kinder in China nicht sprechen würden. Wie das aufmerksame Kind jedoch schnell bemerkte, folgten solche erzieherischen Fabeln keinen logischen Regeln. Obwohl die Mutter behauptet hatte, dass es in China zum guten Ton gehöre, nach dem Essen aufzustoßen, war dies am Sontagschen Esstisch natürlich untersagt.

Ihre frühesten Erinnerungen verband Sontag nicht mit der Mutter, sondern mit ihrer Kinderfrau Rosie. Susan genoss keine religiöse Erziehung. Ihre jüdische Familie war säkularisiert und befolgte weder religiöse Feiertage noch Glaubenszeremonien. Eine Synagoge betrat Sontag erst, als sie Mitte zwanzig war. Ihre katholische Kinderfrau jedoch nahm sie manchmal mit zur Sonntagsmesse. Als sie vier war und mit Rosie und ihrer Schwester in den Park ging, so sollte Sontag später oft bei verschiedenen Gelegenheiten erzählen, hörte sie einmal, wie ihre Kinderfrau zu einer anderen Nanny sagte: »Susan ist ein sehr altkluges Kind.« In ihren weißen, gestärkten Uniformen wirkten die beiden Nannys wie Riesinnen auf das kleine Mädchen. Betroffen dachte sie darüber nach, was diese Worte wohl bedeuteten und ob auch andere Leute sie so einschätzten.10 Wie diese Episode deutlich macht, in der die frühreife Vierjährige den Unterschied zwischen sich und den anderen Kindern zu verstehen sucht, machte Sontag viele ihrer wichtigsten Erfahrungen mit Rosie, die eine Art Mutterfigur für sie darstellte und bei ihr bleiben sollte, bis sie vierzehn Jahre alt war. Sie kehrte später noch einmal in ihr Leben zurück, um sich um Sontags eigenen Sohn David zu kümmern.

Der Ton der Verbitterung wird besonders vernehmlich, wenn ihre Rede auf Mildred, ihre ungeliebte Mutter, eine schöne und depressive Alkoholikerin, kommt. Sontag erinnert sich, dass ihre Mutter geradezu obsessiv mit Schönheitspflege beschäftigt war und damit, die Folgen des Alterns zu minimieren. Eine absurde Begleiterscheinung dessen etwa war, dass sie dem Kind nicht erlaubte, sie in der Öffentlichkeit mit »Mutter« anzusprechen. Dieses Verbot muss das Kind umso schwerer getroffen haben, als es von den Eltern ja ohnehin schon für lange Zeitabschnitte alleingelassen wurde. Sontag bezeichnete ihre Mutter zeitlebens nur als M., ein Kürzel, das ebenso für »Mildred« wie für ein heimliches »Mother« oder »Mum« steht und die traurig-trotzige Wut ausdrückt, die Sontag ihrer Mutter gegenüber lebenslang spüren sollte. Enge Gefährten Sontags, die nicht nur Zeugen ihrer Familienerinnerungen, sondern auch der Beziehung zwischen der erwachsenen Sontag und ihrer Mutter wurden, unter ihnen etwa Sontags spätere Partnerin und Freundin, die Tänzerin und Choreographin Lucinda Childs, teilen die Auffassung, dass Mildred »nicht die richtige Mutter für Susan« gewesen sei.11

Noch 1992 war Sontag anzumerken, wie aufgewühlt sie war, als sie einer Journalistin des Los Angeles Times Magazine davon erzählte, wie groß die emotionale Distanz zwischen ihr und ihrer Mutter war. Mildred habe meist bei zugezogenen Vorhängen auf ihrem Bett gelegen, auf ihrem Nachtschrank ein Glas, von dem das Kind dachte, es wäre mit Wasser gefüllt. Erst später erfuhr Sontag, dass es Wodka war. Immer wenn Susan ein Anliegen hatte, wurde sie von ihrer Mutter mit dem Hinweis fortgeschickt, dass sie zu müde sei.12

Als Susan fünf Jahre alt war, kam Mildred allein aus China zurück und sagte dem Kind, dass der Vater bald nachkommen werde. Vier Monate gingen vorüber, ohne dass Mildred ihrer Tochter erzählte, was geschehen war. Eines Tages schließlich, nach dem Mittagessen, nahm eine gleichgültig wirkende und wahrscheinlich immer noch vom Schock betäubte »M«. ihre Tochter mit in den Salon und sagte ihr, dass ihr Vater gestorben sei. Im Oktober 1938 war Jack Rosenblatt im Alter von 34 Jahren im Deutsch-Amerikanischen Krankenhaus in Tianjin einer Tuberkulose-Erkrankung erlegen.13 »Ich weine immer noch in jedem Film mit einer Szene, in der ein Vater nach einer langen, verzweifelten Abwesenheit nach Hause zurückkehrt und sein Kind oder seine Kinder umarmt«14, sagte Sontag noch als 59-Jährige ohne Umschweife, aber auch nicht ohne das schleichende Pathos des Unbewältigten, das schmerzvolle Erinnerungen mit sich bringen.

Ein weiterer Hinweis auf die traumatisierenden Auswirkungen dieser Erfahrung sind die Unregelmäßigkeiten in Sontags Erinnerung. Sie hat nicht nur in »Projekt einer Reise nach China«, sondern auch in verschiedenen Interviews behauptet, dass sie bereits zur Schule gegangen sei, als sie vom Tod ihres Vaters erfuhr. Der Vergleich von Sterbeurkunde und Schulzeugnissen jedoch belegt, dass dies nicht der Fall gewesen sein kann.15 Susan wurde erst im September 1939 eingeschult. Sontag berichtete auch, dass sie zum Zeitpunkt des Geschehens kaum verstanden habe, was passiert war, und erst recht nicht damit umgehen konnte. Es ist wahrscheinlich, dass die komplette Realisierung des Todes ihres Vaters erst viel später, eben als Sontag bereits zur Schule ging, einsetzte.

»Ein weißer Seidenschal mit den mit schwarzem Seidenfaden aufgestickten Initialen und eine schweinslederne Brieftasche, auf deren Innenseite sein Name in kleinen Goldbuchstaben geprägt ist, das ist alles, was ich von dem besitze, was ihm gehört hat«, schreibt Sontag über die Gegenstände, die ihr von ihrem Vater blieben.16 Wie die vierzigjährige Sontag in »Projekt einer Reise nach China« beschrieb, wusste sie nicht einmal, wie die Handschrift ihres Vaters aussah. Darüber hinaus besaß sie noch ein paar Schwarzweißfotos, die ihren Vater auf Rikschas und Kamelen zeigten, noch bevor sie geboren wurde. Selbst die ihr bleibenden konkreten Erinnerungen an ihn hatten die Form solcher Schnappschüsse: »Ich erinnere mich, wie er ein enorm groß erscheinendes Taschentuch, beinahe von der Größe einer Tischdecke, faltete und in seine Brusttasche steckte. Ich kann mich daran erinnern, wie ich an diesem Riesen hoch schaute und dachte, das wäre die aufregendste Sache der Welt, so ein Taschentuch falten zu können, damit es dieses kleine Ding würde und man es in seine Tasche stecken könne.«17 Die nostalgische Aufladung dieser Erinnerungen und Gegenstände ist eng mit der quälenden Unwissenheit verbunden, die Susan von nun an nicht mehr nur mit den China-Reisen der Eltern, sondern auch mit dem unwiderruflichen Tod ihres Vaters assoziiert. Sie kann sich nicht einmal vorstellen, wie das Land aussieht, in dem ihre Eltern lebten und ihr Vater starb. In den Schwarzweißfotos wird die Trauer des sprachlosen Kindes manifest. Zum einen gaukeln sie die konkrete Anwesenheit des Vaters vor. Zum anderen machen sie mit jedem Jahr deutlicher, dass der Vater nicht mehr wiederkehren wird. Was Susan von ihrem Vater bleibt, ist ihr ungewöhnlich ausgeprägtes Fernweh und ihre Ruhelosigkeit; der Wunsch zu reisen, um Erklärungen zu finden.

Eine Szene, in der sich diese Erfahrung wiederholt und für die kleine Susan Rosenblatt abermals mit einer schwer zu bewältigenden Mischung aus Trauer und Fernweh verbunden ist, beschrieb Sontag 1975 in einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Geoffrey Movius vom New Boston Review, in dem das Gespräch auf ihre Großeltern Samuel und Gussie Rosenblatt kam: »Die meisten Amerikaner sind Kinder oder Enkelkinder von Immigranten, deren Entschluss, nach Amerika zu kommen, im Wesentlichen damit zu tun hatte, die Verluste klein zu halten. Ihr Hauptimpuls war der des Vergessens. Einmal fragte ich die Mutter meines Vaters, die starb, als ich sieben war, woher sie käme. Sie erwiderte: ›Europa‹. Sogar als Sechsjährige wusste ich, dass das keine sehr gute Antwort war. Ich fragte: ›Aber woher in Europa, Großmutter?‹ Sie wiederholte scharf ›Europa‹. Und bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, aus welchem Land meine Großeltern stammen. Aber ich habe Fotos von ihnen, die ich sehr, sehr gern anschaue. Sie sind wie mysteriöse Pfandstücke all dessen, was ich nicht über sie weiß.«18

Europa erscheint für das Mädchen plötzlich genauso fern, phantastisch, glamourös und unbekannt wie China, und noch wichtiger: durch den Tod der Großeltern, die aus ihrer Herkunft ein Geheimnis machten, ist es ein Ort, der mit einer ähnlich bedeutungsvollen Schwere aufgeladen ist. Das Kind konnte und sollte nichts von den antisemitischen Pogromen im Polen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wissen, die vermutlich der Grund für die Emigration der Großeltern waren. Auch wenn Sontag 1975 noch damit kokettierte, dass sie nicht wüsste, aus welchem Land ihre Familie ursprünglich käme, war ihr doch bewusst, dass sie aus Lodz, Galizien und der Gegend um Wilna stammten. 25 Jahre später, als sie an ihrem semi-biographischen Roman der polnisch-amerikanischen Schauspielerin Helena Modrzejewska arbeitete, sollte Sontag mit derselben Koketterie Polen manchmal sogar als ihr Herkunftsland angeben. Wie sich der polnisch-amerikanische Lyriker Adam Zagajewski erinnert, tat sie dies, um entweder, »ihre autodidaktischen Verdienste hervorzuheben« oder »um das intellektuelle Potential, das vor allem in ihrer Wilnaer Familie geschlummert habe, zu betonen.«19 Auch noch Jahrzehnte später ist die beunruhigende Unsicherheit, die das Geheimnis der familiären Herkunft für das Kind barg, an der Willkürlichkeit von Sontags Identitätsspiel ablesbar.

Nach dem Tod des Vaters und der damit verbundenen Aufgabe des Pelzunternehmens begann ein gewisser sozialer Abstieg für die Familie Rosenblatt, der durch die wirtschaftliche Depression, in der sich Amerika in den 1930er Jahren befand, noch verstärkt wurde. Die meisten Angestellten mussten entlassen werden. Die chinesischen Kunstgewerbeprodukte, die geschnitzten Elefanten aus Rosenquarz und Elfenbein, wurden verkauft. Außerdem begann Susan ein so ausgeprägtes Asthma zu entwickeln, dass es ihre Mutter auf Anraten eines offensichtlich schlecht informierten Arztes für nötig erachtete, in ein anderes Klima zu ziehen. Begleitet von Rosie und einem übergewichtigen, schwarzen Koch zog Mildred mit ihren beiden Töchtern in die Seeluft von Miami, und das Leben der Sechsjährigen wurde abermals auf den Kopf gestellt. Ihrem Sohn David erzählte Sontag, dass ihr die Erinnerungen an den einjährigen Kindheitsaufenthalt in Florida erschienen, als stammten sie aus dem 19. Jahrhundert, in der Gestalt verschwommener Bilder von Kokospalmen und weißen Häusern, die mit maurisch anmutendem Stuck verziert waren.20 Der Kontrast zum wesentlich kühleren Klima New Yorks hätte nicht größer sein können. Das Gefühl der Wurzellosigkeit, von dem Sontag später oft sprechen sollte, wuchs in dieser geographischen Verwirrung an.

Nach ein paar Monaten, in denen das feuchte, subtropische Klima Miamis das Asthma des Kindes verschlimmert hatte, zog die Familie nochmals um, diesmal nach Tucson, Arizona, in den Südwesten der USA. Von all den Orten, in denen Sontag während ihrer Kindheit lebte, sollte das südliche Arizona mit seiner sich weit erstreckenden Wüste den stärksten Eindruck in ihr hinterlassen. Tucson war der Ort, den sie, »wenigstens in der Phantasie«, mit ihrer Kindheit verband und als den Ort bezeichnen sollte, an dem sie aufwuchs.21 Als die Rosenblatts nach Arizona kamen, war Tucson, heute eine der größten Städte des Bundesstaates, noch eine mittlere Kleinstadt mit etwa 30000 Einwohnern – ein Großteil davon lateinamerikanische Immigranten. Die Stadt war bekannt für ihr heilsames Klima. In und um Tucson gab es rund dreißig Krankenhäuser und Sanatorien, die Patienten mit verschiedensten Lungenkrankheiten beherbergten. Die Wüste, die sich um Tucson herum erstreckte, gehört zu den schönsten Landschaften Amerikas.

Die Kindheit in der Wüstenlandschaft Arizonas verstärkte Susans Gefühl der Einsamkeit. Zwar war die Kinderfrau Rosie auch mit nach Tucson gezogen, doch Mildred reiste immer noch viel, ohne dass Susan wusste, wohin und zu welchem Zweck. Später nahm Sontag an, dass ihre Mutter Liebhaber hatte. Zudem war mit dem Umzug ein weiterer sozialer Abstieg verbunden. Es ist unklar, wovon die Rosenblatts lebten. Mildred schien, zumindest zeitweise, als Lehrerin in der lokalen High School zu arbeiten. Die neue Familienherberge lag an der nicht asphaltierten Drachmannstraße am Rande Tucsons. Als Sontags Literaturagent und Freund Andrew Wylie ein halbes Jahrhundert später Arizona besuchte, zeigte sein Klient Larry McMurtry, ebenfalls ein Freund von Sontag, ihm das Haus, in dem Sontag aufgewachsen war – ein in den Boden zementierter Trailer-Bungalow am Rande der Wüste, dem Ende der Welt. »Es war verblüffend«, berichtet Wylie, »was ich sah, war ein Akt der Selbsterfindung, der Susan ausmachte. Eine so gebieterische, kulturell zutiefst gebildete und kosmopolitische Intellektuelle zu werden, ausgehend von diesem heruntergekommenen kleinen Trailer am Rande Tucsons, einem der trostlosesten Orte, an dem man in diesem Land leben kann, das war unglaublich.«22

Schon mit drei Jahren hatte Susan lesen gelernt. Sie nannte, mit den Traditionen jener Zeit im Einklang, eine riesige Comic-Sammlung ihr eigen. Mit sechs Jahren begann sie, »richtige Bücher« zu lesen.23 In den Erinnerungen Sontags über die literarischen Unternehmungen ihrer Kindheit wird vor allem deutlich, wie stark ihr Identifikationsbedürfnis war. Von ihren Eltern auf der Suche nach Rollen- und Vorbildern buchstäblich allein gelassen, sucht sie diesen Mangel mit Hilfe der Literatur zu kompensieren.

Sontag hat oft Eve Curies Biographie24 über deren nobelpreisprämierte Mutter Marie als eine der einflussreichsten Lektüren ihrer Kindheit bezeichnet. In einer Zeit, wo es für intelligente Mädchen außerhalb der Familie kaum nennenswerte geistige Perspektiven und Rollenmodelle gab, war die Biographie der hochmoralischen, hart arbeitenden und in einer reinen Männerdomäne brillierenden Nobelpreisträgerin eine willkommene Identifikationsfläche für das Kind. Sontag sollte später auch erzählen, dass sie, wie alle ambitionierten Mädchen ihres Alters, lieber ein Junge gewesen wäre, weil ihr das viel leichter zu sein schien.25

Bezeichnenderweise spielt sich Marie Curies Werdegang in Polen und Frankreich ab, also in Europa, das in Susans Phantasie zu jenem traurig-glamourösen Ort geworden war. Curie wurde zur uneingeschränkten Heldin der frühen Kindheit Susans. Von dem Zeitpunkt an, als sie das Buch aus den Händen legte, wollte auch sie Naturwissenschaftlerin werden. Auch der Chemienobelpreis schien ihrer kindlichen Ambition nicht außer Reichweite.26

Sontag zeichnete von sich später oft das eindringliche Bild eines einzelgängerischen Kindes, das allein durch die Wüste Arizonas streift. Anstatt nach der Schule direkt nach Hause zu gehen, mochte sie es, ihre Zeit damit zu verbringen, einem steinigen Weg durch die Wüste zu folgen, wo aufsehenerregende Säulenkakteen mit blutroten, stacheligen Kaktusfeigen zu bewundern waren. Sie sammelte hübsche Steine – eine Gewohnheit, die sie ihr Leben lang beibehalten sollte – suchte den Boden nach Schlangen und Pfeilspitzen ab, und sie stellte sich gern vor, sich verirrt zu haben oder die letzte Überlebende einer Katastrophe zu sein. Sie spielte Indianer, war dabei aber ganz allein – ein «Lone Ranger«.27

»Natürlich dachte ich, dass ich Jo aus ›Little Women‹ war«, erinnerte sie sich 1995 in einem Interview mit dem Intellektuellen Edward Hirsch, mit Bezug auf die bekannte Bürgerkriegsschmonzette von Louisa May Alcott. Es ist auch wahrscheinlich, dass Sontag George Cukors Film »Little Women« (1933) mit einer glänzend unkonventionellen, jugendlichen Katharine Hepburn in der Rolle der Jo March gesehen hat, einen der erfolgreichsten Hollywoodfilme der dreißiger Jahre, der noch Jahre später in Kinos in ganz Amerika lief, nicht zuletzt, weil er einen optimistischen Ausblick auf das Familienleben in Kriegszeiten lieferte. Der Plot von Roman und Film bildet eine auffällige Parallele zum Leben Sontags, die das starke Identifikationspotential für das Mädchen erklärt. »Little Women« handelt von einer Familie aus Töchtern, Mutter und Kindermädchen, die in Abwesenheit des Vaters während des Amerikanischen Bürgerkriegs mit wirtschaftlichen und privaten Sorgen kämpfen. Wie der Name der Protagonistin Jo, ein maskulin verkürztes Josephine, schon sagt, handelt es sich bei ihr um den archetypischen Tomboy. Sie ist vorlaut und redelustig, interessiert sich fürs Säbelfechten, inszeniert und spielt in einem eigenen Theaterstück und hat eine Leidenschaft für das Schreiben. Mit letzterem ist sie sogar so erfolgreich, dass sie ein paar Geistergeschichten an eine Zeitschrift verkauft. Jos größter Traum ist es, nach Europa zu fahren, um die Ursprünge der Zivilisation in der Alten Welt zu studieren. Wie für Susan ist auch für Josephine Europa ein Sehnsuchtsort. Und wie Susan landet Jo schließlich in New York und beginnt, statt ihrer sensationalistischen Geschichten seriöse Literatur zu schreiben.

Diese literarische Botschaft verstand die zukünftige Autorin intuitiv. Ganz das ernste, angespannte und nachdenkliche Kind, als das Rosie sie schon als Vierjährige beschrieben hatte, wollte Susan schreiben, aber »nicht das (…), was Jo schrieb«28. Katharine Hepburn, einer der größten Filmstars jener Jahre, dürfte ebenfalls Eindruck auf Susan gemacht haben. Auch jenseits der Leinwand hatte die Schauspielerin den Ruf eines burschikosen Tomboys. Die amerikanische Klatschpresse jener Zeit mokierte sich ausführlich über das wenig damenhafte Benehmen von Hepburn oder darüber, dass sie kein Make-up trug und stolz die ominösen Spielregeln Hollywoods ignorierte.

Im September 1939, zum Zeitpunkt also, als in Europa der Zweite Weltkrieg begann, wurde Susan Rosenblatt eingeschult. Wie sie dem Journalisten Ron Grossman von der Chicago Tribune erzählte, wurde sie aufgrund ihrer hervorragenden Lesefähigkeiten gleich am ersten Tag um eine halbe Klassenstufe versetzt. Am zweiten Schultag wurde sie noch einmal versetzt und am Ende der Woche war Susan Rosenblatt schon Schülerin der dritten Klasse.29 Sontag hatte wenig gute Erinnerungen an ihre Schulzeit. Salopp sollte sie später oft anmerken, dass sie das Opfer einer schlechten Schulausbildung im als ruinös verschrienen öffentlichen Schulsystem Amerikas war, dass sie aber wohl das Glück gehabt hätte, vor der Ära der Kinderpsychologen eingeschult worden zu sein.30 Ihren Mitschülern erklärte sie, dass sie in China geboren worden sei, obwohl sie wusste, dass dies nicht der Fall war.31

Sontag erinnerte sich später, welche Angst sie am 7. Dezember 1941 verspürte, jenem Tag, an dem japanische Fliegerbomber das hawaiianische Pearl Harbour angriffen und Amerika zum ersten Mal Schauplatz von Kriegshandlungen wurde. Der darauf folgende Eintritt in den Zweiten Weltkrieg wurde von der amerikanischen Regierung vor allem als Teilnahme an einem »People’s War«, einem »Krieg für die Menschheit«, dargestellt, bei dem es, zumindest der Rooseveltschen Propaganda zufolge, zuallererst um die Rettung der europäischen Juden ging. Susan Rosenblatt, der Abstammung nach selbst europäische Jüdin, war von den Nachrichten der folgenden vier Kriegsjahre tief bewegt. Durch die scheppernden Radioempfänger der Schule und der Kleinstadt schallten die Nachrichten über Frontverläufe und geschlagene Schlachten. Die Lungenheilanstalten in Tucson waren mit Soldaten gefüllt, Lebensmittel und Konsumprodukte waren rationiert, Stromausfälle an der Tagesordnung. Ebenso Luftüberwachungsmaßnahmen und Warnsirenen in der Nacht, Erste-Hilfe-Kurse und eindringliche Filmnachrichten, die zerbombte europäische Städte zeigten, explodierende Häuser und die endlosen Flüchtlingstrecks. Der damals so gängige Ausdruck »for the duration«, »für die Dauer (des Krieges)«, sollte Sontag lebendig in Erinnerung bleiben, wie sie später berichtete. Er markierte einen gewissen Optimismus, der es dem Mädchen ermöglichte, auf die Gegenwart ihrer Kindheit zu blicken und sie für eine Zeit zu vergessen. »Für die Dauer (des Krieges)« bedeutete, dass der Gegenwart eine bessere Zukunft folgen würde.32

Eine von Susans Investitionen in die bessere Zukunft waren die Reisebücher von Richard Halliburtons. Mit Halliburton war es Susan möglich, ihrer Sehnsucht nach fernen Orten nachzukommen und wenigstens in ihrer Phantasie nach China und Europa zu reisen. Noch als 68-Jährige geriet Sontag ins Schwärmen, wenn sie von ihrer über Jahre angesammelten Reihe antiquarischer Halliburton–Erstausgaben erzählte.33 Sontags spätere Partnerin und Freundin, die Fotografin Annie Leibovitz, erinnert sich in der Einführung zu ihren Memoiren daran, dass es diese Bücher gewesen sind, die Sontags lebenslange Reiselust angefacht hätten.34 Halliburton führte Susan in die Romantik des Reisens ein. Sie las alle erhältlichen Bücher des Abenteuerautors, die für sie eine Quelle ungetrübten Glücks und »erfolgreicher Willensausübung«35 waren. Die Lektüre war für sie eine Aufforderung zur imaginären Flucht, die sie dankbar annahm. Damit war auch die Idee des Schreibens verbunden. Mit Halliburton als Vorbild, so erinnert sich Sontag, bekam sie eine Vorstellung davon, was es heißt, Autorin zu sein, die nach ihrem »Dafürhalten privilegierteste aller Lebensformen«: »(…) ein Leben, erfüllt von endloser Neugier und Energie und zahllosen Begeisterungen. Ein Reisender zu sein, ein Schriftsteller zu sein – in meinem kindlichen Gemüt war es ein und dasselbe.«36

Und mit kindlichem Eifer setzte sie diese Idee in die Tat um. Sie bastelte eine vierseitige Zeitschrift mit selbstgeschriebenen Beiträgen, die sie für fünf Cent in der Nachbarschaft verkaufen wollte. Hier machte sie erste literarische Versuche und fasste pflichtbewusst Zeitungsartikel über die Schlachten des Zweiten Weltkrieges zusammen.37 Dem Rolling Stone gab Sontag 1978 zu Protokoll, dass sie ein furchtbar ruheloses Kind gewesen sei, das sich permanent beschäftigen musste. Schon als sie acht oder neun Jahre alt war, habe sie unablässig geschrieben.38 In einem Interview von 1985 datiert sie ihre ersten Schreibversuche sogar auf die Zeit, als sie erst sieben oder acht war.39 1987 schließlich erzählte Sontag, dass sie schon mit sechs oder sieben geschrieben habe und fügt hinzu: »Dramen, Gedichte, Geschichten.«40 Auch wenn Sontag in ihren späteren Interviews oftmals den Verführungen der Selbstdarstellung zu erliegen scheint, lässt sich mit Sicherheit sagen, dass sie schon früh mit dem Schreiben begonnen hat.

Gern zeichnete Sontag in Szenen wie diesen das Bild eines geistig von ihrer Familie und ihrer schulischen Umgebung unabhängigen Kindes, das sich selbstgenügsam und ohne nennenswerte Ermunterung die schwierigen Werke der Weltliteratur einverleibt und darin, mitunter ganz buchstäblich, lebt. Nicht nur wünschte sie sich einen Chemiebaukasten und richtete ein Curiesches Chemielabor in der Garage des Bungalows in der Drachmann-Straße ein. Auch Sontags weitere Kindheit, so erinnerte sie sich oft nostalgisch, sei eine Reise voller literarischer und intellektueller Höhepunkte, ein freier Fall in den Himmel von Weltliteratur und Philosophie gewesen. Als sie zehn Jahre alt war, entdeckte sie die »Modern Library«-Reihe in einem Schreibwarenladen in Tucson. »Und ich habe irgendwie verstanden«, erzählt sie, »dass es sich dabei um Klassiker handelte. Ich mochte es, Enzyklopädien zu lesen, daher erinnerte ich mich an viele Namen, und da waren sie! Homer, Vergil, Dante, George Eliot, Thackeray, Dickens. Ich entschied, dass ich sie alle lesen würde.«41 Jedes Buch, so Sontag, sei für sie wie ein kleines Königreich gewesen.42

Doch in Sontags Romantisierungen ihrer kindlichen Lektüren schleichen sich mitunter auch dunklere Untertöne ein. Das Lesen habe für sie einen Triumph dargestellt, so die Schriftstellerin an anderer Stelle, »einen Triumph des Nicht-Ich-Selbst-Sein-Müssens.«43 Beim Lesen konnte das Kind zwar seinem eingeengten Leben entfliehen. Was hier aber auch zu Tage tritt, ist die Selbstkonzeption eines unsicheren und hochintelligenten Kindes, das seiner eigenen, als unzulänglich empfundenen Haut zu entfliehen sucht. Und schließlich fällt die Selbstkonzeption einer Autorin ins Auge, der diese Flucht aus den Zwängen einer ländlichen, einsamen und anerkennungsarmen Kindheit gelungen ist und die eben deshalb zu romantischen und mitunter übertriebenen Idealisierungen neigt. Selbst bei einem Wunderkind wie Sontag hat man größte Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass es freiwillig Schopenhauer liest und – wie sie oft angedeutet hat – auch noch versteht. Das Volumen ihrer Kindheitslektüren, nähme man Sontags über die Jahre verteilten Interviewbeiträge ernst, würde zudem die zeitlichen Möglichkeiten selbst eines hochbegabten Erwachsenen überschreiten. Vor allem Sontags spätere Lektürebeschreibungen dienten allenfalls der Aura des Genies, mit der sich Sontag in späteren Jahren immer bewusster umgab. Es ist kein Kind, das sich in diesen Beschreibungen herauskristallisiert, sondern Sontags Idealisierung einer Kindheit, die sie in ihrem Fall als eine Vorstufe für das Lebenskonzept der Intellektuellen anzusehen schien.

Die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer, eine enge Freundin von Sontag, berichtet, dass sie oft mit Sontag über ihrer beider »nicht besonders glücklichen Kindheiten« sprach, in denen sie trotz wesentlicher Unterschiede auch Parallelen, wie eben der »autodidaktischen Leidenschaft für das literarische Leben und das Lesen«44 erkannten. Trotzdem teilten beide Autorinnen eine tief empfundene Abneigung für »die Angewohnheit vieler Leute, ihre Kindheit für ihr Leben verantwortlich zu machen, wie es lange Zeit in Mode war.«45

Es ist diese Idee von einer Pflicht des aktiven Hinauswachsens über die Umstände, in die man hineingeboren ist, die Sontags Erinnerungen an ihre »sogenannte Kindheit« durchzieht. Kurzerhand erklärt die erwachsene Sontag ihre frühen Jahre als eine Aneinanderreihung von Ereignissen, in der schon das ganze Spektrum ihrer späteren intellektuellen und literarischen Beschäftigung angelegt ist. Einerseits gibt sie damit ihrer nicht eben glücklich zu nennenden Kindheit nachträglich einen handfesten, lebenstechnischen Sinn. Andererseits ist der Einsatz für diese Sichtweise nicht weniger als der Erfolg, den sie in ihrem späteren Leben erzielte und ohne den ihr Kindheitsschmerz keine Rechtfertigung hätte erfahren können. Sontag ließ sich selbst gleichsam keine andere Wahl, als erfolgreich zu sein. Alles andere wäre ein Verrat an ihrer einsamen und literaturberauschten Kindheit gewesen.

Die Erfindung Susan Sontags
(1945–1948)

In Amerika glauben wir immer daran, noch einmal neu anfangen, das Blatt wenden, uns erfinden und uns transformieren zu können.46

Als Susan Sontag zwölf Jahre alt war, heiratete ihre Mutter den Kriegsveteranen Captain Nathan Sontag. Sontag war Pilot bei den Army Air Corps und hielt sich in einer Heilanstalt in Tucson auf, um sich von den Verletzungen zu erholen, die er bei einem Flugzeugabsturz erlitten hatte – fünf Tage nach der Landung der amerikanischen und britischen Truppen in der Normandie im Juni 1944. Obwohl Nathan die beiden Mädchen nicht adoptierte, bat Mildred sie darum, seinen Namen anzunehmen. Susan war erfreut darüber, da sie in Tucson mehrmals als »schmutzige Jüdin« beschimpft worden war und mit dem weniger jüdisch klingenden ›Sontag‹ hoffte, unbehelligter zu bleiben.47

Der Namenswechsel gab dem einzelgängerischen Mädchen zudem die Möglichkeit, eine neue Identität auszuprobieren – zusammengesetzt aus den Phantasien, die sie sich in Arizona durch ihre nachhaltigen Lektüren einverleibt hatte. Für Sontag stellte dieser Wendepunkt nicht weniger als den Beginn ihrer lebenslangen, tief empfundenen Idee der Selbsterfindung dar. Mit dem alliterierenden neuen Namen, der auch zu einem Filmstar gehören könnte, betrachtete sich Susan Sontag bald als Bürgerin der intellektuellen und urbanen Welt. Von nun an verwandte sie große Energie und kindliche Leichtgläubigkeit auf das »Projekt Susan Sontag«, mitsamt den vielfältigen Ideen, Interessen, Haltungen und Ambitionen, die sich durch ihr gesamtes Leben ziehen sollten.

Während sich das Leben der meisten pubertierenden Jugendlichen um Romantik und sexuelle Erkundungen dreht, versuchte sich Sontag vor allem durch den Eintritt in die Hochkultur von ihren Eltern abzunabeln.

1946 zogen Mildred, Nathan, Susan und die kleine Judith Sontag mitsamt Hund und Nanny Rosie nach Los Angeles. Ihr dreijähriger Aufenthalt in Kalifornien sollte sich für Sontag als prägend erweisen. Viele Freunde von ihr erinnern sich daran, wie »kalifornisch« sie ihr ganzes Leben lang blieb. Stephen Koch, Autor und Creative-Writing-Professor an der Columbia University, erklärt noch heute amüsiert, dass Sontag ihn oft an einen »kalifornischen Girl scout« erinnert habe. Und Steven Wasserman, der ehemalige Herausgeber der Los Angeles Times Book Review, erinnert sich, dass es »etwas in ihrer Offenheit gegenüber Menschen und Erfahrungen gab, das man als kalifornisch verstehen kann. Den üblichen Zynismus, den man gemeinhin mit New Yorkern assoziiert, hatte sie nicht. (…) Sontag verstand Kalifornien als die Republik der Selbsterfindung, als Amerikas Amerika.«48

Kalifornien war die Hauptstadt der inszenierten Identitäten, wo aus einer Greta Lovisa Gustafsson eine Greta Garbo, aus einem Archie Leach ein Cary Grant, aus einer Lucille Fay LeSueur eine Joan Crawford oder aus einer Frances Gumm eine Judy Garland werden konnte. In ihrer autobiographischen Erzählung »Pilgrimage« erinnert sich Susan Sontag schwärmerisch an Berichte von glamourösen Filmpremieren, die in den Nachrichtenschauen im Kino liefen. Limousinen hielten am Hollywood Boulevard, aus denen Leinwandstars stiegen, unter Blitzlichtgewitter und vor tausenden Autogrammjägern, die von Polizisten auf Pferden unter Kontrolle gehalten wurden.49 Doch auch wenn die junge Susan Sontag solche Spektakel schätzte, waren es die »kulturellen Celebrities«, die den stärksten Eindruck auf sie hinterließen. Die berühmten, von den Nazis aus Europa vertriebenen Exilanten verehrte sie mit einer Intensität, die der jener begeisterten Filmfans nur wenig nachstand. In »Pilgrimage« beschreibt Sontag ihre kalifornische Jugend en detail und erinnert sich nicht nur an ihre Verehrung für Igor Strawinsky oder Arnold Schönberg, sondern auch für Thomas Mann, Christopher Isherwood, Aldous Huxley und Bertolt Brecht. Die vom Kontinent geflüchteten Europäer oder (wie Isherwood) Wahleuropäer erschienen ihr buchstäblich als »Götter der Hochkultur«, die sich mehr oder weniger inkognito zwischen Orangenbäumen, Palmenalleen, Hollywood, Beach Boys, Neobauhausarchitektur und Hamburger-Restaurants von der Erfahrung ihrer Entwurzelung zu erholen schienen.50

Die euphorische Stimmung, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Land bestimmte, der beginnende wirtschaftliche Aufschwung, das Aufkommen der Surburbia, jener familienfreundlichen Mittelklassevororte am Rande der Städte, die überall in Amerika aus dem Boden schossen, hatten für Susan ganz konkrete Auswirkungen. Das neue Haus der Familie Sontag war ein etwas angeschlagenes, mit Rosenbüschen und Birkenbäumen umgebenes Cottage am Rande des San Fernando Valley in L.A. Hier verfügte Susan über ein eigenes Zimmer, in dem sie ungestört die Nächte mit einer Taschenlampe und ihren Büchern verbringen konnte.

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