László Krasznahorkai
Der Gefangene von Urga
Roman
FISCHER E-Books
László Krasznahorkai wurde 1954 in Gyula/Ungarn geboren.1993 erhielt er für ›Melancholie des Widerstands‹ den Preis der SWR-Bestenliste-Preis. 1996 war er Gast des Wissenschaftskollegs, 2008 S. Fischer Gastprofessor an der FU Berlin. Bela Tarr verfilmte einige von Krasznahorkais Büchern, darunter ›Satanstango‹ und die ›Melancholie des Widerstands‹ als ›Werckmeisters Harmonien‹. Er ist Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Zuletzt erschien der Roman ›Krieg und Krieg‹ und sein Buch über Japan: ›Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluß‹. László Krasznahorkai wurde für ›Seiobo auf Erden‹ mit dem Brücke-Berlin-Preis 2010 sowie dem Spycher Literaturpreis Leuk 2010 ausgezeichnet. 2014 wurde er mit dem Vilenica International Literary Prize, dem renommiertesten Literaturpreis Zentraleuropas, ausgezeichnet.
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Mit dem Roman ›Der Gefangene von Urga‹ begann László Krasznahorkais Erkundung des Ostens, die ihn erst auf den Spuren Marco Polos in die Mongolei (Urga ist Ulan Bator), nach China und schließlich in ›Seiobo‹ bis nach Japan führte. In ›Der Gefangene von Urga‹ werden die wichtigen Kapitel der ersten Reise nach Peking in brillanten Erzählbildern geschildert - die Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn über die Mongolei nach Peking, Wüstenstationen, Tempelpagoden mit ihrer im Finstern liegenden Pracht, das Betrachten eines sich langsam öffnenden Fächers beim Besuch einer Pekingoper: die schrille Buntheit, rohe Gewalt und sanfte Anmut Chinas werden mit einem großen Staunen wahrgenommen. Es gelingt ihm ein Blick hinter die Spiegel seiner dunklen westlichen Melancholie. Heimgekehrt reibt er sich die Augen und rekonstruiert die Stationen seiner Reise.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Lenke Szilágyi
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel
›Az urgai fogoly‹ im Verlag Széphalom Könyvmühely, Budapest
© 1992 by László Krasznahorkai
Die deutsche Erstausgabe erschien 1993 im Ammann Verlag, Zürich.
Für diese Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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ISBN 978-3-10-402087-7
Nel mezzo del cammin di nostra vita
Mi ritrovai per una selva oscura,
Chè la diritta via era smarrita.
D. A.
Grad in der Mitte unsrer Lebensreise
Befand ich mich in einem dunklen …
H. G.
Für Miklós Mészöly,
sehr herzlich
Auf die Frage, womit die Geschichte denn begonnen habe, antwortete ich schon eine Woche nach meiner Heimkehr – Fragenden und Antwortenden gleichsam auf dieselbe schiefe Ebene stellend – irgendwem, begonnen habe sie mit der Reise und geendet ebenfalls, mit der außergewöhnlichen Reise, setzte ich hinzu, die zwischen Urga und Beijing annähernd mit einem Tag, einer Nacht und einem weiteren Tag messbar war – und dieses Annähernde, dieses unverhüllt Ungefähre, diese für mich nun wirklich nicht typische großzügige, das heißt lyrische Handhabung der Angaben, kurz, dass ich dem sonst geradezu quälenden Zwang meiner Leidenschaft zu einer geradlinigen Antwort ein Nein entgegensetzte und die Entfernung mit der Dauer ausdrückte, stellte mich mitten in die rätselhafte, schwere Traurigkeit, aus deren sanftem, aber unbarmherzigem Strudel ich mich seither nicht befreien konnte, sooft ich es auch versuchte – und immer aus einer anderen Richtung, um sie endlich loszuwerden und endlich einzutreten in diese im Zaudern versickernde Berichterstattung, diese oft in Verwirrung erstickende Information, diese dämmerhafte Meldung oder wie immer man es nennen will. Ich war und bin mir sämtlicher Einzelheiten meiner Geschichte bewusst, ich fühlte und fühle mich natürlich imstande, mich an ihr festzuhalten und ihre Grundelemente wiederzugeben; doch vom ersten Versuch an vermochte ich und vermag ich auch jetzt nicht in Worte zu fassen, wovon dies alles handelt und warum und von wem ich des Augenblicks beraubt werde, in welchem mir der orientierende Sinn des hier folgenden merkwürdigen Ereignisses klarwerden könnte, das, was die Geschichte sagen will. Ich bin also hinsichtlich des Wesentlichen ratlos, zu meiner Schande verstehe ich das Wesentliche nicht, und ich glaube, ich darf offen zugeben, dass mich eine solche Ausbootung aus dem Wesentlichen sehr schmerzlich trifft, senkt sich doch das Urteil über ein Wesen herab, das sich bislang ohne Unterlass als hoffnungslosen Erforscher einer im Dasein vermuteten ideellen Aussage betrachtete und dem es bisher nicht in den Sinn kam, dass aus einem ein wenig altmodischen Besessenen nicht nur ein nach dem Wesentlichen strebender Nichtsnutz, sondern irgendwann sogar geradenwegs ein geschasster Ritter des Wesentlichen werden könnte.
Nach dieser als Einleitung gedachten Erwähnung der Ausgeschlossenheit aus dem Sinn der Geschichte ist es nun an der Zeit, dass ich von der Traurigkeit, die der Beginn der Erzählung geweckt hat, verrate, dass sie zu der leeren und gerade ihrer Leerheit wegen gefährlichen Melancholie zurückführt, die mich schon um die Mitte der Reise befiel und zu der auch ich meinen einsamen, müden, sensiblen Leser zurückführen muss, wenn ich will, dass er versteht, dass diese Melancholie mit der Geschichte selbst identisch ist.
Kalt stach die Sonne, und der Himmel war von einem so grellen Blau, wie man es, ich möchte sagen, fast nur noch in den Augen gehetzter Meuchelmörder zu sehen vermag. Wir hatten die Elendsquartiere von Urga verlassen, es gab keine zerlumpten Winkenden mehr, und in der Ferne hatte sich der scheußliche Wachtturm der letzten Kaserne verloren. Ich trat weg vom Zugfenster und begann mein beim Einsteigen einfach hingeworfenes Gepäck zu ordnen. Da ich mich aber nicht recht entscheiden konnte, was in den Reisesäcken bleiben und was herausgenommen werden sollte, was also in der nächsten Zeit benötigt werden würde, vollendete ich dieses Tun erst, als der Zug in seiner verwirrenden Gemächlichkeit einen Pass überwunden und den südlichen Hang des Bogd-Gebirges erreicht hatte und als draußen das begann, wovon ich zwar wusste, dass ich damit zu rechnen hatte, das mich aber dennoch in Erstaunen versetzte: die am ehesten an Halden unfruchtbaren Gesteins erinnernden Gebirgsketten entlang endloser Hochebenen. In der wohligen Wärme des Schlafwagens legte ich mich auf den Rücken, lehnte den Kopf an ein Kissen und unterzog die Landschaft durch das Fenster einer aufmerksamen und prüfenden Betrachtung; als ich jedoch erkannte, dass die albdruckhafte Wirkung der Halden keinerlei Vergleich glaubwürdig wiedergeben könnte – waren diese riesigen, kahlen Berge doch unübersehbar und unbezweifelbar tot –, lenkte ich mich flink von dieser beunruhigenden Tatsache ab und stellte mir die Fragen, die sich Reisende üblicherweise stellen, unter anderem, was ich hinter mir gelassen hätte und was mich noch erwarten würde. Ich breitete eine Karte vor mir aus, und weil ich einen ganz leichten Schwindel empfand, als wären die ratternden Räder unter meinem Abteil unvermutet auf ein steil abfallendes Geleis abgeirrt, folgte ich, um meine Situation zu bestimmen, mit dem Zeigefinger neuerlich der bis Jining schnurgeraden schwarzen Linie, die Urga mit Beijing verbindet und die die Strecke nicht nur meines gutgeheizten mongolischen Zuges, sondern des gesamten, gespenstisch russischen, sogenannten Transsibirien-Expresses anzeigen sollte – eine winzige Linie, dünn wie Zwirn, so stellte ich fest, in einem riesigen gelben Feld.
Schon in Urga hatte mich verwundert, dass der duckmäuserisch dreinblickende Angestellte des Fahrkartenbüros so, als könnte er keine eindeutige Antwort geben, den verdrückten Blick abgewandt und meine Frage, zu welcher Stunde und Minute mein Zug im Hauptbahnhof von Beijing einlaufen würde, einfach nicht zur Kenntnis genommen hatte; aber ob allein dieser ärgerliche Zwischenfall, der mir nun wieder einfiel, meinen Entschluss erklären kann, weiß ich nicht; jetzt, mit dem Zeigefinger auf der Karte, entschied ich jedenfalls: wenn die in Urga zur Schande ihres Berufs nicht dazu imstande waren, dann werde ich hier und sofort klären, zu welcher Stunde und Minute – und schon zückte ich, erster Schritt des uralten Verfahrens, aus der Entfernung und der Geschwindigkeit auf die Zeit zu schließen, einen Stift, um anhand des in der linken unteren Kartenecke befindlichen Maßstabs den Hunderterschritt zu ermitteln. Diese Berechnung war ebenso ein Kinderspiel wie das Ergebnis genau fünfzehnmal auf die zwirnsdünne Linie zu übertragen, aber als ich – wozu es bestreiten – das mit handwerklicher Methode erzielte Resultat von eintausendfünfhundert kontrollieren und auf den dortigen Maßstab anwenden wollte und die Sache auf einer anderen Karte untersuchte, fand ich heraus, dass diesmal dieselbe Linie im selben gelben Feld eintausenddreihundert Kilometer maß. Ich war mir klar darüber, dass meine Berechnung erheblich an Sinn verlöre, wenn ich schon zu Beginn mit einer so hochgradigen Unsicherheit weitermachte; ohne zu überlegen, welche von den beiden Karten die Wahrheit sagen mochte, griff ich deshalb zu einer dritten, in China herausgegebenen, und sagte mir, nun mögen die dortigen Erfahrungen entscheiden. Ich maß also weiter, verglich und schätzte, korrigierte und präzisierte und dachte schließlich mürrisch: hol’s der Henker, die Chinesen sind auch nicht zuverlässig – und so ging es, bis ich auf einmal gewahr wurde, dass ich mich nicht mit der Karte und der dünnen Linie beschäftigte, sondern – wer weiß, seit wann schon – aus dem Fenster gaffte; in die offenkundig nutzlosen Berechnungen vertieft, hatte ich vermutlich aufgeblickt, und ohne dass es mir bewusst wurde, hatte irgendetwas hinter der Scheibe, wo die unüberschaubaren toten Berge vorüberzogen, meinen Blick festgehalten. Ich vermochte ihn nicht abzuwenden, gebannt betrachtete ich diese erschreckende, verlassene, leblose Landschaft, die nackten Bergspitzen, wie sie, gerade in ihrer eintönigen Folge, im Fensterausschnitt stillstanden, wie sich auch die Landschaft nicht veränderte; und in dieser schonungslosen Beständigkeit hatte ich auf einmal das Gefühl, womöglich seien nicht meine Karten unbrauchbar, sondern meine Begriffe und die Absicht, in Kilometer zu zerstückeln, was hier in Wirklichkeit unteilbar war: die grenzenlose Weite des von allem vergänglichen Inhalt befreiten Raumes. Wenn von Informationen hiernach überhaupt die Rede sein kann, dann fuhren wir noch, vor Maan’t, über tausend Meter hohe Hochebenen, der eiskalte, stürmische Wind trieb heulend riesige Disteln vor sich her, die Sonne regierte reglos im Zentrum des blauen Himmelsgewölbes, während sich mein Zug schwerfällig nach Südosten voranbohrte – kurz, alles deutete darauf hin, dass es der Gegend unter diesen gleichgültigen Umständen völlig einerlei war, ob meine Kilometer den Dienst versagten oder nicht, im Gegensatz zu mir, dem das durchaus nicht gleichgültig war, und worüber sich mein einsamer, gebrochener, verwundeter Leser, der irgendeine Handlung erwartet, nun vermutlich leicht hinwegsetzt (ich höre ihn geradezu seufzen: tausendfünfhundert oder tausenddreihundert, ich muss doch bitten! wen interessiert das?), darüber konnte ich, dort, vor Maan’t, durchaus nicht einfach zur Tagesordnung übergehen: dass ich nämlich an einen Punkt der Welt gelangt war, wo die Distanzen mit den Maßeinheiten der Entfernung nicht gemessen werden können. Das war für mich, der ich mich immer als störrischen Gegner von Verschwommenem und von die Dinge im Zwielicht lassenden, neutralen Benennungen betrachtet habe, als sollten beispielsweise unter Nötigung die Farben mit der von ihrer Betrachtung ausgelösten Müdigkeit bestimmt, ein Bach’scher Akkord von ausladendem Klang mit volksnahen Ideenassoziationen oder das schmerzliche Fehlen der göttlichen Gegenwart im Armesünderhaus mit wütendem Protest gegen die abnehmende Qualität des Galgens umschrieben werden; so begann ich dann, verständlicherweise, wenngleich vergeblich, schon hinter Maan’t unwillkürlich auf das Rattern der Räder zu achten, um nicht meine Hoffnungen auf die Errechenbarkeit der Entfernung und somit des Zeitpunktes unserer Ankunft aufgeben zu müssen.
Ja, wir hatten Maan’t mit seinen einst rosarot angestrichenen, Spuren mongolischer Barockverzierungen aufweisenden, stark im Verfall begriffenen, unbeschreiblich erbärmlichen Steingebäuden und seinen Jurtenbehausungen im Hintergrund verlassen, als ich die ratternden Schläge der Räder unter meinem Abteil zu zählen begann, und als ich erkannte, dass die Länge der Reise in, beispielsweise, hunderttausend Radschlägen anzugeben im Grund nichts aussagen würde, wiesen diese doch, ungefähr vom hundertfünfzigsten an, nicht auf das Fortschreiten der Distanz und der Zeit, sondern auf den Umstand, dass kein einziges Element dieses Fortschreitens vergeht; als ich also einsah, dass es schon zu viele ratternde Schläge waren, hatten die Berge draußen Hügel abgelöst, und ich wusste, dass das leichte Schwindelgefühl, das mich zu Beginn des Kartenstudiums befallen hatte, nicht irgendeine grundlose, dumme, flüchtige Empfindung gewesen war, sondern eine Art Vorzeichen, eine Protestantwort meines Organismus auf die nun, hinter Maan’t, wenigstens ebenso betäubende wie offensichtliche Tatsache, dass es bergab ging, dass sich mein Zug aus der Höhe der Hochebenen immer tiefer zur Wüste hin senkte. Unnötig zu sagen, dass ich mich in nichts auf die Karten verließ, dennoch nahm ich, als ich trotzdem erneut auf die eine blickte, mit entschiedenem Missbehagen zur Kenntnis, dass – außer den noch recht weit entfernten Char Airag und Sainschand – entlang der zwirnsdünnen Linie durch die Wüste Gobi keine einzige Siedlung eingezeichnet war, so dass ich nun, hinter Maan’t, damit rechnen musste, dass ausgerechnet Maan’t mit seiner angezweifelten, verleugneten, aber für mich umso augenfälligeren Existenz der Punkt ist und die gespenstische Grenze, mit dem und mit der zusammen auch der ahnungslose Reisende von den ungültig gewordenen Karten verschwindet, um einzutreten in das berauschende, ungeheure Medium, wo … andersartige Tatsachen … andersartige Gewissheiten maßgebend sind.
Da fuhr der Zug an zwei zerlumpten Mongolen vorüber, die, offenbar der Leitgeraden der Schienen vertrauend, jeder ein großes Stück Kohle vor sich her tragend, gegen den Sturmwind gingen, und wenig später machte ich in der Ferne eine ruhende Kamelherde aus, die graugelben Felle wurden geradezu aufgesogen von dem kahlen Hintergrund der immer flacheren Hügel; doch eine klare Erklärung dafür, aus welchem Nichts die beiden Mongolen – zu Fuß! – aufgetaucht sein mochten und woher sich etwas Lebendiges in diese leblose Einöde verirrt haben könnte, ergab sich erst, als der Zug in dem viel weiter entfernt vermuteten Char Airag vor dem Stationsgebäude hielt und aus einem bisher nicht bemerkten Lautsprecher über mir eine schnarrende Stimme dröhnte, die mir erst in mongolischer, dann in russischer und schließlich in englischer Sprache mitteilte: Ten minutes wait! Ten minutes wait!, woraufhin wir sogenannten Reisenden uns aus unseren Abteilen schleppten und schwankend und blinzelnd wie halb erstarrte, blinde Insekten zwischen die Gleisstränge hinabkletterten. Das verwitterte und vom Kalksalz zerfressene Bahnhofsgebäude und die wenigen – ungefähr hundert Meter dahinterliegenden – stallähnlichen, in unendlichen Tiefen der Gottverlassenheit versunkenen Steinbauten hätten mir allein schon genügt, um zu erkennen, dass nach den bisherigen Vorbereitungen oder, richtiger, nach dem hier abgeschlossenen Kapitel des Abstiegs wir nun wahrhaftig in die unmittelbare Nähe des Beginns unserer Wüstenreise, ich könnte sagen, an die Char Airager Schwelle unseres Niedergangs gelangt waren; doch davon überzeugte mich nicht dieser auf schreckliche Weise Orientierung bietende Anblick, sondern das merkwürdige Verhalten meiner Reisegefährten zwischen den Schienen, und – in deren Spiegel – meiner selbst. Denn wir lungerten auf der von eisigen Windstößen heimgesuchten gepflasterten Fläche herum, als hätte uns unverkennbar weniger die übliche Unbequemlichkeit der langen Fahrt so mitgenommen, als vielmehr das Bewusstsein, dies hier sei wirklich die letzte Station, die noch Spuren menschlicher Anwesenheit, in welch erschreckender Qualität auch immer, aufweise. Aus Abscheu davor, angesprochen zu werden, trat kein Einziger einmal zufällig in die Nähe eines anderen, argwöhnisch musterten wir uns mit geröteten Augen, und obwohl ich – und vermutlich nicht nur ich – insgeheim den vagen Plan erwog, den Nächstbesten einfach zu fragen, was er meine, ob es überhaupt Grund zu irgendwelcher Besorgnis gebe, wurde nichts daraus, denn dieser Plan wälzte sich so lange in meinem dunklen Inneren, bis ihm ein scharfer Pfiff der Lokomotive und die eilige Rückkehr in die Waggons, bei der wir einander in die Hacken traten, ein Ende setzte. Und wenn es allein darum gegangen wäre, ob hier irgendwelche Besorgnis berechtigt oder aber absolut unbegründet war, dann hatten wir damit wahrhaftig nichts verloren, als wir selbst auf den Anschein einer Kontaktaufnahme verzichteten; die Antwort, dass wir nach den bisherigen Ereignissen mit besonders heiteren Erlebnissen nicht mehr zu rechnen hatten, konnte sich nämlich jeder unverzüglich selbst geben. Mit was für Erlebnissen aber dann, darauf ließ die Landschaft, als wir von Char Airag weiterfuhren, nicht recht schließen, denn in ihr war gegenüber der früheren keine wesentliche Veränderung zu erkennen, wie ich, als ich meinen Platz im wohlig warmen Abteil wieder eingenommen hatte, feststellte, allerdings, um dies gleich anzumerken, irrtümlicherweise. Ich sah den steinigen Boden mit den verstreuten Büscheln krampfhaft sich festklammernden Steppengrases, ich sah am Himmel aufeinandergeschichtet das Reich aller Blautöne, vom schweren Dunkel bis zu dem im Licht weißlich Leuchtenden, mir fiel lediglich nicht auf, dass die stetig sich glättenden Hügel gleichbedeutend waren mit dem ständig und immer rascheren Wachsen dieser toten Landschaft – das entging meiner Aufmerksamkeit.
Es entging mir, aber mit meiner Beobachtungsfähigkeit hatte sich überhaupt etwas ereignet; denn kaum hatten wir das Tor von Char Airag verlassen und begannen, uns von ihm zu entfernen, hatte ich immer deutlicher das Gefühl, ich sei unfähig, wesentliche Unterschiede zwischen dem früheren und dem momentanen Anblick, der sich mir durch den Fensterausschnitt bot, zu bemerken. Es handelte sich nicht darum, dass meinen müden Augen, sagen wir, irgendetwas verschwommen erschienen wäre oder dass ich gedöst hätte – nie war meine Aufmerksamkeit so gespannt gewesen, nie war mir ein so scharfes Bild begegnet wie jetzt das da draußen; es handelte sich vielmehr darum, dass die vor meinem Fenster vorüberschwimmenden, genauer gesagt, vorüberdröhnenden Einzelheiten dieser Wüstenprovinz zu einer unverrückbaren, endgültigen Einheit, einer unveränderlichen Beständigkeit zusammensprangen, und ich bin mir sicher, auch meine Körperhaltung drückte zuverlässig mein krampfhaftes Bemühen aus, über Stunden hinweg, leicht vorgebeugt und die Hände im Schoß zur Faust geballt, herauszufinden, woran mich diese nach ihren Einzelheiten nun auch ihre Ganzheit zeigende Provinz so sehr erinnerte. Ich überdachte neuerlich meine Reise vom Südhang bei Bogd bis hierher, mein Blick durchwanderte neuerlich das gigantische gelbe Feld von den toten Bergen bis zu der immer trostloseren, schauerlichen Einöde, und heute scheint es geradezu unglaublich, wie lange es dauerte, bis in meinem Hirn endlich die ersten zweckdienlichen Wörter heraufdämmerten, die mich dann zu den nächsten und übernächsten geleiteten, bis ich endlich, noch vor Sainschand, die klare Definition fand: Mein Zug fährt durch ein ausgetrocknetes Meer gen China, ich befinde mich also, ergänzte ich verwundert, auf einem einstigen Meeresgrund.
Ich stand auf und ging, freilich nur, so weit das in einem engen Eisenbahnabteil möglich ist, zwischen dem Fenster und der Tür auf und ab. Ich brauchte nun nicht mehr andauernd hinauszusehen, hin und wieder konnte ich den Blick abwenden, aber immerfort war mir bewusst, dass ich durch eine grimmige Senke der Welt reiste. Die Erregung, das in Worte zu fassen und mir bewusst zu machen, verflog rasch, ihren Platz übernahm eine bisher nie erlebte, ganz leichte Schwermut, ja, jene gewisse am Anfang erwähnte Melancholie: Ich fühlte mich, als hätte mich dieser auszehrende Friedhof eines einstigen Meeres zu seinen Gespenstern geholt – ein Friedhof, über dessen stetig wachsende, irgendwo an einem nicht auszumachenden Punkt zur Ruhe kommende, riesenhafte Dimensionen ich mir inzwischen, o ja, im Klaren war.
Mein in der unendlichen Weite kaum wahrnehmbarer Zug rollte in Sainschand ein, die Lokomotive nahm Wasser auf, und wir fuhren weiter.
Ich legte mich auf den Sitz, zog eine Decke über mich, schob das Kissen unter meinem Kopf zurecht; und bevor der unvermittelt in abendlichem Dunkel versinkende Himmel das wogende Mondrelief der beginnenden Sandwüste draußen ganz in Besitz nahm, begriff ich in dem auch im Abteil immer dichter werdenden Dunkel, dass mich letztlich alles, meine ganze Reise, hierher geführt hatte, zu der unendlichen Eintönigkeit des allmählich dunkel werdenden Bildes in meinem Fenster und, zurückdenkend an die erfolglosen Versuche, Entfernung und Zeit zu bestimmen, zu der Erkenntnis: Den Spuren des einstigen Anordners dieser großen Austrocknung folgend, erfahre ich nun, wie es in seiner Nähe sein mag, wo, und ich fühlte den Schlaf nahen, die Vollkommenheit der Eintönigkeit in allem glimmt, wo eine unsteigerbar perfekte Monotonie alles Maß bestimmt und das Gewicht aufhebt, wo also die Ewigkeit ist, in die ich jetzt hier, und meine Augen schlossen sich, gekommen bin, auf dem Weg nach China.
In der Nacht eines fernen Herbsttages, weit weg schon von den jetzigen fiebrigen Stunden und vom Präsens imperfectum des Niederschreibens, da das Radio auf meinem Tisch in einem fort hysterisch wiederholt, dass wieder Krieg ist, im schönen Nebel des jenseitigen Ufers des Friedens also, gegenüber dem blutig erschreckenden diesseitigen, in jener Nacht Ende September lief mein Zug, ein russischer und unterwegs von Ulaanbaatar nach Beijing, mit seinen sieben Waggons verbotenen Tätigkeiten nachgehenden mongolischen und polnischen Handelsreisenden und einem Wagen mit vierundzwanzig Fahrgästen – mich eingeschlossen –, die eine verborgene Änderung ihres Schicksals planten, aus der absoluten Finsternis der Wüste Gobi in die Station Dzamyn Uud ein. Die Bremsen kreischten, die Schlafenden schreckten hoch, die Lokomotive blies mit einem langen Seufzer seitlich den Dampf aus, und wenngleich wir wussten, dass sich die Wüste den Karten nach noch über schier endlose Kilometer fortsetzen würde, hatten wir doch alle das Gefühl, für uns sei sie hier, irgendwo bei Dzamyn Uud, zu Ende. Vielleicht, so wurde korrigierend eingewandt, ist sie wirklich zu Ende, vielleicht, so verlagerte sich der entscheidende Nachdruck von der Besorgnis auf die Zuversicht, wird das der Punkt sein, wo wir aufatmen können, und als uns das ohrenbetäubende Kreischen der Bremsen aus den Abteilen lockte und wir im durch uns selbst verursachten Gedränge schließlich doch alle einen Platz an den Fenstern des Ganges fanden, lag in dieser Verschiebung des Akzents bereits die Überzeugung, tiefer, noch tiefer könne es nun nicht mehr gehen; von hier, und wir begannen den Namen der Bahnstation zu studieren, führe der Weg ganz bestimmt nur hinaus. Zamin Uud, buchstabierte ich die kyrillische Tafel. Zhamen Aid, rief neben mir jemand ins Abteil. Tzam Ude, hörte ich weiter hinten. Die Erleichterung war allgemein.
Eine lange Fahrt lag hinter uns, wie lang, konnten wir nicht wirklich wissen, denn der Maßstab, mit dem wir es hätten bestimmen können, hatte unterwegs versagt. Das heißt, eigentlich ging es nicht um den Maßstab und auch nicht um die Länge, sondern darum, dass uns diese Wüstenreise in ein Wissen einführte, das niemand besitzen wollte, dass sie uns eine Erfahrung schenkte, auf die wir alle nicht vorbereitet waren – ich muss sogar sagen, dass mit dieser Erfahrung Unwürdige belohnt wurden, dass für dieses Wissen Ungeeignete eingeweiht wurden. Wir hatten nämlich nicht einmal damit gerechnet, dass zwischen Ulaanbaatar und der mongolisch-chinesischen Grenze überhaupt mit irgendetwas zu rechnen sei, im Gegenteil, wir meinten, wenn es lang wird, dann wird es eben lang, wir halten es aus, die Kupees sind den Umständen entsprechend bequem, die Heizung ist gut, das Einzige, worauf wir uns einstellen müssen, ist die Langeweile – und diese kleine Unannehmlichkeit, so hatten wir uns schon auf dem Bahnhof von Ulaanbaatar gesagt, ist wahrhaftig zu ertragen, wenn man bedenkt, was einen hernach erwartet. Unsere Vorstellungen waren also recht naiv; kein Wunder, dass es uns überraschte, ja geradezu verblüffte, dass unsere Fahrt durch die Wüste nicht die Geschichte beschwerlicher Erlebnisse und Prüfungen wegen eingeschlafener Gliedmaßen, sondern die des Bewusstwerdens einer Ausnahmesituation sein würde: die Erkenntnis einer Tatsache, die, wie wir glaubten, mit der Alltagswelt unseres Lebens deshalb nicht in Verbindung zu bringen war, weil wir in uns vor allem die vermutete abstrakte Allgemeinheit zu entdecken vermochten, auf die sich dieses weniger in unerwarteter Erkenntnis oder Bewusstwerdung, wie zuvor behauptet, sondern in eher langsamem Bemerken erworbene Wissen auf das entschiedenste bezog. Ich will durchaus nicht verschweigen, dass gegen die bisherige und nachfolgende, ein wenig willkürliche Benutzung des Plurals wahrscheinlich alle meine dreiundzwanzig Mitreisenden protestieren würden, führte uns in ihn – und damit vorerst genug hierzu – doch tatsächlich nicht die gegenseitige Bekanntschaft; beim Einsteigen hatten wir uns nur flüchtig gemustert und uns dann wortlos mit dem Partner oder allein in unser jeweiliges Abteil zurückgezogen; aber auch sie würden nicht bezweifeln, dass wer sich als an sich schon auffälliges Zeichen unserer Verwandtschaft eine Karte für den Zug nach Beijing gekauft hatte, die eigenen Ziele und eigenen Schwierigkeiten nicht mehr – wie es so bedrückend häufig zu geschehen pflegt – mit den poetischen Zielen und Schwierigkeiten eines der Phantasie entsprungenen Helden verwechselte. Denn in unserem Fall handelte es sich – und auch darin würden sie mir vielleicht alle zustimmen – um langweilige, trockene, verdrießliche Menschen, nicht nur dadurch verbunden, dass sie nicht mehr hinters Licht zu führen waren, sondern auch durch das Gegenteil, durch die über bloße Verbitterung hinausreichende, letztendlich nicht ausgeschlossene Möglichkeit, dass diese vierundzwanzig, mich eingeschlossen, unter bestimmten unverhofften Umständen – und solchen uns auszusetzen waren wir ja im Begriff – und gerade in den empfindlichsten Dingen einmal noch, ein letztes Mal, zum Abschied gleichsam – sehr wohl hinters Licht zu führen waren. Zwischen uns bestand eine Ähnlichkeit, die uns in ihrer entwickeltsten Variante anstatt mit Freude oder Stolz eher mit Unruhe erfüllte, vermuteten wir doch einen Angriff auf unsere behütete Einsamkeit; andererseits war es aber eine so verräterische, so offenkundige Ähnlichkeit, dass ich mich jetzt noch ermächtigt fühle, zwar nicht bestätigbare, aber doch wahre, sogenannte freie Aussagen dazu zu machen … beispielsweise dazu, dass wir, sofern wir nach dem Grund der Reise gefragt wurden (»Wozu fahrt ihr bloß nach China …!«), weiteren Fragen mit großer Wahrscheinlichkeit auf genau die gleiche Weise vorbeugten, indem wir sagten, weil wir Vergessen für unsere Sorgen suchten, und dass, wenn die ungläubigen und ein wenig gekränkten Fragenden hierauf brummelten, zur anderen Seite der Erde zu wandern, das sei nicht gerade die normale Art des Vergessens, wir mit noch größerer Wahrscheinlichkeit antworteten, o ja, das stimme, aber unsere Sorgen seien auch nicht das, was man normal nenne. Das alles mag als einseitige Charakteristik unserer Verhältnisse und als Information für die Daheimgebliebenen so zutreffen; anders gesehen sind unsere Motive jedoch – und ich komme auf die Angelegenheit zu sprechen, um darüber berichten zu können – bescheidener, erdverbundener, sogar kleinlicher, würde ich sagen, wenn es nicht zu schonungslos wäre, als die desjenigen, der uns in sein ewiges schreckliches Reich, denn das geschah mit uns vor Dzamyn Uud in der Gobi, einführte. Wenn überhaupt etwas, erwarteten wir hier nicht mehr als die überraschungsfreien Phrasen der Wüste und unser gelangweiltes Abwinken ob »ihrer Unendlichkeit«, »ihres dürstenden Sandes«, »ihrer mondgleichen Verlassenheit«; stattdessen gerieten wir ganz unerwartet in einen gespenstischen Raum der Zeitlosigkeit und der Unsterblichkeit, in deren, um es geradeheraus zu sagen, für Menschen unerträgliche Provinz – wenn ein verblasstes Wörtchen wie »unerträglich« überhaupt noch etwas von dem auszudrücken vermag, wovor wir alle sehr erschraken und von dessen unmittelbarem Druck befreit zu sein uns jetzt bei Dzamyn Uud, als wir aus dem Fenster blickten, so wohltat. Denn durch die Gobi zu reisen, denn die Wüste in russischen Waggons Richtung Beijing zu durchqueren, denn an einem Herbsttag mit der Durchschnittsgeschwindigkeit der russischen Züge sich aus dem Bogd-Gebirge bis zur mongolisch-chinesischen Grenze in die leblose Leere der Wüste Gobi zu wagen, das bedeutete, in sie einzugehen, es bedeutete, spurlos zu werden, sich für verschwunden zu erklären, sich vorübergehend aus dem irdischen Dasein zu verflüchtigen; unter solchen Umständen nämlich behauptete diese Wüste – eine mehrtausendjährige, paradiesische Metapher des märchenhaften Entkommens zerstörend –, dass die Ewigkeit zwar Wirklichkeit ist, für uns aber eine albtraumhaft abschreckende Wirklichkeit, dass die Ewigkeit zwar die Provinz der Götter ist, diese Götter aber starr, unnahbar, kalt und höllisch sind, dass die Ewigkeit nichts anderes ist als bis zum Wahnsinn erhitzte vollkommene und schicksalhafte Symmetrie, dass die Ewigkeit nichts anderes ist als die ideale, unzerrüttbare Perfektion der Wiederholung. Wir standen im Gang an den Fenstern und betrachteten das Blau, das Gelb und das Rot der riesigen Neonröhren, die kyrillischen, uigurischen und chinesischen Schriftzeichen des Stationsschildes an der Fassade des ohnehin schon recht sonderbaren Bahnhofsgebäudes, aber bis wir uns darüber ins Klare kommen konnten, was wir mit diesem Wissen nun anfangen und welchen Preis wir für dieses Eingeweihtsein zahlen sollten und wie wir hiernach überhaupt zu unseren eigenen, ursprünglichen Maßstäben zurückfinden könnten, hatten wir auch schon zu ihnen zurückgefunden, hatte die Erleichterung über die Ankunft aus unseren außergewöhnlichen Erfahrungen schon die bedrückenden Schattierungen herausgelöst, und während in wachsendem Maß Dzamyn Uud unsere Aufmerksamkeit fesselte, blieb von diesen außergewöhnlichen Erfahrungen allmählich nicht mehr übrig als eine sich selbst induzierende, uns am Rückgrat kitzelnde, wohlige Erregung, wenn also die bisher ziemlich romantische Geschichte der Annäherung an das chinesische Reich mit einer solchen Einführung versehen sei, dann würden wir in unseren Erwartungen bestimmt nicht enttäuscht werden, dann werde China mit seinen noch nicht erahnten Schattierungen tatsächlich ein Reich des Vergessens und etwas Großartiges der Lohn dafür sein, dass wir unter irdischen und himmlischen Strapazen diese große Reise unternahmen.