Tessa Korber

Teurer Spaß

Ein Jeannette Dürer Krimi

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Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 28

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Informationen zum Buch

Über Tessa Korber

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Für M. und M.

zur Hochzeit.

Seid einander Spaß und teuer.

Und findet stets die richtigen Worte.

»aaouwäih – a Färdder aa nu!«

Aus: Günter Stößel, Nürnberg bei Fürth

Leider haben nicht alle DADAfreunde das Glück,

einen oder mehrere (wobei mehrere mindestens drei wären

und zwei dagegen nur ein Paar)

Dadaisten als Nachbarn zu haben,

oder eine Leiter im Hof des Nachbarn,

oder einen Nachbarn im Hof des Leiters, oder

Nachbarsleiter im Schoß des Dadaisten,

denn heutzutage sind sind viele süchtig

nach dem gehgesunden DADAverstand.

Aus: KrishnaDADA, Der Dadaist. Kleiner Führer

rund um die Welt des Dadaisten

Wenn es auch Städte namens Nürnberg, Fürth und ein in ihnen residierendes Versandhaus tatsächlich gibt, ist die folgende Handlung und sind insbesondere alle erwähnten Personen eine reine Erfindung der Autorin und gehören nur dem fiktiven Kosmos der Krimiwelt von Jeannette Dürer an.

1

Wie hypnotisiert starrte Jeannette Dürer auf die Klinge. Sie war schlank und dünn, ein Präzisionsgerät, und sie gleißte im Licht der grellen Lampe, die alles in schmerzendes Weiß hüllte, sie blendete und das Gesicht des maskierten Mannes verschwimmen ließ, der das Messer hob. Nur seine Finger waren da, lang, kühl und ungerührt. Wie tot unter dem feinen Gummi der Handschuhe.

Jeannette öffnete den Mund, doch es kam kein Laut heraus.

Die Klinge senkte sich unerbittlich. Sie deutete mit ihrer scharfen Spitze auf den weichen, bebenden Bauch. Sie drang ein, obszön gleichmütig, als wäre da kein Widerstand, keine unwiderrufliche Grenze, senkte sich ohne Zögern in das lebendige Fleisch. Es quoll ein wenig Blut. Jeannette sah es, sah, wie es dick und flüssig zugleich die Stahlfarbe des Messers überzog, wie es langsam daran herabfloß, tropfte. Sie war reglos, fühlte nur die Tränen in sich aufsteigen.

Die Kriminalkommissarin schüttelte den Kopf. Das Bild verschwand und machte dem Alltag des Reviers Platz, der sie umgab, dem gemächlichen Stühlerücken und Computersummen, dem Rascheln der schlecht befestigten Poster voller Fahndungsbilder und Warnungen vor Drogenkonsum, die sich sachte an der Wand blähten, bewegt vom Frühlingswind, der durch die geöffneten Fenster kam, zusammen mit dem Vogelgezwitscher und den Abgaswolken des Berufsverkehrs.

Nein, ermahnte Jeannette sich: Es war wirklich unsinnig, sich in so morbide Bilder zu versenken. Sentimental war es, einfach lächerlich. Am Ende hatten die anderen doch recht, und sie steckte in einer ernstzunehmenden Krise. Sie räusperte sich und setzte sich aufrechter hin. So war es schon besser. Ihr Kater Romeo lag in diesem Moment auf dem OP-Tisch und wurde kastriert, na und? Kein Grund zur Sorge, ein Routineeingriff, kein Grund, sich blutigen Phantasien hinzugeben. Sie schluckte die Tränen hinunter.

Wenn es ihr auch schwergefallen war, diesem Schritt zuzustimmen. Die Nachbarn hatten sich über Romeos laute Liebesklagen beschwert und darauf gedrängt, daß sie etwas unternahm. Und Jeannette hatte schließlich eingesehen, daß es besser war nachzugeben, zumal sie die Duftmarken, die er im Treppenhaus hinterließ, selbst nicht eben schätzte. Aber sie mußte zugeben, der Gedanke hatte ihr gefallen, daß wenigstens einer von ihnen ein Liebesleben hätte.

»Himmelherrgottverfluchte Scheiße«, erklang es dicht neben ihr. Jeannette wurde aus ihren Gedanken gerissen.

Sie schaute auf. Ihr Kollege Zametzer machte sich soeben schimpfend und murrend an einigen Schubladen des Nebentischs zu schaffen, in denen er mit mißmutiger Brutalität herumkramte.

»He«, ermahnte sie ihn, während sie demonstrativ auf ihren Computerbildschirm starrte und sich anschickte weiterzuarbeiten. »Das ist Martins Schreibtisch. Nehmen Sie ihre Pfoten weg.«

Zametzer stieß die Laden mit einem Krachen zu, das weniger abgehärtete Gemüter dazu gebracht hätte zusammenzuzucken.

»Ist sowieso nur Kram drin. Nicht mal ein Spitzer.« Er schnaubte verächtlich. Als er an ihrem Arbeitsplatz vorbeikam, klatschte er ihr einen Hochglanzprospekt hin. »So einen Mist hortet der werte Kollege bei sich. Wenn er denn mal da ist. Sechs Wochen Urlaub! Hat man so was schon gehört.«

Jeannette antwortete nicht. Ihr Freund und Partner Martin Knauer hatte sich nach dem letzten Fall eine Auszeit genommen, das konnte sie nur zu gut verstehen, sie hätte selbst eine gebraucht. Aber sie wollte und konnte nicht weichen, ehe nicht geklärt war, ob sie sich einer Dienstaufsichtsbeschwerde würde stellen müssen. Ihr Chef, Paumgartner, hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie vor den Folgen ihres Ausrutschers zu schützen. Sie hatte einem Verdächtigen im Verhör die Nase gebrochen. Jeannette litt immer noch Qualen, wenn sie daran dachte. Aber irgendwie hatte der Chef es geschafft, den Mann dazu zu bringen, seine Anzeige zurückzuziehen. Schließlich hatte der sich überlegt, daß es ihm zu peinlich wäre, öffentlich zuzugeben, von einer Frau geschlagen worden zu sein.

Jeannette hatte erleichtert dem Machismo und Paumgartners psychologischem Geschick gedankt und sich mit doppeltem Eifer in die Arbeit gestürzt. Einen Burgfrieden mit Zametzer allerdings schloß das nicht mit ein. Gott, wie sie den Kerl haßte. Aber sie hatte Paumgartner versprechen müssen, sich auch ihm gegenüber zurückzuhalten. Kein Streit, keine Rangeleien. Und nie wieder sollte sie ihm Tee ins Gesicht schütten. Auch wenn es schwerfiel.

Zametzer bemerkte ihr abweisendes Schweigen und setzte nach. Mit seinen kurzen Fingern tippte er energisch auf den Prospekt, den er bei Martin gefunden hatte.

»Da sollten Sie sich bewerben«, meinte er. »Da könnten Sie dann die Polizistin spielen, ohne sich und andere in Gefahr zu bringen.«

Jeannette reagierte noch immer nicht. Mit steifen Schultern saß sie da, blickte angespannt auf den Bildschirm und hieb mit den Fingern auf die Tastatur ein. Erst als er fort war, atmete sie aus und warf einen flüchtigen Blick auf das Papier, ein aufwendig gestaltetes Faltblatt, das für eine neue Dokusoap warb, die demnächst von einem Privatsender ausgestrahlt werden sollte. Nach Richtern, Pfarrern und Psychologen waren nun die Polizisten dran, in künstlich arrangierten Fällen ihren Alltag zu demonstrieren. Die Produktionsfirma suchte nach einem Hauptdarsteller, am liebsten einem echten Kommissar. Jeannette runzelte die Stirn, als sie den Text las.

»Na, interessiert?« erkundigte sich Zametzer von seinem Platz aus.

Jeannette legte das Blatt weg.

»Das Bewerbungsdatum ist abgelaufen«, erklärte sie steif und tippte weiter. Ihr Kollege wartete, ob noch etwas käme. Als sie schwieg, beschloß er, daß das genüge, um ein hämisches Gelächter anzustimmen.

Abrupt stand Jeannette auf. Sie blinzelte einen Moment, dann schaute sie auf die Uhr und stellte erleichtert fest, daß es nicht zu früh war, den Kater vom Arzt abzuholen. Auf dem Heimweg bliebe ihr dann Zeit zum Einkaufen. Mit Schwung nahm sie ihre Jacke vom Haken.

»Ja, ja«, höhnte Zametzer hinter ihr her. »Beeilen Sie sich nur, vielleicht nimmt man Sie ja doch noch.«

Auf dem Parkplatz blieb Jeannette einen Augenblick stehen und atmete tief durch. Wie warm die Sonne war! Endlich nach dem endlos langen kalten April hatte sie an Kraft gewonnen. Prompt quoll der Flieder mit duftenden Dolden über die Mauern, Kirschblüten regneten auf alle Gehsteige, die Forsythien prangten fett in den Vorgärten, und die Magnolien waren so zauberhaft schön, daß einem beim Betrachten die Tränen in die Augen schossen, vor allem, wenn man das eigene Leben zum Vergleich daneben sah.

Jeannette schniefte erneut, beschloß, daß sie an einer Allergie leiden müsse, und öffnete die Autotür. Doch auch durch den Filter der Windschutzscheibe spürte sie noch die Wärme auf ihrer Haut und dieses Bedürfnis, sich zu räkeln wie eine Katze. Der Frühling prangte draußen mit seinen Farben und all seiner Kraft. Und obwohl sie wußte, daß es immer die gleiche alte Geschichte war – eine lächerliche gesellschaftliche Konvention, der die Menschen jedes Jahr aufs neue aufsaßen, wenn sie Weihnachen an Selbstmord dachten und sich im Frühling verliebten –, konnte Jeannette doch nicht umhin, den Ruf der Jahreszeit zu vernehmen.

»Vom Eis befreit sind Strom und Bäche«, zitierte sie ironisch und ließ den Motor an. Sie mußte lächeln. Ihr Vater hatte diese Verse immer aufgesagt, pünktlich und laut, jede Ostern wieder. Es war das einzige Gedicht, das er auswendig konnte, von Wirtinnenversen abgesehen. Aber vielleicht, dachte Jeannette, während sie langsam zur Ausfahrt lenkte, gab es ja tatsächlich eine Chance, nach langer Zeit auch sie selbst wieder zu einer eisfreien Zone zu machen.

2

»Ist Herr Gläser da?« fragte sie schüchtern, als sie im Anmeldezimmer der Tierarztpraxis stand. Sie hatte Romeo in Empfang genommen, der in seinem Korb lag und ausnahmsweise darauf verzichtete, seinen dicken Kopf gegen das Gitter zu drücken und herzzerreißend zu schreien, wie er das sonst zu tun pflegte, wenn sie ihn für einen Transport einsperrte. Er rollte sich nur zusammen und blinzelte ihr mit seinem einen, fliederlaubgrünen Auge müde und bedeutungsschwer zu.

»Geben Sie ihm nichts zu fressen, nur Wasser, wenn er etwas verlangt«, instruierte die Sprechstundenhilfe sie in routiniertem, leierndem Ton, ehe sie sich wieder ihrer Ablage zuwandte. »Und raus sollten Sie ihn auch nicht lassen. Erst morgen wieder.«

Jeannette mußte ihre Frage wiederholen. »Ist Herr Gläser da?«

Zum ersten Mal sah die Frau sie an. »Der Doktor operiert«, erklärte sie knapp.

Im selben Moment öffnete sich die Tür des Behandlungsraums. Doktor Philipp Gläser kam heraus, im weißen Kittel, mit Handschuhen und einem Skalpell in der Hand, an dem sich rote Spuren und Reste von Haar befanden.

Jeannette nahm es gar nicht wahr. Wieder einmal dachte sie nur daran, wie sehr er doch George Clooney ähnelte, mit seinen so seelenvollen braunen Augen, dem sinnlichen Mund über dem kantigen, eigenwilligen Kinn und den braunen, kindlich widerspenstigen Haaren, in die man seine Finger wühlen mochte, ach … Sie seufzte laut und erschrak.

Philipp Gläser, der ihr Zusammenzucken auf den Anblick des Skalpells zurückführte, legte es rasch auf den Tresen der Anmeldung und streifte die Handschuhe ab.

»Dachte ich mir doch, daß ich Sie gehört habe«, sagte er und reichte ihr die Hand.

Jeannette nickte. »Ich wollte mich noch bedanken«, sagte sie, ohne recht zu wissen wofür, und verstummte. Beide schwiegen einen Moment. Die Sprechstundenhilfe warf ihnen einen scharfen Blick zu. Rasch ließen sie einander los.

Philipp Gläser räusperte sich. »Hat man Ihnen alles erklärt?« erkundigte er sich schließlich und streckte die nutzlos gewordenen Finger durch das Gitter des Korbes in Jeannettes Armen, um den Kater zu kraulen. Ein lautes, gleichsam körperloses Schnurren stieg vibrierend zwischen ihnen auf und ließ Jeannette seltsamerweise erröten.

»Ich, äh, ja, danke«, stammelte sie und verfluchte sich im selben Moment. Verdammt, warum hatte sie sich nicht naiv gestellt und ihn einfach alles noch mal erzählen lassen? Dann hätte sich daraus vielleicht zwanglos ein Gespräch ergeben. Aber so. »Ja, es ist alles geklärt«, vollendete sie ihren Satz hilflos und in ihr Schicksal ergeben.

»Ja, dann«, antwortete er prompt. Doch er ging nicht.

Eine Weile standen sie so herum, als ein neuer Patient eintrat und grüßte. Er wurde brav von allen dreien zurückgegrüßt und entführte dann die Sprechstundenhilfe mit seinen Wünschen in einen der hinteren Räume. Sie waren allein.

»Philipp«, sagte Jeannette versonnen, deren verlegen umherwandernder Blick an dem Praxisschild hängengeblieben war, »was für ein passender Name für einen Tierarzt.« Als sie seine ratlose Miene sah, fügte sie hinzu: »Es heißt Pferdefreund. Auf griechisch.« Sie hätte sich in den Hintern treten können. Was war das denn für ein Gesprächsbeitrag? Sie gab ihm sprachwissenschaftlichen Unterricht? Na bravo! Was sollte er darauf schon antworten?

»So habe ich das noch gar nicht betrachtet«, sagte Philipp Gläser.

Jeannette nickte grimmig. Ganz prima. Oh, sie war wirklich ein Flirtgenie. Jetzt würde sie aber gehen, und der Frühling, der konnte sie mal.

»Also dann«, setzte sie an, aber er hielt sie zurück.

»Da ist etwas, was ich Sie fragen wollte«, begann er.

Hoffnungsvoll hielt sie inne. »Ja?« Sie betete, daß nicht zuviel Hunger in diesem Wort lag, das sie hervorstieß.

»Ich wollte fragen, ob wir nicht mal zusammen etwas trinken gehen könnten.« Mit einem entschuldigenden, doch zugleich verschmitzten Lächeln schaute er sie an. Jeannette wurde es warm ums Herz. Der Linoleumfußboden unter ihren Füßen begann, sie in Wellen zu wiegen, und der strenge Geruch nach Desinfektionsmitteln und Urin wandelte sich in Sandelholz und Rosenduft.

»Ja«, hörte sie sich sagen, wie aus weiter Ferne. Sie sprach laut, um die schmelzenden Klänge der Geiger zu übertonen, die von irgendwo hinter den Aktenordnern hervorzuperlen schienen. »Ja, sehr gerne.« Entsetzt starrte sie ihn an. War das sie, die gerade so gebrüllt hatte?

»Nun«, begann er, »ich muß eben noch einer Dogge einen Tumor entfernen, aber wie wäre es mit danach? Gleich heute abend?«

»Ach«, machte Jeannette, und heißes Bedauern überflutete sie. Doch sie schüttelte tapfer ihren Kopf. »Heute geht es nicht. Ich erwarte Freunde. Wir wollen gemeinsam die Wohnung umbauen. Für meine Mitbewohnerin, wissen Sie. Sie wird auf einen Rollstuhl angewiesen sein, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt, und da …« Jeannette beendete den Satz nicht. Leise fügte sie hinzu. »Das war es auch, weshalb ich damals, als wir uns das erste Mal begegnet sind, so schlecht beieinander war.«

Er nickte langsam, verstehend, wie Jeannette hoffte. Diese Erinnerung an den Abend, als er an ihrer Tür geklingelt hatte, um ihr Romeo zu bringen, erschien ihr wie ein erstes Stück Gemeinsamkeit.

»Das tut mir leid«, sagte er. »Was ist mit Ihrer Freundin passiert?«

Jeannette schüttelte den Kopf. »Das ist eine lange Geschichte«, meinte sie.

Er schaute sie an. »Lang genug für ein Abendessen? Oder werden wir zwei brauchen?«

Sie mußte lächeln. »Ja«, sagte sie und fügte dann lebhafter hinzu: »Ja. Wenn Sie wollen?« Einen Moment lang blickten sie einander in die Augen.

»Also dann«, sagte er schließlich, doch mit weit mehr Schwung als zuvor.

Jeannette erwachte wie aus einem Traum. »Also dann«, bestätigte sie.

»Ich rufe Sie an?« Er betonte es wie eine Frage.

Sie nickte. »Sie haben ja meine Nummer«, meinte sie. Sie überlegte und fügte dann hinzu, ernst wie ein Kind: »Ich würde mich sehr freuen. Wirklich.«

»Ich mich auch.«

Dann ging er. Jeannette schwebte hinaus wie auf Wolken. Das war es also, kein großer Dialog, die Sätze nicht eben, um sie in Stein zu meißeln, aber sie hatten ihren Zweck erfüllt. Kaum zu glauben: Sie hatten eine Verabredung. Versonnen summte sie vor sich hin, während sie nach ihrem Autoschlüssel kramte.

»He, Sie!« Es war die Sprechstundenhilfe, die nach ihr rief. Mit dem Korb in der Hand kam sie auf den Gehsteig gestöckelt. In ihrer Stimme lag strenge Mißbilligung. »Sie haben Ihren Kater vergessen.«

3

Jeannette kurvte die Fürther Straße hinauf und rekapitulierte, was sie noch alles besorgen wollte: neue Laufschuhe, wenn das Joggen heute abend nicht ausfallen sollte, Milch, Obst, Seife, Mülltüten. Und Joseph hatte erklärt, er arbeite nur für sie, wenn sie Bier für den Handwerker im Haus habe. Sie hatte vergessen zu fragen, welche Sorte er am liebsten trank.

Romeo auf der Rückbank verströmte seinen typischen Duft, sanft durchmischt mit Medikamentengeruch, der in Jeannette süße Erwartungen weckte an den Mann, der ihn verursacht hatte.

Wie Philipp wohl roch, wenn er nicht in der Praxis stand, überlegte sie, rief sich aber nach einer Weile zur Ordnung. Es gab noch viel zu erledigen.

Der Kater kam langsam wieder zu sich und störte ihre Überlegungen mit nachhaltigem Miauen. Seine Geduld war schon jetzt am Ende. Jeannette seufzte. Sie beschloß, ein Kaufhaus aufzusuchen, wo sie alles auf einmal bekäme.

Sie fuhr am Westring vorbei und bog schließlich auf den Parkplatz des Fontäne-Kaufhauses ein. Hier war sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gewesen, jener Zeit, als ihre Mutter zweimal im Jahr mit ihr groß einkaufen ging, einmal im Frühjahr und einmal im Herbst, und sie jedesmal mit großen, verheißungsvoll raschelnden Plastiktüten bepackt nach Hause gegangen waren, den Kleiderbedarf für die nächsten Monate bei sich tragend, um daheim noch einmal alles auszubreiten: Hosen, Kleider, Röcke, Jacken, Socken, einen ganzen Berg. Und dazu ein Milchshake in der Hand und einen sonst verbotenen Hamburger im Bauch, denn der anschließende Besuch bei McDonald’s hatte unauflöslich zu diesem Erlebnis dazugehört.

Prompt bekam Jeannette Hunger, und sie erwog, noch rasch bei einem Imbiß vorbeizufahren und einen Riesenhaufen Papiertüten voll Junk-Food für ihre Gäste zu erwerben. Doch zunächst einmal trat sie bei Fontäne ein. Damals hatte ihr das Gebäude spannende Erwartung und berauschenden Konsum versprochen. Vor allem die oberen Stockwerke, hinter deren Fensterreihen lange Transportbänder zu sehen waren, auf denen die Päckchen für den Versandhandel ihrer Bestimmung entgegenglitten, waren ihr mindestens so geheimnisvoll erschienen wie die Werkstatt der Weihnachtswichtel. Für ihre erwachsenen Augen sah der gelbe Ziegelbau alt aus, verbraucht und profan bis auf die Knochen.

Jeannette fuhr die Rolltreppe hinauf und schlängelte sich gerade zwischen Drehständern mit Sportbekleidung durch, wich Frauen mit Kinderwagen aus, die den Weg zu blockieren drohten, umkurvte türkische Familien, die in voller Mannstärke über den Kauf eines Teiles berieten, und hielt über die Köpfe quengelnder Kinder hinweg nach Hinweisschildern Ausschau, die sie zu den Laufschuhen wiesen, als eine Lautsprecherdurchsage sie plötzlich innehalten ließ:

»Alle Kunden werden gebeten, sich sofort und in Ruhe zu den Ausgängen zu begeben. Achtung bitte. Alle Kunden …« Die Stimme wiederholte wieder und wieder dieselbe Botschaft, ohne emotionale Färbung, ohne eine Regung oder Ungeduld. Die Leute blieben stehen, es dauerte eine Weile, bis die Botschaft zu ihnen durchdrang. Dann ließen sie die Waren los und schauten einander in die Gesichter. Was war los? Verkaufspersonal kam, rüttelte hier an einer Schulter, scheuchte dort Richtung Treppe. Man wiederholte die Botschaft, weniger monoton, weniger hochdeutsch, und mit sichtlicher Erregung in den Stimmen. Doch keiner wollte sich entlocken lassen, was geschehen sei. Nur schnell müsse es gehen, schnell bitte jetzt und ohne Aufregung.

Diese jedoch stieg mit jeder Minute. Auf den Rolltreppen wurde aufgeregt debattiert. Ein wachsender Strom Menschen formierte sich in einem Zug dem Ausgang entgegen. An einzelnen Regalen sah man noch Verkäuferinnen mit widerspenstigen Kundinnen diskutieren, die sich nicht von ihren Einkaufsplänen abhalten lassen wollten. Vor einer verwaisten Kasse stand in stummem Trotz eine Matrone, sehr aufrecht und stur das Chaos um sich verleugnend, und verlangte, abgefertigt zu werden. Die Weiterziehenden betrachteten sie zwischen Spott und Angst schwankend. Auch sie hätten sich zu gerne so entschieden an ihre gewohnte Normalität geklammert, die sie gerade im allgemeinen Chaos zu verlassen drohte, um durch etwas Unbekanntes ersetzt zu werden.

Je näher sie den Türen kamen, desto größer und unnachgiebiger wurde das Gedrängel. Die ganze Menge summte und brummte. Und von irgendwoher schwirrte plötzlich auch das Gerücht herum, es habe eine Bombendrohung gegeben. Lächerlich, befanden die meisten. Und einer drohte mit seinem Anwalt, falls dies nur eine Übung sei und man ihm seine kostbare Zeit stehle. Andererseits, gab bald eine Stimme zu bedenken, wäre Al Qaida alles zuzutrauen. Und dem einen oder anderen fiel plötzlich ein, daß er sich in einem sündigen westlichen Konsumtempel befand. Die Blicke, die den türkischen Familien nun zuflogen, wurden ungnädiger.

Zunächst stand Jeannette nur mehr oder weniger gelassen in dem Pulk, der sich langsam an den Vitrinen mit Schmuck und Uhren vorbei in Richtung Ausgang schob, und dachte an nichts als: Was mache ich denn jetzt? Sie warf einen sehnsuchtsvollen Blick zurück in Richtung des Lebensmittelmarktes und überlegte, wie sie ohne die Milch, das Bier und all die Dinge, die sie hatte kaufen wollen, denn nun zurechtkommen sollte. Kein Joggen heute abend, und Joseph würde sauer sein.

Aber durch die Frontscheiben leuchteten ihnen die Blaulichter der Polizeifahrzeuge entgegen. Feuerwehren fuhren an, Männer mit Funkgeräten fuchtelten herum. Und trotz der gegenteiligen Beteuerungen der Verkäuferinnen, die sie dirigierten, begriff Jeannette, wie ernst es war. Für einen Ladendieb rückten die Kollegen nicht in dieser Stärke an. Hier ging irgend etwas Großes vor.

Ein Mann im Anzug, mit ausrasiertem Nacken, ein Namensschild mit dem Vermerk Sales Manager am Revers, trat schwitzend zu seinen Untergebenen und ermahnte sie, die Umkleidekabinen zu überprüfen. Eine Frauenstimme keifte: »Legen Sie das wieder hin, Sie haben ja gar nicht bezahlt.«

»Was geht Sie das an«, keilte der Angesprochene zurück. Jemand drängelte sich zu ihnen vor. Die Leute beäugten ihn, unentschlossen. War das der Ladendieb, oder nur einer, der in Panik geraten war? Haltet-ihn-Rufe verhallten unerhört. Alte Damen schimpften. Der Manager schwitzte noch mehr und fingerte nach den Schlüsseln für die Schmuckvitrinen, um die ausgelegte Ware noch rasch wegzusperren. Zweifellos rechnete er die Höhe der Verluste aus, für die er nach diesem Ereignis gerade stehen mußte. Zwei Untergebene zerrten ihn schließlich mit vieler Mühe hinaus.

Die Menge wogte aufgeregt, in Sichtweite der Türen beinahe gutgelaunt. Tatsächlich herrschte Volksfeststimmung. Endlich passierte einmal etwas. Daß ihnen selber etwas Schlimmes zustoßen könnte, dieses Gefühl hatten die meisten noch immer nicht. »Den Turm in die Luft jagen? Geil«, hörte Jeannette einen jungen Mann mit herunterhängendem Hosenboden. Offenbar sprach er von dem Wahrzeichen der Firma, einer alles überragenden Betonsäule hinter dem Kaufhaus, die das Firmenzeichen trug »War immer schon scheußlich, das Teil.« Seine Freunde stimmten ihm lebhaft zu.

Jeannettes Nachbar blinzelte ihr zu, während sie beide wie von einer Dünung hin und her geschoben wurden. »Wohl noch einer, der das Logo nicht gut fand.« Er schüttelte den Kopf und schob seinen Kaugummi in die andere Wange. »Wenn man bedenkt, daß sich daran irgendeine Werbefirma dumm und dämlich verdient hat. Und wir müssen es dann anschauen.«

»Aber immer gleich Gewalt«, schimpfte eine Rentnerin und schwang bedrohlich ihren Schirm.

Jeannette griente dem Sprecher unverbindlich zu. Dann kamen die Türen, und es wurde wirklich eng. Mit angehaltenem Atem und ein paar Schrammen quetschten sie sich durch und wurden draußen von Polizisten in Empfang genommen. Hier endlich schlug die Stimmung um. Waren es die hektisch rotierenden Lichter der Einsatzwagen, die hilflosen Gesichter der Angestellten, die aus den Eingängen des Firmengebäudes strömten und die sich am hellichten Tag hier draußen so verloren fühlten wie ausgegrabene Engerlinge? Oder war es der Umstand, daß sie wie Vieh weitergetrieben wurden und man ihnen den Weg zum Parkplatz versperrte? Als man allseits den Zugang zu den Autos verwehrte, stöhnte die Menge vor Empörung. Zu Jeannettes Entsetzen wurde auch sie daran gehindert, zu ihrem alten Fiat zu laufen.

»Der Parkplatz ist abgesperrt, das sehen Sie doch«, sagte der Beamte unwirsch und wies auf das rot-weiß gestreifte Plastikband, das in aller Eile gespannt worden war und tatsächlich das gesamte Areal umgab. »Bitte folgen Sie den Kollegen.« Ohne sie anzusehen, winkte er sie weiter und achtete überhaupt nicht auf Jeannettes Erklärungsversuche.

»Aber mein Kater ist da noch drin. Ich will doch nur mein Haustier …« Jeannette unterbrach sich selbst und wollte ihre Dienstmarke zücken. Doch ein anderer Polizist packte sie und schob sie wieder in die Menge, während er gleichzeitig mit seinem Kollegen ein hektisches Gespräch darüber führte, ob die Sperrung der Bahngleise und der Stadtautobahn, die unmittelbar hinter dem Kaufhauskomplex vorbeiführten, endlich voranschreite. Für Kater hatte er im Moment wenig Sinn.

»Aber …«, setzte Jeannette noch einmal an. Der Polizist wurde unwirsch.

»Das ist hier kein Fernsehen«, herrschte er sie an, während er sie auf die leere Straße bugsierte, deren Doppelspur ebenfalls abgesperrt war. »Das ist hier fei in echt. Und wenn Ihnen der Beton auf den Kopf kracht, dann gaffen’s nimmer.«

Automotoren röhrten, Abgase wölkten, und Autofahrer schimpften hinter den Sperren, die beide zweispurigen Fahrbahnen vor dem Kaufhauskomplex stillegten, während sich der größte Stau der Nürnberger Geschichte zusammenbraute. Eine U-Bahn hielt, doch niemandem wurde das Aussteigen erlaubt. Ein Flüchtlingstreck drängte sich an der mannshohen Mauer aus Waschbetonplatten, welche die Gleise von der Straße trennten, und strömte hilflos nach beiden Seiten daran entlang, auf der Suche nach dem nächsten Durchlaß, der sie auf die andere Straßenseite, weg von hier, in Sicherheit bringen würde. Mitten in dem Menschenstrom stand Jeannette Dürer und rang nach Worten.

Kein Fernsehen, pah! Wofür hielt er sie? Sie war sich der Problematik nun wahrhaft bewußt! Genauso hatte sie selbst bereits Schaulustige zurechtgewiesen, wenn sie einen Tatort umstanden. Aber, Herrgottnochmal, auf sie traf das doch nicht zu! Sie wollte doch gar nicht gaffen, sie wollte nur zu ihrer Katze. Romeo, dachte sie, während ihr Blick an dem Turm hinaufwanderte, ihn im Geiste zu Fall brachte und ausrechnete, wie dicht an ihrem alten Fiat er im schlimmsten Fall aufschlagen würde. Zu dicht, befand Jeannette. Sie sah Eisenträger durch die Luft sausen, roch Betonstaub und hörte das Metall ihres Wagens sich in tödlichem Ächzen zusammenknautschen, darin Romeo, gefangen in dieser Falle, ohne eine Chance zur Flucht. Sie wandte sich wieder um. Ihr Entschluß stand fest.

Ohne weiter auf die Polizisten zu achten, rannte sie über die Straße zurück, hechtete zwischen den Einsatzwagen hindurch und tauchte unter das grell leuchtende Absperrungsband, an dem nervös der Wind zerrte.

»He!« brüllte jemand. Aber sie kümmerte sich nicht darum. Irgend etwas krachte.

4

Jeannette duckte sich, ohne innezuhalten, und lief weiter. Schon ihm Gehen zückte sie die Schlüssel. »Ich gaffe nicht«, murmelte sie vor sich hin. Gleich würde sich das alles aufgeklärt haben. Gleich, nur noch zehn Meter. Da war ja schon der Wagen! Mit vor Hast zitternden Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloß. Schon hörte sie die Schritte hinter sich. »Ist ja gut, ist ja gut«, suchte sie gleichermaßen sich selbst, die heranpreschenden Beamten und den Kater zu beruhigen, der mittlerweile aufgewacht war und so laut brüllte, daß sie es trotz des Lärms durch die Scheiben hören konnte. »Ist ja gut, Himmelherrgottnochmal!« Endlich drehte sich der Schlüssel.

Die Tür ließ sich nicht ganz öffnen, der Nachbarwagen hatte zu dicht aufgeparkt. Jeannette verrenkte sich fast die Schulter, als sie hineinlangte und den Korb packte, um ihn durch den Türspalt zu bugsieren. Der war zu eng, das war offensichtlich, aber sie zog dennoch, mit aller Kraft, in der Hoffnung, das Weidengeflecht werde nachgeben. Was es nicht tat. Jeannette fluchte und zerrte. Da blieb die Gittertür des Korbes an der Fensterkurbel hängen und löste sich aus ihrer Verankerung. Ehe Jeannette sich versah, war sie abgesprungen, der Korb stand offen, und Romeo flitzte heraus, ein roter Strich der Empörung, ehe sie auch nur den Versuch hatte machen können, ihn aufzuhalten.

»Nein!« schrie Jeannette und ließ den Korb fallen: Als sie sich so abrupt aufrichtete und umwandte, prallte sie schmerzhaft gegen ihren herangekommenen Verfolger. Sie ignorierte es. »Nicht da lang!« Jeannette knallte die Tür zu, ohne auf den Schmerzensschrei des Polizisten zu achten, der sich auf den Türflügel gestützt und nun seine Finger dazwischen hatte, und spurtete los, immer hinter Romeo her, der zwischen den parkenden Autos hindurch auf einen der Firmeneingänge zuhielt. »Nicht da rein«, betete Jeannette im Rennen und sah sich im Geiste schon durch ein gespenstisch leeres Gebäude irren, das von der Sprengung bedroht war. Und sie hatte Glück. Ein Feuerwehrmann kam eben die Treppen herunter und veranlaßte Romeo zu einer plötzlichen Wende. Inne hielt er jedoch nicht, sein neuer Weg führte ihn mit unverminderter Geschwindigkeit an dem Bau entlang, wo er freie Bahn hatte, über den Fußweg, das Tankstellenareal, bis hin zu dem Zaun, unter dessen Stacheldrahtbekrönung er mit einer einzigen eleganten Bewegung hindurchtauchte. Er hatte nicht einmal angehalten.

Jeannette verfluchte das Betäubungsmittel, dessen Wirkung offenbar vollständig nachgelassen hatte. Flüchtig dachte sie an die Mahnung der Sprechstundenhilfe, das Tier heute noch nicht ins Freie zu lassen. Ihn schonen, pah! Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihr, daß ihr nun schon fünf Beamte auf den Fersen waren. Keiner von ihnen sah aus, als hätte er Interesse an langen Erklärungen. Da entdeckte sie eine Lücke im Stacheldraht. Ohne lange nachzudenken, flankte sie über den Zaun, beinahe so elegant wie ihr Kater, bis sie gegen den vom Gebüsch verdeckten Hydranten prallte. Hinkend und fluchend hopste sie den asphaltierten Weg entlang. Für die friedliche Schönheit der hohen Bäume, die ihn beschirmten, hatte sie keinen Blick.

Vorne peste Romeo, immer entlang an einer Ziegelmauer, die zu Jeannettes Erleichterung auch seine Möglichkeiten überschritt. Aber noch immer war er zu schnell, und sie konnte nichts tun, als ihn im Auge zu behalten. Und bald hatte das Chaos sie wieder. Die Wohnstraße, auf die sie einbogen, war einmal friedlich gewesen. Nun auch hier Blinklichter allerorten. Aus einem Altbau strömten die Kinder einer Tagesstätte, die dort residierte, unter den panischen Blicken ihrer Betreuer. Einwohner verließen schimpfend und protestierend ihre von Flieder überquellenden Gärten, in Hemdsärmeln und Sommerkleidern, Handtaschen und Mappen an sich gedrückt. Rentner stützten sich auf die starken Arme von Feuerwehrleuten, Hausherren protestierten. An der Laderampe auf der Rückseite des Kaufhauses diskutierten Fernfahrer, die ihre Laster noch rasch aus der Gefahrenzone bringen wollten.

Gebt es auf, dachte Jeannette, die rannte und dabei versuchte, zwischen all den Menschen, die über die Straße quollen, Romeo im Blick zu behalten. Mechanisch Entschuldigungen murmelnd, stieß sie gegen Schultern und trat auf Füße. Niemand schenkte ihr Beachtung.

Die Feuerwache gegenüber öffnete ihre Tore und ließ die letzten Wagen heraus, die noch nicht im Einsatz waren. Die Baulücke daneben erlaubte es, über unwirklich friedliches Brachland und Grillengezirp hinweg einen Blick auf Bahn und Frankenschnellweg zu werfen. Auch dort waren Blaulicht und schweres Gerät, wohin das Auge schaute. Und unmittelbar vor ihr, in aufreizender Ereignislosigkeit, ragte das Zentrum des Sturms auf, die nackte graue Betonnadel, die zu sprengen irgend jemand angeblich gedroht hatte. Lang, dünn und so zerbrechlich, wie sie Jeannette selten erschienen war. Vor dem prallblauen Frühlingshimmel sah sie beinahe hübsch aus.

Romeo schien das ebenfalls zu finden. Aufgebracht vom Sirenengejaul und dem Motorengeräusch der Feuerwehrwagen, hatte er einen letzten Haken geschlagen, weg von den einladend geöffneten Garagentoren und hin zum Turm. Offensichtlich suchte er ein Schlupfloch, in dem er sich verkriechen konnte, um all den Aufregungen zu entfliehen.

Fassungslos blieb Jeannette einen Moment stehen, als sie sah, wie er über die kleine Steinumfassung am Fuß des Turmes setzte, sich unbemerkt zwischen den Beinen der Männer hindurchschlängelte, die sich dort bemühten, eine Metalltür vorsichtig aufzustemmen, und mit einem letzten Schlingschlängeln seines orangefarbenen Schwanzes in dem sich öffnenden Spalt verschwand. Ja, waren die denn alle blind?

»He, Sie«, rief es hinter ihr. »Stehenbleiben!«

Jeannette wandte sich gar nicht erst um. Sie rannte zum Turm, hechtete vorwärts, stieß sich von dem Mäuerchen ab, sprang und prallte auf die Schultern des Sondereinsatzkommandos, auf denen ohnehin schon genug Verantwortung ruhte. Entsprechend unwirsch wurde ihr Vorstoß aufgenommen. Es gab einen Tumult, in dem sie blind strampelnd austeilte, nur das eine Ziel vor Augen, sich zwischen den uniformierten Leibern hindurchzuwinden. Schließlich ließ sie sich zu Boden gleiten, aus der Schußlinie der derbsten Schläge, kroch den letzten Meter zwischen den Füßen der verwirrten Männer hindurch, und zog die Tür ganz auf.

Metallisches, zahnschmerzerzeugendes Quietschen erscholl und hallte im unbekannten Dunkel des Turminneren wider.

»Nein«, brüllte jemand, der an rote und blaue Kabel dachte, an gespannte Drähte, Vibrationszünder, unaussprechlich raffinierte Fallen und einen Feuerball, der von der geringsten Erschütterung ausgelöst werden konnte. »Nicht, das könnte …«

Aber Jeannette griff hinein. Dann lag sie in der Tür auf dem Rücken, erschöpft, verblüfft, am Ende ihres Willens. In ihren Händen, mit denen sie in die Dunkelheit dahinter geangelt hatte, hielt sie nicht den Kater, sondern einen soliden Pappkarton, wie ihn das Kauf- und Versandhaus Fontäne in alle Lande zu verschicken pflegte, im typischen Lindgrün, die Firmenaufschrift prangte optimistisch auf allen Seiten. Doch dieser Karton war umwunden mit blinkenden und piependen Lichterketten, Drähten und technischem Kram. Er surrte und brummte und tickte und vibrierte von einem geheimnisvollen Eigenleben. Entsetzt starrte Jeannette ihn an, während ihr Brustkorb sich in krampfhaften Atemzügen hob und senkte.

Der Schrei des Feuerwehrmannes kam zu spät. Als der Deckel des Pakets explodierte, konnten sie nichts mehr tun, als sich flach auf den Bauch werfen, was angesichts der Massen von Beton, die bald auf sie niederstürzen würden, höchst sinnlos war, wie ein Ritual ohne Gott.

Jeannette hatte sich nicht einmal mehr bewegen können. Sie starrte auf die Kiste und dachte an nichts, nicht einmal an ihr Leben, das doch hätte an ihr vorüberziehen sollen in wenigen Augenblicken, eine geballte Bilderflut. Doch nicht einmal dafür schien es gereicht zu haben. Der Deckel war aufgesprungen, mit einem Ploppen, das ihr Herz hatte anhalten lassen. Eine Feder schoß heraus, darauf saß eine Kasperlfigur und wippte auf und ab, das Pappmaché-Gesicht zu einem dämonischen rotweißen Grinsen verzogen. An seiner Mütze baumelte ein Glöckchen, das in der plötzlichen Stille leise kichernd bimmelte.

Romeo kam mit einem Maunzen aus seinem Versteck, sprang auf die Brust seines sprachlos hingestreckten Frauchens und begann, mit der Pfote nach dem Spielzeug zu tätzeln. Er schnurrte, zumindest er rundum zufrieden.

Langsam kamen die Köpfe der Männer wieder nach oben. Einer nach dem anderen erhob sich von dem warmen Asphalt, schüttelte den Staub und das Gefühl der Lächerlichkeit ab und trat mit schwerem Schritt auf Jeannette zu.

Blinzelnd, Kater und Kasper noch immer im Schoß, schaute sie zu dem Kreis ernster Gesichter auf, der sich um sie schloß.

»Fräulein«, sagte einer von ihnen, »das wird ein teurer Spaß.«

5

Tanja, Jeannettes Schwester, richtete sich stöhnend auf und betrachtete ihr Werk, eine schmale Schräge aus Sperrholz, die die Stufen im Hausflur vor Jeannettes Wohnungstür in eine Rampe verwandelte.

Von oben neigte sich ein runzliges Gesicht ins Treppenhaus. »Ist jetzt bald mal Schluß mit dem Lärm?« kam es schrill. »So eine Rücksichtslosigkeit.«

Jonas, Tanjas Sohn, schaute auf, Nägel im Mund und den Hammer in der Hand. Seine Mutter legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Wir arbeiten schließlich für einen behinderten Mitmenschen«, blaffte sie zurück. »Da kann man selber ein bißchen Rücksicht erwarten.« Dennoch nickte sie, als Jonas ihr die Uhr zeigte. »Bald acht, wir sollten es wirklich nicht übertreiben.«

Sie räumten zusammen und gingen in die Wohnung, wo bedrohliche Geräusche aus dem Badezimmer erklangen. Dort war Joseph am Werk, der Lebensgefährte von Jeannettes Kollegen Martin, auch er ein Mitglied ihres Kreises, und auch er fluchend ob der ungewohnten Betätigung.

»Meinst du, die ganze Anstrengung lohnt sich?« fragte Jonas und ließ sich in der Küche auf einen der Stühle fallen, die um den runden Tisch mit der Prilblumendecke standen. Automatisch stellte er den Fernseher an.

»Wieso?« fragte seine Mutter, die sich am Wasserkocher zu schaffen machte. »Verdammt, nicht mal Kaffee gibt es hier.«

»Tante Jeannette trinkt Tee«, bestätigte Jonas und legte die Füße auf den Tisch.

»Wieso sollte es sich nicht lohnen?« griff seine Mutter ihre erste Frage wieder auf. »Sie hat gesagt, sie will nicht im Krankenhaus bleiben, ein Pflegeheim kommt nicht in Frage, also«, sie machte eine abschließende Geste, »wird Regine samt Rollstuhl hier leben.«

Jonas suchte einen Sender. »Hatte sie nicht einen Exfreund, der sie wiederhaben wollte?« fragte er und nahm dankend die Semmel entgegen, die Tanja ihm reichte. »He, die ist ja uralt.«

Tanja zuckte mit den Schultern. »So alt wie der Ex. Regine hat ihm den Laufpaß gegeben, als sie noch laufen konnte. Warum sollte sie jetzt, da sie es nicht mehr kann, einen Rückzieher machen?«

Darauf wußte Jonas keine Antwort. Aus dem Bad kam Joseph, weißer Staub in den Haaren. »Das mit der Badewanne kriege ich nicht hin«, gestand er. »Da müssen wir einen Klempner kommen lassen oder so was, verdammt.« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich weiß nicht mal, wie der richtige Handwerker dafür heißt.«

Tröstend stellte Tanja ihm eine Tasse Tee hin. »Und wo bleibt überhaupt Jeannette?« blaffte er weiter. »Schließlich sind es ihre Schuldgefühle, die diesen Umbau erforderlich machen. Mit einer Behinderten zusammenleben, wenn man voll berufstätig ist!« Er schüttelte den Kopf.

»Immerhin wird Regine einen Zivi kriegen«, gab Tanja zu bedenken.

»Tante Jeannette hat keine Schuldgefühle«, fiel Jonas ein. »Sie kann doch nichts dafür, daß der Killer sich Regine ausgesucht hat. Sie hat ihr sogar das Leben gerettet.« Er errötete vor Eifer.