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»Hör mal, du Südlicht, beantworte mir eine Frage! Wenn ein Mann allein im Wald ist, ohne daß Frauen in der Nähe sind, hat er dann trotzdem in allem unrecht?«

Ein bärtiger, noch recht junger Mann lehnte sich über den Tisch. Er versuchte Jyri mit seinen braunen Augen zu fixieren, aber die blieben nicht fokussiert. Jyri lachte über den Scherz und nickte. Der Mann lachte nicht, sondern packte ihn am Kragen. Speichel flog Jyri ins Gesicht.

»Antworte schon! Ihr nehmt uns doch die Frauen weg!«

Jyri wich zurück und riß die Hände des Mannes von sich los. Der plumpste bäuchlings auf den aus einem halben Baumstamm bestehenden Bartresen. Jyris Glas fiel um, Bier floß ihm auf die Hose. Er sprang auf und klopfte seine Jeans aus.

»Helikopter-Korhonen, was randalierst du hier! Laß den in Ruhe!« befahl der Barkeeper, der nun aufgetaucht war, und packte den Mann an einem seiner Segelohren.

»Korhonen ist sonst so sanft wie Mutter Teresa. Ich weiß nicht, was plötzlich mit ihm los ist. Also, was hast du denn, Korhonen?«

Der reichlich beleibte Barmann zog ihn am Ohr, Korhonen fletschte die Zähne und folgte ihm.

»Laß mich los, und mach einen Kossu-Pommac!« brachte er mühsam heraus.

Der Barkeeper ließ sich nicht erweichen.

»Du kriegst hier nichts mehr, höchstens einen Tritt mit dem Rentierlederstiefel in den Hintern!«

»Ist nicht für mich«, sagte Korhonen.

Der Barmann stellte einen Kossu-Pommac vor Jyri hin und gab Korhonen eine Tasse abgestandenen Kaffee. Er postierte sich hinter dem Tresen und machte Jyri ein Zeichen, indem er mit Zeige- und Mittelfinger auf sein Auge und dann auf Korhonen zeigte. Jyri winkte ab; keine Sorge, vor ihm saß ein geläuterter Mann.

Korhonen faltete die Hände um seine Kaffeetasse und rieb den Ring an seinem linken Ringfinger.

»Du bist also verheiratet?« fragte Jyri.

Der Mann trug ein dunkles Hemd und Jeans. Die beiden obersten Hemdknöpfe waren beim Raufen aufgesprungen.

»Na ja, mußte sein«, sagte er.

Jyri wedelte mit der Hand: So was kommt vor.

»Ich müßte es inzwischen besser wissen, aber ab und zu muß man sich einfach mal einen antrinken«, sagte Korhonen.

Vom Auftrumpfen zum Geständnis, als nächstes fängt er an zu heulen, dachte Jyri und beschloß, die Stimmung etwas aufzulockern.

»In Sompio habe ich eine Reklame für diese Kneipe gesehen. Populäre Atmosphäre und faszinierende Spiele preisen sie da an. Was sind denn das für Spiele?« fragte Jyri.

Korhonen zeigte auf den Pokerautomaten, der in einer Ecke stand, hell blinkte und eine Endlosmelodie dudelte. Seine grellen Farben und laut scheppernden Töne paßten nicht zu dieser Stimmung des Stillstands. Jyri stellte belustigt fest, daß er irgendwie Mitleid mit dem Spielautomaten hatte, der so viel Wesens von sich machte, aber keine Beachtung fand. Außer Jyri und Korhonen war nur ein Gast in der Kneipe. Ein verknitterter Alter in hellblauer langer Unterwäsche saß an einem Tisch neben dem Spielautomaten, murmelte vor sich hin und schrieb in ein Notizbuch. Sein dünner Bart hing wie ein Teebeutel im Bierglas, und die Lichter des Automaten flimmerten über sein zerfurchtes Gesicht. An seiner Stuhllehne hing ein ölfleckiger Motorschlittenoverall.

»Nichts ist ihr recht, sie rümpft nur die Nase und sehnt sich nach Süden«, sagte Korhonen.

Der Denker in der Unterwäschegarnitur senkte den Kopf auf den Brustkorb, stellte den Kragen hoch und verschwand darin. Sein dünner Körper bebte, man hörte ihn husten.

»Verdammt, Lauri, hier wird nicht gekotzt, das stinkt bestialisch, verschwinde!« befahl der Barmann. Er gab dem Männchen einen schwungvollen Schubs und warf Overall und Notizbuch hinterher. Kurz darauf heulte ein Motor auf, und Jyri sah durchs Fenster, wie der Alte mit dem Motorschlitten mitten auf der schneelosen Asphaltstraße davonfuhr. Der Anblick wäre auch im Winter eigentümlich gewesen, aber jetzt war August. Das Gerassel war entsetzlich, und es flogen Funken in breiten Strahlen. Der Mann fuhr halb im Stehen, mit einem Knie auf der Sitzbank. Jyri sah den Barkeeper an.

»Der muß nur bis nebenan, zweihundert Meter weit.«

Korhonen zog mit dem Finger die Holzmaserung in der Tischplatte nach und setzte seinen Monolog fort.

»Ihre Fähigkeiten gehen hier vor die Hunde, sagt sie. Na sicher, wenn sie nichts andres macht als meckern.«

Sein Zeigefinger beschrieb einen Kreis und näherte sich dem Mittelpunkt eines Astlochs, blieb dort stehen und klopfte dreimal. Dann hob er den Kopf und sagte zu Jyri:

»Nimm noch ein Bier, ich geb’s aus.«

Jyri hatte sein Glas noch nicht ausgetrunken. Er kippte den Kossu-Pommac auf einen Zug hinunter.

»Nein, jetzt muß ich gehen.«

»Ist ja auch langsam Zeit für einen Lehrer«, stichelte Korhonen. Jyri nickte und überlegte, woher Korhonen bloß wußte, daß er Lehrer war, zumal das Schuljahr noch gar nicht angefangen hatte. Fragen mochte er aber nicht.

Er war schon aufgestanden, als Korhonen ihm mit dem Arm den Weg versperrte.

»Weißt du, warum diese Linien auf dem Tisch sind?«

Auf Jyris Seite hatte der Tisch mehrere mit dem Messer eingeritzte Kerben. Korhonens Miene war so honigsüß, daß Jyri mißtrauisch wurde.

»Nein, aber vielleicht will ich es auch gar nicht wissen.«

»Da haben wir gemessen, wie lang unsere Schwänze sind. Wer die Rekordlatte auf den Tisch bringt, kriegt den Johnnie Walker da«, sagte Korhonen.

Er zeigte auf eine Fünfliterflasche Whisky, die in einem Ständer auf dem Tresen stand. Jyri maß die Markierungen mit der Handspanne ab. Die längste war schätzungsweise fünfzehn Zentimeter von der Tischkante entfernt. Jyris Hand bewegte sich unwillkürlich zum linken Hosenbein und drückte ein wenig zu.

»Na dann man los, Herr Lehrer, Latte auf den Tisch«, befahl Korhonen.

Jyri kam zur Besinnung, schüttelte abwehrend den Kopf.

»Gut, daß du’s nicht versucht hast, du stehst auf der falschen Seite vom Tisch«, sagte Korhonen.

Die Sonne stieg nach der kurzen Augustnacht empor. Vom Reponen aus ging Jyri auf seine Reihenhauswohnung in der Paarmantie zu. Lapplands Nachtigall, das Blaukehlchen, gab im Wipfel einer Fichte ihre wunderbarsten Kostproben. Sie trat ganz so auf, als wüßte sie, daß ihr Gesang zur schönsten Vogelstimme Finnlands gekürt worden war. Zwischendurch schnalzte sie, drask, drask, holte Luft und tirilierte weiter. Es war kein Mensch zu sehen. Aus dem Jeesiöjoki stieg Dunst auf.

Jyri setzte sich auf einen Betonpoller in der Einmündung eines Fuß- und Radwegs, zog das Handy aus der Jeanstasche und wählte die Nummer seiner Mutter. Sie war sicher nicht wach, aber vielleicht ja doch. Das Telefon tutete fünf Mal, bevor sich der Anrufbeantworter einschaltete. »Hallo, hier Else Hartikainen. Ich bin bestimmt gerade beim Turnen, im Kino, oder ich schlafe. Rufen Sie später wieder an, oder hinterlassen Sie nach dem Piepton eine Nachricht.« Jyri bemerkte, daß das Band schon so lange gelaufen war, daß er nicht mehr einfach auf legen konnte, irgend etwas mußte er sagen.

»Hier ist Jyri. Entschuldige, daß ich um diese Zeit anrufe. Hoffentlich geht’s dir gut ... Also, gute Nacht.«

Ein paar Meter entfernt bewegte sich etwas. Es war ein kleiner Hase. Er schnupperte konzentriert am Boden. Er hatte die selbstverständliche Sicherheit eines Tieres, wuselte einfach herum, tat das, wozu er bestimmt war, suchte Futter, floh vor Feinden, ruhte sich aus. Jyri drückte auf die Anruftaste und hörte sich noch einmal Mamas muntere Stimme an. Jetzt legte er vor dem Piepton auf.

Anmerkungen zu diesem Kapitel finden Sie hier.

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Titel der finnischen Originalausgabe: Isän kanssa kahden

© 2013 Mooses Mentula and WSOY

First published in Finnish by Werner Söderström Ltd. (WSOY)

Die Übersetzung wurde gefördert von FILI - Finnish Literature Exchange

Deutsche Printausgabe: © Weidle Verlag 2014

Lektorat: Barbara Weidle

Korrektur: Kim Keller, Christin Schwarzer

eBook-Cover: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 06.10.2014

ISBN 978-3-944818-59-7

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Jouni riß an der kupfernen Türklinke der Bank. Die Tür ging leicht auf, aber sie fühlte sich schwer an. Niemand grüßte, als er eintrat. Obwohl keine Kunden da waren, sahen die Angestellten beschäftigt aus. Die hellen Lampen in dem großen, öden Foyer blendeten ihn. Instinktiv suchte Jouni Schutz, aber es gab keine einzige Grünpflanze, hinter der er sich hätte verstecken können.

Er drückte auf den Knopf »Kreditangelegenheiten«, und der Apparat spuckte einen Zettel mit der Nummer zweiundzwanzig aus. Jouni setzte sich auf eine grüne Bank in der hintersten Ecke des Foyers. Er zog aufs Geratewohl ein Heft aus dem Kunststoffkasten neben seinem Sitz. Es war eine zwei Jahre alte Reisezeitschrift. Auf dem Umschlag waren Nordlichter abgebildet, und eine Überschrift verkündete: »Lapplands Zauber reißt Sie mit.« Da schritt Lauri in seinem Motorschlittenoverall durch die Tür, der Dorftrottel, der sommers wie winters Motorschlitten fuhr und an einem Buch schrieb. Es war stets dasselbe Buch, seitdem er im Suff seinen Bruder mit der Axt erschlagen hatte. Als er jünger war, trug er Jeans, die mit einem Spinnennetzmuster verziert waren, und er ging in seinen eigenen Fußstapfen rückwärts, damit der Teufel ihn nicht kriegte. Der hatte ihn offenbar doch erwischt, denn inzwischen ging Lauri vorwärts. Er trug eine Spardose in Form eines Nilpferds im Arm.

»Ich wollte ein bißchen Nokia kaufen. Das Buch sagt, daß die am Steigen sind«, sagte Lauri und rasselte mit dem Nilpferd.

Jouni schmerzte der Kopf, und in seinem Bauch rumorte es. Ihm schoß ein Erinnerungsfetzen des gestrigen Abends in den Kopf. Warum hatte er nur auspacken müssen? Ausgerechnet gegenüber Lennes neuem Lehrer. Er erinnerte sich nur bruchstückhaft, hoffentlich verbarg sich nichts Grauenhaftes in dem Dunkel. Oh, verdammt. Ihm fiel ein, daß er dem Lehrer die Kerben im Tisch gezeigt hatte.

Auf der Anzeigetafel erschien die Nummer dreiundzwanzig, und ein Gong ertönte. Er hatte seinen Aufruf verpaßt. Er brüllte seine Wartenummer, um sich nicht übergehen zu lassen, aber Lauri stand auf und ging direkt zum Schalter.

»Korhonen, komm einfach hierher, du hattest ja einen Termin«, sagte Kirsti.

Sie streckte den Kopf durch die Glastür und winkte Jouni zu sich.

Auf Kirstis Tisch standen künstliche Rosen und ein Bild im Goldrahmen, auf dem ein Paar und drei Kinder in Lappentracht posierten. Kirsti und ihr Mann waren die gesamte Schulzeit mit Jouni in derselben Klasse gewesen.

In der Oberstufe hatte sie in der Bank vor Jouni gesessen, und in ihrem Nacken wuchs dünner Flaum. Schwedische Präpositionen und die chemische Formel für das Speisesalzmolekül rauschten vorbei, während er diesen Nacken anstarrte, der in der Mitte ein wohlgeformtes Grübchen hatte. Jouni beugte sich über seinen Tisch, bis er bäuchlings darauf lag, und pustete vorsichtig, dann etwas stärker, bis der schmale Nacken eine Gänsehaut bekam und zitterte. Sie drehte sich nicht um.

»Na, Korhonen, wie habt ihr den Sommer verbracht?« begann Kirsti.

Jouni schämte sich. Sicher würde sie zu Hause am Kaffeetisch erzählen: »Der Korhonen hat schon wieder um einen Kredit gebettelt.« Denen ging es ja gut, sie hatten die größte Rentierherde in der ganzen Gemeinde und so viel Grundbesitz, daß sie nie den Fuß auf Staatsland zu setzen brauchten.

»Ach, wie üblich, mit Mücken-Totschlagen.«

»Ja, davon gab es wirklich genug. Immerhin hat die Mückenplage die Herden vernünftig zusammengehalten«, sagte Kirsti.

Jouni hatte den Antrag online gestellt und gehofft, daß er elektronisch durchkäme. »Also, wegen dem Kredit«, begann Kirsti.

Jouni preßte seine Schirmmütze in den Händen zusammen. Er versuchte sich einzureden, daß sie locker über dieses und jenes plauderten.

»Du hast deinen Kreditbedarf nicht begründet«, sagte Kirsti.

Sie nahm eine Plastikhülle mit Papieren aus einer Schublade. Dann leckte sie ihren rechten Zeigefinger an und zog die Papiere aus der Hülle. Zugleich war in ihrer linken Hand ein Tintenstift aufgetaucht. Sie schien etwas mit den Papieren zu machen.

»Du weißt doch, wie der Gewinn beim Rentierfleisch im letzten Winter aussah«, sagte Jouni.

Diese Antwort geriet ihm zu einem heftigen Auffahren. Die Forderung, den Bedarf zu begründen, war dasselbe, als hätte sie gefragt: Auf welcher Seite trägst du normalerweise deinen Schwanz? Na ja, nicht ganz dasselbe, denn die letztere Frage wäre sehr leicht zu beantworten.

»Ich weiß ja, daß du das Geld ganz einfach zum Leben brauchst«, sagte sie. Hatte sie ihn nicht allmählich genug gedemütigt, mußte er auch darauf noch antworten? Sie dachte bestimmt: »Wie gut, daß ich damals nach der Party auf Villes Motorschlitten gestiegen bin, obwohl Jouni ebenfalls angeboten hatte, mich zu fahren.«

»Ihr habt doch voriges Jahr die Wildschweinfarm eingerichtet. Frißt die das Geld auf?« fuhr Kirsti fort.

Machte ihr das Spaß? Jouni wurde verhört, wie damals zu Schulzeiten, als er heimlich drei Delphinbilder aus dem Aufkleberheft der Lehrerin genommen hatte. Doch diesmal war es nicht Nazi-Natunen, die ihn ausfragte, sondern eine Klassenkameradin.

»Die hat natürlich noch nicht viel Gewinn abwerfen können, aber das ist nur eine Frage der Zeit«, sagte Jouni.

Die Schirmmütze hatte er in seinen Fäusten völlig zerquetscht. Er begann sie in Form zu ziehen. Bald würde er sie wieder aufsetzen und gehen.

»Ja, zum Leben brauche ich es, und aus dem Wald kann ich gerade keinen Prot holen, weil im Moment weder Durchforstung noch Langholz dran sind. Also, kriege ich den Kredit oder nicht?«

Kirsti schob ein Formular umgekehrt vor Jouni hin. Er drehte den Bogen zu sich und stellte fest, daß es ein Kreditbescheid war. Er atmete innerlich auf, sah dann aber, daß da mit großen Buchstaben geschrieben stand: ABGELEHNT.

Er setzte die verknitterte Schirmmütze auf und drehte sich abrupt zur Tür. Das war verdammt noch mal der Dank dafür, daß er immer pünktlich seine Abzahlungen geleistet hatte. Schon als kleiner Junge, als er einmal mit der Messerklinge eine Finnmark aus der Spardose gepult hatte, hatte er so ein schlechtes Gewissen bekommen, daß er sie zurückstecken mußte.

»Hör mal, eins noch. Im Januar findet für Mitglieder der Pohjola-Genossenschaftsbank eine Reise nach Teneriffa statt, falls du daran Interesse hast?«

Im R-Kiosk nahm Jouni eine Fußballtotozeitung aus dem Ständer und zapfte sich Kaffee aus einem Thermos-Pumpkanister. Bei jedem Hebeldruck kam nur ein kleines Rinnsal heraus, so daß er im Akkord pumpen mußte, um den kleinen Plastikbecher zu füllen. Der Verkäuferin sagte er, er werde nachher alles auf einmal bezahlen. Er setzte sich an den Lotto-Toto-Tisch und begann die Zeitung zu studieren. Darin wurde er belehrt, daß die sambischen Spieler von der RoPS heute hoch gegen den Fußballverein Vaasa gewinnen würden. Daneben war ein Sambier mit Rastafrisur abgebildet. Vorne auf seinem blauweißen Trikot stand: »Mit der Kraft des Rentiers«. Jouni war ziemlich sicher, daß Godfrey Chibanga noch nie Rentier gegessen hatte.

Zu Anfang des Sommers, als sein Quad zur Inspektion nach Rovaniemi mußte, hatte Jouni sich mit Lenne ein Spiel der RoPS angesehen. Nach einer kräftigen Rempelei brach zwischen zwei Spielern ein Wortgefecht aus. Da sprang ein alter Mann auf der Tribüne auf und rief: »Hey, unser Neger, laß dich da nicht drauf ein!« Der besorgte Ausruf des Alten wurde für Jouni und Lenne zu einer eigenen Redensart, die sie bei passender Gelegenheit wiederholten.

Jouni schlürfte den Kaffee, er war lauwarm und dünn. Daß Kirsti sich unterstanden hatte, nach den Wildschweinen zu fragen! In gutem Finnisch hieß das, daß er lieber keine Frau aus dem Süden hätte heiraten sollen. Bloßes Gras reichte den Schweinen nicht aus, statt dessen verschlangen sie massenhaft Getreide und Kartoffeln. Das Futter mußte gekauft werden, und das brachte Verluste, aber die Wildschweine waren für Marianne da. Sie war begeistert von den Steckdosenschnauzen, las Dutzende von Büchern und zeigte Jouni Bilder im Internet, wo kleine Ferkel mit der Nuckelflasche gefüttert wurden. Nach Jounis Kalkulation lohnte es sich, etwas dafür zu zahlen, daß es mit der Ehefrau gut lief. Die Streitereien hörten auch eine Zeitlang auf, und es ging ihm gut. Die Wirkung war allerdings nur vorübergehend, doch er wollte die Schweine nicht gleich wieder aufgeben, obwohl ihre Aufzucht sicher teurer kam, als wenn man das fertige Fleisch per Post aus dem Ausland bestellte.

Jouni kreuzte auf dem Tippzettel einen hohen Sieg für die Rovaniemier Mannschaft an, kippte den lauwarmen Kaffee herunter und ging an die Kasse. Vor ihm wollten zwei alte Frauen Lose kaufen. Die eine erklärte, man müsse ein Los aus der rechten unteren Ecke nehmen, wo sich nämlich wegen der Schwerkraft die Gewinne sammeln würden. Die andere dagegen war der Ansicht, Geld schwimme oben, weshalb die Gewinne in der obersten Reihe zu finden seien. Die Verkäuferin bestärkte die beiden Mütterchen darin, sorgfältig zu überlegen, damit ihnen der Gewinn nicht entgehe, und wandte sich zu Jouni.

»Sie haben keinen Einsatz angekreuzt«, sagte sie und gab Jouni den Coupon zurück.

Der machte herausfordernd eine Markierung bei 500 Euro und gab den Schein erneut ab. Die Verkäuferin sah ihn fragend an, Jouni nickte. Es war ja anscheinend egal, wie man seine Geldangelegenheiten verwaltete. Normalerweise setzte er zwei Euro.

Er wollte zum Auto gehen, sah aber von der Straße aus Lenne und Marianne im Café Pipari am Fenster sitzen. Lenne wedelte mit der Hand, erzählte etwas, und Marianne führte ein hohes Glas an den Mund. Ihre Gesichter waren ernst. Jouni setzte sich auf eine Bank und betrachtete seinen Sohn und seine Frau. Dort war das Leben – er saß hier und schaute durch die Glasscheibe. Lenne wollte immer alles mit ihm zusammen machen und war ein kleiner Rentierzüchter, aber Marianne ... Wann hatte sie angefangen, sich zu entfernen? War Jouni etwa kein guter Ehemann gewesen? Er versuchte so viel zu arbeiten, wie er nur konnte, damit Marianne es gut hatte. Sie wußte gar nicht, wieviel es kostete, Wildschweine zu halten, aber das brauchte sie auch nicht zu wissen. Gestern hatte sie geschrien, Jouni habe sie unter falschen Versprechungen hergelockt.

»In meinem Buch steht alles. Dieses Buch ist das Leben«, sagte Lauri.

Jouni hatte nicht bemerkt, daß Lauri sich zu ihm auf die Bank gesetzt hatte. Da saßen sie nebeneinander, die Arme auf die gleiche Weise vor der Brust gekreuzt, und starrten in das Fenster. Lauri hielt ein schwarz eingebundenes Buch in den Händen. War da Jounis Zukunft drin?

»Nein, Lauri, du hast unrecht. Das Leben ist nicht in Büchern«, widersprach Jouni.

Er war nicht gewillt, auf der anderen Seite der Glasscheibe oder zwischen den Buchdeckeln zu bleiben. Er stand auf und ging zur Eingangstür des Cafés.

»In meinem Buch steht auch drin, was dir als nächstes passieren wird!« rief Lauri ihm nach.

Anmerkungen zu diesem Kapitel finden Sie hier.

- 4 -

Jyri saß auf dem Fußboden seiner Reihenhauswohnung zwischen Bananenkartons, Regalteilen und kleidergefüllten Müllsäcken und trank Mineralwasser. Vor ein paar Tagen war er mit einem Anhänger von Tuusula nach Sodankylä gefahren. Der Kilometerzähler des Renaults hatte sich gut tausend Kilometer weitergedreht, ein ganzer Tag war auf der Straße vergangen.

In dem Karton, der neben ihm stand, lag zuoberst ein abgegriffenes Kinderbuch. Auf dem Umschlag waren Rentiere in einer Fjällandschaft abgebildet. Jyri nahm das Buch in die Hand und suchte die Seite mit dem Bild des Lappenjungen, der Fellkleidung trug und so eine Mütze auf dem Kopf hatte wie der Joker im Kartenspiel. Jyri glaubte seit jeher, daß Lappland seine richtige Heimat war. In Mamas Armen war es schön, aber Mama hatte ihn aus seiner Heimat weggeholt. Als Kind fragte Jyri nach seinem Vater, merkte dann aber, daß es Mama peinlich war. Mehr, als daß sein Vater aus Lappland kam, sagte sie ihm nicht. Jyri wäre schon damit zufrieden gewesen, beispielsweise zu wissen, daß er eine große Nase hatte oder einen Kinnbart. Er brauchte Anhaltspunkte, um sich ein Bild von seinem Vater machen zu können. Der Vater von Pekka im Nachbarhaus war der stärkste, und Jarkkos Vater, der eine Weinhandlung führte, der reichste. Jyri fand, sein Vater brauchte keines von beidem zu sein. Seinen Freunden erzählte er trotzdem, sein Vater besitze alle Rentiere in Lappland und könne ein Auto in die Luft stemmen, als wäre es eine Mülltüte.

Jyri blätterte um, hob das Buch ans Gesicht und roch daran. Er spürte den Zitronenduft von Hautcreme und erinnerte sich: Der kleine Jyri hatte durchscheinende Wasserbläschen am ganzen Körper, er saß in der Schlafanzughose am Küchentisch, und Mama strich ihm Salbe auf den Rücken. Ihre Berührung ließ den Juckreiz aufhören. Mama zeichnete ihm Bilder auf den Rücken, und er mußte sie erraten. Die Sonne erriet er sofort, aber die Blume und die Katze erkannte er nicht, statt dessen schlug er einen Roboter und einen Elefanten vor.

Auf dem Herd blubberte ein brauner Wasserkessel mit schwarzen Blumen darauf. Darin war Wasser für Kakao. Jyri wollte abends immer Kakao haben, aber Mama gab ihm nur samstags welchen und wenn er krank war. Als er Windpocken hatte, durfte er so viele Tassen trinken, wie er wollte. Rosinen bekam er aber nicht, denn einmal hatte er sich übergeben, als er zum Kakao Rosinen gegessen hatte.

Mama hatte lange schwarze Haare. Sie sah aus wie eine Indianerin, wie Pocahontas. Jyri stellte sich vor, sie trüge ein Stirnband mit einer weiß-schwarzen Adlerfeder und Mokassins. Er selbst würde mit einem kleinen Bogen das Jagen üben, auf Eichhörnchen zielen. Aber wie konnte Mama eine Indianerprinzessin sein ohne Prinz?

»Mama, wo ist mein Papa?«

Mamas Hand hielt mitten im Eincremen inne. Sie drückte mit dem Finger genau auf ein Bläschen und bewegte sich dann schneller und unsanfter weiter als zuvor. Bevor sie antwortete, nahm sie noch mehr Salbe aus der Tube.

»Wie oft muß ich das sagen? Ich weiß es nicht. Nicht alle Kinder haben einen Vater, aber du kannst vielleicht einmal einen neuen Vater bekommen.«

Mama fuhr sich mit der Hand durchs Haar und bemerkte, daß noch Salbe daran war. Sie schüttelte den Kopf so, daß die Strähnen flogen.

»Aber die Babysamen sind doch aus Papas Pimmel gekommen. Irgendwo muß er doch sein.«

In Mamas Augen stiegen Tränen. Jyri überlegte, ob es falsch gewesen war zu fragen, aber dann flüsterte Mama:

»Dein Vater war in Lappland.«

»Bin ich so wie der Junge in dem Buch?« fragte Jyri.

»In welchem Buch?«

»In dem mit den Rentieren drauf.«

Mama blinzelte und schaute weg. Jetzt sah sie nicht mehr wie eine Indianerprinzessin aus.

»Ja, ja, das bist du. Genau so einer bist du, so ein Lapplandjunge.«

Jyri steckte sich Mamas rotlackierten Fingernagel in den Mund und lutschte daran. Die glatte Oberfläche fühlte sich gut an. Jyri schloß die Augen und strich mit der Zunge über den Nagel, nahm noch einen zweiten Finger in den Mund. An dem Nagel war ein kleiner Riß, die Kante war nicht glatt, piekte unangenehm in die Zunge.

»Kommt Papa irgendwann mal her?«

Mama trocknete sich die Fingernägel am Kleid ab. Dabei öffnete sie aus Versehen einen Knopf und schloß ihn sofort wieder. Jyris Rücken fing wieder an zu jucken.

Mama nahm Jyri auf den Schoß. Sie machte sich nichts daraus, daß sein von der Salbe fettiger Rücken an den dünnen Stoff ihres Kleides kam. Sie drückte ihn fest an sich und sagte: »Deine Mama sorgt so gut für ihren kleinen Lapplandjungen, daß sie ihn nicht weglassen wird, nicht einmal wenn er groß ist. Sie steckt ihn in eine Riesenflasche und kitzelt ihn durch den Flaschenhals mit einem Stöckchen.«

»Kommt auch Papa manchmal kitzeln?« fragte Jyri.

Jyri umfaßte die Federkernmatratze mit gestreckten Armen und versuchte mit aller Kraft, sie anzuheben. Er bekam sie ein Stückchen hoch, aber dann rutschte sie ihm aus den Händen und fiel mit einem dumpfen Knall zurück auf die Plane, die über den Anhänger gebreitet war. Voller Hoffnung hatte Jyri damals für seine Studentenbude eine Doppelmatratze angeschafft, aber mit der Zeit mußte er feststellen, daß eine schmalere ausgereicht hätte.

»Ich helfe dir«, sagte ein Mann, der aus dem Nachbarhaus getreten war.

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern kletterte auf den Anhänger und hob die Matratze an einem Ende an. Er trug einen grauen Filzhut, an dem ein golden schimmernder Löffelblinker steckte.

»Warte, ich muß kurz absetzen, meine Hose rutscht«, sagte er.

Er zog seine grüne Wildmarkhose hoch und legte sich die Hosenträger, die ihm von den Hüften herunterhingen, über die Schultern. Die Männer hoben die Matratze und danach auch die anderen Dinge vom Anhänger herunter.

»Ich habe nichts anzubieten außer Mineralwasser«, sagte Jyri und hielt die Flasche hoch.

Der Mann schüttelte den Kopf und erwiderte, laut der Fernsehsendung »Der Kunde ist König« sei das finnische Leitungswasser gesünder als abgefülltes Mineralwasser. Er bückte sich unter den Wasserhahn in der Küche und trank.

»Also, dafür war ja noch gar keine Zeit: Ich bin Jyri Hartikainen.«

Der Handschlag der beiden Männer war kräftig, aber kurz.

»Mich kennen alle als Fisch-Erkki. Das brauche ich wohl kaum zu erklären«, sagte der Mann und zeigte auf den Blinker an seinem Hut. »Ich habe da unten am Ufer eine Räuchertonne am Dampfen. Muß jetzt gehen, um darauf aufzupassen. Komm nachher runter zum Probieren!«

Jyri setzte sich auf die Matratze. In der Mitte war der hellblaue Stoff verblaßt. Er mußte an einen alten amerikanischen Bluessänger denken, der in einer Kneipe in Jyväskylä aufgetreten war. Der hatte gesagt, er habe kein ständiges Zuhause. Der Mann mit grauem Haar und grauem Bart war ein halbes Jahrhundert lang mit seiner Gitarre um die Welt gereist. Für Jyri war der Gedanke, die Heimat sei dort, wo man seinen Hut hinlegt, völliger Quatsch. Man hatte seine Heimat an einer bestimmten Stelle und konnte sie nicht einfach verlegen.

Jyri nahm seine silberne Halskette ab und betrachtete den Anhänger daran. Es war ein ovales Plättchen mit mehreren Kerben in den Kanten – das Ohr eines markierten Rentiers. Jyri hatte das Schmuckstück von seiner Mutter zum zwölften Geburtstag bekommen. Es hatte einmal seinem Vater gehört. Die Ohrmarkierung war ein Hinweis darauf, daß der Vater Rentierzüchter war oder zumindest gewesen war. Jyri hatte auf Lehramt studiert. Im Wald war er nur jeden Herbst einmal gewesen, um mit Mama Pilze zu suchen. Aus ihm würde kein Rentierzüchter mehr werden. Das wollte er auch gar nicht, aber er wollte doch wissen, wer er war und wie sein Leben hätte sein können. Jyri wollte seinen Hut dauerhaft an einen Haken hängen.

Jyri öffnete die Hintertür und trat barfuß auf den Hof. Fisch-Erkki hockte am Fluß neben einem Faß, aus dem Rauch hervorquoll, und winkte, als er Jyri bemerkte.

»Ansehnlicher Fang«, meinte Jyri.

Fisch-Erkki richtete sich von seiner Räuchertonne auf. Er zog den Hut und sagte:

»Schon, aber Hechte bräuchten keine zu kommen. Die reißen das Netz kaputt.«

Er zeigte auf vier Hechte, die er aufs Gras geworfen hatte. Der Schwanz des einen zuckte noch.

»Was sollte denn lieber kommen?«

Fisch-Erkki öffnete den Faßdeckel mit einem Holzstock und kippte die goldgelb geräucherten Fische in eine mit Butterbrotpapier ausgeschlagene alte Brotstiege.

»Probier mal diese Renke. Warm ist sie am besten. Du bist wohl kein Fischer?«

Fisch-Erkki begann neue, bereits gesalzene Fische auf den Rost seines Räucherofens zu legen. Jyri schob sich mit den Fingern etwas weichen und fettigen Fisch in den Mund. Es wurmte ihn, daß er seine Unwissenheit verraten hatte.

»Nein, nur Fischesser.«

»Darf man fragen, was dich hierhergeführt hat?« fragte Fisch-Erkki.

Jyri antwortete, er sei als Lehrer eingestellt worden.

»Aha, Lehrer. Ich bin Arzt. Ich bin mal für ein Jahr gekommen, aber inzwischen sind es schon fast zehn.«

»Im Radio habe ich gehört, daß hier großer Mangel an Ärzten herrscht«, sagte Jyri.

»O ja. Die Stelle für den anderen Arzt ist schon wieder seit Monaten unbesetzt. Dabei würde der ein Häuschen, einen Motorschlitten und so viel Gehalt bekommen, wie er sich zu verlangen traut. Auch ich könnte natürlich auf hören, wenn keine Schmiergelder kommen, aber weiß der Teufel, mich werden sie hier so schnell nicht los.«

Er nahm sein Messer und begann die noch nicht ausgenommenen Renken aufzuschlitzen, die in einem Eimer lagen. Die Arbeit ging schnell: Eine Hand schnitt den Fischbauch auf, die andere warf die Innereien und die Kiemen ins Wasser. Die Seeschwalben stürzten sich darauf.

»Tja, ich muß mich wohl mal in die Horizontale begeben, morgen geht die Arbeit los«, sagte Jyri.

Fisch-Erkki nahm weiter Fische aus.

»Na, dann sorge für Zucht und Ordnung bei den künftigen Steuerzahlern!« grinste er.

»Das war das Zeitzeichen für ein Uhr«, verkündete das Radio. Jyri drückte die Off-Taste. Die tiefe Stimme des Moderators war noch einen Augenblick zu hören, bevor sie verstummte. Jyri nahm sein Handy von der Arbeitsfläche in der Küche und überprüfte, daß der Weckruf richtig eingestellt war. Auf dem Display stand, der Wecker werde in fünf Stunden und achtundfünfzig Minuten klingeln.

Jyri fühlte sich nicht müde. Er stellte sich ans Fenster: Die untergehende Sonne spiegelte sich im langsam strömenden Jeesiöjoki wie auf einem kitschigen Gemälde. Ein hölzernes Ruderboot, in dem zwei Männer mit Angelruten saßen, bewegte sich gegen den Strom, mit jedem Ruderzug ein Stück. Jyri beschlich ein Gefühl der Unwirklichkeit. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß er nun tatsächlich in Sodankylä war. Würde auch er eines Tages einen Beinamen bekommen? Das würde bedeuten, daß er in die Gemeinschaft aufgenommen wäre.

- 5 -

In Papas und Mamas Schlafzimmer war in der Nacht wieder Streit zu hören gewesen. Sie hatten die Tür zugezogen, obwohl das nichts nützte; die Worte waren nicht zu verstehen, aber der Tonfall ließ keinen Zweifel. Wenn Lenne abends ins Bett ging, wurden Mama und Papa ganz andere Menschen: Mama fauchte mit angespannter Stimme, und Papa brummelte. Oft hatte Lenne einen Alptraum, in dem er nachts aus einem bösen Traum aufwachte und schnell zu Mama und Papa ins Zimmer lief; sie schliefen mit abgewandten Gesichtern, aber wenn sie sich zu ihm umdrehten, waren ihre Gesichter völlig fremd.

Lenne hatte sich lange im Bett herumgewälzt, den Kopf unter das Kopfkissen gesteckt und war schließlich eingeschlafen, als er sich darauf konzentriert hatte, an nichts zu denken. Wenn das Gehirn abgeschaltet war, sah Lenne im Dunkeln einen roten Ball. Der setzte sich in Bewegung, hüpfte von einer Seite zur anderen und wuchs mit jedem Aufprall, so daß er schließlich den ganzen Kopf ausfüllte, und dann kam der Schlaf.

In der Nacht schreckte Lenne auf, als Mama seinen Kopf hochhob und das Kissen richtig hinlegte. Sie schluchzte und strich mit dem Handrücken über seine Wange, sagte: »Kleiner Rentierjunge.« Sie beugte sich so nah zu ihm, daß ihr Atem Lennes Augenlid zucken ließ. Lenne öffnete die Augen und sah Mama aus der Tür gehen. Hörte, wie sie eine Decke und ein Kissen auf das Wohnzimmersofa schleppte.

Es schien Lenne, als weckte Papa ihn mitten im tiefsten Schlaf. Papa machte Kaffee und schnitt Roggenbrot. Die Kaffeemaschine stieß ab und zu komische Blubberlaute aus, als wollte sie etwas sagen. Lenne zog die Jalousien am Küchenfenster halb hoch und sah hinaus. In der Luft schwebte nach dem Regen Dunst, aber der Himmel war klar.

»Nettes Wetter, um eine Grundleine auszulegen. Es geht auch kein Wind mehr, die Fische rühren sich«, sagte Papa.

Er hatte seine Wildmarkklamotten angezogen. Am Gürtel hing das Messer, und sein Hemd roch nach Baumharz. Auf dem Kopf trug er eine fleckige Schirmmütze mit der Aufschrift LYNX. Lenne hatte auch so eine. Die hatten sie bei Maschinen-Koivuharju bekommen, als sie letztes Frühjahr einen neuen Motorschlitten kauften.

»Mach dir ein paar Brote, und nimm die Kuksa mit, ich hab Preiselbeersaft in der Flasche«, sagte Papa.

Im alten Küchenradio lief der Sender Lapin Radio, gerade begannen die Frühnachrichten. Der Name des Nachrichtensprechers bestand nur aus R. »Perrrttu Rrrrruokangas«, sagte er. Es klang so kernig, daß die Nachrichten sicherlich wahr waren.

»Kommt Mama nicht zum Frühstück?« fragte Lenne.

Papas Kaffeetasse, die er gerade zum Mund führen wollte, geriet auf die falsche Bahn. Er mußte die Bewegung stoppen und korrigieren. Dann nahm er einen Schluck und behielt den Kaffee lange im Mund, der Adamsapfel hüpfte, und es erklang ein Glucksen.

»Stör mich jetzt nicht, wenn die Nachrichten kommen«, sagte Papa.

Mama hatte schon in vielen Nächten geschrien, daß sie es nicht aushielt, mitten im Wald zu leben. Wie meinte sie das? Das hier war zu Hause, der beste Platz auf der Welt. Das hatte Lenne in der Schule auf eine Karte zum Muttertag geschrieben und eine selbstgebastelte Seidenpapierblume dazugeklebt. Dafür hatte er etwas zuviel Klebstoff verwendet. Vor ein paar Wochen hatte Mama Papa zum ersten Mal gedroht auszuziehen. Damals mußte Lenne plötzlich dringend pinkeln. Nicht so wie sonst, sondern so, daß er den Pimmel zusammendrücken und sich krümmen mußte. Aufs Klo konnte er nicht gehen, denn dann hätten sie gemerkt, daß er zugehört hatte. Der Druck war stärker und stärker geworden, der Bauch tat weh. Lenne hatte das Lüftungsfenster geöffnet und sich aufs Bett gestellt. Ein bißchen war an den Fensterrahmen gespritzt, das hatte er mit seiner Schlafanzughose weggewischt. Auf der Hose waren blaue Raumschiffe. Lenne wollte nicht zu fremden Planeten, sondern zu Mama und Papa wie früher einmal.

»Hallo, Erde, hört ihr mich? Hol du den Zapfen und die Leine aus der Garage, dann nehme ich die Ködersche mit«, sagte Papa.

Im Auto betrachtete Lenne Papas Hände auf dem Lenkrad. Die Haut war voller kleiner Punkte, wie Löcher, und auf dem Handrücken wuchsen gekräuselte dunkle Haare. Der linke Daumen klopfte den Takt des Schlagers im Radio auf das Steuer. »Ich bin die Kräfte leid, die mein Leben lenken«, sang eine Frauenstimme. Die Hände lenkten das Auto sicher, hielten es gut auf der Straße. Lenne hatte nie Angst, wenn Papa fuhr, nicht einmal damals im Winter, als ein entgegenkommender Lkw Schnee aufwirbelte und viele Sekunden lang die Sicht vernebelte. Papa wußte, was man tun mußte. Einmal war das Auto aus der Spur geraten und hatte sich quergestellt, aber Papa hatte nur »Verdammte Scheiße!« gesagt und den Wagen wieder geradegestellt. Dann hatte er gelacht und gesagt: »Wir Finnen sind eben Rallyefahrer.« Lenne wußte, daß Papa auch die Sache mit Mama in die richtige Bahn steuern würde. Ganz sicher konnte er das.

Lenne und Papa trugen den Kasten mit der Grundleine und die Köderstücke ins Boot. Papa bugsierte das Boot mit einem Fußtritt ins Wasser. Seitlich stand in dicken schwarzen Pinselstrichen »Marianne« darauf. Die Farbe war ein wenig verblichen. Papa füllte Sprit ein, stemmte ein Knie auf die Achterducht und riß an der Startleine. Es surrte, aber der Motor erstarb wieder. Papa zog noch zweimal mit demselben Ergebnis, obwohl er jetzt beide Hände benutzte. Vor dem vierten Versuch machte er kurz Pause, federte dann in den Knien und riß an der Leine. Als der Motor anfing zu tuckern, spielte ein kleines Lächeln in seinen Mundwinkeln. Papa drehte die Schirmmütze nach hinten und fuhr los, auf die tiefe Stelle zu, wo die großen Fische sein würden. Die harten Wellen des Sees knallten gegen den Boden des Bootes. Das Wackeln störte Lenne nicht, während er routiniert Stückchen von Weißfisch und Plötze an den Haken befestigte. Die Plötzen hatten rote Augen, und Papa sagte, die hätten wohl die Nacht durchgemacht. Die Leine war mit achtundvierzig Haken versehen, so daß es genug zu tun gab.

Papa schaltete den Motor ab, als sie am Rand der tiefen Stelle waren. Er klappte den Motor hoch, schwenkte die Ruder über den Bootsrand und begann zu rudern. Ohne das Motorgeknatter war es irgendwie zu still, als wäre etwas steckengeblieben. Die Ruder glitten in gleichmäßigem Takt durchs Wasser. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund.

»Papa, warum haben Fische keine Augenlider?«

Papa lächelte, und die Zigarette in seinem Mund richtete sich dabei nach oben. Das sah komisch aus.

»Bei den Fischen brauchen die Augen nicht extra befeuchtet zu werden.«

»Dann könnte doch ein Mensch unendlich lange im Wasser bleiben, ohne zu blinzeln, oder? Also, mit Sauerstoffgerät?«

»Du bist ja ein richtiger Wildmarkphilosoph!« sagte Papa.

Wenn er sprach, bewegte er die Zigarette mit den Lippen in einen Mundwinkel. Sein Auge wurde gleichzeitig zu einem schmalen Strich.

»Und weißt du was? Fische brauchen nie zu duschen.«

Papa wollte lachen, aber er mußte den Mund geschlossen halten. In den Händen hielt er die Ruder, im Mund die Zigarette. Etwas Asche fiel herab.

»So, jetzt Schluß mit dem Gerede, und die Leine raus!« Lenne ließ einen Saftkanister, der auf einem Stock steckte, in den See fallen und begann die Leine Stück für Stück hinterherzuwerfen. Papa und er hatten das schon so oft gemacht, daß sie leicht den richtigen Rhythmus fanden. Lenne wiederholte in Gedanken die Anzahl der in die Wellen versenkten Vorfächer. Trriiii, trriiii, trriiii, trriii! riefen die Seeschwalben ums Boot herum. Sie tummelten sich ganz in der Nähe, wenn die Grundleine ausgelegt oder eingeholt wurde. Die Köderstücke lockten sie an. Lenne nahm ein Stückchen Fisch, das in einem Eimer liegengeblieben war, und warf es, so weit er konnte. Mehrere Seeschwalben stürzten hinter dem Leckerbissen her, die schnellste schnappte ihn sich schon in der Luft. Gleichzeitig flog eine Seeschwalbe einen Angriff auf den Köder am Haken, stieg aber wieder hoch, bevor sie das Wasser erreicht hatte. Offenbar war die sandgefüllte Jaffaflasche, die zur Beschwerung der Leine diente, von ihrem Vorfach abgegangen, denn die Leine mit den Ködern stieg an die Oberfläche.