EINLEITUNG

DER KURZE FRÜHLING DER @NARCHIE

Wir leben anders! Wir arbeiten mehr als je zuvor, schaffen bis zu 14 Stunden am Tag, und die Arbeit macht uns bei weitem nicht so kaputt wie die »nur« acht Stunden vorher im Betrieb. Das liegt ganz eindeutig daran, dass uns der Sinn der Arbeit klar ist, dass die weit weniger entfremdet ist.

Aus der Selbstdarstellungs-Broschüre des Alternativprojektes ASH (Arbeiterselbsthilfe), Frankfurt am Main, 1976

Man kann nie sagen, was man später machen will, weiß aber ganz genau, was man nicht will: Jeden Tag frisch rasiert zur Arbeit kommen müssen. Einen Chef haben, der in einer anderen Welt lebt. Die Tage bis zum Wochenende zählen. Am meisten Angst haben wir vor dem Moment, in dem wir das, was wir lieben, »Hobby« nennen …

Aus »Jetzt«, der Jugendbeilage der »Süddeutschen Zeitung«, im Sommer 2000

Am Anfang war ein Versprechen.

Das Versprechen beginnt im Jahr 2000 auf diesem Parkplatz am Rand einer Metropole im Herzen Europas. Bis zur Autobahn erstreckt sich ein lichter Wald aus Hochspannungsmasten, dazwischen Ensembles aus Wellblech und alten Autoreifen. Auf dem Parkplatz stehen etwa 30 alte, inspektionsmüde Autos, keines weniger als acht Jahre alt. Daewoo, Golf, Panda, ein ruinöser 180er Benz Diesel aus den frühen achtziger Jahren. Und tatsächlich, eine überlebende Ente. Hintendrauf ein grellroter Sticker: ICH KÜNDIGE FÜR IMMER!

Hinter dem Parkplatz erhebt sich ein Fabrikgebäude aus dem 19. Jahrhundert, mit melancholischer Düsternis und ebensolchen Ausmaßen. Zwei Etagen hell erleuchteter Lofts bilden einen scharfen Kontrast zu den Maschinenhallen, die als Industriemuseum fungieren. Dort wuselt eine unbestimmte Zahl von Pionieren der Neuen Ökonomie am Aufbau der Neuen Welt. Es riecht nach Schweiß und heißem Metall. Computerkabel winden sich durch die Gänge wie Spaghettibündel, Löcher werden lautstark durch Wände geschlagen, an anderer Stelle werden Trennwände aufgestellt. Drei Jungs mit Baseballkappen und schwarzen T-Shirts mit dem Aufdruck »Working class hero« schleppen 15 riesige Ficus benjamini hinein. »Keine Zeit, Bilder aufzuhängen, aber wenigstens ein paar geleaste Zimmerpflanzen.« Am Ende eines Ganges, in einem der unrenovierten Nebenräume, schlafen Leute auf Matratzen, andere starren in die Monitore und treten dabei auf Fahrradtrainern.

»Die sitzen schon 18 Stunden hier«, sagt einer der beiden Vorstände. Wir sind in einem kühlen Konferenzsaal, durch dessen halbtransparente, runde Wand man den Wald der Kabelbäume und Terminals übersehen kann. An die Wand hat ein Witzbold eine Kurve gemalt, die nach oben, in die Decke hineinführt. Dort, wo sie an die Deckenkante stößt, ist ein stilisiertes Mauseloch gezeichnet. »Wenn die sich nicht bewegen, schlafen sie ein.« Seine überdimensionierte Krawatte fliegt rot aus dem zerknitterten Hemd, er grinst durch eine Brille, die dem jungen Bill Gates alle Ehre gemacht hätte. Höchstens 26 Jahre ist er alt, auf seinen Backen glüht es.

»Wir wachsen mit 150 Prozent pro Monat. Wir müssen in spätestens zwei Monaten Marktführer sein. Und das Problem ist: Wann kommt man dazu, sich zu duschen? Deshalb bauen wir hinten Duschen ein. Das gehört zum Businessplan und zur Firmenkultur.« Der Mann ist ernsthaft, er hat eine Mission. Draußen auf dem Gang irren Leute zwischen 18 und 32 herum, die aussehen wie aus einem Kaurismäki-Film entsprungen: Ziegenbärtchen, Ohrringe, Baggy Shorts. Gepiercte junge Frauen wie aus einem Punkfilm.

»Ist nicht so leicht, neue Leute zu finden«, sagt der Vorstand entschuldigend. Er verdient wenig mehr als doppelt so viel wie seine »Mitunternehmer«, die ungefähr 3000 DM im Monat nach Hause tragen – wenn sie überhaupt nach Hause kommen. Vorerst. Arbeitsverträge? »Gehen wir nächste Woche an. War bisher keine Zeit dazu.«

Am Anfang war ein Versprechen. Und das Versprechen hieß NEUE ÖKONOMIE.

Die hinterste Ecke des Lofts fungiert als Küche. Die Mitarbeiter haben sie selbst eingerichtet, mit Großmuttermöbeln im Gelsenkirchener Barock. In der Mitte ein Tischfußballgerät, an dem eine stumme Vierergruppe lärmt. Im Kühlschrank, einem pinkfarbenen Designschrank von Bosch, finden sich Batterien von Red Bull, Essiggurken und riesige Schinkenbrötchen.

Anna H. sitzt in einem der Plüschsofas. Anna H. ist mit 34 eine der Seniors in diesem Startup-Unternehmen und einer der fünf Content Manager des Unternehmens. Sie hebt sich ab von den anderen, trägt ein schlicht-schrilles Prada-Kostüm und eine große Gucci-Sonnenbrille und raucht nicht. Sie hat ihr Medizinstudium vor fünf Jahren abgebrochen. Hat als Fahrrad-Kurier, PR-Frau und Animateurin in einem Reiseclub gearbeitet. Dann ist sie »der kreativen Hölle beigetreten«. Anna hat eine raue, meetinggestählte Stimme und versteht etwas von sanftem Zynismus. Sie wird nächstes Jahr drei Monate in die Karibik fahren. Garantiert. Schlafen. Nur Schlafen. »Nach zwei Jahren Kreativitätslager habe ich mir das verdient. Und es gehört zum Deal.«

»Die hier«, sagt sie, rollt mit den Augen und wedelt mit einer Reihe Computerausdrucke, »sind alle verrückt. Die brennen lichterloh. Und anders ginge das gar nicht. Denn das ist die zweite Revolution. Das, was die Achtundsechziger damals nicht geschafft haben.«

Und der Unterschied zu »damals«?

»Damals wollte meines Wissens keiner Millionär werden. Die hier wollen es alle. Und spätestens nächstes Jahr werden sie es sein. Reich. Reich und glücklich. Ist das etwa nichts?«

An der rau verputzten Designerwand steht auf wohngemeinschaftsmäßig hingekritzelten Zetteln:

Bitte räumt das Geschirr auf!

Und:

Macht was ihr wollt, aber macht es profitabel!

Und:

Work hard

Have Fun

Make History!

DER ERLEUCHTETE MARKT

VERGESST DAS INTERNET
ABER VERSTEHT ES ZUERST!

Alle Ökonomie wird zu einer »Ökonomie der Zeit«

Karl Marx

All Industry will end in a single huge bazaar, where a man will provide himself with everything.

Emile Zola, Money, 1891

Gerüche. Farben, Lärm. Der Duft von Gebackenem, Bitterem, Scharfem. Berge von runden, reifen Früchten. Gewürze und Köstlichkeiten, Lärm und Abfall. Verhandlungen, Feilschen, Geschrei. Geschichten aus anderen Ländern. Unglaubliche Geschichten!

Der Marktplatz ist ein duftender, vielfältiger, aber keineswegs ungefährlicher Ort. Schnell kann das Messer einmal locker sitzen, und haste-was-biste-was haut dich einer übers Ohr. Nichts steht fest, schon gar nicht der Preis. Der Markt kennt den Überfluss wie den Mangel: Die Früchte der Jahreszeiten sind preiswert, anderes wird über Nacht teuer, weil es von weither kommt oder irgendwo ein Brand ausbricht, eine Kutsche überfallen wird oder ein Pfeffersack umgefallen ist.

Dieses Jahr, lieber Freund, sollten es weniger Kürbisse sein und mehr Granatäpfel. Ja, Granatäpfel! Was, du willst keine anbauen? Zu mühsam? Streng dich an! Und ich mag diese goldenen Gürtelschnallen nicht, gib mir welche aus Zinn! Dafür zahle ich aber keine sieben Sesterzen, du Sohn eines Wucherers!

Der Markt ist ein zutiefst menschlicher Ort: Soft factors wie Sympathie, Vertrauen spielen eine gewaltige Rolle. Auf dem Markt erfahren Menschen etwas über die Welt. Der Markt ist der Ort der Sprache. Der Ort, an dem wir lernen, dass es einen Preis gibt, einen Wert und den Wert von Beziehungen. Der Ort, an dem Zukunft entsteht: Was heute einen Preis erzielt, kann morgen wertlos sein, ein Gegenstand kann einen Wert besitzen, den er erst später als Preis realisiert. Beziehungen und Informationen können sich als kostbarste aller Waren erweisen.

Es ist kein Zufall, dass zu allem entschlossene Terroristen den Terror zuallererst auf den Marktplatz tragen. Der Markt: Er ist das Zentrum des Ortes, das verletzliche Herz der menschlichen Kultur, die erste Sphäre der Öffentlichkeit und des Sozialen.

In der Weltordnung der feudalen Welt bestimmten zwei eherne Kraftzentren die Ordnung: der Herd und der Hof. Der bäuerliche Herd zementierte die Ordnung der Familie, die Herrschaft der Altvordern. Bei Hofe verzweigten sich die Hierarchien nach den Gesetzen von Reichtum und Blut, die genealogische Ordnung der Sippe regierte die soziale Welt: statisch, patriarchalisch, hierarchisch. Selbst wenn Intrige, Giftmord und Lüsternheit immer wieder zu Veränderungen führten.

Der Markt hingegen war immer schon eine Keimzelle des Aufruhrs. Der wirre Lärm, der vom Markt herüberdrang, erzeugte Unruhe im Palast. Wer trieb sich dort herum? Rottete man sich zusammen? Auf dem Markt konnte man etwas werden, ohne etwas zu sein, als Hasardeur, Ehrenmann, Gauner oder Informant – durch Fleiß, Raffinesse, Schlauheit, Smartness. Die Seefahrer, Gewürzhändler, Importeure brachten das Neue, das einen hohen Preis und hohe Aufmerksamkeit erzielte.

Im Römischen Reich unterlagen die Märkte engen militärischen Kontrollen, im Pharaonenreich waren sie verstaatlicht. Die Märkte des Mittelalters – die ersten offenen Märkte – waren ein Raum, der nicht freiwillig vergeben wurde. Die Fürsten Europas sahen sich im 14. Jahrhundert gezwungen, für ihren aufwendigen Lebensstil (und nicht selten ihre Kriegspläne) neue Einnahmequellen zu erschließen. Sie stellten Handwerker und Bauern in ihren Festungen geschützte Räume des Austausches von Waren und Dienstleistungen zur Verfügung. Wer kam, um zu handeln, musste einen Marktobulus zahlen, bekam dafür aber einen Ort, wo die Teilnehmer mit garantierten Regeln aufeinandertreffen konnten: die Marktordnung, garantiert durch die Hellebarden des Fürsten.

Die ersten hoch entwickelten Marktplätze des europäischen Mittelalters fanden sich – kein Zufall – in den handelsorientierten Regionen Europas, in den Niederlanden, im Ostseeraum, in England, aber auch in Teilen der Mittelmeerländer, zum Beispiel Portugal und Spanien. Hier herrschte ein früher liberaler Geist, hatten Abenteurer und Eroberer neue Waren und Ideen gebracht. Wo Märkte blühten, blühten auch Kunst, Architektur und geistiges Leben. Wie im Florenz der Medicis, oder in dem Handels- und Marktzentrum der Renaissance: Venedig. Venedigs außerordentliche Architektur, sein humanistischer Mut, entstammte dem dynamischen Handelswesen, das sich im frühen 13. Jahrhundert zwischen der arabischen und zentraleuropäischen Welt entwickelt hatte. Während der Rest Europas noch in der Dumpfheit des ständischen Feudalismus verharrte, förderten die Marktkulturen nicht nur Künste und Technologien, sie entwickelten auch eine frühe bürgerliche Kultur, die den Republikanismus begründen sollte – und schließlich die Keimzelle der industriellen Revolution bildete.

Doch in den letzten zwei Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte blieb der freie Markt eher eine Ausnahme als die Regel. Despotien, Oligarchien, Monopole, Bürokratien aller Art – die meisten Systeme, die die Menschheit im Laufe der Zivilisationsgeschichte hervorgebracht hat, hatten wenig Interesse an freien Märkten. In keiner sozialen Utopie – von Campanellas Sonnenstaat bis Fouriers Bildungssozialismus – finden wir den Markt als sozialen Ort. Im Gegenteil: Seine Schmuddeligkeit und Unberechenbarkeit störte. Auch die sesshaften Bauern und Bürger nebenan waren nicht unbedingt immer freundlich gestimmt gegenüber seiner chaotischen Kraft, selbst wenn sie von ihm profitierten.

Und viele Organisationen, die im Laufe der Geschichte entstanden sind, hatten kaum eine andere Aufgabe als den Markt zu verhindern.

In der »Thorner Zunfturkunde« des deutschen Handwerks vor 250 Jahren hieß es:

dass kein Handwerksmann etwas Neues erdenken oder erfinden oder gebrauchen soll, sondern ein jeder aus bürgerlicher und brüderlicher Liebe sein Handwerk ohne des Nächsten Schaden betreiben soll.1

Und heute? Wenn es nicht gerade um den gemütlichen Wochenmarkt geht, ist »Markt« hierzulande eher ein Schimpfwort. Marktkräfte sind dämonisch, antisozial, kalt. Markt muss »reguliert« und »gezähmt« werden, man muss »seine Stacheln ziehen«, seine »Ungerechtigkeiten« beseitigen. Der Markt – das waren wahlweise und beliebig immer schon »Wall Street und Kapitalismus«, heute »McDonald’s und Neoliberalismus«. Der Hass gegen den Markt war immer auch mit den Unheilstraditionen Europas verbunden, mit Fremdenhass und Antisemitismus. »Feilschen«, »Schachern«, »Basar« – das sind im Deutschen, aber auch in einigen anderen europäischen Sprachen Wörter der antisemitischen Un-Sprache.

In der Geschichte des Marktes – und seiner kulturellen Wahrnehmung – spiegelt sich die Geschichte der Zivilisation. Seine Geschichte ähnelt einem schwankenden Boot auf den Wogen der Geschichte und des Zeitgeistes.

Der Markt kann »wuchern«, »explodieren« und »kultisch verrückt spielen«, wie die Geschichte mit den Tulpenzwiebeln im ausgehenden 15. Jahrhundert zeigt. Der Markt kann sich, über Nacht und drastisch, selbst korrigieren, und nichts bleibt als ein Kräuseln auf der Wasseroberfläche. Er blüht auch – und gerade – auf Trümmern. Der Markt funktioniert über das Medium Geld, aber an all seinen Ecken und Enden franst das Geld aus. Es geht über in Tausch und Nachbarschaftshilfe. Im Markt spiegeln sich die Träume und die Hysterien, die Ängste und Hoffnungen. Der Markt ist ein symbolisches Geflecht zwischen den Menschen und seinen Werten.

Der Markt ist das Wesen der Kultur! Und der Stachel der Evolution.

DIE HÖLZERNEN MÄRKTE DER INDUSTRIEGESELLSCHAFT

In der industriellen Produktionsweise wird ein Gegenstand, ein Produkt, in hoher Stückzahl in einem langen, arbeitsteiligen Prozess unter ständigem Zusatz von Kapital, Material und Logistik hergestellt. Für die meisten Industrieprodukte hat sich dabei eine mehrgliedrige lineare Kette aus verschiedenen Schritten herausgebildet, die von der Bedarfsermittlung über den Einkauf von Teilen, das Erstellen der Logistik bis zur Lagerung und zur Auslieferung reicht (siehe Abb. 1).

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Abb. 1: Die industrielle Wertschöpfungskette

Der Unterschied zu einem wirklichen, einem lebendigen Markt, fällt sofort ins Auge: Bei den meisten Produkten dauert es Jahre, bis sie ihren Weg in den Markt finden. Der ganze Prozess ähnelt einem Schießen ins Dunkle: Die Kalkulation, die den Preis erzwingt, ist »steif«, d.h. sie muss ohne flexibles Wissen darüber erfolgen, was der Kunde bereit wäre zu bezahlen. In einigen Jahren, wenn das Produkt auf den Markt gerät, kann sich die Bedürfnislage längst geändert haben. Der Preis entsteht nicht aus den Bedürfnissen des Kunden, sondern aus der Angebotslogik der Produktion, des Kapitaleinsatzes heraus.

Diese steifen ökonomischen Ketten machen Produkte trotz aller Rationalisierung und Produktivität industrieller Systeme teuer. Sie erfordern Heerscharen von Mediatoren zwischen Märkten und Menschen: Psychologen, Marktforscher, Meinungsexperten, Berater. In jeder Einkaufspassage lungern die Befrager der Konsuminstitute, in unzähligen Haushalten stehen komplizierte Apparate, die Werbezeiten und Einschaltquoten messen, Konsumenten werden auf die Couch gelegt und durch die Mühlen der Tiefenpsychologie gedreht, um ihnen ihre intimsten Wünsche zu entlocken. Und dennoch: 80 Prozent aller Marktneueinführungen sind heute millionenteure Flops.

Die industrielle Produktion hat ein Babylon des Angebots und der Nachfrage erzeugt, in der Sprachlosigkeit und Überdruss herrschen. Die meisten Innovationserfolge der vergangenen Jahrzehnte, vom Van bis zum Handy, wurden in Markttests von den Konsumenten vorher abgelehnt. Umgekehrt wurden eine Unmenge guter Ideen gar nicht erst produziert, weil sie nicht in die Produktionsraster der Industrie passten. Industrieller Markt ist eine Wüste von Verschwendung, in der der Wind immer aus der Luvseite des Angebots weht. Schon die Sprache verrät dies. Am Ende der Kette steht der »Verbraucher«, der brave Vertilger des Endprodukts, der brave Verwerter am Ende der Wertschöpfungskette. Ver-brauch-er! – man lasse das Wort für sich sprechen!

Die Sprache des Marketings ist verräterisch. Sie erzählt die Geschichte von einer Markt-Wirtschaft, in der der Mensch an den langen Drähten der industriellen Produktion zappelt. Er ist Objekt, nicht Subjekt des Marktes. Er ist »Zielgruppe«, »Cluster«, »Target«; gewaltige Geldsummen werden ausgegeben, um das »Target« aufzuspüren und zu »penetrieren«. Und der Staat mit seinem Hunger nach Marktregulierung verstärkt diesen Effekt der Entfremdung zwischen Mensch und Markt. Die Obstberge und Milchseen der EU, der Rinderwahnsinn der Fleischerzeugung, die sinkende Qualität der Lebensmittel – auf einem echten Markt würde man den Händlern solche Ware um die Ohren hauen! Auf jedem echten Markt würden überschüssige Güter schnell billig werden und sich die Produktion über Nacht den Wünschen der Käufer anpassen. Industriekapitalismus in unseren Breiten hingegen beschäftigt eine riesige Anzahl von Menschen mit der Erzeugung, Verwaltung, Regulierung und Dauererhaltung von nicht-marktfähigen Produktionssystemen: Stahlarbeiter sollen Stahlarbeiter, Bauern wie gehabt Bauern bleiben. Kein Wunder, dass der heilige Zorn des Konsumenten immer größer und größer wird – und sein Misstrauen sich in Boykotten, Kaufunlust und gnadenlosem smart shopping Luft verschafft (und bisweilen in antikapitalistischen Ausfällen).

VALUE CHAINS: DAS COMEBACK DES KUNDEN

Die Netzwerktechnologie, die das Internet in unsere Welt bringt, zerstört die Linearität der industriellen Wertschöpfung auf mehreren Ebenen.

Sie beschleunigt zunächst ihren Zeitpfeil. Sie attackiert ihre dunklen Ecken – jene Nischen der industriellen Ökonomie, in denen unproduktive und zeitintensive Tätigkeiten (Lagern, Vorhalten, Herumfahren) den Preis in die Höhe treiben, aber nicht den Nutzen für den Konsumenten erhöhen. Die spanische Textilkette ZARA zum Beispiel benötigt nur noch 14 Tage, um eine neue Modekollektion auf den Markt zu bringen – durch eine durch das Netz integrierte totale Innovationskette mit direkter Trendrückkoppelung aus den Geschäften. Und dies in einer Branche, die im Grunde schnelllebig ist, bis vor kurzem jedoch einen normalen Produktzyklus von zweieinhalb Jahren hatte!

Schließlich stellt das Internet am toten Ende der Wertschöpfungskette, dem des Konsumenten, einen Sender auf, der nun in den Markt hineinruft. Diesen Effekt hat Michael Dell, der Gründer von Dell Computers, am besten beschrieben. Dell stellt Computer nur noch on demand her – auf »Zuruf« des Abnehmers und innerhalb von vier Tagen:

Statt wie gewohnt immer bessere Produkte zu entwickeln und auf den Markt zu werfen – in der Hoffnung, dass die Kunden ihre Qualität erkennen und wir ein Maximum davon absetzen –, kehren wir die Sache um. Wir fragen den einzelnen Kunden, welchen Computer er haben möchte, damit wir ihn bei seinem Erfolg unterstützen können.

Die Neue Logik der Neuen Ökonomie beginnt an ihrem Anfang: Unternehmen beteiligen ihre Kunden an der Entwicklung der Produkte. Websites wie Ecircle.com organisieren diesen Prozess bereits im Auftrag der Hersteller: Sie bieten Foren zur Verbesserung von Produkten und Services. Communities und Verbraucherplattformen wie Ciao.com, Dooyoo.com oder Vocatus.de bündeln die Meinung der Konsumenten und spiegeln sie den Herstellern: Aus dem Konsumenten wird der Pro-Sument.

Wie David Bovet und Joseph Martha es in ihrem Buch »Value Nets«2 formulierten: Aus Wertschöpfungsketten werden auf diese Weise Wertschöpfungsnetze. Unternehmen gruppieren sich nun rund um den Kunden, dem sie mit Hilfe von anderen Dienstleistern und Providern dienen. Durch den permanenten Prozess elektronischer Rückkoppelung erfahren sie immer mehr über seine Bedürfnisse und bedienen sie mit einem ganzen Fächer von Service, Lieferung und Entsorgung.

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Abb. 2: »Werteketten« in der Wissensgesellschaft (nach Bovet/Martha)

In dieser neuen Welt des Providing geht es immer weniger um einzelne Produkte, sondern um Marktprozesse. Es ist vor allem der Zugang zum Kunden, der nun zum »Asset«, zum eigentlich wertvollen Produktionsfaktor wird.

Aber wie funktioniert das alles? Beschäftigen wir uns noch ein wenig mehr mit den Gesetzen dessen, was wir leichtfertig und ohne allzu tiefes Verständnis in den letzten Jahren »Neue Ökonomie« zu nennen pflegten …

TRANSPARENTE MÄRKTE

Mitte der achtziger Jahre, zu Beginn des ersten Börsenbooms, schossen in den Großstädten Cafés und Kneipen mit Namen wie »Cash Flow« oder »Zitterkurs« aus dem Boden. Auf Monitoren über der Theke wurden die Getränkekurse notiert, und man bezahlte soviel fürs Bier, wie die Gäste Nachfrage erzeugten. Je mehr Nachfrage nach einem bestimmten Getränk, desto höher der Preis. Die Folge waren grässliche Kopfschmerzen, denn die Kunden einigten sich schnell darauf, keine allzu große Nachfrage nach einem bestimmten Getränk zu erzeugen. Und tranken alles durcheinander.

Was als Beitrag zur Spaßkultur begann, war in Wirklichkeit ein Hinweis auf die Zukunft. Das Internet macht die Preise – alle Preise – verhandelbar und disponibel. Die klassische Marktsituation im Internet ist eben nicht die Ja-Nein-Situation des klassischen Klick (»In den Einkaufskorb«), sondern die Versteigerung. Ich biete den Preis, der »Kunde« = Hersteller reagiert. Oder das Flohmarkt-Prinzip: Ich biete einen Gegenstand, eine Innovation, und teste, ob eine Nachfrage dafür existiert.

Natürlich werden wir in Zukunft nicht jeden Gegenstand des täglichen Bedarfs ersteigern wollen. Aber die Kunden-Kompetenz wächst – der smart shopper ergreift die Macht auf den Konsummärkten. Jeder, der einmal mit einer virtuellen Preisagentur gearbeitet hat, weiß, dass man mit wenigen Kommandos über den ganzen Kontinent den billigsten Anbieterpreis für eine Segeljacht, einen Videorecorder oder ein Auto abfragen kann. Selbst wenn man sich dann nicht für das billigste Angebot entscheidet (zum Beispiel aus Servicegründen) – man kennt es. Und kann mit diesem Wissen den nächsten stationären Händler am Ort unter Druck setzen!

Durch das Instrument Internet wird der Preis in lauter kleine Scheiben geschnitten und damit für den Kunden decodiert. Wird demzufolge der »empowerte« Konsument des Internetzeitalters immer nur den billigsten Preis zahlen wollen und dadurch ganze Branchen in den Ruin treiben? Das ist eher unwahrscheinlich. Zur Eigenschaft dynamischer Märkte gehört auch, dass sich Erfahrungen schnell herumsprechen. Ein Auto ohne Service, ein Computer ohne Systemhilfe ist wenig wert (das ist einer der Gründe, warum der PC-Markt in die Krise geriet: Computer sind nicht wirklich billig, sie erfordern enorme Investitionen in technische Assistenz oder eine gigantische Zeit-Lern-Investition des Users). Was sich durchsetzen wird, ist vielmehr Preistransparenz: Wir Kunden verstehen ein Produkt mehr in seinen gesamten Nutzungskomponenten, und was wir verlangen sind unverschleierte Preise: Welcher Anteil vom Preis bezieht sich auf Marketing, Produktion, Handel, Servicequalität? Ist der angeblich so kundenfreundliche Großhändler, bei dem man weder etwas zurückgeben noch ein Produkt fachgerecht reparieren lassen kann, nicht nur ein Trugbild?

Menschen lernen schnell, wenn man sie lernen lässt. Sie lernen auch, dass es sinnvoll sein kann, mehr für Service und Komfort zu bezahlen! Transparente Märkte fördern deshalb mittelfristig auch Dienstleistungen. Und sie sind immer auch mit Meinungen und Erfahrungen verknüpft. Auf dem alten Marktplatz gab es nicht nur das Display der Waren und den Preisvergleich, sondern auch die Vielzahl der Meinungen, die im Marktgeschnatter verfügbar waren. In der Welt der »Dynamiconomy« ersetzen Test-Sites wie Dooyoo diese Meinungs- und Informationsmärkte.

Für viele industrielle Anbieter bleibt diese neue Transparenz jedoch ein wahrhafter Alptraum. Low-Interest-Produkte, Warengruppen mit wenig Stil und Phantasie, Gegenstände des so genannten täglichen Bedarfs, eingeschliffene, bleierne Märkte ohne Glanz: Hier geht es immer nur um den Preis, und das bis auf die Knochen! Denn einen großen Teil unseres spätindustriellen Wohlstands verdanken wir eben nicht effektiven, kundenfreundlichen, smarten Produkten und Dienstleistungen, sondern den diversen Techniken der Marktintransparenz. In unseren heutigen Wertschöpfungsketten haben sich jede Menge toter Ecken eingenistet, Weidegründe für Schmarotzer, Pfründe für Leistungen, die keine Leistungen sind. Der Kunde gewinnt an Macht, indem er das geschickt getürmte Gebäude aus Zuschlägen, Handelsspannen und Werbekosten durchschaut und gegebenenfalls torpediert. Alles, was ihm keinen realen Nutzen bietet, fällt aus der Wertschöpfungskette heraus. Auch wenn der Produzent noch so sehr zu seinem Händler hält – im virtuellen Raum steht stets die Drohung, die gesamten Kosten des Handels zu sparen und dort zu kaufen, wo die Ware die Produktionsstätte verlässt. Der Internetbuchhändler Amazon nutzt die neue Situation zunächst für sich, indem er den Kunden zum Zwischenhändler macht und ihm für Käufervermittlung über dessen Homepage zehn Prozent Provision zahlt. Die Folge der Transparenz ist eine völlige »Nacktheit« des Käufer-Produzenten-Verhältnisses. Handel wird zertrümmert und in reale Dienstleistungen aufgelöst.

Als im Winter 2001 mehrere US-Fluglinien Meilengutschriften an ihre Kunden schickten, um sich für Verspätungen zu entschuldigen, dabei aber Kunden in New York aussparten, stürmten Zehntausende wütende Kunden per E-Mail die Beschwerdebriefkästen und drohten mit Flugstreik. Der Kunde, der immer der Depp war, zieht dem Verkäufer die Hosen herunter. Er diktiert die Bedingungen. Zehn Sesterzen? Wenn deine Fische drei Sesterzen kosten, schicke mir eine E-Mail!

FLÜSSIGE MÄRKTE

Es ist kaum fünf Jahre her, als jemand, der eine gute Geschäftsidee hatte, auch ein echtes Problem hatte: Woher das Kapital zur Realisierung nehmen? In der Produktionsgesellschaft bedeutete Idee wenig, Stückzahl und Hardware dagegen unendlich viel. Wer eine Fabrik/Grundstück besaß, war reich, wer Ideen hatte, war allenfalls ein Intellektueller. Ein erfahrener Ingenieur, der bei seiner Hausbank mit einer soliden Internetidee um einen Unternehmenskredit angefragt hätte, wäre mit Formularen solange traktiert worden, bis er aufgegeben hätte.

In der Blütezeit der New Economy drehte sich diese Logik geradezu um – man bekam für jede halbgare Idee Millionen hinterhergeschmissen. Und auch, wenn Risikokapital heute wieder knapper geworden ist, zeigen sich doch hier die Fundamente einer neuen Marktlogik. In wissensökonomischen Märkten ist Kapital, anders als in industriellen Systemen, nicht mehr knapp. In ihnen werden nicht Produktionen, sondern Ideen bewertet. Kapital wird allgegenwärtig und überall verfügbar, unruhig und flüchtig, mit anderen Worten: billig.

Das bedeutet, dass wir die alten ehernen Regeln der Tresore und Bankgebäude, auf denen die industrielle Ökonomie fußte, mittelfristig überwinden. Plötzlich bewegen sich ganz andere Spieler auf dem Feld von Einfluss und wirtschaftlicher Macht. Menschen, die nicht mehr in grauen Anzügen unter ihresgleichen verweilen. Menschen mit seltsamen Baseballkappen und weiten Hosen. Menschen mit einer Lockerheit, die die Sphäre des Geldes mit ihren langsamen Zinsmühlen und diskreten Akkumulationen nie hervorbringen konnte. Menschen mit Ideen. Es heißt aber auch: Eine Phase der Überspekulation, der Hypes, ist unvermeidlich. Wie jeder neue Rohstoff neigt auch der Rohstoff Wissen in seiner Markteinführungsphase zu erratischem Verhalten.

EFFIZIENTE MÄRKTE

In der industriellen Welt verlief die Erzeugung von Gütern – und die Schöpfung von Mehrwert – auf relativ überschaubaren Pfaden. Das Surplus, der Überschuss oder der Profit, errechnete sich aus der Differenz von Kapital- bzw. Produktionskosten und erzieltem Preis. Dabei waren die Margen immer relativ begrenzt, denn für jedes industrielle Produkt musste immer wieder der annähernd gleiche Aufwand von Kapital, Arbeit und Rohstoffen bereitgestellt werden. Zwar wurde die Produktion – durch Know-how und Rationalisierungseffekte – im Lauf des Produktionszyklus langsam billiger, aber dieser Effekt war praktisch zu vernachlässigen (und wurde oft durch Rohstoffpreis- und Lohnerhöhungen aufgehoben).

Die immateriellen Güter, die in der Neuen Ökonomie die Hauptrolle spielen, brechen aus diesen Gesetzen aus. Wachstum bedeutet nicht mehr »circa sechs Prozent pro Jahr, plus minus Konjunktureffekt«, sondern Verdreifachung in einem Jahr. Die Art und Weise, wie die Börsen eine Zeit lang innovative IT-Firmen bewerteten, spiegelte diese Hebelwirkungen.

Natürlich wurden diese Hebelwirkungen auch überbewertet, und manche von ihnen haben ihre Tücken. Aber dennoch gilt: In informell gesteuerten Märkten herrscht eine völlig andere Musik als in der Welt der dinglichen Produktion – ein wilder, stampfender, 200-bpm-Beat, der nicht von schlechten Eltern ist! Der Sound einer großen, allumfassenden Welt- und Wunschmaschine!

INDIVIDUELLE WUNSCH-MÄRKTE

Wie oft haben wir schon einen Prospekt oder Katalog durchgeblättert und gedacht: »Ich wünschte, jemand würde ein Buch schreiben über …« oder: »Gäbe es doch nur ein Fahrrad mit …« oder: » Warum stellt keiner einen Schraubenzieher her, der …« oder: » Warum gibt es das nicht in Blau? « Ein Versandkatalog kann darauf nicht reagieren. Das Internet sehr wohl.

So schrieb es Douglas Adams, der Autor von »Per Anhalter durch die Galaxis« in seinem Internetführer3. Informell gestützte Märkte werden erst dann richtig reif, wenn sie für den ganz und gar individuellen Kunden einen wirklichen Vorteil versprechen. Das Netz ermöglicht eine ständige Testwerkbank, auf der Unternehmen Ideen und Innovation von den Kunden abstimmen lassen können. Umgekehrt speist der Kunde sein individuelles Wünschen ein. Der nordamerikanische Auto-Versicherungskonzern Progressive (www.progressive.com) hat einen Computer herausgebracht, den seine Kunden in ihrem Auto montieren können. Der Rechner registriert mit Hilfe eines GPS-Systems jede Fahrbewegung. Da Nachtfahrten riskanter sind als Tagfahren, Fahrten in der Rushhour und auf bestimmten Routen gefährlicher als auf anderen, ist der Risikofaktor im Auto je nach Fahrverhalten sehr verschieden. Je nach Unfallhäufigkeit und Risikobereich wird die individuelle Versicherungsprämie berechnet. Endlich können die Sonntagsfahrer mit Hut für ihre Angewohnheit, den Wagen überwiegend in der Garage zu parken, durch eine radikale Senkung ihrer Prämie belohnt werden.

Der Supermarkt der Zukunft wird in zwei Ausführungen vorhanden sein: real und virtuell. Beide »Räume« unterscheiden sich nicht wesentlich, lediglich riecht und fühlt es sich im »Real Shop« etwas reicher und intensiver. Ich trete ein, und mein Communicator schaltet sich auf Vergleichsscan. Alle aktuellen Angebote, die mir bei meinem Gang zugeflüstert, zugeblitzt und zugescannt werden, werden sofort mit den Angeboten von Konkurrenten verglichen, die in kleiner grüner Schrift neben den aktuellen Angebotspreisen auftauchen, wenn sie günstiger sind. Mein Communicator wird nicht bei jeder kleinen Preisabweichung sofort den Vorschlag machen, den Provider zu wechseln, sprich den Einkauf abzubrechen. Er wird abschätzen, ob sich der Zeitaufwand lohnt, umzudrehen und wieder hinauszugehen …

Während ich durch die »Gänge« gehe, werden mir für Dinge, auf die meine Aufmerksamkeit fällt, momentane Preise genannt. Aber auch diese Preise sind nicht fix. Ein Bündel besonders reifer Tomaten kann man leicht unterbieten. Beim Waschmittel bieten wir auf Menge dagegen:

»10 Pakete minus 20 Prozent.«

»12 Pakete minus 15.«

O.k., aber plus Extramiles (natürlich habe alle Retailer in Zukunft Meilen-Bonus-Programme, die ich für Reisen, Lifecoaching oder Gesundheitsdienstleistungen ausgeben kann).

Einige Gegenstände sind sehr frisch, sehr neu, sehr delikat. Heute gibt es etwa Tiefseefisch zu astronomischen Preisen – d. h. Preisen, die sich alle drei Sekunden massiv verändern. Ein Algorithmus, der immer bei so genannter HotWare auftaucht – seltener Ware mit einem Neuigkeitseffekt, die volatile Märkte erzeugt.

OFFENE MÄRKTE