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Titelseite

 

 

 

 

 

FÜR PAT UND DENNIS

1

Ich hätte nie gedacht, dass eine Rückbank so romantisch sein kann«, sagte Ivy, lehnte sich zurück und lächelte Tristan an. Dann sah sie auf den am Boden liegenden Müll. »Vielleicht nimmst du deine Krawatte mal lieber aus diesem gammligen Burger-King-Becher.«

Tristan griff nach unten und schnitt eine Grimasse. Er warf das tropfende Teil auf den Vordersitz und rückte neben Ivy.

»Aua!« Der Geruch zerdrückter Blumen breitete sich aus.

Ivy lachte los.

»Was ist daran denn so lustig?«, fragte Tristan und zog die zerquetschten Rosen hervor, aber auch er musste lachen.

»Wenn jetzt jemand vorbeigekommen wäre und den Kirchenaufkleber deines Vaters auf der Stoßstange erkannt hätte?«

Tristan warf die Blumen auf den Vordersitz und zog Ivy wieder an sich. Er strich über den Seidenträger ihres Kleides, dann küsste er sie zärtlich auf die Schulter. »Dem hätte ich erzählt, dass ich mit einem Engel zusammen bin.«

»Toller Spruch!«

»Ivy, ich liebe dich«, sagte Tristan und wurde plötzlich ernst.

Sie starrte ihn an und biss sich auf die Lippe.

»Das ist kein Spiel für mich. Ich liebe dich, Ivy Lyons, und eines Tages wirst du es mir glauben.«

Sie schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest. »Ich liebe dich, Tristan Carruthers«, flüsterte sie kaum hörbar in seinen Nacken. Ivy glaubte ihm und sie vertraute ihm, wie sie sonst niemandem vertraute. Sie wusste, eines Tages hätte sie den Mut, ihm noch viel mehr zu sagen, laut und deutlich. Ich liebe dich, Tristan. Sie würde es aus dem Fenster rufen und ein Transparent quer über das Schwimmbecken in der Schule spannen.

Sie brauchten beide einen Moment, bis sie ihre Kleider wieder halbwegs in Ordnung gebracht hatten. Ivy musste erneut lachen. Tristan lächelte und sah ihr bei dem Versuch zu, ihre verstrubbelten blonden Haare zu bändigen – eine sinnlose Anstrengung.

»Letzter Blick auf den Fluss«, sagte er, nachdem sie wieder losgefahren waren. Dann bog er von dem holprigen Waldweg auf die schmale Landstraße.

Die Strahlen der Junisonne fielen auf die Westseite der Hügel von Connecticut und tauchten die Baumwipfel in goldenes Licht. Die gewundene Straße verschwand in einem Tunnel aus Ahorn, Pappeln und Eichen. Ivy hatte das Gefühl, zusammen mit Tristan unter Wasser zu tauchen. Die untergehende Sonne glitzerte herrlich über ihnen, während sie durch die Schlucht aus Blau, Purpur und Dunkelgrün glitten. Tristan schaltete die Scheinwerfer an.

»Du kannst dir wirklich Zeit lassen«, sagte Ivy, »ich bin nicht mehr hungrig.«

»Hab ich dir den Appetit verdorben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Vermutlich bin ich einfach satt vor Glück«, sagte sie leise.

Der Wagen jagte die Straße hinunter und ging scharf in die Kurve.

»Wir müssen uns wirklich nicht beeilen.«

»Das ist komisch«, murmelte Tristan. »Ich frag mich, was das –« Plötzlich sah er zu seinen Füßen. »Das fühlt sich nicht …«

»Fahr langsamer, ja? Es ist egal, wenn wir ein bisschen später – Vorsicht!« Ivy deutete nach vorn. »Tristan!«

Etwas war aus dem Gebüsch auf die Straße gesprungen. Sie hatte nicht gleich erkannt, was es war, sondern nur eine schnelle Bewegung in der aufziehenden Dunkelheit wahrgenommen. Plötzlich blieb der Hirsch stehen. Er drehte den Kopf, seine Augen starrten in die hellen Scheinwerfer des Wagens.

»Tristan!«

Sie rasten auf die glänzenden Augen zu.

»Tristan, siehst du das nicht?«

Sie rasten immer weiter.

»Ivy, irgendwas –«

»Ein Hirsch!«, rief sie.

Die Augen des Tieres funkelten. Plötzlich blitzte hinter dem Hirsch ein heller Lichtkegel auf und man sah nur noch seine Silhouette. Aus der anderen Richtung kam ein Auto. Sie waren von Bäumen eingeschlossen und konnten weder links noch rechts ausweichen.

»Halt an!«, schrie sie.

»Ich –«

»Halt an, warum hältst du nicht an?«, flehte sie. »Tristan, halt an!«

Die Windschutzscheibe zerbarst.

Noch Tage später konnte sich Ivy bloß an einen Wasserfall aus Glas erinnern.

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Als der Schuss ertönte, zuckte Ivy zusammen. Sie hasste Schwimmbäder, vor allem Hallenbäder. Obwohl sie und ihre Freundinnen drei Meter vom Beckenrand entfernt saßen, hatte sie das Gefühl, im Wasser zu sein. Die Luft selbst schien dunkel, ein feuchter blaugrüner Nebel, der intensiv nach Chlor roch. Alles hallte wider – der Schuss, das Geschrei der Menge, der Sprung der Schwimmer ins Wasser. Als Ivy die Schwimmhalle zum ersten Mal betreten hatte, hatte sie fast keine Luft mehr bekommen. Sie wäre an diesem hellen und windigen Märztag lieber draußen gewesen.

»Zeig ihn mir noch mal«, bat sie. »Welcher ist es?«

Suzanne Goldstein sah zu Beth Van Dyke. Beth erwiderte Suzannes Blick. Beide schüttelten den Kopf und seufzten.

»Woran soll ich ihn denn erkennen?«, beschwerte sich Ivy. »Sie sehen alle gleich aus, ihre Arme, Beine und Oberkörper sind rasiert – eine Mannschaft von kahlen Kerlen mit Badekappen und Schwimmbrillen. Sie tragen die Farben unserer Schule, aber sie könnten genauso gut eine Horde Außerirdische sein.«

»Wenn das Außerirdische sind«, warf Beth ein und klickte hektisch mit ihrem Kugelschreiber herum, »zieh ich sofort auf diesen Planeten.«

Suzanne nahm Beth den Stift weg und sagte mit rauchiger Stimme: »Diese Schwimmwettkämpfe haben echt was!«

»Aber du siehst doch überhaupt nicht mehr zu, wenn die Schwimmer erst mal im Wasser sind«, warf Ivy ein.

»Weil sie die Jungs unter die Lupe nimmt, die als Nächste zu den Startblöcken gehen«, erklärte Beth.

»Tristan ist der in der mittleren Bahn«, sagte Suzanne. »Die besten Schwimmer treten immer auf der mittleren Bahn an.«

»Er ist unser Schmetterling«, fügte Beth hinzu. »Er ist der Beste im Schmetterlingsstil. Genau genommen der Beste im ganzen Bundesstaat.«

Das wusste Ivy bereits. Das Poster des Schwimmteams hing überall in der Schule, es zeigte Tristan, wie er aus dem Wasser auftaucht: Seine Schultern bewegten sich auf den Betrachter zu und seine kraftvollen Arme zeigten wie Flügel nach hinten.

Die Frau, die für die Pressearbeit zuständig war, hatte genau gewusst, was sie tat, als sie dieses Foto auswählte. Zum Glück hatte sie eine hohe Auflage drucken lassen, denn die Poster von Tristan verschwanden ständig – in Mädchenspinden.

Irgendwann während der Postermanie kamen Beth und Suzanne auf die Idee, Tristan wäre an Ivy interessiert. Zwei Zusammenstöße auf dem Flur in einer Woche genügten, um Beth, die fantasievolle Geschichten schrieb und eine ganze Bibliothek von Groschenromanen verschlungen hatte, davon zu überzeugen.

»Aber Beth, wie oft bin ich in dich reingerannt«, argumentierte Ivy. »Du kennst mich doch.«

»Oh ja«, meinte Suzanne. »Mit den Gedanken ganz woanders. Zehn Kilometer über der Erde. In der Engelwelt. Trotzdem glaube ich, dass an Beths Beobachtung was dran ist. Vergiss nicht, er ist schließlich in dich hineingerannt.«

»Vielleicht ist er einfach tollpatschig, wenn er nicht im Wasser ist. Wie ein Frosch«, fügte Ivy hinzu, obwohl sie genau wusste, dass nichts an Tristan Carruthers tollpatschig war.

Man hatte sie im Januar auf ihn aufmerksam gemacht, an jenem ersten verschneiten Tag, an dem sie an die Stonehill Highschool gekommen war. Eine Cheerleaderin sollte Ivy die Schule zeigen und führte sie durch die überfüllte Cafeteria.

»Du stehst bestimmt auf Sportskanonen«, meinte die Cheerleaderin.

In Wirklichkeit versuchte Ivy gerade herauszufinden, was das faserige grüne Zeug war, das den Schülern in ihrer neuen Schule vorgesetzt wurde.

»In deiner Schule in Norwalk träumen die Mädchen vermutlich von tollen Football-Spielern. Aber in Stonehill träumen viele Mädchen …«

Von ihm, dachte Ivy, als sie dem Blick der Cheerleaderin folgte.

»Ehrlich gesagt steh ich auf Typen, die was im Kopf haben«, erklärte Ivy der rothaarigen Tussi.

»Aber er hat was im Kopf!«, beharrte Suzanne, als Ivy ihr wenig später von dem Gespräch erzählte.

Suzanne war die Einzige, die Ivy schon gekannt hatte, bevor sie nach Stonehill kam, und irgendwie hatte sie es tatsächlich geschafft, Ivy an diesem Tag in der Menschenmenge zu finden.

»Ich meine keinen Kopf, in dem nur Wasser ist«, fügte Ivy hinzu. »Du weißt, dass mich Sportskanonen noch nie interessiert haben. Ich will jemanden, mit dem ich reden kann.«

Suzanne schnaubte. »Du redest doch sowieso lieber mit deinen Engeln –«

»Fang nicht damit an«, warnte Ivy sie.

»Engel?«, fragte Beth. Sie hatte vom Nachbartisch mitgehört. »Du redest mit Engeln?«

Suzanne verdrehte die Augen, genervt von der Unterbrechung, dann wandte sie sich wieder zu Ivy. »Du hast doch garantiert wenigstens einen Liebesengel in deiner beflügelten Sammlung.«

»Hab ich auch.«

»Was erzählst du ihnen denn so?«, mischte sich Beth von Neuem ein. Sie klappte einen Notizblock auf und zückte den Stift, als wollte sie alles, was Ivy sagte, Wort für Wort mitschreiben.

Suzanne tat, als wäre Beth Luft. »Also, wenn du einen Liebesengel hast, Ivy, dann stellt er sich ziemlich blöd an. Jemand sollte ihn an seinen Auftrag erinnern.«

Ivy zuckte mit den Schultern. Es war nicht so, dass sie kein Interesse an Jungs hatte, aber ihre Tage waren einfach ausgefüllt genug – da war ihre Musik, ihr Job im Laden, sie musste sich um ihre Schulnoten und ihren achtjährigen Bruder Philip kümmern. Die letzten Monate waren für Philip, ihre Mutter und sie ziemlich unruhig gewesen. Ohne die Engel hätte sie es nicht geschafft.

Seit diesem Tag im Januar hatte Beth Ivys Nähe gesucht, um sie über ihren Glauben an Engel auszufragen und ihr ein paar ihrer romantischen Kurzgeschichten zu zeigen. Ivy redete gern mit ihr. Beth, mit ihrem runden Gesicht, ihren schulterlangen Haaren mit den blondierten Spitzen und Kleidern, die zwischen exzentrisch und schlampig schwankten, durchlebte viele Romanzen und Leidenschaften – in ihrem Kopf.

Suzanne, mit ihrer wunderschönen langen schwarzen Mähne, den markanten Augenbrauen und Wangenknochen, verfolgte und lebte ebenfalls eine ganze Menge Leidenschaften – in den Klassenzimmern und Fluren – und verlangte den Jungs der Stonehill Highschool gefühlsmäßig einiges ab. Beth und Suzanne waren nie wirklich befreundet gewesen, aber Ende Februar wurden sie durch ihr Vorhaben, Ivy mit Tristan zu verkuppeln, plötzlich zu Verbündeten.

»Ich hab gehört, er soll gar nicht so blöd sein«, hatte Beth später in der Mittagspause in der Cafeteria bemerkt.

»Voll der Überflieger«, stimmte Suzanne zu. »Klassenbester.«

Ivy zog eine Augenbraue hoch.

»Oder nahe dran.«

»Schwimmen ist gar kein so hirnloser Sport«, fuhr Beth fort. »Man denkt, sie schwimmen nur hin und her, aber bei einem Typen wie Tristan steckt ein Plan dahinter, er hat für jeden Wettkampf eine komplette Siegesstrategie.«

»Aha«, war Ivys Kommentar.

»Wir finden, du solltest mal zu einem Schwimmwettkampf mitkommen«, erklärte ihr Suzanne.

»Und in der ersten Reihe sitzen«, schlug Beth vor.

»Und ich such an diesem Tag dein Outfit aus«, fügte Suzanne hinzu. »Du weißt, dass ich besser Klamotten für dich aussuchen kann als du selbst.«

Ivy hatte den Kopf geschüttelt und sich damals und noch Tage später gefragt, wie ihre Freundinnen auf die abstruse Idee gekommen waren, ein Typ wie Tristan könnte sich ausgerechnet für sie interessieren.

Aber als Tristan bei der Junior-Class-Versammlung aufgestanden war und allen erklärt hatte, wie wichtig es für das Team war, dass beim letzten Wettkampftag der Meisterschaft so viele Fans wie möglich kamen, und sie dabei die ganze Zeit angestarrt hatte, war ihr wohl keine andere Wahl geblieben.

»Wenn wir diesen Wettkampf verlieren sollten«, hatte Suzanne gesagt, »ist das deine Schuld, Schätzchen.«

Jetzt saßen sie bei dem Wettkampf und Ivy beobachtete, wie Tristan seine Arme und Beine schüttelte. Er hatte den perfekten Körperbau für einen Schwimmer, breite kräftige Schultern und schmale Hüften. Die Badekappe verdeckte seine glatten braunen Haare, die Ivy kurz und dicht in Erinnerung hatte.

»Er besteht bloß aus Muskeln«, hauchte Beth. Nachdem sie sich ihren Stift von Suzanne zurückgeholt und ein paarmal herumgeklickt hatte, schrieb sie in ihr Notizbuch. »›Wie glänzender Stein. Geschmeidig in den Händen des Bildhauers, schmelzend in den Händen der Geliebten …‹«

Ivy sah neugierig auf Beths Block. »Was schreibst du denn diesmal?«, fragte sie. »Ein Gedicht oder eine Liebesgeschichte?«

»Macht das denn einen Unterschied?«, antwortete ihre Freundin.

»Auf die Plätze!«, rief der Kampfrichter und die Teilnehmer kletterten auf ihre Startblöcke.

»Mann«, murmelte Suzanne, »diese winzigen Badehosen überlassen aber auch nicht viel der Fantasie, oder? Wie wohl Gregory in so was aussehen würde?«

Ivy versetzte ihr einen Stoß. »Nicht so laut! Er steht gleich da vorn.«

»Ich weiß«, erwiderte Suzanne und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Fertig …«

Beth beugte sich vor, um einen ausgiebigen Blick auf Gregory Baines zu werfen. »›Sein langer, schmaler Körper, hungrig und heiß …‹«

Peng!

»Du nimmst immerzu Wörter, die mit h anfangen«, meinte Suzanne.

Beth nickte. »Wenn du Alliterationen mit h bildest, klingt es immer wie schweres Atmen. Hungrig, heiß, high –«

»Schaut sich eine von euch überhaupt den Wettkampf an?«, unterbrach Ivy sie.

»Das sind vierhundert Meter, Ivy. Tristan schwimmt doch nur hin und her, hin und her.«

»Verstehe. Wie war das mit Überflieger und ausgeklügelter Strategie bei der nicht hirnlosen Sportart Schwimmen?«, stichelte Ivy.

Beth schrieb ungerührt weiter. »›Er flog wie ein Engel und wünschte, seine Wasserflügel wären warme Arme, mit denen er Ivy umschlingen könnte.‹ Heute hab ich echt gute Einfälle!«

»Ich auch«, meinte Suzanne, ihr Blick glitt über die Reihe von Körpern im Aufwärmbereich und dann über die Zuschauer hinweg zu Gregory.

Ivy folgte ihrem Blick, dann wandte sie sich wieder den Schwimmern zu. Die letzten drei Monate hatte Suzanne heiß – high, hungrig – Jagd auf Gregory Baines gemacht. Ivy wäre es lieber gewesen, wenn Suzanne sich eine andere Beute gesucht hätte, und zwar bald, ziemlich bald, am besten vor dem ersten Samstag im April.

»Wer ist denn diese kleine Braunhaarige?«, fragte Suzanne. »Ich kann diese zierlichen Püppchen nicht ausstehen. Zierliche Mädchen passen nicht zu Gregory. Kleines Gesicht, kleine Hände, kleine zarte Füßchen.«

»Große Möpse«, meinte Beth und sah auf.

»Wer ist sie? Hast du sie schon mal gesehen, Ivy?«

»Suzanne, du bist wesentlich länger auf dieser Schule als –«

»Du siehst nicht mal hin«, unterbrach sie Suzanne.

»Weil ich unseren Helden beobachte, so wie ihr das wolltet. Was meinen sie mit Knaller? Alle rufen ›Knaller!‹, wenn Tristan zu einer Wende ansetzt.«

»Das ist sein Spitzname«, antwortete Beth. »Weil er bei der Wende so auf die Wand losgeht. Erst stürzt er kopfüber drauflos und dann stößt er sich so schnell ab, wie er kann.«

»Verstehe«, sagte Ivy. »Klingt ja wirklich nach Intelligenzbestie, wenn einer sich gegen eine Betonwand knallt. Wie lange dauern diese Wettkämpfe normalerweise?«

»Ivy, komm schon«, jammerte Suzanne und zog sie am Arm. »Schau doch mal, ob du die kleine Braunhaarige kennst.«

»Twinkie.«

»Das denkst du dir aus!«, erwiderte Suzanne.

»Das ist Twinkie Hammonds«, beharrte Ivy. »Sie ist in meinem Musikkurs.«

Als sie merkte, dass Suzanne sie ununterbrochen anstarrte, drehte sich Twinkie um und warf ihr einen giftigen Blick zu. Gregory bemerkte Twinkies Gesichtsausdruck und sah über die Schulter zu ihnen hinüber. Ivy beobachtete, wie ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht huschte.

Gregory Baines hatte ein charmantes Lächeln, dunkles Haar und graue Augen. Sehr kühle graue Augen, dachte Ivy. Er war groß, aber er hob sich nicht wegen seiner Größe von der Menge ab. Es lag an seinem Selbstbewusstsein. Er war wie ein Schauspieler, wie ein Filmstar, der immer überall dabei war, sich nach der Show aber abkapselte, weil er sich für etwas Besseres hielt. Die Baines waren in Stonehill eine der wohlhabendsten Familien, aber Ivy wusste, dass es nicht Gregorys Geld, sondern seine Coolheit und Unnahbarkeit war, die Suzanne anzog. Suzanne war immer scharf auf das, was sie nicht haben konnte.

Ivy legte leicht den Arm um ihre Freundin. Sie deutete auf einen extrem gut gebauten Schwimmer, der Dehnungsübungen im Aufwärmbereich machte, und hoffte, sie damit abzulenken. Dann schrie sie »Knaller!«, als Tristan zur letzten Wende ansetzte. »Allmählich find ich das gut«, sagte sie, aber Suzanne schien in Gedanken bei Gregory zu sein. Dieses Mal hatte es sie offenbar richtig erwischt.

»Er sieht in unsere Richtung«, flüsterte Suzanne aufgeregt. »Er kommt rüber.«

Ivy wurde ganz flau im Magen.

»Und der Chihuahua trabt ihm hinterher.«

Was will er jetzt?, fragte sich Ivy. Was konnte ihr Gregory zu sagen haben, nachdem er sie fast drei Monate ignoriert hatte?

Im Januar war ihr schnell klar geworden, dass Gregory keine Notiz von ihr nehmen würde. Und als gäbe es ein stillschweigendes Übereinkommen, hatten weder er noch Ivy irgendjemandem erzählt, dass sein Vater ihre Mutter heiraten würde. Nur die wenigsten Mitschüler wussten, dass Ivy und er ab April unter einem Dach leben würden.

»Hi, Ivy!« Twinkie sagte als Erste etwas. Sie quetschte sich neben Ivy, würdigte Suzanne keines Blickes und nahm auch von Beth kaum Notiz. »Ich habe Gregory gerade erzählt, dass wir im Musikkurs immer nebeneinandersitzen.«

Ivy sah das Mädchen überrascht an. Auf die Schnelle fiel ihr gar nicht ein, wo Twinkie eigentlich saß.

»Gregory sagt, er habe dich noch nicht Klavier spielen gehört. Ich hab ihm erzählt, wie toll du spielst.«

Ivy öffnete den Mund, aber ihr fiel nichts ein, was sie darauf erwidern könnte. Das letzte Mal, als sie etwas Eigenes für den Kurs gespielt hatte, demonstrierte Twinkie ihre Wertschätzung, indem sie sich die Nägel feilte.

Plötzlich spürte Ivy, dass Gregory sie ansah. Als sie seinen Blick erwiderte, zwinkerte er ihr zu. Ivy deutete schnell auf ihre Freundinnen und stellte sie vor: »Du kennst Suzanne Goldstein und Beth Van Dyke?«

»Nicht besonders gut«, sagte er und lächelte beide an.

Suzanne strahlte. Beth betrachtete ihn mit der Aufmerksamkeit einer Forscherin und klickte mit dem Kugelschreiber herum.

»Weißt du was, Ivy?«, schaltete sich nun wieder Twinkie in das Gespräch ein. »Ab April wohnst du gar nicht mehr weit von mir entfernt. Ein Katzensprung. Dann ist es viel einfacher für uns, zusammen zu lernen.«

Einfacher?

»Ich kann dich zur Schule mitnehmen. Ich bin dann viel schneller bei dir.«

Schneller?

»Vielleicht können wir dann mehr zusammen unternehmen.«

Mehr?

»Aber Ivy«, rief Suzanne und klimperte mit den langen, dunklen Wimpern, »du hast mir nie erzählt, dass du so eng mit Twinkie befreundet bist! Vielleicht können wir alle mehr zusammen machen. Du würdest Twinkie doch auch gern mal besuchen oder, Beth?«

Gregory konnte sich ein Lächeln nur mühsam verkneifen.

»Wir könnten bei dir schlafen, Twinkie.«

Twinkie überschlug sich nicht gerade vor Begeisterung.

»Wir könnten über Jungs quatschen und abstimmen, wer der Schärfste ist.« Suzanne sah zu Gregory und musterte ihn sorgfältig von oben bis unten. Er wirkte noch immer amüsiert.

»Wir kennen noch ein paar Mädchen aus Ivys alter Schule in Norwalk«, plapperte Suzanne fröhlich weiter. Sie wusste, dass die gut situierten New-York-City-Pendler nichts mit den Arbeitern aus Norwalk zu tun haben wollten. »Die würden sicher auch gern kommen. Dann können wir alle Freunde sein. Wäre das nicht toll?«

»Nicht wirklich«, meinte Twinkie und drehte Suzanne einfach den Rücken zu. »War nett, mit dir zu reden, Ivy. Wir sehen uns hoffentlich bald mal. Komm, Gregory, hier ist es so voll.« Sie fasste ihn am Arm, um ihn wegzuziehen.

Ivy wollte sich gerade wieder dem Wettkampf zuwenden, da trat Gregory auf sie zu, fasste sie am Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. Er lächelte.

»Unschuldige Ivy«, sagte er. »Du siehst verlegen aus. Warum eigentlich? Mir geht es auch nicht anders. Alle möglichen Typen, die ich kaum kenne, wollen sich plötzlich mit mir unterhalten, als wären sie meine besten Freunde, und in der ersten Aprilwoche mal bei mir vorbeikommen. Warum wohl?«

Ivy zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich, weil du einer von den beliebten Jungs bist.«

»Du bist echt unschuldig!«, rief er.

Wenn er sie doch bloß in Ruhe lassen würde. Ivy sah zu der vordersten Zuschauerreihe, wo seine Freunde saßen. Eric Ghent und ein anderer Typ redeten jetzt mit Twinkie und lachten. Der ultracoole Will O’Leary begegnete Ivys Blick.

Gregory zog seine Hand zurück. Als er ging, nickte er ihren Freundinnen nur kurz zu, immer noch amüsiert. Ivy wandte sich wieder dem Pool zu und bemerkte, dass drei Jungs mit Badekappen und identischen Badehosen sie beobachtet hatten. Sie hatte keine Ahnung, wer davon Tristan war oder ob er überhaupt dabei war.

2

Ich komme mir total blöd vor«, sagte Tristan und spähte durch das rautenförmige Fenster der Tür zwischen Küche und Speisesaal. Er befand sich im vornehmen Alumni-Club des Colleges und beobachtete, wie Kerzenleuchter angezündet und Kristallgläser geprüft wurden. In der großen Küche, in der er und Gary standen, türmten sich Früchte und Horsd’oeuvres auf Tischen. Bei den meisten dieser Partyhäppchen hatte Tristan keine Ahnung, was es genau war oder ob man sie auf eine bestimmte Art servieren musste. Er hoffte bloß, sie würden, genau wie die Champagnergläser, auf seinem Tablett bleiben.

Gary kämpfte mit seinen Manschettenknöpfen. Der Kummerbund seines geliehenen Smokings ging immer wieder auf, weil der Klettverschluss nicht hielt. Einen seiner polierten schwarzen Schuhe, die eine Nummer zu klein waren, hatte er notdürftig mit einem lila Turnschuhschnürsenkel zugebunden.

Gary ist ein echter Freund, dass er sich auf diesen Plan eingelassen hat, dachte Tristan. »Denk dran, es ist gutes Geld«, sagte er laut, »und wir brauchen es für die Reise zu dem Wettkampf im Mittelwesten.«

Gary brummte. »Mal sehen, was davon übrig bleibt, wenn wir sämtliche Schäden bezahlt haben.«

»Alles!«, erwiderte Tristan mit voller Überzeugung. So schwer konnte es doch nicht sein, dieses Zeug herumzutragen. Er und Gary waren Schwimmer!

Ihr natürliches sportliches Körpergefühl hatte ihnen quasi das Recht gegeben, beim Vorstellungsgespräch mit dem Caterer etwas zu flunkern und vorzugeben, sie hätten mehr Erfahrung. Den Job würden sie mit links machen.

Tristan nahm ein Silbertablett und betrachtete sich darin. »Ich fühl mich nicht nur blöd – ich seh auch so aus.«

»Du bist blöd«, sagte Gary. »Glaub nicht, dass ich dir die Geschichte mit dem Geldverdienen für den Wettkampf im Mittelwesten abkaufe.«

»Was willst du damit sagen?«

Gary schnappte sich einen Wischmopp und hielt ihn so, dass die weichen Vliesstreifen um seinen Kopf baumelten. »Oh, Tristy«, sagte er mit hoher Stimme, »was machst du denn auf der Hochzeit meiner Mutter?«

»Halt die Klappe, Gary.«

»Oh, Tristy, stell dieses Tablett hin und tanz mit mir.« Gary lächelte und tätschelte den weichen Mopp.

»So sehen ihre Haare nicht aus.«

»Oh, Tristy, ich hab gerade den Brautstrauß meiner Mutter gefangen. Lass uns zusammen weglaufen und heiraten.«

»Ich will sie nicht heiraten! Ich will bloß, dass sie mich zur Kenntnis nimmt. Ich will mich bloß mit ihr verabreden. Einmal! Wenn sie mich nicht mag, dann …« Tristan zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm egal und als könnten die schwärmerischsten Gefühle, die er je gehabt hatte, einfach über Nacht aufhören.

»Oh, Tristy –«

»Ich tret dir in –«

Die Küchentür schwang auf. »Meine Herren«, sagte Monsieur Pompideau, »die Hochzeitsgäste sind eingetroffen und möchten bedient werden. Ist uns das Glück so hold, dass zwei erfahrene Garçons wie Sie uns dabei unterstützen könnten?«

»Meint er das sarkastisch?«, fragte Gary.

Tristan verdrehte die Augen, bevor er und Gary wie die anderen Kellner ihre Plätze einnahmen.

Die ersten zehn Minuten beobachtete Tristan verstohlen die anderen Kellner und versuchte zu begreifen, was er tun musste. Er wusste, dass Mädchen und Frauen sein Lächeln mochten, also setzte er es ein, vor allem als der Kaviar, den er servierte, mit einem Satz in den Schoß einer alten Dame sprang, als sei er ein ausgewachsener Fisch.

Er bediente in der großen Empfangshalle und hielt Ausschau nach Ivy. Ab und zu erhaschte er einen Blick auf sie, während sich dickbäuchige Männer von seinen Tabletts bedienten. Zwei von ihnen trugen ihre Drinks auf dem Anzug davon und beschwerten sich darüber, aber er nahm es kaum zur Kenntnis.

Er dachte ununterbrochen an Ivy. Was würde er sagen, wenn er ihr gegenüberstand? »Möchtest du Krabbenbällchen?« Oder vielleicht: »Darf ich dir ein ballée de crabbe empfehlen?«

Ja, das würde Eindruck bei ihr schinden.

Was war plötzlich mit ihm los? Warum sollte er, Tristan Carruthers, ein Typ, dessen Poster bei hundert Mädchen im Spind hing (na ja, vielleicht ganz leicht übertrieben), sie beeindrucken müssen? Ein Mädchen, das, soweit er wusste, nicht das geringste Interesse daran hatte, in seinem oder im Spind irgendeines anderen Jungen zu hängen? Auch wenn sie dieselben Flure hinunterlief wie er, schien sie sich in einer völlig anderen Welt zu bewegen.

Sie war ihm schon an ihrem ersten Tag in Stonehill aufgefallen. Sie war nicht nur hübsch, sondern irgendwie besonders. Dieser wirre blonde Schopf und ihre meergrünen Augen bewirkten, dass er sie pausenlos ansehen und berühren wollte. Es war die Art, wie sie von allem losgelöst schien, womit sich andere Leute beschäftigten – wie sie sich auf die Person konzentrierte, mit der sie redete, und nicht mit den Augen die Menge absuchte, um zu sehen, wer sonst noch da war. Es war die Art, wie sie sich anzog, um nicht wie alle anderen auszusehen; wie sie in einem Lied versinken konnte. Eines Tages hatte er völlig fasziniert in der Tür zum Musikzimmer gestanden. Sie hatte ihn natürlich nicht einmal bemerkt.

Tristan bezweifelte, dass Ivy überhaupt wusste, dass es ihn gab. Aber war dieses Catering wirklich eine gute Methode, das zu ändern? Nachdem er ein flüchtiges dickes Krabbenbällchen eingesammelt hatte, das zwischen spitzen Schuhen zum Halten gekommen war, kamen ihm Zweifel.

Dann sah er sie. Sie trug Pink – und Pink und Pink: meterweise glitzernden pinkfarbenen Stoff. Er hing von ihren Schultern und im Rock musste ein Reif eingearbeitet sein.

In diesem Moment lief Gary an ihm vorbei. Tristan drehte sich ein bisschen zu schnell um und ihre Ellbogen stießen aneinander. Acht Gläser fingen auf ihren Stielen zu schwanken an und dunkler Wein schwappte über.

»Was für ein Kleid!«, kommentierte Gary mit einem unterdrückten Kichern.

Tristan zuckte mit den Schultern. Ihr Kleid war unmöglich, aber das kümmerte ihn nicht. »Irgendwann wird sie es schon ausziehen«, argumentierte er.

»Ganz schön große Klappe, Kumpel.«

»So hab ich das nicht gemeint! Was ich –«

»Pompideau«, warnte Gary und die beiden gingen schnell auseinander. Der Caterer schnappte sich jedoch Tristan und zog ihn in die Küche. Als Tristan wieder herauskam, trug er ein Tablett mit einem Gemüsefächer und einer flachen Schüssel Dip – Dinge, die nicht überschwappen konnten.

Manche Gäste schienen ihn mittlerweile zu erkennen und gingen ihm schnell aus dem Weg, wenn er in ihre Nähe kam. Er drehte also mit dem vollen Tablett Runde um Runde und brauchte sich nicht zu sorgen, wohin er trat. Das gab ihm viel Zeit, das Partytreiben zu beobachten.

»Hallo, Schwimmer!«

Jemand aus der Schule rief ihm hinterher, vermutlich einer von Gregorys Freunden. Tristan hatte die Jungs und Mädchen aus Gregorys Clique nie leiden können. Sie hatten alle Geld und gaben damit an. Sie machten dummes Zeug und waren ständig auf der Suche nach einem neuen Kick.

»Schwimmer, hast du was auf den Ohren?«, lallte der Typ. Eric Ghent, hohlwangig und blond, lehnte an der Wand und hielt sich mit einer Hand an einem Wandleuchter fest.

»Entschuldigung«, sagte Tristan. »Meinst du mich?«

»Ich weiß, wer du bist, Knaller. Ich weiß es. Das machst du also, wenn du keine Bahnen schwimmst?« Eric ließ den Leuchter los und schwankte ein wenig.

»Das mach ich, damit ich mir die Bahnen leisten kann«, erwiderte Tristan.

»Toll. Ich spendier dir noch ein paar Runden.«

»Was?«

»Wenn du mir noch einen Drink organisierst, Knaller, kriegst du ’ne Belohnung.«

Tristan musterte Eric. »Mir scheint, du hattest schon einen.«

Eric hielt vier Finger hoch, dann ließ er seine Hand sinken.

»Vier«, verbesserte sich Tristan.

»Das ist eine Privatparty«, lallte Eric. »Da bekommen auch Minderjährige Alkohol. Ausßerdem: Privatparty hin oder her, sie servieren eh was auch immer wem auch immer, wenn der alte Baines das will. Der Typ kauft jeden, weißt du.«

Von ihm hat Gregory es sich also abgeschaut, dachte Tristan. »Wenn das so ist«, sagte er laut, »die Bar ist da drüben.« Er versuchte weiterzugehen, doch Eric baute sich vor ihm auf. »Das Problem ist, die geben mir nichts mehr.«

Tristan holte tief Luft.

»Ich brauch was zu trinken, Knaller. Und du brauchst Kohle.«

»Ich nehm kein Trinkgeld an«, sagte Tristan.