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TEIL EINS

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DAY

Drei Jahre vor den Ereignissen aus Legend – Fallender Himmel

Anmerkung der Autorin: In Legend – Schwelender Sturm (dem zweiten Band der Legend-Trilogie) fragt June Day nach seinem ersten Kuss. Die folgende Geschichte ist seine Antwort auf diese Frage.

DAY

Ich bin zwölf Jahre alt.

Ich lebe in der Republik Amerika.

Mein Name ist Day.

Früher einmal war ich Daniel Altan Wing, Johns kleiner Bruder, Edens großer Bruder, Sohn einer Mom und eines Dads aus den Armensektoren von Los Angeles.

Wenn man sein Leben lang arm gewesen ist, denkt man kaum je ernsthaft darüber nach, dass es auch anders hätte sein können. Und manchmal ist man sogar glücklich, denn man hat ja wenigstens seine Familie und seine Gesundheit, noch alle Arme und Beine und ein Dach über dem Kopf.

Tja, mittlerweile ist mir fast nichts mehr von alldem geblieben. Meine Mutter und meine Brüder glauben, ich wäre tot. Ich habe ein verletztes Knie, das vielleicht nie mehr heilen wird. Ich lebe auf den Straßen des Lake-Sektors, einem Slumviertel direkt am Ufer des riesigen Sees, der an Los Angeles grenzt, und überlebe jeden Tag nur knapp.

Aber es könnte schlimmer sein, stimmt’s? Immerhin bin ich am Leben; immerhin sind meine Mom und meine Brüder am Leben. Es besteht also noch Hoffnung.

An diesem Morgen hocke ich auf dem Balkon eines dreistöckigen, heruntergekommenen Wohnkomplexes, dessen Fenster mit Brettern vernagelt sind. Mein verletztes Bein baumelt über die Kante und ich stütze mich auf das andere. Mein Blick ist fest auf einen der Piers am Seeufer gerichtet, das Wasser glitzert unter der morgendlichen Smogschicht. An den Gebäudewänden ringsum senden JumboTrons die neusten Republiknachrichten, während sich unten der stetige, scheinbar endlose Strom von Fabrikarbeitern durch die Straßen schiebt. Ein Stück weiter sehe ich eine Horde Jungen und Mädchen auf dem Weg zur örtlichen Highschool. Sie scheinen etwa in meinem Alter zu sein – wenn ich meinen Großen Test nicht vergeigt hätte, wäre ich jetzt wahrscheinlich unter ihnen. Ich hebe den Kopf und blinzele in die Sonne.

Jeden Moment müsste das Nationalgelöbnis anfangen. Wie ich diesen Quatsch hasse.

Die Nachrichtensendung auf den JumboTrons wird unterbrochen und aus den Lautsprechern an jedem einzelnen Gebäude schallt eine vertraute Stimme durch die Stadt. Unten auf der Straße halten die Menschen inne, drehen sich in Richtung der Hauptstadt und heben die Arme zum Gruß. Sie sprechen das Gelöbnis zu der Lautsprecherstimme mit.

Ich gelobe meine Treue zur Flagge der großen Republik von Amerika, zu unserem ehrwürdigen Elektor, unserem ruhmreichen Vaterland, dem gemeinschaftlichen Kampf gegen die Kolonien und meinen Glauben an einen baldigen Sieg!

Als ich noch klein war, habe ich dieses Gelöbnis einfach mitgesprochen wie alle anderen und fand es sogar irgendwie cool, meinem Vaterland ewige Liebe zu schwören oder was auch immer. Heute schweige ich einfach die gesamte Prozedur über, während die Leute auf der Straße gehorsam die Zeilen rezitieren. Warum soll ich auch so tun, als würde ich bei einem System mitmachen, an das ich nicht glaube? Außerdem kann mich hier oben sowieso niemand sehen.

Als es vorüber ist und das rege Treiben auf den Straßen wieder einsetzt, erscheinen auf den JumboTrons erneut Nachrichten. Ich lese die wechselnden Schlagzeilen:

ZWÖLFJÄHRIGES AUSNAHMETALENT JUNE IPARIS NACH HERAUSRAGENDER LEISTUNG BEIM GROSSEN TEST ALS JÜNGSTE STUDIENANFÄNGERIN ALLER ZEITEN AN DRAKE-UNIVERSITÄT ANGENOMMEN – NÄCHSTE WOCHE OFFIZIELLE AUFNAHMEZEREMONIE.

»Oh, Mann«, schnaube ich abfällig. Keine Frage, dieses Mädchen muss irgend so eine verwöhnte Ziege aus einem der Bonzenviertel von L.A. sein. Wen interessiert denn schon ihr Testergebnis? Der gesamte Test ist doch sowieso auf die Kinder der Reichen zugeschnitten und dieses Mädchen ist sicher höchstens mittelmäßig begabt und hat sich seine hohe Punktzahl mit dem Geld seiner Eltern erkauft. Ich gucke weg, als die Schlagzeile weiterläuft und als Nächstes die sensationellen Leistungen des Mädchens aufgelistet werden. Da bekommt man ja Kopfschmerzen, wenn man so etwas liest.

Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Pier zu. An Deck eines der Boote eilen Arbeiter hin und her. Sie entladen eine Lieferung Holzkisten, in denen sich vermutlich Essenskonserven befinden, stapelweise Rinderhackfleisch, Kartoffeln, Spaghetti und Zwergschweinwürstchen. Mein Magen knurrt. Erst mal das Wichtigste: Frühstück stehlen. Ich habe jetzt seit fast zwei Tagen nichts mehr gegessen und beim Anblick der Kisten wird mir ein bisschen schwummerig.

Ich schiebe mich an der Mauer des Wohnhauses entlang, wobei ich sorgfältig darauf achte, immer im frühmorgendlichen Schatten des Gebäudes zu bleiben. Ein paar Straßenpolizisten gehen auf dem Pier Streife, aber die meisten von ihnen wirken gelangweilt, schon jetzt erschöpft von der feuchten Hitze des Tages. Normalerweise achten sie nicht auf die Straßenkinder, die im Lake-Sektor so ziemlich an jeder Ecke hocken, und wenn man Glück hat, sind sie sogar zu faul, denjenigen nachzujagen, die Essen klauen.

Ich erreiche die Ecke des Gebäudes. Hier führt ein Abwasserrohr nach unten, ziemlich wackelig, aber es erscheint mir sicher genug, um mein Gewicht zu tragen. Trotzdem teste ich es erst einmal, indem ich meinen Fuß dagegenstemme und kräftig drücke. Als sich das Rohr nicht rührt, halte ich mich daran fest und lasse mich hinuntergleiten, bis ich die kleine Gasse darunter erreiche. Dabei komme ich unglücklich mit dem verletzten Bein auf – ich verliere das Gleichgewicht und plumpse rücklings auf den Bürgersteig.

Irgendwann muss es doch mal besser werden mit diesem verdammten Knie. Hoffe ich zumindest. Und dann kann ich endlich nach Herzenslust auf all diesen Gebäuden herumklettern.

Es ist ein warmer Tag. In der Luft liegt der Geruch von Rauch, Essen, Öl und Meersalz. Ich spüre die Hitze des Gehwegs durch die Sohlen meiner ausgetretenen Schuhe. Kaum jemand beachtet mich, als ich zum Pier humpele – schließlich bin ich bloß eins von unzähligen Straßenkindern –, bis auf ein Mädchen, das auf dem Weg zur Schule ist und meinen Blick auffängt. Sie errötet, als ich ihn erwidere, und sieht dann hastig weg.

Am Wasser bleibe ich stehen und rücke meine Mütze zurecht, um sicherzugehen, dass meine Haare darunter verborgen sind. Die orangefarbenen und goldenen Lichtreflexe auf dem Wasser sind so hell, dass ich blinzeln muss. Ein Stück weiter stapeln die Arbeiter die Kisten neben einem kleinen Häuschen auf dem Pier, während ein Aufseher die Lieferung dokumentiert. Immer wieder dreht er sich zur Seite und spricht in sein Mikrofon. Eine Weile rühre ich mich nicht vom Fleck und beobachte das Verhalten der Arbeiter und des Aufsehers. Dann werfe ich einen Blick die Uferstraße hinunter.

Kein Polizist in Sicht. Perfekt.