Das Vermächtnis des Unbekannten

 

von

 

Marc Weiherhof

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de
       Originalausgabe, August 2014

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: Coverfoto: http://www.123rf.com

 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

       ISBN print: 978-3-86361-388-4
       ISBN epub: 978-3-86361-389-1
       ISBN pdf: 978-3-86361-390-7

 

Alle Figuren und Ereignisse im Buch sind freie Erfindungen des Autors. Übereinstimmungen mit realen Personen oder Ereignissen wären rein zufällig.

 

 

 

Prolog – Wiederbeschaffung

 

„Ich will sie zurück haben!“ Don Raffael González’ markante Stimme donnerte durch die Räumlichkeiten der respektablen Villa unweit der mexikanischen Atlantikküste. Im Untergeschoss von González’ Anwesen befand sich der Hauptsitz seines Kartells, seines Drogen-Syndikats. Von dort aus lenkte er die Geschicke seines zweifelhaften Imperiums, erpresste Schutzgelder, ordnete brutale Gräueltaten an und schmiedete neue, teuflische Pläne.

„Du organisierst die Wiederbeschaffung. Setz’ deinen Bruder auf den Mann an“, forderte der Don von seinen Consigliere, seinem Berater.

„Wiederbeschaffung? Du sprichst hier von Menschen, von …“, fing Salvatore Salvas an, bevor er schnöde unterbrochen wurde.

„Hör auf, mir zu widersprechen. Du beschaffst mir die beiden wieder und setzt deinen Bruder darauf an! Verstanden?“ Die Stimme des Dons wurde nochmals energischer, bedrohlicher.

Salvatore Salvas nickte und trat einen kleinen Schritt zurück. Er vermied jeglichen Augenkontakt mit seinem Boss, denn bei Raffael González wusste man nie, wann er ausflippen und mit einer Pistole um sich ballern würde. Dieser Mann war äußerst jähzornig, cholerisch und es brauchte nicht viel, um in seine Ungnade zu fallen.

„Anderes Thema ... Hat Juan García Díaz seine angehäuften Schulden inklusive den Schuldzinsen endlich bezahlt?“, fragte González ungehalten.

„Nein, bisher schob er immer seine Frau und die Kinder als Ausreden vor, weshalb er noch nicht bezahlen konnte … Wir haben ihm nochmals zwei Mona…“, fing Salvatore an.

„Genug! Töte seine Frau und schick ihm ihren linken Ringfinger mitsamt Ehering in einer Kartonbox. Als Zeichen. Schreib dazu eine Nachricht: Er habe noch genau vier Tage Zeit, um die Summe zurückzuzahlen, bevor wir uns seine süßen Kinder vornehmen …“

Salvatore Salvas nickte und verabschiedete sich. Er verbeugte sich vor González und küsste den Ring, den dieser an seinem rechten Zeigefinger trug. Das einprägsame Schmuckstück bestand aus purem Gold und in der Mitte war ein oval geschliffener, feuerroter Rubin eingelassen. Diese unterwürfige, devote Geste bestätigte den Don in seiner uneingeschränkten Überlegenheit gegenüber seinen Untertanen und musste jeweils zu Beginn und am Schluss einer „Audienz“ ausgeführt werden.„Nein! Bitte! Ich weiß nichts von Geld, das mein Mann geborgt haben soll ... Bitte. Ich habe zwei Kinder, zwei kleine Kinder …“

Die flehenden Versuche ihr Schicksal abzuwenden, trugen keine Früchte. Sie wurde von zwei Männern festgehalten und konnte sich nicht wehren. Der Ringfinger ihrer linken Hand wurde zwischen die scharfen, aber rostigen Klingen der Heckenschere gedrückt, bevor sich das Metall langsam den Weg durch ihr Fleisch bahnte.

Der verzweifelte und schmerzerfüllte Schrei der unschuldigen Ehefrau des säumigen Schuldners durchdrang die Stille der Nacht. Salvatore war meistens mit von der Partie, wenn ein Auftrag ausgeführt wurde, um zu überwachen, dass er zu Dons Zufriedenheit erledigt wurde. Dons Männer waren brutale Schurken ohne Seele und ohne Gnade. Anstatt die Frau vor der gewaltsamen und unfreiwilligen Amputation ihres Fingers zu töten, ließen sie ihr Opfer so lange wie möglich am Leben, um ihr größtmöglichen Schmerz zuzufügen. Als die Klingen des Werkzeugs aufeinander trafen und das abgetrennte Glied auf den Boden fiel, war von der Frau nicht mehr viel mehr als ein Wimmern zu hören.

Salvatore Salvas stand auf, zückte seine Pistole und jagte der Frau eine Kugel in den Schädel.

Sie war sofort tot.

Er wusste, dass seine Handlanger das unschuldige Opfer noch lange gequält hätten, wenn er sie nicht erlöst hätte. Die Enttäuschung war dann auch in den Augen der Männer zu sehen.

„Packt den Finger in einen Plastikbeutel, dann in eine Box. Vergesst nicht die Nachricht dazuzulegen und schickt das blutige Packet an Juan García Díaz. Verstanden?“

Seine Gefolgsleute nickten und er wandte sich von diesem bizarren Schauplatz ab.

Jetzt musste er die Mission „Wiederbeschaffung“, wie sie der Don nannte, anschieben und starten. Salvatore wollte keinesfalls seinen Bruder auf diesen Auftrag ansetzen, denn Manuel würde sich emotional an die Zielperson binden, sich vielleicht sogar verlieben.

Manuel, sein Zwillingsbruder, war sein Leben im Kartell schon lange leid und wollte sich außerhalb, in der „normalen“ Welt, neu orientieren. Diese Zielperson würde ihm den Kopf verdrehen und seine Welt auf den Kopf stellen, das wusste Salvatore bereits jetzt.

Und doch hatte er keine andere Wahl, als dem Don zu gehorchen. Jeder, der es bisher gewagt hatte, ihm einen Wunsch abzuschlagen oder einen Auftrag zu verweigern, wurde früher oder später tot, mit einer Kugel im Schädel, aufgefunden oder wurde nie mehr gesehen. So wollte Salvatore nicht enden.

So nicht!

Also nahm er sein Smartphone aus der Tasche, wählte die Nummer seines Bruders und sprach ins Mikrofon: „Manuel? Hier Salvatore. Ich habe einen neuen Auftrag für dich. Du wirst nach Europa fliegen. Die Infos zu deiner Zielperson sowie die Flugtickets werden dir am Flughafen übergeben. Das Ticket ist auf den Namen in deinem Ukrainischen Pass ausgestellt. Okay?“

„Alles klar. Ich mache mich sofort auf den Weg. Um was für einen Auftrag handelt es sich?“, fragte sein Bruder am Telefon.

„Du bekommst die Details, wenn du gelandet bist.“ Damit beendete Salvatore das Gespräch. Er wollte seinem Bruder unter gar keinen Umständen zehn Stunden Zeit schenken, um während des Fluges über den Auftrag nachzudenken. Sein Bruder sollte ohne Vorurteile oder Zweifel an die Sache herangehen. Salvatore würde Manuel zudem nicht alle Informationen zum Auftrag sofort geben, denn dann würde sein Bruder rebellieren, da war er sich sicher.

Scheiße. Ich habe es langsam satt und möchte mich endlich aus diesem schmutzigen Business zurückziehen. Ich will endlich einen liebenden Partner finden und eine eigene Familie gründen. Ach, wie ich mein Leben hier haße, dachte Manuel, als sein Bruder den Anruf beendet hatte.

Wenn man erst einmal im Sumpf der Drogensyndikate versunken ist, dann führt kein Weg je wieder heraus, das war auch Manuel klar. Und doch musste er probieren, sein Lebensziel zu erreichen.

„Das ist der letzte Auftrag, den ich für dieses Schwein González ausführen werde“, sagte er laut.

Der Entschluss war gefasst.

Endlich würde er versuchen, auszusteigen und wenn es ihn das Leben kosten würde.

Manuel packte einige Kleider, Schuhe und Toilettenartikel in seinen alten, zerfetzten Rucksack und kramte aus einer Kartonbox, die unter einem losen Holzbrett im Boden versteckt war, den erwähnten Ukrainischen Pass heraus. Diese Identität hatte er bislang noch nie verwendet, sein neuer Name gefiel ihm aber. Waffen durfte er natürlich auf dem Flug nicht mitführen. Im Kartell-Versteck in Europa würde er jedoch genug Feuerkraft vorfinden, um sich für den Auftrag ausrüsten zu können. Er fuhr mit seinem Auto zum Flughafen von Mexiko Stadt, um in die nächste Passagiermaschine einer britischen Fluggesellschaft einzuchecken und seine letzte Auftrags-Reise zu beginnen.

Als er seinen verbeulten Sportwagen auf einem Parkplatz im Langzeit-Parkhaus des Flughafens abgestellt und sein einziges Gepäckstück aus dem Kofferraum geholt hatte, kam bereits ein Kartellkollege angerannt und steckte ihm einen schweren, gelben Umschlag zu.

„Danke“, sagte Manuel kühl. Nachdem er das Flugticket rausgefischt hatte, steckte er das prallgefüllte Dossier in seinen Rucksack. Er würde die vorhandenen Infos auf dem langen Flug studieren. Zeit hatte er ja genug. Seine falsche Identität war wasserdicht und das Check-in am Schalter der Fluggesellschaft sowie die Passkontrolle konnten ohne Probleme durchlaufen werden. Nach einer kurzen Wartezeit am Gate wurde die Fluggastbrücke an das aufgetankte Flugzeug angedockt und die wartenden Passagiere konnten ihre Plätze einnehmen.

Eigentlich hätte Manuel in einem kartelleigenen Privatjet nach Europa reisen können, doch er mischte sich gerne unter „normale“ Leute und reiste am liebsten in der Holzklasse von Linienfluggesellschaften. Er hatte einen Fensterplatz und würde die atemberaubende Aussicht aus der Luft genießen.

Er verband die zur Verfügung gestellten Kopfhörer mit seinem Smartphone und arretierte die Lautsprecher in seinen Ohren, bevor er die passende Playliste anwählte und auf „Play“ drückte. Denken und entspannen konnte er am Besten, wenn er von seiner Lieblingsmusik berieselt wurde. Er kramte in seinem Rucksack nach dem Umschlag. Es waren nebst Informationen zu Wohnort und Geschäftstätigkeit seiner neuen Zielperson auch diverse Portrait-Fotos und Schnappschüsse im Dossier abgelegt. Als er einen ersten, zögerlichen Blick auf den Mann werfen konnte, den er beschatten sollte, musste er leer schlucken.

„Wow! Was für ein attraktiver Mann …“, dachte Manuel. Es würde ihm nicht schwer fallen, diesen „Kontakt“ herzustellen …

Annäherungsversuch

 

Die Eröffnungsnacht des neusten Feinschmecker-Tempels von Silvan Becker rückte unaufhaltsam näher und näher. Aber: Die Arbeiten an seinem neusten Meisterwerk der Kulinarik und des Genußes waren noch immer nicht abgeschlossen und die Schreiner, Maler, Plattenleger, Spengler und Elektriker schufteten und schwitzten im Akkord, um die Verkaufsfläche bis Freitag in zwei Wochen fertig zu stellen. Es war die 50. Prime Food-Boutique von Silvan, die mit einer pompösen Zeremonie der Öffentlichkeit und den Kunden übergeben werden sollte.

Die Idee teure, auserlesene und rare Lebensmittel in hochwertigen Boutiquen an ein kaufkräftiges Kundensegment zu verkaufen, hatte Silvan schon vor Jahren. Die modernen und edlen Verkaufsräume waren bei der geschätzten Kundschaft sehr beliebt und der Absatz an den bestehenden 49 Standorten boomte und steigerte sich von Jahr zu Jahr. Von Beluga-Kaviar bis zum Katzenkaffee „Kopi Luwak“, fand man in den Prime Food-Boutiquen alles, was das Herz des Gourmets höher schlagen ließ: Zartes Fleisch vom Kobe-Rind, wohlschmeckende weiße Trüffel, edle Weinsorten, auserlesene Essige oder seltene Öle. Bolivianische Kaffeebauern, Ecuadorianische Krabbenzüchter, Russische Stöhr-Fischer oder Indische Gewürzbauern lieferten ihre Köstlichkeiten direkt an das Prime Food-Verteilzentrum in Hamburg. Von dort aus wurden die Nahrungsmittel dann täglich an die einzelnen Boutiquen in ganz Europa verteilt und ausgeliefert. Die Früchte, Tees, Kräuter und Gemüsesorten wurden in hochwertigen Gestellen und Kühltruhen aufbewahrt und konnten, auf Wunsch der Kunden, im Laden probiert und später erworben werden. Die meisten Artikel wurden nicht ausgestellt, sondern konnten über die hauseigenen Sales Assistants nachgefragt werden. Diese präsentierten im Anschluss die gewünschten Leckereien dem Kunden und berieten ausführlich über Lagerung, Verwendung, Herkunft oder Kombinationsmöglichkeiten. Auf Wunsch gab es individuelle Rezepte oder Kontaktadressen von Sterneköchen aus aller Welt. Alles inklusive. In jeder der 50 Boutiquen standen eine Wein-, sowie eine Frischeabteilung zur Verfügung. Unter anderem konnten an diesen Frische-Theken Ravioli, Fleisch, Fisch, Kuchen und Backwaren gekauft werden. Silvan legte viel Wert auf hochwertige Spezialitäten und arbeitete nur mit den besten Köchen und Konditoren zusammen, um seinen Kunden immer wieder aufs Neue eine vortreffliche Qualität und ein besonderes Erlebnis bieten zu können.

Die Marylebone High Street gehört zu den bekanntesten Shopping-Straßen Londons. Viele kleine, exklusive Boutiquen, renommierte Galerien und Antiquitätenhändler buhlen hier um die Gunst der Einwohner und Touristen. Obwohl die Straße mitten im Zentrum von London gelegen ist, gestaltet sich ein Shopping-Bummel in den Geschäften der Marylebone viel gemächlicher und ruhiger als es in der nahegelegenen Oxford Street der Fall wäre. Die Straße konnte sich ihren dorfähnlichen Charakter bewahren und war daher der perfekte
Standort für Silvans neue Boutique. In der Umgebung gibt es einige Haltstellen der London Tube und somit Anschluss an den öffentlichen Verkehr. Hyde und Regent’s Park befanden sich unweit der Straße und boten Erholungsmöglichkeiten für seine Angestellten. Silvan war sowieso absolut fasziniert von London. Der Charme der britischen Hauptstadt war weltweit einzigartig und die mannigfaltigen Stadtteile begeisterten ihn immer wieder aufs Neue für diese Metropole.

Silvan hatte mit den Arbeiten an seinem 50. Geschäft schon früh begonnen, alles genau geplant und die Durchführung stets minutiös überwacht. Er wusste, worauf es ankam, denn dies war schließlich nicht seine erste Neueröffnung. Der Zeitplan geriet dennoch ins Wanken. Die letzten zwei Wochen waren angebrochen und er hatte eine Besprechung mit seinem Generalunternehmer einberufen, der die Fäden dieses Umbauprojekts zog und für die fristgerechte Fertigstellung besorgt sein sollte. Über diesen Ansprechpartner wurden sämtliche Handwerker angestellt und entlohnt, der Baufortschritt überwacht und die anstehenden Arbeiten koordiniert. Dies wiederum hieß für den Auftraggeber Silvan aber auch, dass er keinerlei Einflussnahme auf die Anzahl der Mitarbeiter oder deren Qualität hatte und somit auf die Fähigkeiten und die Einschätzung des Generalunternehmers vertrauen musste. Harald McWicker, ein grauhaariger, mürrischer Mann mit Bierbauch, war als GU verpflichtet. Sein graues, schütteres Haar vermochte kaum noch seine schweißig schimmernde Kopfhaut zu bedecken und die noch sprießenden Härchen, kämmte er verzweifelt über die kahlen Stellen auf seinem Haupt. Er hatte buschige, dicke Augenbrauen und ein faltiges, aufgedunsenes Gesicht. Zwei haarige Warzen zierten zudem sein Antlitz. Das Äußere des Mannes war genauso abstoßend, wie seine inneren Werte, was Silvan kurz nach Baubeginn bemerkte. Er behandelte seine Mitarbeiter schlecht und ließ keine Gelegenheit aus, an ihnen Kritik zu üben. Er war fies, niederträchtig, charakterlos, unprofessionell und intolerant. Silvan würde das nächste Bauprojekt sicherlich nicht mehr mit „Harald McWicker Buildings“ durchführen.

Das Treffen mit McWicker hätte schon vor einer Viertelstunde beginnen sollen und noch immer gab es keine Spur von diesem Tyrannen. Als Silvan das provisorische Büro des zukünftigen Boutique-Managers verließ, sah er, wie McWicker mit seinem protzigen, grünen Jaguar vorfuhr. „Wurde auch Zeit“, murmelte Silvan gehässig. McWicker parkte seinen Luxusschlitten direkt vor dem Eingang der Boutique und marschierte mit gehässiger Miene ins Gebäude. Ohne
sein Gegenüber, einen Maler, überhaupt zu begrüssen, beschwerte er sich lautstark, mit vielen Schimpfworten, die er mit vulgären Handbewegungen untermalte, über die Arbeit des Handwerkers. Unfähig, unprofessionell, langsam, inkompetent, idiotisch. Harald verstand es, seinen Ausbrüchen die nötige Dramatik zu verleihen. Die Hasstirade dauerte ganze zwei Minuten. In dieser Zeit wurden sämtliche Arbeiten auf der Baustelle eingestellt und die neugierigen Handwerker kamen in die Lobby, um das Spektakel mitzuerleben. Solche Feuerwerke verbaler Explosionen wurden oft von der ganzen Belegschaft mitverfolgt und das “Opfer“ später von seinen Kollegen moralisch aufgepäppelt. Der GU war für seine Gehässigkeit und seine verbalen Ausbrüche bekannt. Der junge Maler ließ das Ganze über sich ergehen, nickte ab und zu und versuchte dem Bauleiter mit dem Respekt zu begegnen, mit dem man normalerweise einem Vorgesetzten begegnet. Ich bewundere die Ruhe dieses Mannes …, dachte Silvan. Er hätte diesem Idioten schon lange die Fresse gestopft. Als krönender Abschluss der Unterhaltung drückte McWicker seine glühende Zigarette an der frisch gestrichenen Wand aus, die der Maler soeben zu Ende bepinselt hatte. Als er Luft holen wollte, drehte er sich um und bemerkte, dass Silvan die ganze Zeit zugehört hatte und direkt hinter ihm stand. Silvans Gesichtsausdruck schien den GU einzuschüchtern. Der großgewachsene, bullige Mann verstummte sogleich und sah seinem Auftraggeber direkt in dessen stahlblaue Augen. Seine Gehässigkeit und seine Arroganz schienen in diesem Moment von ihm abzufallen, sich beinahe zu verflüchtigen. Etwas anderes zeigte sich in den Augen von McWicker. War es Angst? Nach einigen peinlichen Sekunden der Stille, stammelte er etwas über seine Verspätung und dass es ihm leid täte und man die Sitzung nun beginnen könne. Wortlos führte Silvan seinen Gesprächspartner ins Besprechungszimmer.

Zehn Minuten später erschien Generalunternehmer Harald McWicker mit einem feuerroten Kopf vor Silvans Büro. Während dieser kurzen Zeit schien er mehrere Zentimeter an Körpergröße und einiges an Selbstvertrauen eingebüßt zu haben. Er wirkte in seinen Grundfesten erschüttert, war kurzatmig und verlegen. Die Anwesenden hielten den Atem an, als der autoritätsbesessene McWicker schnaubend wiederum auf den jungen Maler zuging. Aber entgegen dem, was allerseits erwartet wurde, gab es kein Revival der vorhergegangen Hasstirade. Harald streckte dem Mann seine Hand hin und als dieser den Händeschlag erwiderte, sagte McWicker: „Bitte entschuldigen Sie meine harten Worte eben. Sie leisten gute Arbeit, Jan, und helfen uns sehr.
Weiter so!“ Dann drehte er sich um und verschwand im Keller, wo sein Planungsbüro eingerichtet war. Die anwesenden Handwerker waren fassungslos.

Absolut entgeistert.

Was konnte Silvan Becker, der Inhaber der Boutique, zum starrköpfigen und hitzköpfigen GU gesagt haben? Was hat McWicker so scheu und verlegen gemacht? Niemand hatte den Mann zuvor so gesehen und niemand konnte sich erklären, wie der schmächtige und zierliche Silvan diesen Koloss von Mann in die Schranken weisen konnte. Die Handwerker begannen zu applaudieren und zu jubeln.

„Danke, Mr. Becker“, riefen sie lautstark. Kurze Zeit später wurden die Arbeiten wieder aufgenommen und der Alltagstrott kehrte auf die Baustelle zurück. Es wurde gespachtelt, gestrichen, verkabelt und verputzt.

Von seinem Büro aus hatte Silvan beobachtet, wie sich sein GU beim Maler entschuldigte und sich ins Kellergewölbe zurückzog. Dieses außergewöhnliche Schauspiel erfüllte Silvan mit Stolz und Genugtuung. Als dann die ganze Belegschaft applaudierte und sich lautstark bei ihm bedanke, wusste er, dass er das Richtige getan hatte. McWicker war Silvan schon lange ein Dorn im Auge und die miterlebte Hasstirade hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Silvan war ein gefasster und ruhiger Typ, seine Argumente waren stichhaltig und seine Worte unverblümt, aber gerecht. Er wurde selten ausfällig oder frech. Er brachte seine Meinung mit ruhiger und angemessener Stimme zum Ausdruck: „Harald, ich bin maßlos enttäuscht von Ihnen. Anscheinend besitzen Sie keinerlei Führungskompetenzen, können Ihre Mitarbeiter nicht motivieren und Zeitpläne nicht einhalten. Ich frage mich daher ernsthaft, wie jemand, der 25 Minuten zu spät zu einem wichtigen Geschäftstreffen kommt, überhaupt in der Lage sein soll, eine solide und vertrauenswürdige Firma zu führen! Der Umgangston, den ich heute miterlebt habe, ist unwürdig und gehört nicht einmal auf eine Baustelle.“ Jedermann wusste, dass Silvan äußerst gut vernetzt war und einige einflussreiche Politiker und bekannte Persönlichkeiten zu seinem Freundeskreis zählen konnte. Normalerweise spielte er die Bekanntheits-Karte nicht aus, aber in diesem Fall war es wohl die einzige Möglichkeit, dem Typen den Ernst der Lage klarzumachen. „Ich empfehle Sie nicht weiter, Harald, wenn es hier weiter so dilettantisch zu und her geht. Sie haben jetzt noch genau zwei Wochen Zeit, um meine Boutique fertigzustellen. Eine Verspätung, wird nicht toleriert. Sehen Sie zu, dass Sie Ihre Mitarbeiter angemessen behandeln und das
Wichtigste: Entschuldigen Sie sich umgehend bei Maler Jan!“

McWicker hatte genickt und verließ sein Büro.

Jan Baki
, wie der Maler mit ganzem Namen hieß, war ein begabter Allrounder und half der Crew seit mehreren Wochen aus, um die Arbeiten schneller voranzutreiben. Jan musste über 1.85 Meter groß sein, war kräftig gebaut, hatte dunkle Haare und ein süßes Lächeln. Er war Silvan schon am ersten Tag aufgefallen. Seine kräftige Statur, die gut definierten Bauchmuskeln, der große Bizeps und das selbstbewusste Auftreten des Handwerkers sprachen ihn an. Er verbrachte einige Minuten pro Tag damit, Jan durchs Bürofenster unauffällig zu beobachten. Silvan sah ihm gerne beim Arbeiten zu, denn wenn er eine Wand bearbeitete, sah man jede Muskelkontraktion unter seinem T-Shirt und dem Overall. Das gefiel Silvan. Das gefiel ihm sogar sehr. Seit zwei Wochen hatte er beinahe den ganzen Tag eine Dauererektion deswegen, was äußerst quälend und unangenehm war.

Normalerweise nahm sich Silvan, was ihm gefiel.

Sein Gaydar, sein Schwulenradar, leistete ihm dabei treue Dienste. Es gibt nicht Peinlicheres als einem Hetero Avancen zu machen, dies endet nämlich meistens mit fiesen Sprüchen oder Handgreiflichkeiten. Die nicht-schwulen Herren der Schöpfung kannten wohl keine andere Art, dem Gegenüber klar zu machen, dass man an einer „Interaktion“ nicht interessiert war. Sie fühlten sich wohl in ihrer Männlichkeit beschnitten. Bei Jan wollte er bislang kein Risiko eingehen und war sich nicht schlüssig, ob er den ersten Schritt tun sollte. Doch heute, nach dem Vorfall mit McWicker, hatte sich Silvan entschieden, dass er etwas gegen die dauernde Beengtheit in seiner Designerhose unternehmen würde.

Einige Stunden später, als bereits die meisten Arbeiter in den wohlverdienten Feierabend gegangen waren, ging Jan ins Untergeschoss. Im Büro des Bauleiters musste jeder Handwerker täglich notieren, was er während der letzten acht Arbeitsstunden erreicht hatte und welche Arbeiten beendet werden konnten. Silvan folgte ihm heimlich. Als er das Büro betrat, sah er, wie Jan einen Plan studierte. Sein Rücken war gegen Silvan gerichtet. Von meinem Standpunkt aus, sieht es so aus, als hätte dieser Allrounder einen äußerst wohlgeformten Hintern, dachte er.

Baki zuckte zusammen, hatte wohl nicht gehört, dass Silvan in den Raum kam. Er sagte ein wenig verlegen: „Hi, Mr. Becker. Ich wollte nur noch rasch die Pläne überprüfen.“ Jan hatte einen leichten Akzent. Er war wohl baltischer Abstammung. Silvan trat ganz nahe an Jan heran, presste seinen schlanken Körper an dessen muskulöse Statur und flüsterte in sein Ohr:

„Ich wüsste da noch etwas Anderes, was wir beide zusammen überprüfen könnten … Und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich Silvan nennen sollst?“

Jan trat einen Schritt von Silvan weg und drehte sich um. Die Beule in seinem Overall verriet Silvan, dass das Interesse gegenseitig war. „Ich bleibe lieber bei Mr. Becker. Und sowieso bin ich nicht interessiert! Das ist nicht meine Art.“ Jans Stimme wirkte ruhig, doch seine Körpersprache verriet, dass seine Worte nicht mit seinen innigsten Wünschen übereinstimmten.

Silvan trat nochmals an den jungen Handwerker heran und presste seinen harten Penis an die Erektion von Jan. Lediglich zwei dünne Stoffe trennten die beiden erregten Körper voneinander. Die Wärme jedoch drang durch den Stoff und ließ Silvans Penis vor Verlangen zucken. Er flüsterte mit erregter Stimme: „Neben dem Büro gibt es ein separates Badezimmer …“

Und erneut trat Jan einen Schritt zurück, legte den Plan auf den Schreibtisch und sagte: „Mr. Becker, ich habe wirklich kein Interesse an einem unbedeutenden Quickie im Badezimmer. Ich bin eher der traditionelle Typ!“ Mit diesen Worten ging Jan an Silvan vorbei, zur Treppe, und verließ den Keller.

Einige Sekunden später hörte man im Obergeschoss, wie Jan seinen Werkzeuggürtel auf den Boden knallte und die Boutique verließ. Silvan stand noch einige Momente regungslos im Büro des Bauleiters. Sein Radar ließ ihn bislang noch nie im Stich. Normalerweise spürte er genau, wann er sich nehmen konnte, was er wollte. Dass er Jan falsch eingeschätzt hatte, konnte er sich nicht erklären. Was hieß traditioneller Typ? Traditionell hetero oder traditionell mit Kennenlernen, Dates und dem ersten Kuss beim dritten Date? Die nächsten Tage würden Gewissheit schaffen.

 

„Silvan Becker“, sagte er, als er den Anruf auf seinem Smartphone angenommen hatte.

„Hier Greiner. Mr. Becker, wir sollten noch das Sicherheitskonzept von London 2 besprechen. Es eilt. Die Eröffnung ist schon in zwei Wochen.“ Stefan Greiner war sein Sicherheitschef und musste das neue Konzept mit Alarmanlagen, Überwachungskameras und anderen Sicherheitsaspekten erarbeiten und umsetzen.

„Ah, Mr. Greiner. Hallo. Hm … ob diese Eröffnung tatsächlich stattfinden wird, kann ich Ihnen noch nicht mit Gewissheit sagen, wir sind maßlos im Verzug. Ich reise noch heute nach Zürich zurück. Besprechen wir also morgen früh, gegen acht, die Details?“

Greiner bedanke sich für die Zeit, die sich Silvan genommen hatte, und verabredete sich mit seinem Chef für den morgigen Tag. Silvan schloss die Boutique ab, fuhr mit der U-Bahn zurück in sein Hotel, um sich für die bevorstehende Heimreise bereit zu machen. Er packte seine Designer-Klamotten zurück in den großen Koffer, ließ seinen Blick ein letztes Mal durchs Hotelzimmer schweifen, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen hatte und ging dann nach unten, in die großzügige Lobby, um auszuchecken. Silvan bedankte sich beim Personal für die zuvorkommende Bedienung und den ausgezeichneten Service, verabschiedete sich und ging nach draußen. Die bestellte Fahrgelegenheit stand bereits vor dem Hoteleingang. Ein lächelnder Fahrer stand vor dem Wagen und hielt Silvan die Tür auf.

„Good afternoon, Sir“, meinte er freundlich, als sich Silvan näherte. Silvan begrüßte den Mann, gab ihm sein Gepäckstück und stieg in die edle, silberne Mercedes-Limousine ein. In ungefähr vierzig Minuten würde er am London City Airport ankommen, wo ihn sein Privatjet bereits erwartete. In weniger als zwei Stunden wäre er zu Hause, in Zürich, bei seinen Lieben.

 

 

Familienleben

 

„Daddy, Daddy, endlich bist du zu Hause! Ich habe dich so vermisst“, rief die kleine Alexia, als sie Silvan in der Küche entdeckte. Sie rannte auf ihn zu, umarmte sein Bein und drückte ihn ganz fest. Er nahm die Kleine auf den Arm, herzte sie und küsste sie auf ihr kleines, zartes Näschen.

Tom sah seiner kleinen Schwester eine Zeit lang zu, bevor er sich ebenfalls an seinen Vater schmiegte und ihn fest umklammerte. „Hi Dad. Gut, dich zu sehen.“

„Hey, Prinzessin. Hallo, Kumpel. Ihr erdrückt mich ja förmlich! Ich freue mich ja auch, euch zu sehen.“ Er strich seinen kleinen, süßen Kindern über die Haare und meinte: „Ist euch eigentlich bewusst, dass wir morgen Nachmittag nach London reisen?“

Die kleine Alexia war ganz aufgeregt und erzählte, was sie in London alles sehen wollte. Je aufgeregter die Kleine wurde, desto lauter und kreischender wurde ihr Stimmchen. Nach einer Weile hielt sich Tom die Ohren zu und versuchte Alexia mit seiner eigenen, tieferen Stimme zu übertönen. So wie er es immer erfolglos versuchte. Daraus resultierte jedes Mal ein ohrenbetäubendes Geschrei, das noch zwei Straßen weiter zu hören sein musste.

Das Chaos war perfekt.

Zwei quiekende, quirlige Kinder, die sich einen ohrenbetäubenden Lautstärkewettbewerb lieferten … Die Freuden eines jeden Vaters! Silvan war erleichtert, dass es den Kleinen gut ging und sie sich auf die bevorstehende Reise freuten. Während seiner Abwesenheiten sorgte Tamara, die Nanny, für das Wohl der jüngsten Beckers. Tamara lebte ebenfalls im Haus und war rund um die Uhr für die Kleinen da. War sie mal verhindert, übernahm eine Vertretung oder die Mutter von Silvan die Betreuung der Kinder. Ihm war es jedoch auch wichtig, dass er seine Kleinen so oft wie möglich um sich hatte und Zeit mit ihnen verbringen konnte. Er nahm seine Engelchen daher auf viele Geschäftsreisen mit.

Alexia und Tom waren die leiblichen Kinder von Silvans Schwester Alexandra. Bei der Geburt von Tochter Alexia verstarb seine Schwester. Komplikationen bei der Entbindung führten zu einem hohen Blutverlust und schließlich zum Tod. Alexandra und Silvan standen sich über all die Jahre immer sehr nahe, wuchsen zusammen auf und behielten das innige Verhältnis, auch nach dem Auszug aus dem Elternhaus, bei. Die beiden sahen sich oft, lebten beide in Zürich und Silvan übernahm, bereits damals, einen wichtigen Part im Leben der Kinder. Alexandras Freund, der leibliche Vater der Kinder, verstarb hingegen schon sechs Monate vor der Geburt von Alexia und glänzte auch vorher meistens durch Abwesenheit. Silvan kannte den Vater der Kinder nicht persönlich und auch Tom konnte sich nicht an seinen leiblichen Daddy erinnern. Alles was Silvan wusste, war das, was ihm Alexandra über diesen Mann erzählt hatte: Mexikaner, attraktiv, geheimnisvoll, bindungsscheu. Nach dem Tod seiner Schwester – vor nunmehr sieben Jahren – kümmerte sich Silvan um die kleinen Racker. Die ersten Tage waren schwer und seelisch bedrückend. Nach dem Ableben seiner Schwester hatte er nun plötzlich die alleinige Verantwortung für ein kleines, hilfloses Wesen, das seine Zuneigung bitter nötig hatte und einen dreijährigen Jungen, der die Schuld am Tod seiner Mutter seiner neugeborenen Schwester anlastete.

Keine einfache Aufgabe.

Seine eigene, tiefe Trauer konnte Silvan erst Wochen danach verarbeiten. Seine Mutter Eleanor und Nanny Tamara waren von Anfang an für die Familie da, was Silvan über die schwerste Zeit hinweghalf. Tamara wurde kurz vor Toms Geburt von seiner Schwester eingestellt. Sie versprach Alexandra, dass sie sich auch um Alexia kümmern und Silvan so gut wie möglich unterstützen würde. Und das tat sie auch. Seit Jahren war Tamara eine Helferin in der Not, eine Schulter zum Ausweinen und eine gute Freundin für Silvan geworden. Sechs Monate nach der Geburt von Alexia, adoptierte Silvan die beiden Kinder und wurde rechtmässig deren Vater. Die zwei Racker akzeptierten Silvan rasch als ihren Papa und die kleine Familie pflegte seit diesem Zeitpunkt ein tiefes und liebevolles Verhältnis untereinander. Obwohl Silvan viel auf Reisen war, konnte er den Kindern Kontinuität und Beständigkeit bieten. Seine Mutter Eleanor und Tamara ermöglichten einen Teil dieses geregelten Familienlebens.

Silvan war damals bei der Firma seines Vaters als Junior Manager tätig und es war schwer, freinehmen zu können, um mit den Kindern zusammen zu sein. Als dann sein Vater kurz nach Alexandra verstarb, war für Silvan klar, dass er das Unternehmen unmöglich alleine führen konnte. Er gab die Verantwortung ab. Die Firma blieb aber im Besitz der Beckers und Silvan behielt das Amt des VR-Präsidenten inne. 60 Prozent der Aktien gehörten Silvan und Eleanor. Doch seine Mutter hielt sich beinahe ganz aus dem Geschäftsleben zurück und vertraute auf die Einschätzung ihres Sohnes. Je älter Silvans Tochter und sein Sohn wurden, desto angenehmerer wurde das Familienleben. Die Kinder akzeptierten ihn als ihren Vater und die kleine Familie wuchs sehr schnell zusammen. Nachdem Alexia zwei Jahre alt wurde, das Familienleben geregelt schien und Silvan wieder mehr Zeit für sich hatte, entschied er sich, sein eigenes Unternehmen weiter zu expandieren. Durch die Vernetzung der Becker Food International und den politischen Aktivitäten seines Vaters, war Silvan bei der High Society von ganz Europa bekannt und geschätzt. Sein Vater war Mitglied internationaler Golf- und Sportclubs und besuchte Anlässe rund um den Globus. Er war Ehrenmitglied im Rotary Club und geschätztes Mitglied wichtiger europaweiter Wirtschaftsverbände. Meistens nahm er Silvan zu diesen Veranstaltungen mit und stellte ihn seinen Bekannten vor. Silvan war ein talentierter Verhandlungspartner und wusste, wie er die Leute für sich gewinnen konnte. Er war beliebt und schloss schnell eigene Bekanntschaften und Freundschaften mit Geschäftsleuten, Prominenten und Politikern. Er war es auch, der als Erster einen Teil des Familienvermögens in wohltätige Zwecke investierte. Er organisierte Events, Sammel- und Spendenaktionen und half das Leid in der Welt ein wenig zu mildern.

„Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin und ein edler Prinz …“, fing Silvan an, zu erzählen. Zehn Minuten später beendete er das Märchen mit dem Satz: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

Alexia war bereits eingeschlafen und Tom hatte müde, schläfrige Augen, die schon am Zufallen waren.

„Schlaf gut, Kumpel“, sagte Silvan und küsste seinen Sohn auf die Stirn. Er half ihm unter die wärmende Decke zu schlüpfen und deckte ihn zu, bevor er das Licht löschte und die Tür zuzog. So oft wie nur möglich las er seinen Süßen vor dem Schlafengehen ein Märchen oder eine Geschichte vor, dies war mittlerweile bereits Tradition. Wenn Silvan auf Reisen oder sonst verhindert war, dann übernahm Kindermädchen Tamara diesen Part.

Die neue Boutique war die zweite Filiale in London und sogleich die 50. Eröffnung in der Geschichte der Prime Food-Boutiquen, was natürlich gebührend gefeiert werden sollte. Daher musste auch alles perfekt sein. Morgen würden Alexia, Tom und Nanny Tamara Silvan nach London begleiten. Die Familie hatte dort ein Stadthäuschen gemietet und die Kinder würden in den nächsten Wochen zu Hause unterrichtet, um keinen Schulstoff zu verpassen. Die große Eröffnung wollte Silvan unbedingt mit seinen Liebsten feiern. Aber bevor sie alle nach London abhoben, traf er seinen Sicherheitschef Greiner im Zürcher Hauptsitz der Prime Food Ltd.

„Hallo, Mr. Greiner. Lange Zeit nicht gesehen!“ Silvan reichte seinem Sicherheitschef die Hand und die beiden setzten sich in Silvans Büro mit Ausblick über das Hafenbecken und den wunderschönen Zürichsee.

Greiner stellte ihm die neusten Auswertungen und Erkenntnisse vor und Silvan entschied sich rasch für das von Greiner geforderte Sicherheitskonzept. Meistens lagen in den Kühltruhen und Gefrierschränken mehrere Hunderttausend Franken an Lebensmitteln, die es zu beschützen galt.

„Wie steht es um die Sicherheit von Alexia und Tom, während unseres London-Aufenthaltes?“, fragte Silvan neugierig.

„Das Stadthaus ist mit einem modernen Sicherheitssystem ausgestattet, das sowohl die Eingangstüren als auch die Fenster elektronisch überwacht. Ein Notruf würde sofort an unser Sicherheitszentrum, hier im Hauptquartier, übermittelt werden und ich könnte umgehend reagieren.“ Greiner wusste, von was er sprach und Silvan vertraute ihm.

„Kann ich nun auf den Begleitschutz für meine Familie verzichten? Was denken Sie?“

Greiner überlegte kurz und sagte: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Sie in London erkennen wird und Sie dort in Gefahr sind. An der Eröffnung muss ich aber auf Sicherheitskräfte bestehen. Einverstanden?“

Silvan stimmte zu.

Silvan liebte sein Stadtbüro und der Hauptsitz der Firma war genauso hochwertig und architektonisch einzigartig, wie jede einzelne Boutique. Sein Büro war in der obersten Etage des achtstöckigen Bürogebäudes in der Nähe des Zürcher Bürkliplatzes gelegen. Dieser Raum war mit beinahe 100 Quadratmetern äußerst großzügig und bot viel Platz und die große Fensterfront ließ viel Licht in den Raum strömen. Der Boden bestand aus einem dunklen, geräucherten Eichenholz, das in einer wochenlangen, mühseligen Handarbeit zu einem wunderschönen und einzigartigen Tafelparkett zusammengefügt wurde. Die Möbel, die Materialien, das Lichtkonzept und die Kunstgegenstände wurden von einem international geschätzten Innenarchitekten speziell für diesen einmaligen Boden ausgewählt und der Raum wurde nach Silvans Anforderungen eingerichtet. Nebst seinem großzügigen Schreibtisch, der auf das Hafenbecken ausgerichtet war, befanden sich ein geräumiges Badezimmer sowie ein großer Besprechungstisch in seinem Büro. Bisher hatte er in Zürich noch keine passende Lokalität gefunden, um eine Prime Food-Boutique zu eröffnen. Leider. Er war aber stets auf der Suche nach Möglichkeiten, sein Imperium auszubauen und ein Ladenlokal am Sitz der Unternehmung war ein offener Meilenstein, den er in naher Zukunft erreichen wollte. Nils Nelson, sein Assistent, hatte seinen Arbeitsplatz im Vorzimmer, welches durch ein dickes Holzportal von Silvans Bereich abgetrennt war.

Nils kam zu Silvan ins Büro und erörterte mit ihm die neusten Zahlen seiner Boutiquen und besprach anstehende Probleme. Silvan hatte den äußerst talentierten Nils damals direkt von der Universität angeworben und dieser hatte sofort eingewilligt, für Silvan zu arbeiten.

„Die Boutique in Hamburg läuft nur schleppend, zu viel Konkurrenz am Platz. Hier müssen wir unbedingt Maßnahmen treffen.“

Silvan nickte und notierte etwas auf seinem Notizblock.

„Die Boutique in Paris wurde nach einer dreimonatigen Umbauzeit wieder eröffnet und erstrahlt in neuem Glanz. Die Kundenfeedbacks sind äußerst zufriedenstellend.“ Nils war stets über alles informiert, was bei Prime Food passierte. Der junge Mann hat sich schon oft bewiesen und ihm waren die Wertschätzung und der Respekt aller Mitarbeiter sicher.

Am Zürcher Hauptsitz arbeiteten rund 30 Angestellte. Dort waren das Marketing, die Buchhaltung und das Personalwesen angesiedelt. Draußen in den Boutiquen waren über 100 Personen für Silvan tätig und im Verteilzentrum in Hamburg nochmals ein paar Dutzend. Sein Unternehmen setzte mehrere Millionen Franken pro Jahr um und war äußerst rentabel. Silvan war eine vollkommene Transparenz wichtig. Er konnte die Zahlen seines Unternehmens sowohl auf seinem Tablett-Computer, als auch auf seinem Smartphone von überall her ansteuern und sich einen Überblick verschaffen. Er konnte Lagerbestände kontrollieren, die Arbeitszeiten der Mitarbeiter überprüfen und die Bestellbücher verwalten. Er war mit den meisten Angestellten per Du und traf sich regelmäßig mit seinen Ländermanagern zum Business-Lunch. Bei diesen Treffen erfuhr er alles, was es in den jeweiligen Gebieten Aktuelles gab und wo seine Firma noch wachsen konnte. Zentral für Silvan war, dass seine Angestellten sich wohlfühlten und sie gerne arbeiten gingen. Sie sollten sich mit dem Unternehmen identifizieren und immer wieder über sich hinauswachsen können. Mitspracherecht galt für alle Mitarbeiter in der Firma. Er animierte seine Angestellten dazu, sich direkt mit ihm in Verbindung zu setzen, wenn ihnen etwas unter den Nägeln brannte oder sie originelle Ideen zur Verbesserung von Prime Food hatten. Sie sollten sich bewusst und gewollt über Hierarchie-Stufen hinwegsetzen. Jede umgesetzte Mitarbeiter-Idee wurde prämiert. Im letzten Jahr gewann die Prime Food eine Auszeichnung: Bester KMU-Arbeitgeber der Schweiz. Silvan war stolz auf diesen Preis und warb seither mit diesem Slogan für sein Unternehmen. Er wollte diesen Preis auch dieses Jahr wieder gewinnen. Für ihn waren die Mitarbeiter äußerst wichtig.

Silvan verließ sein Büro und sagte beim Hinausgehen zu seinem Assistenten: „Hey, Nils. Ich bin dann mal weg. London is calling. Viel Spaß und arbeite nicht zu viel.“

„Nein, Silvan, keine Angst. Dir auch viel Spaß, Boss.“ Nils zwinkerte ihm zu.

Den 20-minütigen Fussmarsch bis zu seinem Haus, legte Silvan stets zu Fuss zurück. Er liebte es, an der frischen Luft zu sein, seine Mitmenschen zu beobachten und sich seines Lebens zu erfreuen. Tief im Inneren war er ein Naturbursche. Obwohl es in Zürich nicht mehr viel unberührte Natur gab, war es ihm wichtig, dass seine Kinder ebenfalls Gefallen an den Schönheiten der Schöpfung fanden und ging mit ihnen oft spazieren, an den See oder in den Tierpark. Silvan schlenderte durch die weltbekannte Bahnhofstraße, durchs belebte Niederdörfli, Ausgangsmeile von Zürich, um kurz darauf den steilen Weg bis zu seinem Anwesen in Angriff zu nehmen. Vorbei an der ETH, Zürichs renommierter Technischer Hochschule, bis zu den Toren seiner Villa. Von hier oben war der Ausblick über die Stadt einfach herrlich. An schönen Tagen sah man bis in die Alpen. Silvan war es wichtig, nicht mitten im Stadtkern zu leben. Sein Anwesen war von einer ausgedehnten Gartenanlage umgeben. Er kultivierte einen kleinen Gemüse- und Kräutergarten und seine Nanny pflegte einen bunten Blumengarten. Ein kleiner Teich mit quakenden Fröschen und filigranen, farbenfrohen Libellen war das Zentrum der Anlage. Zudem zierten alte Eichen und majestätische Tannen das Anwesen. Vom schlafraubenden Fluglärm des nahegelegenen Flughafen Zürich war Silvan zum Glück größtenteils verschont und auch Straßenlärm gab es hier oben beinahe keinen mehr.

Als Silvan die Lobby seines Hauses betrat, spürte er, wie ihm eine steife Brise aus Hektik entgegenschlug.

„Tom, hör endlich auf, deine Schwester zu piesacken und pack deinen Koffer!“ Nanny Tamara schien gravierende Probleme zu haben, die Kinder auf die bevorstehende Reise einzustimmen.

„Alexia, bitte. Du kannst nicht alle deine Kleidchen mitnehmen … Beschränke dich bitte auf vier Kleider, okay?“

Silvan musste schmunzeln. „Warum tu ich mir das immer wieder an?“, fragte er sich leise, bevor er den Gedanken wieder verwarf und durchs Haus rief: „Hallo, meine Süßen. Kann die Reise losgehen?“

Tamara kam als erste in die Lobby. Sie hatte einen roten Kopf und schien äußerst gestresst zu sein. „Zehn Minuten“, verlangte sie schnaubend.

Silvan grinste sie an und zwinkerte ihr zu. Er selbst hatte seinen Koffer noch nicht gepackt und tat dies nun schnellstmöglich. Die Reise nach London mit dem firmeneigenen Privatjet ab Zürich war laut, hektisch und äußerst zermürbend. Mit einem zehnjährigen Sohn und einer bald siebenjährigen Tochter, einem leicht überforderten Kindermädchen und unzähligen Koffern zu reisen, war eine große, nervliche Belastung für Silvan. Und trotzdem nahm er diese Strapazen gerne auf sich, um seine Liebsten bei sich zu haben. Er verzichtete bewusst auf viel Hauspersonal und hatte lediglich eine Haushälterin und einen Gärtner angestellt, die sich tagtäglich um das Anwesen in Zürich kümmerten. Er hätte auch noch einen Butler, Gepäckträger oder mehr Kindermädchen anstellen können, aber das war nicht Silvans Wunsch. Er wollte den Kindern ein möglichst alltägliches Leben bieten und sie nicht allzu sehr verhätscheln. Silvan schickte Alexia und Tom in öffentliche Schulen. Sie besuchte die erste Klasse und er war in der dritten Klasse der Grundschule Augarten in Zürich. Seine Kleinen sollten den Umgang mit gleichaltrigen Kindern pflegen und realisieren, dass nicht jedermann so viel besaß, wie die Beckers. Sie sollten den gleichen Problemen und dem gleichen Druck ausgesetzt sein, wie jedes Kind in ihrem Alter. Keine Sonderbehandlung. Später würde er die Kinder natürlich auf renommierte Privatschulen schicken, um ihnen die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen. Aber bis es so weit war, würden noch einige Jahre vergehen. Die Schule bewilligte die Absenz der Kinder, sofern für Privatunterricht gesorgt war. Also organisierte Silvan eine engagierte, deutschsprachige Lehrerin, welche die Kinder in den kommenden Tagen in London unterrichten sollte.

Das gemietete Stadthaus in London war ein Traum aus weißen Backsteinen und roten Dachschindeln. Der Ladbroke Square Garden war nur wenige Gehminuten vom Anwesen entfernt und ermöglichte ein wenig Naturfeeling, inmitten der Millionenmetropole. Das Haus bot große Räume, eine heimelige Einrichtung, moderne Geräte und einen weitläufigen Garten. Auf drei Etagen erstreckten sich vier Schlaf- und drei Badezimmer. Eine imposante Wohnküche war der zentrale Sammelpunkt des Hauses. Dort konnte sich die Familie zum Essen treffen, gemeinsame Stunden verbringen, reden oder Gesellschaftsspiele spielen.