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Marion Zimmer Bradley

Das Zauberschwert

Ein Darkover Roman


Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck

Edel eBooks

Marion Zimmer Bradley – Der “Darkover”-Romanzyklus bei Edel eBooks:

ISBN 978-3-95530-591-8 Die Landung
ISBN 978-3-95530-598-7 Herrin der Stürme
ISBN 978-3-95530-597-0 Herrin der Falken
ISBN 978-3-95530-609-0 Der Untergang von Neskaya
ISBN 978-3-95530-608-3 Zandrus Schmiede
ISBN 978-3-95530-607-6 Die Flamme von Hali
ISBN 978-3-95530-594-9 Die Zeit der hundert Königreiche
ISBN 978-3-95530-592-5 Die Erben von Hammerfell
ISBN 978-3-95530-593-2 Die zerbrochene Kette
ISBN 978-3-95530-603-8 Gildenhaus Thendara
ISBN 978-3-95530-595-6 Die schwarze Schwesternschaft
ISBN 978-3-95530-596-3 An den Feuern von Hastur
ISBN 978-3-95530-588-8 Das Zauberschwert
ISBN 978-3-95530-599-4 Der verbotene Turm
ISBN 978-3-95530-589-5 Die Kräfte der Comyn
ISBN 978-3-95530-586-4 Die Winde von Darkover
ISBN 978-3-95530-601-4 Die blutige Sonne
ISBN 978-3-95530-602-1 Hasturs Erbe
ISBN 978-3-95530-585-7 Retter des Planeten
ISBN 978-3-95530-587-1 Das Schwert des Aldones
ISBN 978-3-95530-600-7 Sharras Exil
ISBN 978-3-95530-590-1 Die Weltenzerstörer
ISBN 978-3-95530-604-5 Asharas Rückkehr
ISBN 978-3-95530-606-9 Die Schattenmatrix
ISBN 978-3-95530-605-2 Der Sohn des Verräters

Ein Darkover-Roman

»Weit entfernt in der Galaxis
ungefähr 4000 Jahre in der Zukunft
gibt es einen Planeten
mit einer großen roten Sonne
und vier Monden.
Willst Du nicht mitkommen
und ihn mit mir erforschen?«

Marion Zimmer Bradley

2

Der Blizzard tobte immer noch auf den Höhen, aber hier im Tal kam die Abendsonne durch. Nur die dicken, ambossförmigen Wolken im Westen zeigten, wo die Berggipfel im Schneesturm lagen.

Damon Ridenow ritt mit gesenktem Kopf gegen den Wind, der an seinem Reitmantel zerrte, und ihm war, als sei er auf der Flucht, fliehe vor einem sich zusammenbrauenden Unwetter. Er versuchte sich einzureden: Das Wetter liegt mir in den Knochen, ich bin eben nicht mehr ganz so jung wie früher. Er wusste jedoch, es war mehr als das. Irgendetwas machte ihn unruhig, trieb ihn vorwärts, summte in seinem Gehirn. Etwas war verkehrt. War schlecht.

Ihm wurde bewusst, dass er die Augen ständig von den niedrigen, baumbestandenen Hügeln im Osten abgewandt hielt, und um des seltsamen Unbehagens Herr zu werden, drehte er sich entschlossen im Sattel um und ließ seinen Blick die Hänge hinauf- und hinunterwandern.

Das verdunkelte Land.

Quatsch, sagte er ärgerlich zu sich selbst. Im letzten Jahr hatte es dort Krieg mit den Katzenwesen gegeben. Einige seiner Verwandten waren getötet, andere vertrieben worden, gezwungen, sich im Alton-Land rund um die Seen neu anzusiedeln. Ja, die Katzenwesen waren wild und grausam, sie mordeten und sengten und folterten und ließen für tot liegen, was sie nicht gleich töten konnten. Vielleicht plagte ihn nur die Erinnerung an all das Leiden des Krieges. Mein Geist ist offen für die Geister jener, die gelitten haben ...

Nein, es war schlimmer als das. Es ging nicht nur um die Untaten der Katzenwesen, von denen er gehört hatte.

Er spähte zurück. Die vier Schwertkämpfer der Garde, seine Eskorte, begannen, sich zusammenzudrängen und zu murmeln. Damon war klar, dass er Halt befehlen müsse, um die Pferde verschnaufen zu lassen. Einer der Männer gab seinem Tier die Sporen und ritt zu ihm heran, und Damon zog die Zügel an und wandte ihm das Gesicht zu.

»Lord Damon!« Der Gardist sprach mit der schicklichen Ehrerbietung, aber er blickte zornig drein. »Warum reiten wir, als sei uns der Feind dicht auf den Fersen? Ich habe kein Wort über einen Krieg oder einen Überfall gehört.«

Damon Ridenow zwang sich, seine Geschwindigkeit zu mäßigen. Es kostete ihn Mühe. Am liebsten hätte er sein Pferd angetrieben, bis er die Sicherheit von Armida erreicht hatte ...

Ernst antwortete er: »Ich glaube, wir werden tatsächlich verfolgt, Reidel.«

Der Gardist ließ seinen Blick wachsam von Horizont zu Horizont schweifen – es war seine Pflicht, wachsam zu sein –, verbarg jedoch nicht, dass er skeptisch war. »Hinter welchem Busch lauert der Feind Eurer Meinung nach, Lord Damon?«

»Das weiß ich ebenso wenig wie Ihr«, seufzte Damon.

Der Mann blieb hartnäckig. »Nun, Ihr seid ein Comyn-Lord, und es ist Eure Sache, wie es meine ist, Eure Befehle auszuführen. Es gibt jedoch Grenzen für das, was Mann und Pferd tun können, Lord, und falls man uns angreift, wenn wir wund vom Reiten und unsere Tiere müde sind, werden wir schlecht kämpfen.«

»Da habt Ihr wohl Recht«, gab Damon zu. »Lasst halten, wenn Ihr wollt. Hier auf freiem Feld besteht wenigstens keine Gefahr eines Überraschungsangriffs.«

Er war verkrampft und müde und froh, absteigen zu können, obwohl das alptraumhafte Gefühl der Dringlichkeit ihn weiter quälte. Der Gardist Reidel brachte ihm Essen. Er nahm es, ohne zu lächeln, und sein Dank wirkte zerstreut. Der Gardist verweilte sich mit dem Vorrecht alter Bekanntschaft.

»Riecht Ihr immer noch Gefahr hinter jedem Baum, Lord Damon?«

»Ja, aber ich kann nicht sagen, warum«, antwortete Damon. Zu Fuß war er von wenig mehr als mittlerer Größe, ein dünner, blasser Mann mit dem feuerroten Haar eines Comyn-Lords der Sieben Dämonen. Wie die meisten seines Standes war er bis auf einen Dolch unbewaffnet, und unter seinem Reitmantel trug er die leichte Jacke eines Stubenhockers, eines Gelehrten. Der Gardist sah ihn besorgt an.

»Ihr seid es nicht gewohnt, so lange zu reiten, Lord, und mit solcher Hast. War das unbedingt notwendig?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Comyn-Lord leise. »Meine Verwandte auf Armida schickte mir eine Botschaft, in der sie mich, ohne Einzelheiten anzugeben, flehentlich bittet, in aller Eile zu ihr zu kommen. Sie ist nicht von der ängstlichen Sorte, die vor Schatten erschrickt und nachts wach liegt, weil sie sich vor Räubern im Hof fürchtet, wenn ihr Mannsvolk nicht daheim ist. Ein dringender Hilferuf von Lady Ellemir ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, deshalb brach ich sofort auf; das musste ich. Sicher, es mag sich um eine familiäre Angelegenheit handeln, vielleicht Krankheit in ihrem Haushalt. Aber was es auch sein mag, es ist ernst, sonst würde sie allein damit fertig werden.«

Der Gardist nickte bedächtig. »Ich habe gehört, dass die Dame tapfer und geistesgegenwärtig ist. Ein Bruder von mir gehört zu ihrem Personal. Darf ich es meinen Kameraden weitererzählen, Lord? Sie werden weniger murren, wenn sie wissen, es handelt sich um wirkliche Schwierigkeiten und nicht um eine Laune von Euch.«

»Ihr könnt es ihnen gern sagen, es ist kein Geheimnis«, meinte Damon. »Ich hätte es selbst getan, wenn ich daran gedacht hätte.«

Reidel grinste. »Ich weiß, Ihr seid kein Leuteschinder, aber keiner von uns hatte Gerüchte gehört, und durch dies Land reitet ein Mann nur, wenn er muss.« Er wandte sich zum Gehen. Damon legte ihm die Hand auf den Ärmel und hielt ihn zurück.

»Ein Land, durch das ein Mann nur reist, wenn er muss – was meint Ihr damit, Reidel?«

Auf diese direkte Frage hin wurde der Gardist nervös.

»Es bringt Unglück«, stieß er hervor. »Es liegt unter einem Schatten. Man nennt es jetzt das verdunkelte Land, und kein Mann reitet oder fährt darin, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, und auch dann nur, falls er einen mächtigen Schutzzauber besitzt.«

»Unsinn.«

»Ihr mögt lachen, Lord, ihr Comyn werdet durch die Großen Götter geschützt.«

Damon seufzte. »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr so abergläubisch seid, Reidel. Ihr dient seit zwanzig Jahren in der Garde, Ihr wart der Friedensmann meines Vaters. Glaubt Ihr immer noch, wir Comyn seien anders als andere Menschen?«

»Ihr seid glücklicher.« Reidel biss die Zähne zusammen. »Aber jetzt, wenn Männer in das verdunkelte Land reiten, kehren sie nicht wieder zurück, oder sie kehren mit verwirrtem Verstand zurück. Nein, Lord, lacht mich nicht aus, es ist dem Bruder meiner Mutter vor zwei Monaten so ergangen. Er ritt in das verdunkelte Land, um ein Mädchen zu besuchen, das er zu seiner zweiten Frau machen wollte. Den Brautpreis hatte er schon bezahlt, als sie erst neun war. Er kam nicht zur festgesetzten Zeit, und als man mir sagte, er sei für immer in den Schatten gegangen, habe auch ich gelacht und gemeint, zweifellos habe er es hinausgeschoben, mit dem Mädchen ins Bett zu gehen und ihr ein Kind zu machen. Dann eines Abends spät, Lord, zehn volle Tage nach Ablauf seines Urlaubs, kam er in die Wachstube zu Serré. Ich habe nicht viel Phantasie, Lord, aber sein Gesicht ... sein Gesicht ...« Er gab es auf, nach Worten zu ringen, und fuhr fort: »Er sah aus, als habe er geradewegs in Zandrus siebte Hölle geblickt. Und nichts, was er sagte, hatte Sinn, Lord. Er faselte von großen Feuern und vom Tod in den Winden und verdorrten Gärten und Hexenspeise, die einem Mann den Verstand nimmt, und von Mädchen, die mit Katzenklauen an seiner Seele zerrten. Man schickte nach der Zauberin, doch bevor sie kommen und seinen Geist heilen konnte, fiel er um und starb tobend.«

»Irgendeine Krankheit in den Bergen«, sagte Damon. Reidel schüttelte den Kopf.

»Ihr habt mich daran erinnert, Lord, dass ich seit zwanzig Jahren in diesen Bergen Gardist bin, und mein Onkel war es zweimal zwanzig Jahre. Ich kenne die Krankheiten, die Männer umwerfen, und das war keine von ihnen. Auch kenne ich keine Krankheit, die einen Mann nur in einer Richtung befällt. Ich bin selbst ein kleines Stück in das verdunkelte Land hineingeritten, Lord, und habe die verdorrten Gärten und verkommenen Obstbäume mit eigenen Augen gesehen, auch die Leute, die jetzt dort hausen. Es ist wahr, dass sie von Hexenspeise leben.«

Wieder unterbrach Damon: »Hexenspeise? So etwas wie Hexen gibt es nicht, Reidel.«

»Nennt es, wie Ihr wollt, aber es ist keine Speise aus Korn, Wurzeln, Beeren oder bekömmlichen Baumfrüchten, Lord, auch kein Fleisch von uns bekannten Tieren. Ich würde keinen Bissen davon anrühren, und ich glaube, das ist der Grund, warum ich heil entronnen bin. Ich habe es aus der Luft kommen sehen.«

Damon erklärte: »Leute, die ihr Handwerk verstehen, können Essen aus Dingen herstellen, die ungenießbar aussehen, Reidel, und das Essen ist bekömmlich. Ein Matrix-Techniker – wie soll ich es erklären? Er zerbricht die chemische Struktur von Dingen, die nicht genießbar sind, und verändert sie so, dass sie verdaut und vom Körper verwendet werden können. Man kann sich damit nicht viele Monate lang am Leben erhalten, aber in Notfällen bewahrt es über eine kurze Zeitspanne hinweg vorm Verhungern. Ich kann es auch, und es ist keine Hexerei dabei.«

Reidel runzelte die Stirn. »Zauberei mit Eurem Sternenstein ...«

»Es ist keine Zauberei, verdammt noch mal«, erwiderte Damon empfindlich. »Nur eine Fertigkeit.«

»Warum versteht es dann keiner außer euch Comyn?«

Damon seufzte. »Ich kann die Laute nicht spielen; meine Ohren und meine Finger haben weder das angeborene Talent noch die Ausbildung. Aber Ihr, Reidel, seid mit dem Ohr geboren, und die Finger wurden in Eurer Kinderzeit ausgebildet, und nun macht Ihr Musik, wie es Euch gefällt. So ist es auch hiermit. Die Comyn werden mit dem Talent geboren wie andere mit einer Begabung für Musik, und in der Kinderzeit werden wir ausgebildet, die Struktur von Materie mit Hilfe dieser Matrix-Steine zu verändern. Ich bringe nur ein paar geringe Sachen fertig; wer gut ausgebildet ist, vermag vieles. Vielleicht hat jemand in diesem Gebiet mit solchem imitierten Essen experimentiert und, weil er seine Fähigkeiten nicht gut beherrschte, stattdessen Gift erzeugt, ein Gift, das den menschlichen Verstand zerrüttet. Aber das ist eine Angelegenheit für eine der Bewahrerinnen. Warum hat sich niemand an sie um Hilfe gewandt, Reidel?«

»Sagt, was Ihr wollt.« Die geballten Fäuste und das sture Gesicht des Gardisten sprachen Bände. »Das verdunkelte Land liegt unter etwas Bösem, und Menschen guten Willens sollten es meiden. Und nun, wenn es Euch recht ist, Lord, sollten wir wieder aufsteigen, denn sonst erreichen wir Armida nicht mehr bei Tageslicht. Auch wenn wir dem verdunkelten Land fernbleiben, ist dies kein Weg für einen Ritt bei Nacht.«

»Ihr habt Recht.« Damon wartete im Sattel darauf, dass seine Eskorte sich versammelte. Er hatte viel nachzudenken. Tatsächlich hatte er Gerüchte über das Gebiet am Rand des Katzenlandes gehört, doch bisher nichts in der Art dieser Geschichte. War alles Aberglauben, waren es Märchen, entstanden aus dem Geschwätz der Unwissenden? Nein. Reidel war kein Phantast, ebenso wenig war sein Onkel, ein alter, erprobter Soldat, ein Mann, der vagen Schatten zur Beute fiel. Etwas sehr Reales hatte ihn getötet, und Damon war überzeugt, der alte Bursche war schwer umzubringen gewesen.

Sie hatten die Kuppe erreicht. Damon blickte ins Tal hinunter und hielt Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen für einen Hinterhalt. Mittlerweile war das Gefühl, beobachtet, verfolgt zu werden, bei ihm zur Besessenheit angewachsen. Dies wäre ein guter Platz für einen Überfall.

Aber die Straße und das Tal lagen leer vor ihnen im wolkigen Sonnenschein. Damon runzelte die Stirn und versuchte, seine angespannten Muskeln durch einen Willensakt zu lockern.

Du kommst noch so weit, dass du vor einem Schatten erschrickst. Wenn du deine Nervosität nicht besiegst, wirst du Ellemir kaum von Nutzen sein!

Seine behandschuhte Hand wanderte an die Kette um seinen Hals; dort, innerhalb eines Lederbeutelchens in Seide eingehüllt, spürte er die harten Umrisse, die merkwürdige Wärme seiner Matrix. Dieser »Sternenstein«, von dem Reidel gesprochen hatte, war ihm gegeben worden, als er gelernt hatte, ihn zu benutzen. Er war auf seinen Geist in einer Weise abgestimmt, die niemand als ein Darkovaner – und Comyn-Telepath – verstehen konnte. Ein langes Training hatte ihn gelehrt, die magnetischen Kräfte seines Gehirns mit der seltsamen kristallinen Struktur des Steins zu verstärken. Jetzt beruhigte die bloße Berührung der Matrix den Aufruhr in seiner Seele. Das war die Disziplin des ausgebildeten Telepathen.

Geh es mit Vernunft an, sagte er zu sich selbst. Er spürte den ruhiger werdenden Puls und die leichte Euphorie, was bedeutete, dass sein Gehirn in dem Basis- oder »Ruhe«-Rhythmus, wie die Comyn es nannten, zu funktionieren begann. In diesem Augenblick über sich hinausgehoben, blickte er auf seine Ängste und die Reidels. Hier war etwas, das untersucht werden musste, ja. Aber er durfte nicht beim Reiten unablässig darüber grübeln. Vielmehr musste er es erst einmal zurückstellen, dann systematisch analysieren und dazu Tatsachen statt Ängste, Ereignisse statt Gerüchte heranziehen.

Ein wilder Schrei riss ihn aus seinen Gedanken, zerschmetterte seine künstliche Ruhe wie ein Stein, der durch ein Glasfenster geschleudert wird. Es war ein schmerzlicher, erschütternder Schock, und er schrie laut auf, als Furcht und Qual in sein Gehirn eindrangen, noch bevor er die heisere Männerstimme einen fürchterlichen Laut ausstoßen hörte, einen Laut, wie er nur von sterbenden Lippen kommt. Sein Pferd sprang und bäumte sich. Die Hand immer noch um den Kristall an seiner Kehle, riss Damon verzweifelt an den Zügeln und versuchte, das Tier wieder unter Kontrolle zu bringen. Es blieb plötzlich steifbeinig stehen und zitterte. Entsetzt sah Damon, wie Reidel langsam zu Boden glitt, schlaff und unmissverständlich tot, die Kehle eine einzige lange klaffende Wunde, aus der das Blut in einer roten Fontäne spritzte.

Und niemand war in seiner Nähe! Ein Schwert aus dem Nichts, eine unsichtbare Stahlklaue hatte einem lebenden, atmenden Menschen die Kehle aufgerissen.

»Aldones! Herr des Lichts, rette uns!«, flüsterte Damon vor sich hin, umklammerte das Heft seines Messers, rang um Selbstbeherrschung. Die anderen Gardisten kämpften, ihre Schwerter beschrieben große, schimmernde Bögen in der Luft.

Den Kristall umfassend, focht Damon einen stummen Kampf um die Beherrschung dieser Illusion aus – denn es musste eine Illusion sein! Langsam, wie durch einen dichten Schleier in seinem Geist, erkannte er schattenhafte Gestalten, fremdartig und kaum menschlich. Es war, als scheine das Licht durch sie hindurch, und immer wieder verschwanden sie, sosehr er sich bemühte, sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Und er war unbewaffnet! Aber ein Schwertkämpfer war er sowieso nicht.

Damon fasste die Zügel seines Pferdes und zwang den Impuls nieder, sich auf die unsichtbaren Feinde zu stürzen. Rasende Wut packte ihn, aber eine eisige Welle der Vernunft machte ihm klar, dass er unbewaffnet war, dass er sich nur in das Getümmel werfen und mit seinen Männern sterben konnte und dass seine Pflicht gegenüber seiner Verwandten jetzt an erster Stelle stand. Wurde ihr Haus von derartigen Schreckgestalten belagert? Hatten sie vielleicht auf der Lauer gelegen, um keinen ihrer Verwandten zu ihr gelangen zu lassen?

Seine Männer kämpften wild gegen die unsichtbaren Angreifer. Damon wandte sein Pferd und galoppierte den Pfad hinunter, weg von den Feinden. Die Haut seines Halses prickelte. Nach dem, was er gesehen hatte, mochte eine Klinge aus der leeren Luft kommen und ihm den Kopf von den Schultern trennen. Die heiseren Schreie seiner Männer drangen ihm wie Messer ins Herz, fassten nach ihm, krallten sich in sein Bewusstsein. Er ritt mit gesenktem Kopf, den Mantel um sich gerafft, als werde er tatsächlich von Dämonen verfolgt, und er verminderte seine Geschwindigkeit erst oben auf dem nächsten Hügel, zwei oder drei Meilen von der Stelle des Überfalls entfernt. Über sich sah er die hohen Tore von Armida. Sein Pferd war schweißüberströmt und zitterte, und er selbst atmete in abgerissenen Stößen.

Damon stieg ab, nahm den Kristall aus dem schützenden Lederbeutel und wickelte die Seide auf. Nackt hätte er uns alle retten können, dachte er und blickte verzweifelt auf den blauen Stein mit den seltsamen, sich windenden feurigen Linien in seinem Inneren nieder. Mit seiner ausgebildeten telepathischen Kraft, enorm verstärkt durch die resonierenden Magnetfelder der Matrix, hätte er die Illusion außer Kraft setzen können. Seine Männer hätten dann immer noch kämpfen müssen, aber gegen Feinde, die sie sahen und die gezwungen waren, sich ehrlich zu schlagen. Damon ließ den Kopf sinken. Eine Matrix wurde niemals bloß getragen; ihre Schwingungen mussten von ihrer Umgebung isoliert werden. Und bevor er den Stein aus seiner Hülle hätte befreien können, wären seine Männer tot gewesen, und er mit ihnen.

Mit schwerem Herzen wickelte er den Kristall wieder in die Seide und klopfte seinem erschöpften Pferd auf die Flanke. Er stieg nicht auf, denn er wollte dem keuchenden, zitternden Tier jede weitere Anstrengung ersparen. Stattdessen führte er es langsam den Hügel hinauf zu dem Tor. Anscheinend wurde Armida nicht belagert. Der Hof lag ruhig und leer im ersterbenden Sonnenlicht, und der nächtliche Nebel begann, von den Hügeln ringsum herabzuwogen. Bedienstete kamen, ihm das Pferd abzunehmen, und schrien erschrocken auf, als sie sahen, in welchem Zustand es war.

»Seid Ihr verfolgt worden? Lord Damon, wo ist Eure Eskorte?«

Damon schüttelte langsam den Kopf. Er versuchte nicht, ihnen eine Antwort zu geben. »Später, später. Sorgt für mein Pferd und lasst es nicht trinken, bevor es sich abgekühlt hat; es ist zu lange galoppiert. Schickt zu Lady Ellemir und lasst ihr sagen, dass ich angekommen bin.«

Wenn ihr Anliegen nicht von großer Wichtigkeit ist, sagte er grimmig zu sich selbst, werden wir Streit bekommen. Vier meiner treuen Männer sind gestorben, und schrecklich gestorben. Aber Armida wird nicht belagert, und es gibt keine Spur von irgendwelchen Schwierigkeiten.

Er hob den Blick und sah Ellemir Lanart vor sich stehen.

»Verwandter«, sagte sie leise. »Ich hörte etwas – nicht genug, um sicher zu sein. Ich dachte, auch du ...« Die Stimme versagte ihr. Sie warf sich ihm in die Arme.

»Damon! Damon! Ich dachte, auch du seist tot!«

Damon Ridenow hielt das Mädchen behutsam fest, streichelte die bebenden Schultern. Ihr Kopf fiel für einen Augenblick schwer gegen ihn. Dann seufzte sie, gewann die Beherrschung zurück und richtete sich auf. Sie war sehr groß und schlank. Ihr feuerrotes Haar wies sie als Mitglied von Damons Telepathenkaste aus. Sie hatte ein zartes Gesicht und Augen von einem leuchtenden Blau.

»Ellemir, was ist hier geschehen?«, fragte er mit wachsender Sorge. »Werdet ihr angegriffen? Hat es einen Überfall gegeben?«

Sie senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Callista fort ist.«

»Fort? In Gottes Namen, was meinst du? Von Räubern entführt? Weggelaufen? Durchgegangen?« Noch während er sprach, wurde ihm klar, dass das Wahnsinn war. Ellemirs Zwillingsschwester Callista war Bewahrerin, eine dieser Frauen, die darin geschult sind, die gesamte Energie eines Kreises aus fähigen Telepathen zu manipulieren. Sie mussten Jungfräulichkeit geloben und wurden mit so viel ehrfürchtiger Scheu betrachtet, dass kein geistig gesunder Mann auf Darkover seine Augen zu einer von ihnen erheben würde. »Ellemir, sprich doch! Ich glaubte sie sicher im Turm von Arilinn. Wo? Wie?«

»Wir können nicht hier auf der Türschwelle reden.« Mühsam fasste sich Ellemir und entzog sich ihm. Damon empfand ein flüchtiges Bedauern – ihr Kopf hatte an seiner Schulter gelegen, als gehöre er dorthin. Aber was sollten solche Gedanken zu dieser Zeit und an diesem Ort! Er widerstand dem Impuls, ihre Hand zu berühren, und folgte ihr gemessenen Schrittes in die große Halle. Kaum waren sie drinnen, als Ellemir sich zu ihm umwandte.

»Sie war hier auf Besuch«, berichtete sie mit schwankender Stimme. »Lady Leonie möchte ihr Amt als Bewahrerin niederlegen und in ihre Heimat nach Valeron zurückkehren, und Callista sollte ihre Stelle im Turm einnehmen. Vorher wollte sie mich besuchen. Sie hätte mich gern überredet, nach Arilinn zu kommen und dort bei ihr zu bleiben, damit sie nicht so schrecklich allein sei, und auf jeden Fall wollte sie ein Weilchen mit mir zusammen sein, bevor sie für die Leitung des Turmkreises isoliert wurde. Alles ging gut, wenn sie auch unruhig wirkte. Ich bin keine ausgebildete Telepathin, Damon, aber Callista und ich sind Zwillinge, und unsere Gedanken berühren sich, ob wir es wollen oder nicht. So spürte ich ihre Nervosität. Sie sagte nur, sie habe schlechte Träume von Katzenhexen und verdorrenden Gärten und sterbenden Blumen. Und dann eines Tages ...« Ellemir erbleichte. Kaum wissend, was sie tat, fasste sie nach Damons Hand und umklammerte sie verzweifelt, als wolle sie sich auf ihn stürzen.

»Ich erwachte und hörte sie schreien. Sonst hatte niemand einen Laut vernommen, nicht einmal ein Flüstern. Vier unserer Leute lagen tot im Hof, und unter ihnen ... unter ihnen war unsere alte Pflegemutter Bethiah. Sie hat Callista genährt, und sie schlief immer auf einer Liege zu ihren Füßen. Jetzt lag sie im Hof, und ihre Augen – ihre Augen waren aus den Höhlen gekratzt, und sie lebte gerade noch.« Ellemir schluchzte laut. »Und Callista war fort! Fort, und ich konnte sie nicht erreichen – meine Gedanken griffen ins Leere! Meine Zwillingsschwester war fort, als habe Avarra sie bei lebendigem Leib in irgendeine Anderwelt geschleudert.«

Damons Stimme klang fest, und mit großer Anstrengung hielt er sie so. »Glaubst du, sie ist tot, Ellemir?«

Ellemir sah ihn mit ihren blauen Augen gerade an.

»Nein. Ich spürte sie nicht sterben, und meine Zwillingsschwester könnte nicht sterben, ohne dass ich an ihrem Tod teilhätte. Als unser Bruder Coryn beim Ausnehmen eines Falkennestes abstürzte, fühlten Callista und ich ihn beide vom Leben in den Tod hinüberwechseln, und Callista ist meine Zwillingsschwester. Sie lebt.« Ihre Stimme brach, und sie weinte heftig.

»Aber wo? Wo? Sie ist fort, fort, fort, als habe sie nie gelebt! Und seitdem bewegen sich nur Schatten – nur Schatten. Damon, Damon, was soll ich tun, was soll ich tun?«

3

Er hatte sich den Abstieg nicht so schwierig vorgestellt.
Den ganzen Tag war Andrew Carr um die scharfen Felsen des Hangs geklettert, gekrochen und gerutscht. Er hatte in eine unglaublich tiefe Schlucht hinuntergeblickt, wo die zerschmetterten Überreste des Kartografierungsflugzeugs lagen, und jede noch vorhandene Hoffnung aufgegeben, Essen, Schutzkleidung und Identitätsplaketten seiner Gefährten zu bergen. Jetzt wurde es dunkel, und ein leichtes Schneetreiben setzte ein. Andrew hockte in seinem dicken Pelzmantel da und lutschte seine letzten Süßigkeiten. Er suchte den Horizont unter sich nach Lichtern oder irgendwelchen anderen Zeichen von Leben ab. Es mussten welche da sein. Dies war ein dicht besiedelter Planet. Aber hier draußen in den Bergen mochten Meilen oder sogar hunderte von Meilen zwischen den bewohnten Gebieten liegen. Was er sah, war ein blasses Schimmern vor dem Horizont, eine einzige dicht gedrängte Gruppe von Lichtern, die ein Dorf oder sogar eine Stadt sein mochten. Also war sein einziges Problem, nach dort hinunterzugelangen. Das würde noch allerhand Mühe kosten. Er wusste nichts – eigentlich noch weniger als nichts – über das Leben als Waldläufer oder Überlebenstechniken. Schließlich grub er sich in der Erinnerung an etwas, das er gelesen hatte, zur Hälfte in einen Haufen toter Blätter ein und zog sich den Rockschoß des Pelzmantels über den Kopf. Warm hatte er es nicht, und seine Gedanken verweilten sehnsüchtig beim Essen, großen dampfenden Schüsseln Essens. Dann schlief er ein. Fast stündlich erwachte er schaudernd und wühlte sich tiefer in seinen Blätterhaufen, aber er schlief. Und nirgendwo in seinen verworrenen Träumen tauchte das Gesicht des geisterhaften Mädchens auf, das er mit seiner Vision identifizierte.

Den ganzen nächsten Tag und den übernächsten quälte er sich durch verfilztes dorniges Unterholz einen langen Hang hinunter. Zweimal verirrte er sich in dem bewaldeten Tal am Fuß des Berges, und schließlich arbeitete er sich auf der anderen Seite wieder bergauf. Von unten hatte er keine Möglichkeit, sich über die einzuschlagende Richtung zu vergewissern, und er sah kein Zeichen von menschlicher oder anderer Besiedlung. Einmal geriet er an Überreste eines ganz zerfallenen Zauns aus halbierten Stämmchen und verschwendete zwei Stunden damit, an ihm entlangzuwandern – das Vorhandensein eines Zauns bedeutete für gewöhnlich, dass etwas hatte eingezäunt oder draußen gehalten werden sollen. Der Weg endete jedoch in einer Wirrnis von trockenen Schlingpflanzen, und Andrew sagte sich, welche seltsame Art von Vieh hier auch irgendwann gehalten worden sein mochte, Vieh und Hüter mussten lange, lange verschwunden sein. Nahe der Stelle, wo er den Zaun entdeckt hatte, lag ein trockenes Bachbett. Andrew nahm an, es werde ihn aus dem Gebirge führen. Siedlungen, besonders bäuerliche, wurden immer an Wasserläufen angelegt, und dieser Planet würde kaum eine Ausnahme darstellen. Wenn er dem Lauf des Baches folgte, gelangte er sicher in die Ebene und wahrscheinlich zu den Wohnstätten der Leute, die den Zaun gebaut und das Vieh gehalten hatten. Aber nach ein paar Meilen war das Trockenbett von einem Bergrutsch verschüttet, und so viel Mühe Andrew sich auch gab, er konnte es auf der anderen Seite nicht wieder finden. Vielleicht war das der Grund, warum die Zaunbauer ihr Vieh an einen anderen Ort gebracht hatten.

Gegen Ende des zweiten Tages fand er ein paar verschrumpelte Früchte an einem knorrigen Baum. Sie sahen aus und schmeckten wie Äpfel, trocken und hart, aber essbar. Er aß die meisten auf und verwahrte ein paar für später. Er fühlte sich kläglich. Wahrscheinlich existierten rings um ihn andere essbare Dinge, von der Rinde bestimmter Bäume bis zu den Pilzen und Schwämmen, die er auf totem Holz wachsen sah. Das Problem war, dass er die bekömmlichen Pflanzen nicht von den tödlich giftigen zu unterscheiden vermochte, und deshalb quälte er sich nur, indem er darüber nachdachte.

Spät am Abend, als er nach einem windgeschützten Platz zum Schlafen suchte, begann es wieder zu schneien, und zwar mit einer so merkwürdigen Beharrlichkeit, dass es ihn beunruhigte. Er hatte von den Blizzards der Berge gehört, und der Gedanke, im Freien von einem überrascht zu werden, ohne Essen und Schutzkleidung und Obdach, brachte ihn vor Angst fast um den Verstand. Es dauerte nicht lange, und der Schnee fiel so dicht, dass Andrew kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Seine Schuhe waren durch und durch nass und verklumpt von der kalten, klebrigen Masse.

Es ist aus mit mir, dachte er bitter. Das war es schon, als das Flugzeug abstürzte, nur hatte ich nicht Verstand genug, es zu erkennen.

Meine einzige Chance war gutes Wetter, und damit ist es jetzt vorbei.

Es blieb ihm nichts weiter übrig, als sich ein Plätzchen zu suchen, möglichst geschützt vor dem verdammten Wind, der um die Felsklippen über ihm heulte, es sich bequem zu machen und im Schnee einzuschlafen. Das wäre dann das Ende von allem. So verlassen, wie dieser Teil der Welt aussah, mochte es eine solche Zahl von Jahren dauern, bevor jemand über seine Leiche stolperte, dass niemand mehr sagen konnte, ob er ein Terraner oder ein Eingeborener dieses Planeten gewesen war.

Verdammt sei dieser Wind! Er heulte wie ein Dutzend Windmaschinen, wie ein Chor verlorener Seelen aus Dantes Inferno, und er brachte eine merkwürdige Illusion mit. Es hörte sich an, als riefe jemand ganz weit weg seinen Namen.

Andrew Carr! Andrew Carr!

Natürlich war es eine Sinnestäuschung. Niemand im Umkreis von dreihundert Meilen um diesen Ort wusste, dass er hier war, ausgenommen vielleicht das Geistermädchen, das er nach dem Absturz des Flugzeugs gesehen hatte. Falls sie sich tatsächlich innerhalb von dreihundert Meilen Entfernung befand. Andrew hatte keine Ahnung, ob sie seinen Namen kannte. Verdammt sollte sie sein, wenn es sie überhaupt gab. Was er bezweifelte.

Carr stolperte und fiel der Länge nach in den tiefen Schnee. Er wollte aufstehen, dann dachte er: Ach, zum Teufel, was soll’s?Er ließ sich wieder fallen.

Irgendwer rief tatsächlich seinen Namen.

Andrew Carr! Komm hier entlang, schnell! Ich kann dir den Weg zu einem Obdach zeigen, aber mehr vermag ich nicht. Hingehen musst du selbst.

Er hörte sich der leisen Stimme, die wie ein Echo in seinem Gehirn war, verdrießlich antworten: »Nein. Ich bin zu müde. Ich kann nicht mehr weitergehen.«

»Carr! Sieh mich an!«

Widerwillig, die Augen mit der Hand vor dem heulenden Wind und den scharfen Schneenadeln schirmend, hob Andrew Carr den Blick. Er wusste bereits, was er sehen würde.

Natürlich war es das Mädchen.

Sie war nicht wirklich da. Wie konnte sie auch da sein in ihrem dünnen blauen Gewand, das wie ein zerrissenes Nachthemd aussah, barfuß, das Haar unbewegt von dem eisigen, schneebeladenen Wind?

Laut sagte er, und der Wind riss ihm die Worte vom Mund und trug sie fort, so dass das Mädchen sie aus einer Entfernung von zehn Fuß unmöglich hätte hören können: »Was hast du jetzt vor? Bist du wirklich hier? Wer bist du?«

Mit dieser gedämpften Stimme, die immer nur gerade bis an sein Ohr und keinen Zoll weiter zu tragen schien, setzte sie ihm auseinander: »Ich weiß nicht, wo ich bin, sonst wäre ich nicht dort, denn es ist kein Ort, an dem zu sein ich mir wünsche. Wichtig ist, dass ich weiß, wo du bist und wo sich der einzige sichere Ort für dich befindet. Folge mir, schnell! Steh auf, du Dummkopf, steh auf!«

Carr stolperte auf die Füße und raffte den Mantel um sich. Sie schien etwa acht Fuß von ihm entfernt im Sturm zu stehen. Immer noch war sie in das dünne, zerrissene Nachthemd gekleidet, aber obwohl ihre bloßen Füße und Schultern blass durch Risse in dem Gewand schimmerten, zitterte sie nicht in der Kälte.

Sie winkte – jetzt, wo sie seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, wollte sie anscheinend keine Mühe mehr darauf verwenden, sich mit Worten verständlich zu machen – und begann, leichtfüßig über den Schnee zu wandern. Ihre Füße, so stellte er mit einem unheimlichen Gefühl der Irrealität fest, berührten den Boden nicht ganz. Ja, das passt, wenn sie ein Geist ist.

Mit gesenktem Kopf taumelte er der entweichenden Gestalt des Mädchens nach. Der Wind riss an seinem Mantel und ließ ihn wild hinter ihm herflattern. Seine Schuhe waren dicke, halb gefrorene Klumpen aus nassem Schnee, und sein Haar und die Bartstoppeln stachen ihn eisig ins Gesicht. Der Boden war jetzt mit einer gleichmäßigen weißen Decke versehen, die Unebenheiten verdeckte. Zwei- oder dreimal stolperte er über eine verborgene Wurzel oder trat in ein Loch und fiel der Länge nach hin. Aber er kämpfte sich wieder hoch und folgte dem ihm vorauseilenden Schatten. Das Mädchen hatte ihm schon einmal das Leben gerettet. Sie musste wissen, was sie tat.

Die Zeit, die er durch den Schnee taumelte, kam ihm sehr lang vor, obwohl er später schätzte, dass wahrscheinlich nicht mehr als drei viertel Stunden vergangen waren, als er mit voller Wucht gegen etwas stieß, das sich wie eine Ziegelmauer anfühlte. Ungläubig streckte er die Hand aus.

Es war eine Ziegelmauer. Oder jedenfalls hatte es den Anschein. Andrew befand sich an der Seitenwand eines Gebäudes. Nach einigem Herumtasten fand er eine Tür aus gehobeltem Holz, glatt vom Alter. Geschlossen war sie mit steifen Lederriemen, die durch eine hölzerne Öse gezogen und verknotet waren. Es dauerte einige Zeit, den nassen Lederknoten zu lösen. Andrew musste schließlich die Handschuhe ausziehen und mit den erstarrten bloßen Fingern arbeiten. Sie bluteten und waren blau gefroren, bis er die Riemen aufgeknüpft hatte. Quietschend öffnete sich die Tür, und Carr trat vorsichtig ein. Er hätte gern Licht, Feuer und Leute um einen Abendbrottisch vorgefunden. Doch das Haus war dunkel und kalt und verlassen, aber es war drinnen nicht halb so kalt wie im Freien, und wenigstens war es hier trocken. Es lag etwas wie Stroh auf dem Fußboden, und das von dem Schnee draußen reflektierte Licht zeigte ihm deutliche Umrisse, die Viehstände oder Möbel sein mochten. Er hatte keine Möglichkeit, Licht zu machen, aber es war so still, dass weder die Tiere, die einmal hier ihren Stall gehabt hatten, noch ihre Besitzer anwesend sein konnten.