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Titelseite

Für Peg Grafwallner,
Terry McGinn
und ganz besonders Tim Grandy

TEIL EINS

EINE ENTSCHEIDUNG (F)LIEGT IN DER LUFT

Zwei Wochen vor dem Prom

KAPITEL 1

in dem ich mich vorstelle

Drei Dinge sind mir von meiner Mom geblieben: ihr Ehering, ein Schrank voll genialer Retroklamotten und der schrecklichste Name der Welt. Den Ring bewahre ich in einer Schachtel unterm Bett auf, denn … mal im Ernst, eine Siebzehnjährige mit einem Ehering? Das wäre ziemlich schräg. Ihre Klamotten sind quasi das Fundament meines eigenen Looks. Und meinen Namen werde ich ändern, sobald ich volljährig bin, denn niemand sollte Heart LaCoeur heißen müssen. (Wer nennt denn sein Kind »Herz Herz«?) Mit so einem Namen hält man mich doch sofort für einen Pornostar oder eine Stripperin. Bestenfalls noch für eine Autorin billiger Liebesromane. Dabei bin ich einfach eine Highschool-Schülerin mit einer Schwäche für Musicals und einem völlig ausgelesenen Exemplar von Das große Buch der Babynamen. Meine Ausgabe ist praktisch eine Aneinanderreihung von Eselsohren und wimmelt nur so von Markierungen. In weniger als einem Jahr kann ich endlich zum Gericht marschieren und mir aussuchen, wie ich für den Rest meines Lebens heißen möchte. Momentan schwanke ich noch zwischen Audrey, wie Audrey Hepburn, und Brigitte, wie Brigitte Bardot.

Manchmal werde ich gefragt, wie das so ist, wenn man Heart heißt, aber was soll man darauf denn antworten? Was würdest du denn sagen, wenn plötzlich ein Fisch aus einem See springen und dich fragen würde, wie es ist, an der Luft zu atmen? Wir wissen doch gar nicht, wie es ist, anders zu atmen. Mal ganz davon abgesehen, dass jeder erst mal ausflippen würde, wenn ihn ein Fisch aus heiterem Himmel anspricht. Wahrscheinlich würden wir so was sagen wie: »Keine Ahnung. Ganz gut. Wie ist es denn, wenn man durch Kiemen atmet, sprechender Fisch?«

Aber eigentlich geht es in dieser Geschichte nicht um sprechende Fische.

Es geht um den Schulball, den Prom.

Ich hatte bereits eine Verabredung für den Ball, genauer gesagt sogar sieben, weil ich zusammen mit meinen Freunden hingehen wollte. Wir hatten uns auch schon einen Namen gegeben: »Dramafrei-beim-Prom-dabei-Crew«. Wir hatten nämlich vor, den Abend zu genießen, ohne uns wegen der ganzen Klischees verrückt zu machen. Klischees wie: die Jungfräulichkeit auf dem Rücksitz im Auto verlieren oder illegal Bier besorgen. Nein danke. Keine Dates mit Jungs, kein Drama, sondern einfach nur mein fliederfarbenes Vintagewahnsinnskleid tragen – das war meine Vorstellung von einem perfekten Prom.

Bis Ryan alles vermasselte.

KAPITEL 2

in dem ich die erste unerwartete Einladung zum Prom bekomme

Jeder weiß, dass man in Clogs nicht rennen kann, aber ich versuchte es trotzdem. Ich war nämlich bereits viel zu spät dran für die Probe unseres Theaterstücks, und ich wusste aus leidiger Erfahrung, dass unser großer und mächtiger Regisseur, Len Greenwich, mir ungeeignetes Schuhwerk als Ausrede nicht durchgehen lassen würde. Erst auf den letzten fünfzig Metern fiel mir ein, dass ich ohne Schuhe vermutlich viel schneller wäre. Und leiser.

Nahezu geräuschlos zog ich die Tür zum Auditorium auf und warf vorsichtig einen Blick hinein. Zum Glück stand Greenwich gerade mit dem Rücken zu mir auf der Bühne. Ich nutzte die Gelegenheit und huschte zu meinen Freunden in den vorderen Reihen.

»Du kommst zu spät«, flüsterte Lisa, ohne den Blick von der Bühne zu nehmen.

»Ach, echt?« Ich schnitt eine Grimasse und quetschte mich an ihr vorbei auf einen freien Platz.

»Hey, Milz.« Schroeder streckte mir zur Begrüßung die Faust hin, als ich im Sitz neben ihm praktisch zusammenbrach. Er nannte mich nie bei meinem richtigen Namen, sondern immer nach einem anderen inneren Organ. In letzter Zeit waren es meistens »Bauchspeicheldrüse« und »Lunge«. Vielleicht hielt er das für eine Art ausgleichende Gerechtigkeit, weil ich auch nie seinen richtigen Namen benutzte – Chase. Aber jemanden »Schroeder« zu nennen, ist weniger eklig als »Milz«. Außerdem hat er blonde Haare und spielt Klavier, genau wie der Junge aus den Snoopy-Cartoons. Und sein Nachname ist Schaefer – wer könnte da schon widerstehen?

Ich stieß mit der Faust gegen seine. Ein bisschen heftiger als nötig. »Hab ich was verpasst?«

»Greenwich hat die gesamte Show umgestellt. Du bist jetzt die Zweitbesetzung für mich. Hast dir einen schlechten Tag fürs Zuspätkommen ausgesucht.«

Ich bückte mich, um meine Clogs wieder anzuziehen, und rammte Schroeder dabei einen Schuh in die Wade. Ah, diese Genugtuung. Er rieb sich über die getroffene Stelle und blickte mich mürrisch an. »Hast du denn gar nichts bei dem Vortrag über Mobbing gelernt?«

»Absolut nichts.« Ich lächelte unschuldig.

»Also los, die gesamte Besetzung auf die Bühne«, rief Greenwich. »Beeilt euch, wir haben nicht viel Zeit!«

Ich hastete hinter Schroeder in den Mittelgang und krachte dabei in einen Sitz, der sich nicht automatisch hochgeklappt hatte. »Autsch!« Die restliche Strecke konnte ich nur noch humpeln.

»Geschieht dir recht«, flüsterte Schroeder schadenfroh.

Ich schnitt ihm eine Grimasse und hatte den idiotischen Gesichtsausdruck noch nicht wieder normalisiert, als ich hörte, wie jemand meinen Namen flüsterte.

Neben dem Seitenausgang stand Ryan, einer der Bühnentechniker, und hielt einen großen schwarzen Bühnenscheinwerfer an sich gepresst.

Ich versuchte, meine Gesichtszüge in den Normalzustand zu bringen. »Bonjour, Ry.« Ryan und ich waren seit drei Jahren im selben Französischkurs und machten immer die mündlichen Übungen zusammen, weil wir uns ganz nett fanden. Außerdem waren wir in etwa auf demselben Sprachniveau – das heißt, wir hielten unser Französisch beide für besser, als es vermutlich tatsächlich war.

Ryan winkte mich zu sich heran. »Sag mal … Ich wollte dich fragen … Wollen wir zusammen zum Prom gehen? Also … als Freunde.« Den letzten Teil hatte er ganz hastig hinzugefügt. Für einen kurzen Moment schien der Scheinwerfer bedenklich zu schwanken. Fast wäre er Ryan aus dem Arm gerutscht.

»Wie?« Ich blickte ihn verwirrt an und hatte Angst um das teure Equipment – und auch um Ryans Füße.

»Ich weiß, es ist ziemlich kurzfristig, aber ich habe gedacht …«

»Äh …« Wenn mir jemand dreißig Sekunden früher gesagt hätte, dass Ryan mich vielleicht zum Ball einladen wollte, hätte ich bei demjenigen Fieber gemessen. Und jetzt musste ich diese total überraschende Frage auch noch sofort beantworten. Ryan sah mich erwartungsvoll an.

»Äh …«

»Wirklich nur als Freunde«, bekräftigte er und schüttelte den Kopf. »Nichts weiter, ehrlich.«

»HEART!«, brüllte Greenwich von der Bühne. »Auf die Bühne, aber plötzlich!«

Ich zuckte zusammen und flüsterte: »Tut mir leid, aber ich muss los.«

»O. k. Sorry.« Ryan sah weg und wurde rot. Mit dem Rücken drückte er den Seiteneingang für die Bühnenmitarbeiter auf und verschwand. Ich sprang auf die Bühne und verlor aus lauter Fluchtbedürfnis dabei sogar fast meinen rechten Clog. Super. Jetzt kam ich mir nicht nur wie ein Trottel, sondern auch noch wie ein Tollpatsch vor.

»Na, schnell noch ein paar Herzen gebrochen, Bauchspeicheldrüse?«, fragte Schroeder, als ich mich neben ihm auf meine Position stellte.

Mir war ganz flau im Magen. »Na, schnell noch Privatgespräche belauscht?« Ich versuchte, gleichgültig zu wirken.

»Nur beobachtet.« Schroeder zuckte mit den Schultern.

»Was war denn da los?«, flüsterte Lisa.

»Ryan hat mich zum Prom eingeladen«, flüsterte ich zurück.

Lisa machte große Augen. »Technik-Ryan? Und? Hast du Ja gesagt?«

»Genau genommen habe ich noch gar nichts gesagt.«

»Also, Leute, von ganz vorne«, brüllte Greenwich. »Und gebt euch zur Abwechslung mal ein bisschen Mühe. Ich habe jetzt schon Kopfschmerzen.«

Für jemanden, dessen größter beruflicher Erfolg die Leitung einer Schultheatergruppe war, fand ich Greenwich gerade ganz schön überheblich.

KAPITEL 3

in dem mein Bruder und ich den Moderator Alex Trebek vernichtend schlagen und ich als Pseudo-Date verpflichtet werde

Mein Bruder Phil zog zu Hause gerade eine Pizza aus dem Ofen. Außerhalb der Footballsaison war Phil für das Abendessen verantwortlich, was in der Regel auf Pizza oder Hamburger hinauslief oder auf alles andere, das sich direkt aus der Gefriertruhe in die Mikrowelle befördern ließ.

»Oh, là, là. Quel gourmet«, spottete ich. Ich versuchte, wo möglich, ein wenig Französisch in meinen Alltag einzubauen. Das verlieh meinem Leben einen gewissen Chic. Allein das Wort war toll. Phil lachte durch die Nase; sehr französisch.

»Isst Dad mit uns?« Jacke und Rucksack hing ich an den Haken neben der Hintertür.

»Wohl eher nicht.« Unser Dad besaß eine Firma für Teppiche und Bodenbeläge, und ganz egal, wie sehr er sich bemühte, meistens schaffte er es nicht zum Essen nach Hause. Deshalb war er auch zum Experten im Resteaufwärmen geworden.

»Ich mache einen Salat.«

Phil simulierte Würggeräusche, während er in einer Schublade nach dem Pizzaschneider kramte.

»Ich versuche nur, dich vor Skorbut zu schützen, Phil. Du solltest mir dankbar sein.«

»Das haben schon meine Bärchenvitamintabletten übernommen, vielen Dank.«

»Ja, und die lassen dich auch so reif und weltmännisch wirken.«

»Beeil dich. Es ist fast sechs.«

Mein Bruder und ich hatten ein geheimes Laster. Beim Essen schauten wir jeden Abend Jeopardy! und Glücksrad. Unsere Großmutter hatte sich diese Sendungen immer angesehen, wenn sie nach der Schule auf uns aufpasste. Vielleicht war es einfach nur Gewohnheit, vielleicht Sentimentalität, aber wir waren glühende Fans von Alex und Pat. Wenn sie uns als Team spielen lassen würden, könnten wir Jeopardy! garantiert gewinnen.

»Da-da da-da da-da-dah.« Ich sang die Titelmelodie mit, als wir uns auf unsere Stammplätze setzten und Phil das Kommando über die Fernbedienung übernahm. Zufrieden aßen wir uns durch die erste Runde und riefen zwischen den einzelnen Bissen die Antworten.

Also ich machte das so.

Phil hatte die unangenehme Angewohnheit, mit offenem Mund zu reden. Als er sagte: »Übrigens, Amy hat Troy abserviert«, klang es wie »Übliwens, A-y ha Twoi absewit«.

Zum Glück habe ich bereits viel Erfahrung mit seiner Aussprache um große Nahrungsbrocken herum, deshalb konnte ich ihm antworten. »Mist. Wie hat er’s verkraftet?« Sein Freund Troy war einer dieser Star-Footballer, die im Prinzip aussahen wie ein Teddybär mit Schulterpads. Er war sehr nett. Einer der wenigen Freunde Phils, die ich tatsächlich mochte. Obwohl mein Bruder und ich altersmäßig nur wenig auseinanderlagen, hatten wir doch völlig unterschiedliche Cliquen.

»Hm.« Er zuckte die Schultern und schluckte den Rest seiner Pizza hinunter. »Jedenfalls hatte er schon Karten für den Prom gekauft, deshalb hab ich ihm gesagt, dass du mit ihm hingehst.«

»Was?« Er hatte das so selbstverständlich gesagt, dass ich zuerst dachte, ich hätte mich verhört.

»Komm schon, für Troy.«

Okay, ich konnte Troy gut leiden, aber ich hatte auch ohne ihn bereits genug Einladungen zum Ball. »Ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

»Äh, hallo? Ich will mit meinen Freunden hingehen, schon vergessen?«

»Die siehst du doch dort trotzdem. Aber du kannst doch Troy nicht einfach so hängen lassen.«

»Und wieso bin ich jetzt gleich noch mal für ihn verantwortlich?«, fragte ich empört und drehte mich so, dass ich meinen Bruder ansehen konnte.

Phil lehnte sich zurück und verdrehte die Augen. »Es ist ja nicht so, als hättest du ein echtes Date.«

»Doch! Warum tust du bloß immer so, als ob meine Pläne nichts wert sind?«

»Jetzt stell dich nicht an wie ein Mädchen. Du willst mit einer Gruppe hingehen. Das zählt nicht.«

»Zu deiner Information, gerade erst heute Nachmittag hat mich jemand zum Ball eingeladen.«

»Oh.« Das schien ihm die Sprache zu verschlagen, aber nur einen Moment lang. »Du hast doch aber eben gesagt, dass du mit deinen Freunden hingehst.«

»Ja. Ich hab Ryan noch nicht zugesagt. Darum geht es aber auch gar nicht, sondern darum, dass ich zwei gute Gründe gegen deinen Verkupplungsversuch habe.«

»Du hast seine Einladung abgelehnt? Mann, das war aber fies von dir.«

»So war das doch gar nicht.« Ich machte eine abwehrende Handbewegung. »Wir wurden unterbrochen. Ich hab ihm nicht abgesagt oder so.« Glücklicherweise war Ryan am Ende der Probe bereits an einen dieser mysteriösen Orte verschwunden, an die sich die Bühnentechniker immer absetzen, sodass ich fliehen konnte, ohne ihm eine Antwort geben zu müssen.

»Dann kannst du ihm also immer noch absagen.«

»Nein!«

»Genau so! Das wiederholst du einfach vor Ryan.«

»Das ist nicht witzig, Phil.«

»Soll ich Troy wirklich sagen, dass er so ein armer Wurm ist, dass nicht mal meine kleine Schwester mit ihm zum Ball gehen will? Das gibt ihm den Rest.« Er verzog das Gesicht.

»Selbst wenn ich jetzt mal deine Andeutung ignoriere, dass es armselig ist, mit mir zum Ball zu gehen, bist du trotzdem total unfair. Es gibt noch andere Mädchen. Warum fragst du nicht eine der Cheerleaderinnen oder so? Lass doch Tara jemanden überreden.« Tara war die Freundin meines Bruders.

»Heart. Tu es für mich. Ich hab ihm gesagt, dass du mit ihm hingehst.«

»Und, was kann ich dafür?«

»Ach komm. Du willst es doch auch.« Das war einer seiner Standardsprüche. Den hörte ich jedes Mal, wenn er mich fünf Minuten, bevor er zu Hause sein musste, anrief, damit ich ihn irgendwo abholte.

»Ganz sicher nicht.«

»Dann tu es für Troy.«

»Lass die schmutzigen Tricks.« Laut klappernd stellte ich unser Geschirr übereinander und marschierte in die Küche.

»Du gehst mit ihm hin!«, rief mir Phil hinterher.

»Nein!«

»Doch, du gehst …«, sang er so laut, dass ich ihn auch in der Küche hören würde.

»Nei-ein!«, sang ich als Antwort. Lauter.

KAPITEL 4

über meine ungewürdigte Genialität

Meine einzige Hoffnung war eine Notfallkonferenzschaltung mit Cassidy und Lisa.

»Ryan hat dich zuerst gefragt.« Für Cassidy war die Sache sofort klar.

»Genau genommen hat Phil Troy bereits vorher gesagt, dass ich mit ihm hingehe.«

»Du darfst dich von Phil nicht so herumkommandieren lassen«, sagte Cassidy.

»Du weißt doch, wie er ist.«

Sie war ganz aufgebracht. »Ja. Herrschsüchtig.«

»Und genau genommen haben dich deine Freunde zuerst gefragt«, gab Lisa zu bedenken. Was natürlich stimmte, aber da mich keiner meiner Freunde aus der Dramafrei-beim-Prom-dabei-Crew tatsächlich eingeladen hatte, kam es mir irgendwie unhöflich vor, Ryan und Troy abzusagen.

»Das stimmt.« Ich biss mir auf die Lippen. Ich hasse Situationen, bei denen schon klar ist, dass man mindestens eine Person enttäuschen wird.

»Ach bitte, wir wissen doch alle, dass das nur Plan B ist«, beharrte Cassidy. »Die Promcrew ist wie ein Sicherheitsnetz.«

»Das ist ja wohl die Höhe«, ereiferte sich Lisa.

»Lassen wir mal außen vor, wer mich zuerst gefragt hat.« Wenn sich die beiden nicht endlich auf das eigentliche Problem konzentrierten, würde das nichts werden. »Obwohl ich zugeben muss, dass Phil mich definitiv vorher hätte fragen müssen, tut mir Troy ziemlich leid.«

»Phil darf dich überhaupt nicht so verplanen«, sagte Lisa. »Das Ganze ist nicht dein Problem.«

»Möchtest du denn mit Troy zum Ball gehen?«, fragte Cassidy.

»Keine Ahnung, aber wenn Ryan mich nicht gefragt hätte, hätte ich bestimmt zugesagt. Das heißt doch was, oder?«

»Nein, weil du bereits andere Pläne hast«, unterbrach mich Lisa.

Ich ignorierte sie. Aus jahrelanger Erfahrung wusste ich, dass sie ihren offiziellen Standpunkt bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholen würde. »Was ist, wenn Ryan nicht nur als Freund mit mir hingehen will? Wenn der Ball für ihn so eine Art Übergang zu mehr sein soll? Weiß er denn nicht, dass ich für so was nicht zu haben bin?«

»Natürlich weiß er das. Du erzählst es ja allen oft genug«, beruhigte mich Cassidy.

»Aber vielleicht glaubt er mir nicht?«

»Deine Bindungsangst ist das reinste Klischee«, sagte Lisa.

»Ich hab keine Bindungsangst!«, protestierte ich, wie immer. Ich hatte keine Bindungsangst. Im Gegenteil, irgendwann wollte ich eine feste Beziehung haben. In ferner Zukunft. Und nicht bevor ich mir einhundertprozentig sicher war, dass ich die richtige Ich-will-den-Rest-meines-Lebens-mit-dir-verbringen-Person gefunden hatte. Das gehörte zu den wenigen Dingen, die ich von meiner Mutter gelernt hatte: Achtzehnjährige konnten solche Entscheidungen nicht treffen. Achtzehnjährige wurden schwanger, und dann gleich noch mal, wenn sie neunzehn sind, und dann flippen sie aus und lassen ihre Kinder zurück für ein Leben voller … was auch immer meine Mutter machte. Von meinen Großeltern wusste ich nur, dass sie immer davon geträumt hatte, Stewardess zu werden.

Cassidy brachte uns zurück zum Thema. »Mit wem willst du hingehen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Genau das ist dein Problem. Du bist immer so unentschlossen.«

»Wieso bin ich unentschlossen, wenn ich etwas nicht weiß? Die Welt ist voller Geheimnisse und Rätsel.«

»Mit wem willst du denn hingehen?«, wiederholte Cassidy.

»Ich …« Ich versuchte, mir den Prom vorzustellen. Als kleines Mädchen, bevor ich gemerkt hatte, dass Romanzen ein Acker voller Landminen waren, hatte ich mir den Ball immer als diese magische, romantische Nacht vorgestellt, bei der ich eine Prinzessin auf ihrem eigenen Ball sein und mit der Liebe meines Lebens tanzen würde. Die Sterne würden über uns strahlen, während wir uns beim letzten Lied küssten – süße Küsse, mit gespitzten Lippen, keine Zungenküsse, weil das die Fantasie eines neunjährigen Mädchens war. Heute weiß ich, dass es einfach nur ein Ball ist. Nicht, dass wir uns falsch verstehen, ich habe mich bei solchen Veranstaltungen bisher immer gut amüsiert, aber sie sind nichts Besonderes. Ein guter Grund, ein schickes Kleid anzuziehen und zu Musik zu tanzen, für die man sich sonst in Grund und Boden schämen würde. Die einzige Romanze, die ich vom Prom erwartete, war die leidenschaftliche Liebe zu meinem Vintagekleid, das ich bei Take Two gefunden hatte.

»Kein Ahnung«, antwortete ich absolut ehrlich.

»Also bitte«, stöhnte Cassidy. »Es ist der letzte Tanz des Abends. Ein langsames Lied. Du stehst auf der Tanzfläche und schaust deinem Date tief in die Augen. Ist es Ryan oder ist es Troy?«

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, mich in die Szene hineinzuversetzen. Leider war das Lied aus der letzten Szene dieses Vampirfilms der erste Song, der mir einfiel. Wo spielte denn mein Gedanken-Prom, im Jahr 2008? Vielleicht hatte mein Ich aus der Mittelstufe immer noch die Kontrolle über alle meine Prom-bezogenen Fantasien. Ich konnte sehen, dass ich jemandem sanft die Hand auf die Schulter gelegt hatte, aber das Gesicht dieses Jemands war total undeutlich. Ich konzentrierte mich und schaffte es, das Bild zwischen Troys braunen, nach oben gestylten Haaren, den blauen Augen und dem breiten Grinsen und Ryans dunklen Haaren, den braunen Augen und seinem Lächeln, für das er nur den halben Mund benutzte, hin- und herspringen zu lassen.

»Es könnte mit beiden ein schöner Abend werden«, erklärte ich schließlich in einem ziemlich nervigen, jammerigen Ton, den ich höchst ungern gebrauche. Ich bin mir relativ sicher, dass Brigitte und Audrey nie gejammert haben.

»Ich geb’s auf«, verkündete Lisa. »Am besten sagst du beiden ab und gehst mit der Promcrew, wie es von Anfang an geplant war.«

»Ich bin nach wie vor der Meinung, dass der gewinnt, der zuerst gefragt hat. Das gehört sich einfach so«, beharrte Cassidy.

»Also, Heart, mit wem gehst du hin?«, fragte Lisa.

»Ich kann mich nicht entscheiden!«

»Früher oder später musst du das.« Lisa seufzte ins Telefon, was für den Rest von uns ein lautes Rauschen erzeugte. »Und lieber früher als später, denn das Thema wird schon langsam langweilig.«

»Vielen Dank für eure Unterstützung.« Die beiden würden mir ganz offensichtlich keine Hilfe sein. »Warte!«, rief Cassidy. »Ich befrage den Magic 8 Ball!« Ich konnte hören, wie sie einen Moment lang herumkramte, und dann: »Aha! Okay … Magic 8 Ball, soll Heart mit Ryan zum Prom gehen?«

»Woher wissen wir, dass du nicht schummelst und uns irgendwas erzählst«, fragte ich.

»Wenn es um den Magic 8 Ball geht, würde ich niemals lügen!« Der dumpfe Klang des Spielzeugs war selbst durch das Telefon zu hören. »Was? Das ist die Antwort? ›Frag später noch mal nach‹? Also echt!«

»Siehst du, selbst deine Wahrsagekugel weiß nicht weiter.«

Auch das ignorierte Cass. »Soll Heart mit Troy zum Prom gehen?« Schüttle, dreh, schüttle. »›Konzentrier dich und versuch es noch einmal.‹ Ich glaub, ich spinne.«

»Ich hab’s dir doch gesagt, diese Entscheidung kann man nicht treffen. Selbst Wahrsagekugeln helfen mir da nicht weiter.«

Lisa prustete. »Ich bin schockiert.«

»Ich probiere es später wieder und berichte euch dann morgen das Ergebnis«, versprach Cassidy.

»Wenn’s sein muss.« Ich legte mich quer über das Bett, eine Hand auf die Stirn gepresst. Manchmal glaube ich, dass die Stummfilmstars recht hatten. Melodramatik kann sehr selbsttherapeutisch sein.

»Vertraut mir. Die Antwort liegt in den Händen des Schicksals.«

Ich ließ die Zunge heraushängen, als ob sie mich gerade mit ihren Worten vergiftete. Sich mit dem Schicksal zu trösten, bringt nur etwas, wenn man auch an Schicksal glaubt.

KAPITEL 5

über die fragwürdigen hellseherischen Eigenschaften von Spielzeugen

Cassidy und ich haben in der ersten Stunde das gleiche Fach, also rechnete ich mit einem vollständigen Bericht zum Experiment mit dem Magic 8 Ball, sobald ich den Klassenraum betreten würde. Ich hatte mich nicht getäuscht.

»Okay, das hier ist echt bizarr.« Sie schwenkte ein Blatt Papier vor meinem Gesicht herum. »Ich habe den Ball zwanzig Mal zu Ryan und zwanzig Mal zu Troy befragt, und dann das.« Sie strich das Blatt auf ihrem Tisch glatt und deutete auf ein Diagramm. »Genau Gleichstand.«

Sie hatte jede Antwort ordentlich in zwei Spalten eingetragen. Sogar farbcodiert – mit roten, grünen und gelben Punkten neben jeder Antwort.

»Du hast eindeutig zu viel Freizeit«, sagte ich.

»Es war faszinierend!«, behauptete sie. »Schau, die grünen Punkte bedeuten ja, die roten nein und die gelben sind diese blöden, nutzlosen Antworten.«

Ich betrachtete ihr Diagramm. Sie hatte recht. In jeder Spalte gab es sieben grüne Antworten, acht gelbe und fünf rote. »Wow, das ist wirklich schräg.«

»Sag ich doch. Wir brauchen ein neues Hilfsmittel.«

Ich zog die Brauen hoch. »Jetzt sag bloß nicht ein Ouija-Brett.«

»Also bitte.« Sie rollte mit den Augen. »Tarotkarten und dein Horoskop.«

Bevor ich ihr antworten konnte, ließ uns Schroeders Stimme aufschrecken. »Hab ich eine Hausaufgabe verpasst?« Und ehe ich ihn davon abhalten konnte, warf er schon einen Blick über Cassidys Schulter auf ihr Diagramm. »Was ist das?«

»Nichts.« Ich schnappte mir das Blatt und stopfte es in die Tasche an meinem Kleid. Schroeder war der letzte Mensch, den ich die Tabelle sehen lassen wollte. Er würde mich damit aufziehen, und das fehlte mir heute gerade noch. Außerdem gehörte er zur Promcrew, also war ich genau genommen dabei, ihn abzuservieren. Vermutlich würden nicht alle so begeistert von meiner Last-Minute-Planänderung sein wie Cassidy.

»Heart hat zwei Einladungen zum Prom bekommen, und wir überlegen, mit wem sie hingehen soll«, beantwortete Cassidy seine Frage.

Ich schloss einen Moment lang die Augen und kämpfte gegen den Wunsch an, ihr auf den Fuß zu treten. Vielleicht sollte ich die erste Stunde damit verbringen, eine Suchanzeige für eine neue beste Freundin zu schreiben.

»Ich dachte, wir gehen zusammen hin. Wir alle, meine ich.« Schroeder sah mich aus zusammengekniffenen Augen an.

»Ja … vielleicht.« Ich seufzte.

Er legte sich eine Hand auf die Brust. »Heart, das bricht mir das Herz. Du lässt uns sitzen?«

Jetzt fühlte ich mich schuldig. Wunderbar. »Es ist kompliziert.«

»Eigentlich nicht. Abserviererin.« Er grinste, sah aber nicht wirklich belustigt aus.

»So ist das doch gar nicht.« Ich blickte ihn finster an, aber sein Grinsen verschwand nicht. Er schüttelte den Kopf und seufzte.

»Ich sehe schon, du willst nicht mit mir hingehen. Mit uns, meine ich.« Er seufzte erneut. »Dabei wäre das so ein schöner Abend geworden. Mieses Essen, schlechte Musik, dabei zusehen, wie sich die Cheerleaderinnen nach zu viel Boone’s Farmwein gegenseitig beim Kotzen die Haare aus dem Gesicht halten …« Noch ein Seufzer.

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wow, du weißt wirklich, wie man ein Mädchen rumkriegt.«

»Muss eine Gabe sein.« Er zuckte mit den Schultern.

»Was meinst du denn, mit wem sie hingehen soll?«, fragte Cassidy. »Mit Ryan von den Bühnentechnikern oder mit Troy, dem Freund ihres Bruders?«

Schroeder zog augenblicklich die Brauen zusammen. »Ryan hat dich eingeladen?«

Meine Wangen brannten. »Hm.«

»Und, gehst du mit ihm zum Ball?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Und wer ist gleich noch mal Troy?«

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Freund meines Bruders. Er hat mir leidgetan. Seine Freundin hat mit ihm Schluss gemacht.«

»Also, mit wem von beiden würdest du hingehen?«, fragte ihn Cassidy.

Er schien einen Moment lang darüber nachzudenken, bevor er mich ansah, und dann wieder Cassidy. »Mit keinem von beiden.«

»Das ist nicht sehr hilfreich.«

»Sollte es auch nicht sein.« Er drehte sich um und ging hinüber zu seinem Platz.

»Ganz klar, diese Entscheidung kann ich unmöglich treffen«, erklärte ich.

»Nach dem Unterricht überprüfe ich dein Horoskop.«

KAPITEL 6

von den überragenden Pommes aus unserer Cafeteria und einer Nahtod-Erfahrung aufgrund besagter Fritten

Keine Ahnung, was an den Pommes in unserer Schulcafeteria so besonders war, aber ich war süchtig nach ihnen und hatte kein Interesse daran, mich mit einem Zwölf-Schritte-Programm von meinem Laster kurieren zu lassen. Ich war gerade ganz auf meine Pommesvorfreude konzentriert, als eine Berührung an meinem Ellbogen mich zusammenzucken ließ. Mit rasendem Herzen drehte ich mich herum. Troy Rafferty lächelte mich an. Allerdings nicht in echt – seine Lippen waren zwar ungefähr in die richtige Position gezogen, aber seine Augen hatten das Memo wohl nicht erhalten. Er sah aus wie ein trauriger Clown mit einem aufgemalten Grinsen. Es war direkt gruselig. »Hey, Heart.«

»Troy!« Ich hielt mir meinen Dollarschein vor die Brust. »Du hast mich erschreckt.«

»Hör mal, ich weiß, dass dir dein Bruder das mit Amy erzählt hat.«

»Ja. Tut mir echt leid für dich.« Ich verzog das Gesicht. Sollte ich ihn jetzt tröstend umarmen oder wäre das zu viel des Guten? Kurz entschlossen klopfte ich ihm auf die Schulter.

»Also, ich weiß, dass das jetzt ein bisschen kurzfristig ist und so, aber wenn du mit mir zum Ball gehen würdest, wäre das ziemlich cool.«

Und die Kandidaten für die begeisterungsloseste Balleinladung sind …

»Oh, ach so.« Es war viel schwerer, Troy persönlich abblitzen zu lassen, als es einfach Phil zu sagen, der als Überbringer der Botschaft jede Strafe verdiente, die mir einfallen würde. Troy hatte mich immer freundlich gegrüßt, wenn er mit den anderen Phil besuchte, und mich auch schon ein- oder zweimal von der Schule heimgefahren, wenn mein Bruder keine Zeit gehabt hatte. Ein durch und durch guter Mensch also.

»Wenn du nicht willst, dann ist das auch okay.« Troy sah auf den Boden und ich hätte schwören können, dass er gleich anfangen würde zu weinen. Der riesige, einen Meter fünfundneunzig große und einhundertfünfzehn Kilo schwere Troy Rafferty war kurz davor, in der Pommesschlange zusammenzubrechen.

Verdammte Amy.

»So ist das ja nicht.« Ich wedelte mit den Händen vor ihm herum, um die potenzielle Tränenflut möglichst am Ausbrechen zu hindern. »Aber mich hat bereits jemand anders gefragt, und …«

»Das ist schon okay«, unterbrach er mich leise. »Vergiss, was ich gesagt habe.« Er wollte gerade gehen, als mein Mitleid den inneren Kampf gewann.

»Troy, warte!« Ich legte ihm die Hand auf den Rücken. »Äh … lass mich mal mit … ihm reden. Dem anderen, meine ich. Ich sag dir dann Bescheid, okay?«

Ein überraschter, erleichterter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Zum ersten Mal wirkten seine blauen Augen glücklich. Er lächelte und nickte. »Ja, okay. Das wäre super.«

Gut, das war’s also. Ich musste Ryan sagen, dass ich nicht mit ihm zum Ball gehen konnte. Troy war ganz offensichtlich ein Mann in einer Notlage. Außerdem wäre Phil dann nicht sauer auf mich und ich bin immer dafür, jederzeit möglichst viele Menschen glücklich zu machen, besonders Familienmitglieder. Zumindest musste ich mir keine Gedanken darüber machen, dass Troy womöglich nach dem Ball irgendwas von mir erwartete. Und wie hätte ich jemandem absagen sollen, der praktisch kurz vor einem Tränenausbruch stand?

Und da mein Tag geradezu aus einem Teeniefilm der Neunzigerjahre zu stammen schien, lief ich natürlich sofort Ryan in die Arme, kaum dass ich meine Pommes bezahlt hatte.

»Heart!«

»Ryan …« Ich versuchte, meiner Stimme etwas Begeisterung zu verleihen, aber letztendlich kam nur ein komisches, piepsendes Geräusch dabei heraus. Hoffentlich war es ihm nicht aufgefallen.

»Äh, hör mal … wegen des Abschlussballs …« Er sah sich um und berührte mich am Arm. »Hast du mal einen Moment Zeit?«

Mein erster Gedanke war, dass er mich wieder ausladen wollte. Halleluja! Glücklicherweise fiel meine Antwort neutraler aus. »Na klar.«

Ryan führte mich und meine Pommes zu einem abgelegenen Tisch, an dem niemand saß. Vermutlich, weil seine geografische Nachbarschaft zu den Mülleimern für einen dauerhaft klebrigen Fußboden sorgte. Ich fand eine relativ saubere Stelle, auf der ich stehen konnte, und steckte mir ein paar Fritten in den Mund. Gab ja keinen Grund, die kalt werden zu lassen.

»Wir … wir sind doch Freunde, richtig?«

Ich sah ihn verwirrt an. »Na klar. Uns verbindet Französisch. Das ist nicht zu unterschätzen.«

Er lachte nervös. »Ich glaube, ich sollte ehrlich zu dir sein. Ich will nicht, dass du glaubst, ich hätte dich gefragt, weil … dass wir … dass ich …« Frustriert holte er tief Luft und platzte einfach damit heraus. »Ich bin schwul.«

Meine Zunge war wie gelähmt und die Pommes blieben mir im Hals stecken. Ein Keuchen war die Reaktion meiner Lungen auf die plötzlich fehlende Frischluftzufuhr. Meine Augen traten hervor und füllten sich gleichzeitig mit Tränen; ich hustete, wodurch die Fritten wie Patronen aus meinem Mund geschossen kamen. Sie landeten neben dem Mülleimer auf dem Fußboden. Währenddessen hustete ich weiter und versuchte, mich nicht zu übergeben. Ryan schlug mir ein paarmal auf den Rücken, bis ich schließlich tief Luft holen konnte. Schwer atmend griff ich nach seinem Arm und krächzte: »Was?«

»Oh mein Gott, ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja«, hustete ich. »Ich hab mich nur ein bisschen verschluckt.« Ich strich mir über den Hals. »Was hast du gerade gesagt?«

Er lachte nervös. »Ich bin … äh … schwul.«

Ich nickte heftig und bemühte mich um ein Lächeln, obwohl mir die Augen immer noch tränten. »Ja, dann habe ich doch richtig gehört.«

»Bevor du dich verschluckt hast.«

»Ich schwöre, das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun.«

»Wirklich?« Er sah mich zweifelnd an. »Für mich hat das eher wie Ursache und Wirkung ausgesehen.«

»Okay, vielleicht hatte es ein bisschen was damit zu tun, aber nicht auf eine geschockte Art, echt nicht.« Mit einem Fingerknöchel wischte ich mir die Tränen unter den Augen weg.

»Bist du sicher?«, erkundigte er sich.

»Absolut.«

»Weil das nämlich die schlimmste Reaktion wäre, die ich mir vorstellen könnte, nachdem ich mich gerade zum ersten Mal geoutet habe.«

Gott sei Dank hatte ich so viel Verstand gehabt, mir nicht noch mal Pommes in den Mund zu stecken, denn ich hätte mich fast schon wieder verschluckt. »Zum ersten Mal?«

Er lachte erneut nervös. »Äh … ja.«

»Mon dieu! Ich … fühle mich geehrt.« Ich schlang ihm meine freie Hand um den Nacken und drückte ihn, so gut ich das mit puddingartigen Muskeln vom Fast-Ersticken und einer Tüte Pommes in der anderen Hand konnte.

Ryan machte ein merkwürdiges Geräusch, irgendwas zwischen einem Lachen und einem Schluchzen. »Danke.«

»Außer mir weiß es also niemand? Nicht mal deine Eltern?«

»Ich glaube, meine Mom ahnt was, aber ich habe nicht mit ihr darüber gesprochen.«

Die erste Person zu sein, der er sich anvertraut hatte, lastete schwer auf mir. Wenn man bedenkt, wie lange wir befreundet waren – ich hatte nie etwas vermutet. Offensichtlich war auf mein Schwulenradar kein Verlass. »Warum ich?«

Er zuckte die Schultern. »Du bist … du bist einfach sehr nett. Und ich weiß, dass du mit niemandem hier aus der Schule gehst, deshalb hab ich gedacht … Keine Ahnung, was ich gedacht hab. Ich musste es mal jemandem sagen. Und vermutlich war ich mir sicher, dass du es nicht weitererzählen würdest. Ich will nicht, dass sich das rumspricht.«

»Okay, danke. Schätze ich.« War das die richtige Antwort?

»Also, wegen des Abschlussballs …«

»Oh.« Wie konnte er nur so schnell wieder auf das Thema umschwenken, nachdem er mir gerade eine so große Sache verkündet hatte?

»Es ist so, ich wollte nicht, dass du denkst, dass ich dich, äh, mag, und es deshalb dann komisch zwischen uns ist oder so.«

Ich lachte, als wäre mir dieser Einfall nie gekommen. Wie albern von ihm, warum hätte ich denn so etwas Abwegiges denken sollen? Gott bewahre!

Ryan war noch nicht fertig. »Ich wollte mit jemandem hingehen, der das nicht überbewerten würde. Und Spaß haben.«

Ich fühlte mich eigenartig wichtig, konnte aber nur nicken.

»Also, gehst du mit mir hin? Obwohl das kein großer romantischer Abend für dich werden wird?«

Ich rollte mit den Augen. »Also bitte. Alle meine Anfragen für den Abend haben nicht das geringste romantische Potenzial.«

Er machte ein langes Gesicht. »Es haben dich auch andere gefragt?«

Wie blöd von mir. »Nein, ich meine, ich wollte eigentlich mit einer Gruppe hingehen. Du weißt schon, Cassidy und Ally und Kim und Schroeder und Dan und Pat und Neel.« Ich nickte zu jedem Namen.

»Oh.« Seine Enttäuschung war regelrecht greifbar.

»Aber das war nicht, also, in Stein gemeißelt oder so.« Abgesehen davon, dass ich mein Ticket bereits bezahlt und mit dem Rest der Crew einen Tisch für acht Personen reserviert hatte.

»Oh«, sagte er wieder, aber diesmal hoffnungsvoller.

Und dann fiel mir Troy ein. Verdammt. Dabei hatte ich doch gerade erst mit ihm gesprochen. Was war nur los mit mir? In den Seifenopern meiner Grandma hatte noch niemand aufgrund einer Nahtod-Erfahrung mit Pommes Amnesie bekommen. »Ich rede mal mit ihnen. Ist das … das macht dir doch nichts aus, oder?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Aber sag ihnen bitte nichts über mich.«

»Natürlich nicht! Hätte ich nie gemacht.«

»Okay. Dann, klar. Sag mir einfach später Bescheid, ja?«

»Super.« Verzögerungstaktik, dein Name ist Heart LaCoeur. »Und danke noch mal. Dass du es mir erzählt hast, meine ich.«

»Danke, dass du nicht wirklich aus Schock darüber erstickt bist.«

Ich lachte. »Hey, wir sind Französisch-Kumpel, über so was stehen wir drüber.«

»Les amis français«, korrigierte er mich mit erhobenem Zeigefinger.

»Ah, bien sûr.«

»Ich seh dich dann später bei der Probe.« Er winkte mir zu und ging hinüber zu dem Platz, an dem er normalerweise saß.

Oh Mann, ich war echt in Schwierigkeiten.

KAPITEL 7

in dem die Götter mich verlassen und ich mich der Stochastik anvertraue

Ich hatte das Gefühl, dass ich die Geduld meiner Freunde bei der Mit-wem-soll-Heart-zum-Ball-gehen-Diskussion bereits überstrapaziert hatte. Ryans Geheimnis durfte ich auch nicht verraten, also blieb mir nichts anderes übrig, als das Problem allein weiterzuwälzen. Cassidys idiotische Liste von ihrer Fragerunde mit dem Magic 8 Ball steckte in meiner Tasche und nützte mir recht wenig. Bisher hatte es auch keinerlei himmlische Zeichen gegeben, um mir bei der Entscheidung zu helfen. Auch wenn ich nicht wirklich welche erwartet hatte, hatte ein kleiner Teil von mir doch auf eine göttliche Fügung gehofft. Dabei wäre mir jegliche Gottheit willkommen gewesen, solange sie eine Antwort für mich gehabt hätte.

Hätte meine Mutter mich bloß Heaven genannt statt Heart …

Obwohl – Gedanke gestrichen.

Ich war einer Entscheidung kein bisschen näher gekommen, als ich mich in den Chemieunterricht schlich und auf meinen Hocker an dem Labortisch kletterte, den ich mir mit Schroeder teilte.

»Alles klar, Zwölffingerdarm?«, fragte er, wobei er den Mund ein kleines bisschen verzog.

»Schroeder.« Ich warf ihm einen abfälligen Blick zu. Obwohl mich sein scheinbar endloses Wissen über innere Organe beeindruckte, musste ich doch den Anschein aufrechterhalten, dass er mir erfolgreich auf die Nerven ging.

Es dauerte ewig, bis er richtig saß, seine Tasche abgestellt und sich aus seinem Kapuzensweater geschält hatte. Im Labor ist es immer total warm. Unter dem Sweatshirt trug er das dunkelgrüne T-Shirt, das wir letzten Herbst für das Theaterstück bekommen hatten. Entweder war er gewachsen oder das T-Shirt war eingegangen, denn es lag viel enger um seinen Bizeps, als ich in Erinnerung hatte. Es ist ja nicht so, dass ich mir Notizen mache, wie genau Schroeders Kleidungsstücke passen, aber er hatte wirklich schöne Arme, deshalb konnte ich einfach nicht anders, ich musste hinschauen. Kommt vermutlich vom Klavierspielen.

»Hör mal«, flüsterte er, womit er meine Aufmerksamkeit wieder auf sein Gesicht zog. »Ich könnte meine kleine Schwester fragen, ob sie dir eins dieser Himmel-und-Hölle-Wahrsagedinger faltet, falls du dich wegen des Proms immer noch nicht entschieden hast.« Er hielt beide Hände hoch und bewegte Zeigefinger und Daumen aufeinander zu, um mir zu zeigen, wovon er gerade redete.

»Ich muss Cassidy unbedingt für ihre große Klappe danken.« Scheinbar hatte sie ihm die ganze Geschichte mit dem Magic 8 Ball erzählt.

Er lachte. »Falls es dich tröstet, sie hat mir auch erzählt, dass es ihre Idee war.«

»Nur wenig.«

»Also, bist du inzwischen vernünftig geworden und gehst wie geplant mit der Promcrew?« Erwartungsvoll zog er die Augenbrauen hoch.

Ich verzog den Mund.