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Kapitel I – Ein wertvolles Feuerzeug

Kapitel II – Sergeant Millers Bericht

Kapitel III – Butch wird Elektriker

Kapitel IV – Hunde und ein Ehrenmann

Kapitel V – Falsche Initialen

Kapitel VI – Glücksspiele

Kapitel VII – Stützen der Gesellschaft

Kapitel VIII – Ungebetene Besucher

Kapitel IX – Hafenkneipe und Sonnenbrille

Kapitel X – Carol hat’s voll drauf

Kapitel XI – Verpflichtungen

Kapitel XII – Carol als Reporterin

Kapitel XIII – Der Fall wird immer verzwickter

Kapitel XIV – Exhumierung um Mitternacht

Kapitel XV – Karten auf den Tisch

 

DIE SCHWARZE FLEDERMAUS

Band 4

 

 

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Angelika Schröder

 

Ein harmloser Fall

 

 

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Copyright für ,Die Fledermaus‘ by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

© 2014 by BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Gottfried Marbler

Covergrafik: Rudolf Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier, München

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-004-8

Kapitel I – Ein wertvolles Feuerzeug

 

Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, als der blinde District Attorney Tony Quinn in seinem Büro saß und einen komplizierten Schriftsatz in das Mikrofon des Aufnahmegerätes diktierte. Er hatte Anweisung gegeben, ihn nicht zu stören, da der schwierige Fall seine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchte. Trotzdem klopfte seine Sekretärin aus dem Vorzimmer an die Tür, und noch bevor sie wegen der Störung um Entschuldigung bitten konnte, drängte ein Besucher sie beiseite und betrat forschen Schrittes den Raum.

„Verschwinden Sie, ich werde schon alles selbst erklären“, sagte er und schob die junge Frau hinaus. „Lieutenant McGrath schickt mich zu Ihnen. Er meint, Sie wären der richtige Mann für den Fall, und da ich es eilig habe, bin ich sofort gekommen. Aber ...“ Er hielt inne und musterte Quinn. Besonders lange verharrte sein Blick auf den von Narben umgebenen toten Augen. „Wo bin ich denn hier gelandet? Ich glaube, ich habe das falsche Stockwerk erwischt. Sie können unmöglich der Mann sein, den der Lieutenant meinte. Entschuldigen Sie die Störung.“ Er drehte sich um und wollte den Raum wieder verlassen.

Quinn kannte diese Reaktion seit Langem und es machte ihm nichts mehr aus. „Wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, suchen Sie sich einen anderen District Attorney. Doch wenn Lieutenant McGrath Sie geschickt hat, sind Sie hier richtig. Überlegen Sie es sich.“

„Hm, ja dann ...“ Noch einmal schaute der Besucher sich um, betrachtete das Diktafon, die Schreibmaschine für Blinde, die vielen Akten, die sich auf einer Seite des Schreibtisches stapelten, dann räusperte er sich und nahm umständlich Platz. Es handelte sich um einen jungen Mann, der sympathisch wirkte. Der groß karierte Anzug stammte sicher nicht von der Stange, aber er entsprach auch nicht der neuesten Mode. Die Taschen schienen ausgebeult, und irgendwie machte der Anzug einen etwas überbenutzten Eindruck. Kurze blonde Haare umrahmten ein rundes, weiches Gesicht. Wie ein Gangster sah er nicht aus, doch als Opfer eines Verbrechens schien er zu unsicher und zu nervös. Der Staatsanwalt schaltete mit unhörbarem Seufzer das Aufnahmegerät aus und legte das Mikrofon beiseite.

„Wie heißen Sie?“, fragte er seinen Besucher. „Und worum geht es?“

Noch einmal zögerte dieser, doch dann legte er los: „Mein Name ist Tom Austen und ich war vorhin im Museum. Die Ausstellung mit den alten Malern aus Europa wurde eröffnet. Nicht dass Sie glauben, ich würde mich für so etwas interessieren. Aber meine Mutter hat verlangt, dass ich die Tochter ihrer Freundin dorthin begleite. Meine Mutter ist sehr engagiert in Sachen Kultur und erhält deshalb regelmäßig Eintrittskarten für alle möglichen Veranstaltungen. Können Sie sich vorstellen, dass ein junges, hübsches Mädchen sich tatsächlich für alte Schinken aus Europa interessiert? Sie war extra aus Boston gekommen, um sich das Zeug anzusehen. Sie haben sicher davon in der Zeitung gelesen ... äh, ich meine ... tut mir leid, Sir.“ Er schwieg verlegen.

„Was ist passiert?“, fragte Quinn ruhig, ohne auf den Fauxpas einzugehen. Auch an dieserart Versprecher hatte er sich längst gewöhnt.

„Während wir also so von einem Bild zum anderen gehen, sehe ich da einen Kerl, der mit dem Feuerzeug spielt, das mein Onkel vor einiger Zeit verloren hat. Angeblich verloren. Jetzt glaube ich, es wurde ihm geklaut. Als der Typ im Museum in die Eingangshalle ging, um sich eine Zigarette anzuzünden, bin ich ihm gefolgt und habe mir Feuer geben lassen. Ich wollte das Ding aus der Nähe sehen. Jetzt bin ich ganz sicher, dass es das Feuerzeug meines Onkels ist.“

„Ein Feuerzeug? Davon gibt es doch viele. Weshalb glauben Sie, dass es sich ausgerechnet um das Ihres Onkels handelt?“

„Weil es eine Sonderanfertigung zu seinem fünfzigsten Geburtstag war. Seine Freunde hatten zusammengelegt. Was soll man einem Menschen, der fünfzig wird und alles besitzt, was man braucht oder auch nicht braucht, schenken? Mein Onkel ist Donald Masterson. Ihm gehören die Drugstores, die mit den Buchstaben auf blauem Band. Sie wissen schon ... Tut mir leid, ich meine ... woher sollten Sie wissen ...?“ Er brach ab.

„Ich war nicht immer blind. Ich kenne die Kette, von der Sie sprechen. Reden Sie weiter.“

„Ja, also, wo war ich? Was soll man einem reichen Mann schenken? Seine Freunde haben also ein Feuerzeug anfertigen lassen, aus Gold und mit winzigen Diamanten besetzt. Die Diamanten bilden die Buchstaben D und M. Das ist absolut eindeutig, ich meine, so ein Feuerzeug gibt es bestimmt kein zweites Mal.“

„Da haben Sie sicher recht. Und weiter?“

„Na ja, ich hatte den Mann also um Feuer gebeten, weil ich mir das Ding von Nahem anschauen wollte, und als ich sicher war, habe ich ihn gefragt, woher er das tolle Stück hat. Da ist er frech geworden, beschuldigte mich falscher Verdächtigungen und schrie, ich wolle ihm das Ding stehlen. Sie müssen verstehen, ich war in Begleitung einer jungen Dame und die Wächter im Museum wurden bereits aufmerksam. Da es sich um eine Vernissage nur für geladene Gäste handelte, dachte ich, Sie könnten vielleicht den Namen des Mannes herausfinden und das Feuerzeug meinem Onkel zurückgeben.“

„Hm, haben Sie Ihren Onkel schon informiert?“

„Nein, noch nicht. Ich fahre anschließend gleich zu ihm. Ich habe erst meine Begleiterin nach Haus gebracht und überlegt, was ich tun soll. Dann dachte ich, das Beste wäre, die ganze Geschichte der Polizei zu melden. Die ist doch für Diebstahl zuständig. Das Feuerzeug ist wertvoll, sehr wertvoll, und wenn mein Onkel es durch meine ... Aufmerksamkeit wiederbekommt ... wer weiß, vielleicht erhalte ich eine Art Finderlohn oder es wirkt sich auf mein Erbe aus. Er selbst hat keine Kinder. Deshalb bin ich hier.“ Auffordernd starrte er sein Gegenüber an.

„Ich verstehe. Sie haben ganz richtig gehandelt.“ Quinn drehte seinen Kopf zur Seite. „Mister Kirby!“ Er rief seinen Freund und Sekretär, der im Nebenraum die Post sortierte, in Gegenwart von Fremden natürlich mit seinem richtigen Namen. Eine gewisse Form galt es schon zu wahren. Norton Kirby, genannt Silk, war ein großer, schlanker Mann mit schon schütterem, dunklem Haar. Er blieb an der Schmalseite des Schreibtisches stehen und musterte den Besucher mit abschätzendem Blick.

„Mister Kirby, notieren Sie bitte Mister Austens Adresse sowie die seines Onkels. Außerdem brauchen wir eine genaue Beschreibung des Mannes mit dem Feuerzeug. In welchem Museum fand die Veranstaltung statt?“

Austen gab alle benötigten Auskünfte, dann stand er auf und ließ seinen Blick zwischen Quinn und Silk hin und her wandern. „Was werden Sie unternehmen?“, fragte er.

„Ich werde Polizisten zum Museum schicken. Sie werden herausfinden, um wen es sich bei dem neuen Besitzer des Feuerzeugs handelt. Glücklicherweise haben Sie uns ja eine sehr genaue Beschreibung liefern können. Bevor ich das gute Stück jedoch zurückverlangen kann, muss ich absolut sicher sein, dass es sich tatsächlich um das Eigentum Ihres Onkels handelt, und deshalb muss ich wissen, wann und unter welchen Umständen er es verloren hat. Sobald ich Einzelheiten weiß, werde ich mich melden. Glauben Sie mir, Ihr Onkel wird erfahren, wer uns auf die Spur des vermissten Stückes gebracht hat“, schloss er und lächelte zuversichtlich in unbestimmte Richtung.

„Hm, ja ... gut.“ Sichtbar unzufrieden entfernte sich der Besucher.

Silk atmete hörbar aus, setzte sich auf die Kante des Schreibtisches, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass der junge Mann die Tür zum Vorraum fest hinter sich geschlossen hatte, fragte er böse: „Was sollte das denn? Weshalb schickt McGrath Ihnen diesen Idioten? Das ist kein Fall, das ist eine Lappalie.“

„Natürlich.“ Quinn lachte. „Ich vermute, es ist ein weiterer Versuch, mir nachzuweisen, dass ich die Schwarze Fledermaus bin. Die würde sich mit derartigem Kleinkram niemals abgeben. Wenn ich es also ablehne, mich um das angeblich gestohlene Feuerzeug zu kümmern, wird ihn das in seiner Vermutung bestärken.“

„Also wirklich, Sir, Sie sind District Attorney für Sonderaufgaben. Was McGrath da macht, das ist eine Beleidigung und nicht bloß eine Missachtung Ihrer Person, sondern Ihres Amtes. Sie sind zuständig für Mord und Bandenverbrechen, für besonders schwierige Fälle, aber doch nicht für den Diebstahl eines Feuerzeuges. Gleichgültig, was es wert ist.“ Silk sprang von der Schreibtischkante und marschierte heftig gestikulierend durch das Büro. Er hatte sich in Wut geredet. Außerdem mochte er McGrath nicht. „Ich werde Commissioner Warner anrufen und ihn bitten, der Farce ein Ende zu machen. Er wird dafür sorgen, dass ein Praktikant den sogenannten Fall übernimmt.“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, als er auch schon den Telefonhörer in der Hand hielt und wählen wollte.

„Stopp, Silk! Lass es. Das wäre nur Wasser auf McGraths Mühle. Hol mir lieber einen Polizisten her, der sich im Museum umsehen soll. Schau mal, ob Miller im Haus ist. Das ist die richtige Aufgabe für ihn.“

Einen Moment lang starrte Silk seinen Chef sprachlos an, dann nickte er, langsam und zustimmend. Miller gehörte nicht zu den Intelligentesten, doch was ihm an Schlauheit fehlte, machte er durch seinen Starrsinn wett. Er ließ sich durch nichts und niemanden abweisen. Sergeant Miller würde das Museum erst verlassen, wenn er den Namen des Feuerzeugbesitzers kannte. Silk ging hinaus, um den Auftrag auszuführen.

Quinn drehte seinen Schreibtischstuhl zum Fenster und schaute sinnend in den Regen hinaus. Er war nicht blind und Lieutenant McGrath hatte mit seiner Vermutung recht. In der Nacht wurde aus dem Bezirksstaatsanwalt die geheimnisvolle Schwarze Fledermaus, ein tapferer Kämpfer gegen das Unrecht. Vor Jahren war das Augenlicht des jungen Staatsanwalts tatsächlich zerstört und seiner Karriere dadurch ein abruptes Ende gesetzt worden. Ein angeklagter Gangster hatte mithilfe ätzender Säure Beweismittel vernichten lassen, doch weil Tony Quinn die Zerstörung der Schallplatten verhindern wollte, traf die gefährliche Flüssigkeit auch ihn. Die Wunden in seinem Gesicht verheilten allmählich und hinterließen schlimme Narben, doch das Augenlicht konnten ihm auch die besten Ärzte nicht wiedergeben. Nur sehr langsam hatte sich Quinn mit seinem Schicksal abgefunden. Er erlernte die Blindenschrift und erlebte, wie sich seine anderen Sinne in ungeahnter Weise schärften. Kurz zuvor hatte er Silk in seinen Dienst genommen, der nicht nur ein unentbehrlicher Diener, sondern auch Quinns bester Freund wurde.

Und noch jemand trat in sein Leben: Carol Baldwin. Ihr Vater, ein Polizeisergeant im mittleren Westen, war von einem Verbrecher niedergeschossen worden und lag im Sterben. Sein letzter Wunsch war es gewesen, Quinn, dessen Kampf gegen das Verbrechertum er stets bewundert hatte, seine Augen zu schenken. Carol reiste nach Chicago und gab dem Blinden damit neue Hoffnung. Ein unbekannter Arzt in Carols Heimat unternahm die Netzhauttransplantation. Das Wagnis gelang. Quinn konnte wieder sehen. Mehr noch, denn als nach einigen Wochen die Verbände entfernt worden waren, vermochten seine neuen Augen sogar tiefste Dunkelheit zu durchdringen.

Quinn beschloss, seinen Kampf gegen die Verbrecher wieder aufzunehmen. Aber nicht wie früher als District Attorney, der nicht nur den Einschränkungen des Gesetzes unterworfen war, sondern auch jederzeit damit rechnen musste, eine Kugel oder ein Messer in den Rücken zu kriegen. Nein, er würde für die Öffentlichkeit blind und hilflos bleiben und insgeheim, im Schutze der Dunkelheit, die Verbrecher angreifen. So entstand die Schwarze Fledermaus, ein maskierter, geheimnisvoller Gangsterjäger, vor dem die Unterwelt mehr zitterte als vor der Polizei. Denn als Schwarze Fledermaus konnte Quinn sich über die oft hinderlichen Regeln der Bürokratie hinwegsetzen.

Außer Carol Baldwin, die er zärtlich liebte, und Norton Silk Kirby gab es noch einen dritten Menschen, der zu seinem engsten Freundeskreis gehörte und Tonys Geheimnis kannte. Jack Butch O’Leary. Er war ein Riese und breit wie ein Kleiderschrank. Dass er manchmal etwas schwerfällig im Denken war, störte Tony nicht, denn seine Treue und Loyalität waren unbeschreiblich. Mit seinen ungeheuren Körperkräften leistete er den Freunden wertvolle Dienste.

Obwohl die Schwarze Fledermaus der Polizei bei der Verbrecherjagd half, hatte Lieutenant McGrath es sich zum Ziel gesetzt, den Maskierten zur Strecke zu bringen, ihn zu überführen und zu entlarven. Wie er jemals auf die Idee gekommen war, Tony Quinn könnte hinter der Maske stecken, wusste er wohl selbst nicht mehr. Immer wieder versuchte McGrath zu beweisen, dass Quinn nicht blind war, doch bisher war dieser ihm regelmäßig entwischt. Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel des Staatsanwalts, als er an McGraths neuesten Versuch dachte. Selbst wenn er diesen banalen Fall ablehnte, wäre das kein Beweis für seine Identität als Schwarze Fledermaus, höchstens ein Hinweis, und dazu nur ein sehr magerer.

Quinn hatte den Posten des Bezirksstaatsanwalts wieder angenommen, um Kontakt zur Polizei halten zu können und stets über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu sein. Trotz seiner scheinbaren Behinderung hatte er bislang jeden übernommenen Fall gelöst, wodurch er schnell in der Öffentlichkeit bekannt wurde.

Silk kehrte mit Sergeant Miller im Schlepptau zurück, der von Quinn über den Fall unterrichtet wurde. Miller war sichtlich stolz, mit dem berühmten Staatsanwalt zusammenarbeiten zu dürfen und versprach, so schnell wie möglich mit den gewünschten Informationen zurückzukehren.

Während Quinn sich auf die nächsten Verhandlungen konzentrierte und einen Schriftsatz nach dem anderen diktierte, vergaß er Tom Austen und das wertvolle Feuerzeug vollkommen. Silk jedoch fiel es schwer, die Schmach zu ignorieren. Als Tony am späten Nachmittag seine Arbeit beenden und heimfahren wollte, erinnerte Silk seinen Chef an die Geschichte.

„Bitte, Sir, lassen Sie uns beim Dezernat für Diebstahl vorbeigehen und schauen, ob Donald Masterson den Fall überhaupt zur Anzeige gebracht hat. Wenn dieser angebliche Diebstahl nicht einmal protokolliert worden ist, gibt es keinen Grund, aktiv zu werden. Und Sie könnten McGrath wegen Belästigung verklagen, vielleicht auch wegen Behinderung. Schließlich brauchen Sie für die anstehende Verhandlung in dem Rauschgiftfall viel Zeit und Ihre ganze Kraft. Soll ich nicht doch bei Commissioner Warner ...“

Silk konnte nicht aussprechen, da Tony Quinn wieder zu lachen anfing. „Ach, Silk, nun mach doch nicht solchen Wind wegen der Kleinigkeit. Wir werden schon eine Möglichkeit finden, es McGrath heimzuzahlen. Aber deine Idee, beim Diebstahlsdezernat vorbeizuschauen, ist gut.“ Quinn stand auf und kam um den Schreibtisch herum.

Silk reichte ihm den Mantel und den weißen Stock, nahm den scheinbar Blinden am Arm und führte ihn langsam und vorsichtig hinaus. Die Sekretärinnen aus dem Vorzimmer hatten sich bereits verabschiedet. Mit dem Aufzug fuhren sie hinunter und gingen dann langsam den langen Gang entlang, der zum Dezernat für Diebstahl führte.

Der anwesende Beamte blätterte auf ihre Fragen hin diverse Akten durch. „Wenn Sie das genaue Datum nicht wissen, wird es schwierig“, sagte er schließlich. „Ich bin jetzt sechs Monate zurückgegangen und habe weder einen Donald Masterson gefunden noch eine Anzeige wegen Diebstahls eines wertvollen Feuerzeugs. Mit Anzeigen wegen des Verlustes von Ketten, Ringen oder Armbändern kann ich dienen, selbst Hunde und Katzen werden geklaut, aber ein einzelnes Feuerzeug? Tut mir leid.“ Der Beamte schüttelte den Kopf. „Vielleicht, wenn Sie mehr Einzelheiten wissen ...“

Silk und Quinn bedankten sich und gingen über den großen Parkplatz zu Quinns Buick. Silk öffnete die Tür und half Quinn hinein. Jeder, der zufällig hinschaute, musste den Eindruck gewinnen, dass der Staatsanwalt vollkommen hilflos war.

„Seltsam, findest du nicht?“, fragte Quinn nach einer Weile. Sie hatten das Zentrum bereits hinter sich gelassen und befanden sich auf der Fahrt nach Western Springs.

„Was?“

„Wenn das Feuerzeug so wertvoll ist, wie Austen uns glauben machen will, warum hat sein Onkel den Verlust nicht gemeldet?“

Silk seufzte übertrieben laut. „Keine Ahnung. Vielleicht war es gar nicht so wertvoll, oder der Kerl ist so reich, dass es ihm nicht wichtig ist. Vielleicht will er auch nichts mit der Polizei zu tun haben. Ist doch egal. Vergessen Sie den Fall endlich.“

Beide schwiegen, Quinn nachdenklich, Silk verärgert, bis sie bei Quinns Haus ankamen. Es befand sich am Ende einer ruhigen Nebenstraße. Ein gepflegtes, weitläufiges Grundstück mit alten Bäumen umgab das Gebäude. Die Rückseite des Gartens grenzte an eine schmale, kaum benutzte Gasse, in der das Einsatzfahrzeug der Schwarzen Fledermaus parkte. So konnte Quinn im Schutze der Dunkelheit das Haus unbemerkt verlassen und auf Verbrecherjagd gehen. In letzter Zeit war es allerdings verdächtig ruhig gewesen. Die zur Verhandlung anstehenden Rauschgiftfälle hatte die Polizei ohne die Hilfe der Fledermaus gelöst, sodass Quinns Freunde fast schon so etwas wie Langeweile verspürten.

Silk bereitete das Abendessen zu, das sie gemeinsam in der großen Bibliothek einnahmen. Eines der Regale verbarg den Zugang zu dem geheimen Keller, der nicht nur die neuesten wissenschaftlichen Geräte enthielt, die zur Verbrechensbekämpfung gebraucht wurden – Quinn hatte sich in allen Bereichen der Kriminalistik fortgebildet und konnte die meisten Untersuchungen selbst durchführen –, sondern auch einen schallgedämmten Raum, in dem die Freunde Schießen und Selbstverteidigung trainierten. Es gab noch einen zweiten, geheimen Zugang durch das Gartenhäuschen, den meist Carol und Butch benutzten.

Quinn musterte Silks mürrisches Gesicht und schlug nach dem Essen vor: „Mach doch mit Butch einen Bummel durch die Kneipen. Vielleicht habt ihr Glück und trefft auf einen von der Polizei gesuchten Gangster. Nehmt ihn fest, dann macht ihr ihn McGrath zum Geschenk. Mit vielen Grüßen von der Schwarzen Fledermaus natürlich. McGrath wird sich ärgern und ihr beiden bleibt in Übung.“ Quinn konnte Silks schlechte Laune gut verstehen. Sie hatten sich alle vier dem Kampf gegen das Verbrechertum verschrieben, aber schon seit Wochen keinen ernsthaften Einsatz mehr gehabt.

Als er diesen Vorschlag hörte, strahlte Silk. „Eine gute Idee, aber dann müsste ich Sie hier allein lassen. Wenn jemand kommt?“

„Aber Silk.“ Quinn lachte. „Mir passiert schon nichts. Nun geh und hole Butch ab. Der kennt die Kneipen, in denen sich Gangster tummeln. Viel Spaß, doch treibt es nicht zu toll.“

Silk kam noch einmal in die Bibliothek, um sich zu verabschieden. Jetzt sah er nicht mehr wie der perfekte Sekretär und Diener aus. Er trug einen blauen Anzug, dessen Ärmel bereits ausgefranst waren, dazu ein rotes Hemd mit gelber Krawatte, die ein dürftig bekleidetes Mädchen zierte, sowie eine unechte Goldkette. Seine Perücke enthielt mehr Gel als Haare. Er schob sich noch eine Zigarette in den Mundwinkel, winkte Quinn zu und verließ das Haus.

Auf Quinns Geheiß hatte Silk alle Lampen gelöscht. Ein Blinder brauchte schließlich kein Licht. Quinn erhob sich und ging zum Bücherregal, das er in der Dunkelheit so deutlich wie am Tage vor sich sah. Die Vorhänge waren vorgezogen, sodass niemand ihn von außen beobachten konnte. Er suchte nach dem Folianten, welcher in Blindenschrift die letzten Grundsatzurteile enthielt. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es kam von draußen. Offenbar stand jemand am Fenster und versuchte hineinzublicken. Als Quinn zu dem Platz hinter seinem Schreibtisch zurückkehrte, tastete er sich an der Sessellehne entlang vorwärts, wobei er scheinbar zufällig die Gardine streifte, die daraufhin ein bisschen zur Seite glitt. Sein Herz klopfte. Auch wenn von draußen nur ein unscharfer Schatten zu erkennen und es verflixt schwierig war, in ein dunkles Fenster zu schießen und zu treffen, so bot er sich für einen Sekundenbruchteil, bis der Vorhang zurückfiel, als Zielscheibe an. Doch nichts geschah. Im Gegensatz zu dem anderen konnte er deutlich sehen, dass draußen ein Mann versuchte, durch das Fenster zu schauen. Anscheinend trug er keine Waffe in der Hand. Wieder knirschten Schritte auf dem Kies. Kurze Zeit später klingelte es. Quinn atmete auf. Ein Gangster würde wohl kaum klingeln.

Er schlurfte zur Haustür, wobei er den Stock laut klackend aufsetzte. Umständlich und langsam öffnete er. Draußen stand ein nicht mehr ganz so junger, gut gekleideter Herr, der auf den ersten Blick elegant und distinguiert wirkte. Das graue Haar und der Bart schienen frisch gestutzt, der schwere Siegelring und die goldenen Manschettenknöpfe, die unter der Lederjacke hervorlugten, deuteten auf Vermögen hin.

„Ja, bitte?“

„Verzeihen Sie, dass ich Sie so spät noch störe, aber hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich? Ach, entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Donald Masterson. Mein Neffe war heute bei Ihnen im Büro.“

„Oh ja, ich verstehe. Natürlich, kommen Sie herein. Machen Sie doch bitte das Licht an. Oder brennt es noch? Rechts neben der Tür ist der Schalter.“

Masterson knipste das Licht an und folgte Quinn, der sich zu seinem Lieblingssessel, einem alten Lederfauteuil am Kamin, tastete. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte er, sobald er hörte, dass der andere Platz genommen hatte.

Seltsamerweise schien diese Frage seinen Besucher in Verlegenheit zu bringen. „Was hat mein Neffe Ihnen erzählt?“, begann er ausweichend.

„Nur, dass er ein Feuerzeug bei einem Mann gesehen hat, das Ihrem verschwundenen gleicht. Seit wann vermissen Sie Ihres denn? Und haben Sie es als gestohlen gemeldet?“

„Nein, ich habe es nicht als gestohlen gemeldet. Sehen Sie, ich bin manchmal etwas schusselig und habe das Ding irgendwann verloren. Ehrlich gesagt, hat es mir nicht viel ausgemacht. Ich fand es ziemlich geschmacklos und protzig, aber meine Freunde hatten es gut gemeint, sodass ich Ihnen nicht sagen mochte, wie scheußlich ich das Ding fand. Andererseits konnte ich auch schlecht zugeben, dass ich mich freute, es verloren zu haben. Deshalb sagte ich allen, die fragten, es sei mir gestohlen worden. Aber ich finde, unsere Polizei hat Besseres zu tun, als nach einem Feuerzeug zu suchen, das nur verloren gegangen ist. Auch wenn es wertvoll ist.“

Da er glaubte, einem Blinden gegenüberzusitzen, versuchte er erst gar nicht, das nervöse Spiel seiner Hände zu verbergen. Wäre das nicht gewesen sowie der Blick, der immer wieder abschweifte, hätte Quinn ihm vielleicht geglaubt. Doch er bot das typische Bild eines Mannes mit einem schlechten Gewissen. Warum?

Allmählich gewann Quinn den Eindruck, dass hinter dieser komischen Feuerzeuggeschichte mehr stecken musste als anfangs vermutet. Er nickte zustimmend. „Das stimmt natürlich. Wenn ich Sie also recht verstehe, möchten Sie nicht, dass die Polizei nach dem Dieb oder dem Finder fahndet? Auch Fundunterschlagung ist strafbar, ganz besonders, wenn es sich um so ein wertvolles Stück handelt.“

„Ach nein, ich möchte kein Aufsehen. Verstehen Sie, ich lebe sehr zurückgezogen, hatte noch nie im Leben mit der Polizei zu tun und will jetzt nicht damit anfangen. Es wäre mir sehr recht, wenn Sie die Sache vergessen könnten.“ Er stand auf und hielt Quinn die Hand hin, die dieser natürlich nicht sehen durfte.

Auch Quinn erhob sich langsam. „Wenn das Ihr Wunsch ist, werde ich sehen, was ich tun kann. Falls bereits eine Akte existieren sollte, könnte es schwierig werden.“

„Ich würde mich für Ihre Mühen gern erkenntlich zeigen. Sagen Sie mir nur, in welcher Form das möglich ist.“

Quinn gab keine Antwort, sondern bewegte sich Richtung Tür. Masterson folgte ihm, wobei er seine Erleichterung kaum zu unterdrücken vermochte. An der Tür fragte er noch einmal: „Also kann ich mich darauf verlassen, dass Sie nichts weiter unternehmen werden?“

Quinn nickte unverbindlich.

Als sich sein Besucher verabschiedet hatte, setzte er sich hinter den Schreibtisch, stützte die Arme auf und grübelte. Was versuchte Donald Masterson unter allen Umständen zu verbergen? Dass es nur darum ging, mit der Polizei nichts zu tun haben zu wollen, nahm Quinn ihm nicht ab. Wer ein reines Gewissen hatte, brauchte niemanden zu fürchten. Was mochte mit dem Feuerzeug geschehen sein? Jetzt erst fiel ihm auf, dass Sergeant Miller sich nicht zurückgemeldet hatte. Das sah dem Mann gar nicht ähnlich. Kurz entschlossen griff er zum Telefon und rief in der Dienststelle an. „Schauen Sie doch bitte einmal nach, wo Miller steckt! Er hätte sich heute Nachmittag bei mir melden sollen.“