Das Geheimnis der Queenie Hennessy

Rachel Joyce

Das Geheimnis der Queenie Hennessy

Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Rachel Joyce

Rachel Joyce weiß, wie man Menschen mit Worten ganz direkt berührt. Die Autorin hat über 20 Hörspiele für die BBC verfasst und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Daneben hat sie Stoffe fürs Fernsehen bearbeitet und auch selbst als Schauspielerin für Theater und Film gearbeitet. Ihr erster Roman, ›Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry‹, wurde für den Booker-Preis nominiert, mit dem Specsavers National Book Award für das beste Debüt prämiert, eroberte in über 30 Ländern die Bestsellerlisten und wird verfilmt. Auch ihre Romane ›Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte‹ und ›Das Geheimnis der Queenie Hennessy – Der nie abgeschickte Brief an Harold Fry‹ sind internationale Bestseller. Rachel Joyce lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Gloucestershire auf dem Land.

 

Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

 

Impressum

Covergestaltung: bürosüd°, München

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2014

im Verlag Doubleday/Transworld Publishers, London

© Rachel Joyce 2014

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014

 

Leitworte:

T. S. Eliot, Bildnis einer Dame, Übersetzung von Alexander Schmitz. In: T.S. Eliot, Gesammelte Gedichte, hg. von Eva Hesse, Suhrkamp 1972

Martin Buber, Die Legende des Baalschem, Manesse 2005

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403051-7

Für Amy und Emily, meine Schwestern,

und in Erinnerung an einen Garten in Roquecor

Alle Reisen haben geheime Ziele,

von denen der Reisende nichts ahnt.

Martin Buber, Die Legende des Baalschem

Der erste Brief

Bernadino-Hospiz Berwick upon Tweed

Montag, 11. April

Lieber Harold,

dieser Brief wird Sie vielleicht überraschen. Ich weiß, dass es lange her ist, seit wir uns zuletzt gesehen haben, aber in letzter Zeit habe ich viel über die Vergangenheit nachgedacht. Dieses Jahr hatte ich eine Operation. Mir wurde ein Tumor entfernt, aber der Krebs hat sich ausgebreitet, und man kann nichts mehr tun. Ich habe meinen Frieden damit geschlossen und muss nicht leiden, aber ich möchte Ihnen noch gern für die Freundschaft danken, die Sie mir vor all den Jahren entgegengebracht haben. Bitte grüßen Sie Ihre Frau von mir. Ich denke immer noch voller Zuneigung an David.

Alles Gute,

QH

Der zweite Brief

Bernadino-Hospiz Berwick upon Tweed

13. April

Hier ist er also

Vor langer Zeit hast du einmal zu mir gesagt, Harold: »Es gibt so viel, was wir nicht sehen.« »Was zum Beispiel?«, fragte ich. Mein Herz stolperte. »Dinge, die wir direkt vor uns haben«, sagtest du.

Wir saßen in deinem Auto, du am Steuer, wie immer, und ich auf dem Beifahrersitz. Ich erinnere mich, dass der Abend dämmerte, also müssen wir auf dem Weg zurück zur Brauerei gewesen sein. In der Ferne sprenkelten die Straßenlampen Licht auf die blauen Samtfalten der Hügel von Dartmoor, der Mond hing als blasser Kreidefleck darüber. Um ein Haar wäre ich mit der Wahrheit herausgeplatzt. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Halten Sie an, hätte ich fast gerufen. Hören Sie mir zu, Harold Fry …

Da hast du mit der Hand im Fahrhandschuh nach vorn gedeutet. »Schauen Sie mal, wie oft sind wir hier schon vorbeigekommen? Das Ding ist mir noch nie aufgefallen.« Ich folgte deiner Hand, und du hast gelacht. »Schon komisch, Queenie, wie viel uns entgeht.«

Während ich drauf und dran war, dir alles zu gestehen, hast du ein ausgebautes Dach bewundert! Ich öffnete meine Handtasche. Zog ein Taschentuch heraus.

»Sind Sie erkältet?«, wolltest du wissen.

»Möchten Sie ein Pfefferminz?«, habe ich gefragt.

Wieder einmal war der Moment vorüber. Wieder einmal hatte ich es dir nicht gesagt. Wir fuhren weiter.

Dies ist mein zweiter Brief an dich, Harold, ein ganz anderer diesmal. Keine Lügen. Jetzt werde ich dir alles gestehen, denn du hattest recht damals: Es gibt so viel, was du nicht gesehen hast. So viel, was du immer noch nicht weißt. Zwanzig Jahre lang waren meine Geheimnisse in mir vergraben; jetzt müssen sie ans Licht, bevor es zu spät ist. Ich werde dir alles erzählen, und der Rest wird Schweigen sein.

Draußen sehe ich die Befestigungsmauern von Berwick upon Tweed, dahinter zieht das Meer einen blauen Streifen über den Horizont. Die hellen jungen Knospen, die am Baum hervorspitzen, leuchten im Abendlicht.

Dann machen wir uns also auf den Weg, du und ich.

Uns bleibt nicht mehr lang.

Sie brauchen nichts weiter zu tun, als zu warten!

Heute Morgen kam dein Brief. Wir waren zum Vormittagsprogramm im Tagesraum. Alle schliefen.

Schwester Lucy, die jüngste der betreuenden Nonnen, fragte, ob ihr jemand bei dem neuen Puzzle helfen wolle. Keiner antwortete.

»Scrabble?«, fragte sie.

Keiner rührte sich.

»Wie wär’s mit Mausefalle?«, fragte Schwester Lucy. »Das ist doch ein schönes Spiel.«

Ich saß in einem Sessel am Fenster. Draußen flatterten und zitterten die immergrünen Sträucher im Wind. Eine einsame Möwe balancierte am Himmel.

»Wie wär’s mit Galgenmännchen?«, fragte Schwester Lucy. »Hat wer Lust?«

Ein Patient nickte, und Schwester Lucy holte Papier. Als sie alles bereit hatte, Stifte, ein Glas Wasser und so weiter, war er schon wieder am Dösen.

Das Leben im Hospiz ist anders. Die Farben, die Gerüche, der Ablauf des Tages. Ich schließe die Augen und tue so, als wäre die Wärme des Heizkörpers die Sonne auf meinen Händen und der Geruch des Mittagessens die salzige Meeresluft. Ich höre die Patienten husten, und es ist nur der Wind in meinem Garten am Meer. Wenn ich mir Mühe gebe, Harold, kann ich mir alles Mögliche vorstellen.

Schwester Catherine trat mit den Postsendungen des Tages herein. »Post!«, rief sie in voller Lautstärke. »Schauen Sie mal, was ich hier habe!«

Ohs und Ahs ringsum, alle setzten sich auf.

Schwester Catherine händigte einem Schotten, den wir nur als »Mr Henderson« kennen, mehrere braune Umschläge aus, alles Nachsendungen. Der neuen jungen Frau hatte jemand eine Karte geschickt. (Die Neue ist erst seit gestern da. Ich weiß nicht, wie sie heißt.) Der Dicke, den sie wegen der glitzernden Knöpfe auf seiner Weste »Perlenkönig« nennen, bekam schon wieder ein Päckchen. Ich bin nun eine Woche hier und habe ihn noch kein einziges aufmachen sehen. Barbara, die Blinde, freute sich über einen Gruß von ihrer Nachbarin: »Der Frühling kommt«, las Schwester Catherine laut vor. Finty, eine polternde Person, wurde in einem Brief aufgefordert, die Schicht von dem Rubbelfeld zu kratzen; darunter warte ein toller Gewinn auf sie.

»Und für Sie, Queenie, habe ich auch etwas.« Schwester Catherine durchquerte den Raum und hielt mir einen Umschlag entgegen. »Schauen Sie nicht so verschreckt!«

Ich erkannte deine Schrift. Ein Blick, und mein Puls flatterte. Na großartig, dachte ich. Zwanzig Jahre lang höre ich nichts von dem Mann, dann schickt er einen Brief, und mir bleibt das Herz stehen.

Ich prüfte die Briefmarke. Kingsbridge. Sofort sah ich das Schlammblau des engen Meeresarms vor mir, die kleinen, am Kai vertäuten Boote. Ich hörte das Wasser gegen die Kunststoffbojen schlagen und die Takelage klackern. Ich wagte den Umschlag nicht zu öffnen. Starrte ihn nur an, schaute und erinnerte mich.

Schwester Lucy eilte mir zu Hilfe. Sie bohrte einen kindlichen Finger unter die Klappe und fuhr den Falz entlang, dass er aufriss. »Soll ich’s Ihnen vorlesen, Queenie?« Nein, versuchte ich zu sagen, brachte aber nur ein Gurgeln hervor, das sie für ein »Ja« hielt. Sie faltete das Blatt auseinander, und ihr Gesicht färbte sich dunkelrosa. Dann begann sie. »Der ist von einem Harold Fry.«

Sie las, so langsam sie konnte, aber es waren nur wenige Worte. »Es tut mir sehr leid. Alles Gute. Ach, aber da ist noch ein PS«, sagte Schwester Lucy. »Er schreibt: Warten Sie auf mich.« Sie hob aufmunternd die Schultern. »Das ist aber nett. Auf ihn warten? Ich denke, dann kommt er zu Besuch.«

Schwester Lucy faltete den Brief sorgfältig zusammen und schob ihn wieder in den Umschlag. Dann legte sie mir meine Post auf den Schoß, als wäre die Sache damit erledigt. Eine warme Träne rann mir die Nase entlang. Ich hatte deinen Namen zwanzig Jahre lang nicht ausgesprochen gehört. Hatte ihn nur in mir bewahrt.

»Och, Queenie«, sagte Schwester Lucy. »Nicht traurig sein. Ist doch alles gut.« Sie zog ein Kosmetiktuch aus der XXL-Schachtel auf dem Kaffeetisch und tupfte mir vorsichtig den zugeschwollenen Augenwinkel ab, den verzerrten Mund und sogar das Ding, das die Hälfte meines Gesichts ausfüllt. Sie hielt meine Hand, und ich konnte an nichts anderes denken als an meine Hand in der deinen, in einer Büromaterialkammer, vor langer Zeit.

»Vielleicht kommt Harold Fry ja morgen«, sagte Schwester Lucy.

Am Kaffeetisch kratzte Finty immer noch an ihrem Rubbelfeld herum. »Wird’s bald, du Mistding«, grunzte sie.

»Haben Sie Harold Fry gesagt?« Schwester Catherine sprang auf und klatschte in die hohlen Hände wie nach einem Insekt. Das war das lauteste Geräusch des ganzen Vormittags, und alle gaben wieder Ohs von sich. »Wie konnte ich das bloß vergessen? Er hat gestern angerufen. Genau. Von einer Telefonzelle aus.« Sie sprach in kurzen, abgehackten Sätzen, wie man spricht, wenn man den Sinn einer Sache erfassen will, die im Grunde keinen hat. »Die Verbindung war schlecht, und er hat dauernd gelacht. Ich habe kein Wort verstanden. Wenn ich jetzt überlege – er hat genau dasselbe gesagt. Sie sollen warten, Queenie. Er hat gesagt, ich soll Ihnen ausrichten, dass er zu Fuß unterwegs ist.« Sie zog ein gelbes Post-it aus der Rocktasche und faltete es rasch auseinander.

»Zu Fuß unterwegs?«, fragte Schwester Lucy. Es klang, als hätte sie das noch nie selbst ausprobiert.

»Ich nahm an, er wollte wissen, wie er von der Bushaltestelle herkommt. Ich habe ihm gesagt, er soll sich nach links halten und dann immer geradeaus.«

Einige der Betreuer lachten, und ich nickte, als wäre Lachen hier das einzig Richtige, weil es über meine Kräfte ging, meine Bestürzung zu zeigen. Mir wurde ganz schwach und heiß.

Schwester Catherine studierte ihren gelben Notizzettel. »Er sagte, ich soll Ihnen ausrichten, solange er läuft, müssen Sie auf ihn warten. Er sagte auch, dass er von Kingsbridge losläuft.« Sie wandte sich an die anderen Nonnen und Betreuer. »Kingsbridge? Weiß jemand, wo das liegt?«

Vielleicht, meinte Schwester Lucy, aber ziemlich sicher wisse sie es nicht. Jemand erzählte, er habe eine Tante, die mal dort gewohnt habe. Und dann sagte einer der Betreuer: »Ja, doch, ich kenne Kingsbridge. Das liegt in South Devon.«

»South Devon?« Schwester Catherine wurde blass. »Glaubt ihr, er meinte, er geht den ganzen Weg zu Fuß, von der Südküste bis hier hoch nach Northumberland?« Sie lachte nicht mehr und die anderen auch nicht. Sie sahen nur noch mich und deinen Brief an und wirkten ziemlich ratlos und betreten. Schwester Catherine faltete ihr Post-it wieder klein und ließ es in einer Tasche ihres Habits verschwinden.

»Volltreffer!«, rief Finty. »Ich hab ‘ne Luxuskreuzfahrt gewonnen! Zwei Wochen Abenteuer auf der Princess Emerald, alles inklusive!«

»Sie haben das Kleingedruckte nicht gelesen«, knurrte Mr Henderson. Dann lauter: »Die Frau hat das Kleingedruckte nicht gelesen!«

Ich schloss die Augen. Kurz danach spürte ich, wie die Schwestern die Arme unter meine Achseln schoben und mich in den Rollstuhl hoben. Ein Gefühl wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war und mein Vater mich ins Bett trug, wenn ich vor dem Herd eingeschlafen war. »Stille, stille«, sang meine Mutter dann leise. Ich hielt deinen Briefumschlag und mein Heft ganz fest. Das Licht tanzte purpurn hinter meinen Lidern, als wir vom Tagesraum auf den Gang kamen und dann an den Fenstern vorbei. Ich kniff die Augen die ganze Zeit fest zu, auch noch, als die Schwestern mich aufs Bett hoben, als der Vorhang mit einem Rauschen zugezogen und die Tür geschlossen wurde. Denn ich hatte Angst davor, die Augen aufzumachen, Angst, dass dann meine Tränen nie mehr aufhören würden.

Harold Fry kommt zu mir, dachte ich. Ich habe zwanzig Jahre lang gewartet, und jetzt kommt er.

Ein unwahrscheinlicher Plan

»Queenie? Queenie Hennessy?«

Als ich aufwachte, stand ein neuer Betreuer vor meinem Fenster. Einen Moment lang erschien er mir wie eine Lichtgestalt.

»Sie haben geweint«, sagte er. »Im Schlaf.« Erst als ich genau hinsah, erkannte ich, dass es kein Mann war, sondern eine große, grobknochige Frau im Nonnenhabit mit weißer Haube und dunkelblauer Strickjacke. Ich fuhr mit der Hand zur Wange hoch, um sie zu verbergen. Doch weder starrte die Unbekannte dorthin, noch senkte sie ihren Blick, wie es Leute meistens tun, zu meinen Fingern, meinen Füßen oder sonst wohin, nur weg von meinem Gesicht. Sie lächelte einfach.

»Dieser Harold Fry – macht Ihnen dieser Mann so zu schaffen?«, fragte sie.

Ich erinnerte mich an deine Nachricht. Dass du mich besuchen kämst, zu Fuß. Aber diesmal sah ich nicht die Hoffnung in der Nachricht, sondern nur die Kilometer. Schließlich bin ich am einen Ende Englands und du am anderen. Der Wind hat im Süden etwas Sanftes, aber hier oben ist er so wild, dass er einen umreißen kann. Es gibt einen Grund für diese Entfernung, Harold. Ich musste so weit von dir wegkommen, wie ich es ertragen konnte.

Die Nonne drückte sich vom Fensterbrett ab und wischte dabei einen kleinen Kaktus herunter. Sie sagte, sie habe von deiner aufregenden Nachricht gehört. Sie wusste, dass du von Kingsbridge nach Berwick upon Tweed laufen willst und ich nichts weiter zu tun brauche, als zu warten. Sie bückte sich, um das Topfpflänzchen vom Boden zu retten. »Ich kenne Mr Fry natürlich nicht, aber anscheinend haben Sie ins Leere gerufen und ein Echo zurückbekommen. Was für ein guter Mensch.« Sie lächelte den Kaktus an, als hätte sie ihn gerade gesegnet. »Ich bin übrigens Schwester Mary Inconnue.« Sie sprach es Ängkonnüh aus, wie im Französischen. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Sie zog den Stuhl heran und setzte sich an mein Bett. Ihre Hände lagen groß und rot in ihrem Schoß. Die Hände einer Spülerin. Ihre Augen waren von einem scharfen, klaren Grün.

»Aber schauen Sie mich doch an«, versuchte ich zu sagen.

Es ging nicht. Stattdessen griff ich nach meinem Heft und meinem Bleistift Stärke HB. Ich schrieb: Wie soll ich das denn anstellen? Wie könnte ich denn auf ihn warten?, und schleuderte dann den Bleistift weg.

Ich hatte gedacht, ich würde dich nie wiedersehen. Ich habe zwanzig Jahre im Exil verbracht, während mir ein Stück meines Lebens fehlte. Ich dachte, du hättest mich vergessen. Als ich dir meinen ersten Brief schickte, wollte ich damit mein Leben ordnen. Für mich selbst mit der Vergangenheit abschließen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du antwortest. Und ganz sicher nicht damit, dass du losläufst. Plötzlich gibt es so viel zu gestehen, wiedergutzumachen, zu kitten, und das kann ich nicht. Warum, glaubst du, habe ich Kingsbridge verlassen und bin nie zurückgekehrt? Ich fürchte, wenn du die wahren Gründe kennen würdest, dann würdest du mich hassen. Doch du musst die Wahrheit kennen, verstehst du? Sonst können wir uns nicht begegnen.

Ich erinnerte mich an das erste Mal, als ich dich im Brauereihof sah. Dann stellte ich mir deinen Sohn mit meinen roten Wollfäustlingen vor und sah auch Maureen in eurem Garten in der Fossebridge Road Nr. 13. Mit lodernden Augen hatte sie neben dem Wäschekorb gestanden. Spar dir lieber das Laufen, dachte ich. Die Nonne mit dem komischen Namen hat recht: Du bist ein guter Mensch. Vor zwanzig Jahren hatte ich die Chance, mit dir zu reden, und habe den Mund nicht aufbekommen. Immer wieder sind alle Versuche misslungen. Jetzt habe ich keinen Mund mehr, nur noch Worte. Bleib lieber, wo du bist.

Es ist zu spät.

Schwester Mary Inconnue las das in meinem Heft und sagte nichts. Lange saß sie da, die Hände im Schoß, so reglos, dass ich mich schon fragte, ob sie eingeschlafen war. Dann krempelte sie die Ärmel hoch wie eine Nonne, die sich anschickt, den Stier bei den Hörnern zu packen. Sie hatte glatte, braungebrannte Arme. »Zu spät? Es ist nie zu spät. Mir scheint, es gibt noch eine ganze Menge, was Sie Harold Fry zu sagen haben. Deshalb sind Sie doch so wütend, oder nicht?«

Das saß. Ich weinte wieder.

Sie sagte: »Ich habe einen Plan. Wir werden ihm einen zweiten Brief schreiben. Mit dem ersten haben Sie sich ganz schön was eingebrockt. Jetzt müssen Sie die Suppe auch auslöffeln. Aber diesmal schreiben Sie ihm nicht, was er auch vorgedruckt auf einer Grußkarte lesen könnte. Sondern die Wahrheit, die ganze Wahrheit. Erzählen Sie ihm, was wirklich gewesen ist.«

Ich wandte den Blick zum Fenster hinüber. Draußen jagten schwarze Wolkenfetzen wie Gaze über den matten Himmel. Die Sonne war eine metallische Lichtscheibe, die dunklen Zweige des Baums schüttelten sich. Ich stellte mir vor, wie du am einen Ende von England eine Landstraße entlangläufst. Ich stellte mir vor, wie ich selbst am anderen Ende in einem kleinen Zimmer im Bett sitze. Ich dachte an die Meilen zwischen uns, die Bahnschienen, die Busrouten, die Straßen, die Flüsse. Ich sah die Kirch- und anderen Türme vor mir, die Schiefer- und Blechdächer, die Bahnhöfe, die Städte, die Dörfer, die Felder. Und die vielen Menschen. Menschen, die auf Bahnsteigen warten und in Autos vorbeifahren, die aus Busfenstern schauen und Straßen entlanggehen.

Seit ich Kingsbridge verlassen habe, bin ich allein geblieben. Ich bin in ein verlassenes Holzhäuschen am Strand gezogen und habe mein Herzblut in einen Garten am Meer gesteckt. Habe ein kleines Leben gelebt, nichts Erwähnenswertes. Aber die Vergangenheit ist immer noch in mir, Harold. Ich habe sie nie hinter mir gelassen.

»Sie müssen diesen Brief nicht alleine schreiben«, sagte Schwester Mary Inconnue. »Ich werde Ihnen helfen. Im Büro steht eine alte Reiseschreibmaschine.«

Ich erinnerte mich, wie lange ich gebraucht hatte, um meinen ersten Brief Buchstabe für Buchstabe zu Papier zu bringen, damit Schwester Lucy ihn auf ihrem Laptop abschreiben konnte. Vermutlich hast du bemerkt, was für ein Gekritzel meine Unterschrift und deine Adresse auf dem Umschlag waren. Mit den ganzen Faxen, die nötig waren, um diesen Brief auf die Post zu bekommen, wäre eine Brieftaube wahrscheinlich schneller gewesen.

Aber Schwester Mary Inconnue fuhr fort: »Wir schreiben jeden Tag ein Stück. Sie, Queenie, machen Notizen, und ich tippe sie ab. Sie können nicht zufällig Steno?«

Ich nickte.

»Na, also. Wir werden gemeinsam schreiben, Sie und ich, bis Harold Fry hier ankommt. Ich werde den Brief in der Ich-Form schreiben, als wäre ich Sie. Ich transkribiere alles, es wird kein einziges Wort fehlen. Harold Fry bekommt Ihren Brief sofort nach seiner Ankunft ausgehändigt.«

Sie müssen mir versprechen, dass er ihn liest, bevor er zu mir gelassen wird.

»Ich gebe Ihnen mein Wort.«

Und schon bekam die Vorstellung für mich etwas Verlockendes. Schon feilte ich an den ersten Sätzen. Vielleicht schloss ich dabei die Augen, denn als ich sie wieder aufmachte, hatte sich Schwester Mary Inconnue wieder ein Stück bewegt; sie saß jetzt am Fußende. Sie hatte eine Lesebrille mit blauer Plastikfassung aufgesetzt, die sie ein bisschen glupschäugig aussehen ließ, und hielt einen abgewetzten Lederkoffer hoch, so groß wie eine Aktentasche. Der Schlüssel war mit Schnur an den Griff gebunden.

Sie lachte. »Sie sind eingeschlafen. Da bin ich schnell ins Büro rüber und war so frei, mir die Schreibmaschine auszuborgen.« Sie schlug in meinem Heft eine neue Seite auf und legte es mir auf den Schoß, den Bleistift dazu.

»Sehen Sie, was hier geschieht?«, fragte Schwester Mary Inconnue und schloss den Lederkoffer auf. Sie hob die Schreibmaschine heraus, eine Triumph Tippa. Dasselbe Modell hatte ich auch einmal. »Harold Fry läuft durch England. Sie sind zwar hier, haben Ihre Reisen schon hinter sich, aber auch Sie machen sich auf den Weg, nur anders. Das ist das Gleiche, wenn auch nicht dasselbe. Finden Sie nicht auch?«

Ich nickte. Und wenn ich nicht mehr hier bin, wird wenigstens mein Brief hier sein.

Schwester Mary Inconnue nahm Platz und stellte sich die Schreibmaschine auf den Schoß. »So«, sagte sie und bewegte ein paarmal die roten Finger. »Wo ist denn hier der Tabstopp?«

Wir arbeiteten den Rest des Vormittags und dann weiter nach dem Mittagessen bis in die Dämmerung. Einmal in Gang gekommen, konnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich deutete auf meine Notizen. Ergibt das einen Sinn?

»Und wie«, sagte sie.

Ich riss die vollgeschriebenen Blätter aus dem Heft und nummerierte sie; Schwester Mary Inconnue tippte alles der Reihe nach ab. Ich nahm mir immer vor, bis zur nächsten Seite schreibe ich noch, und wenn dann die nächste Seite kam, schrieb ich auch die wieder voll. Ich schrieb alles auf, was du bisher gelesen hast, während Schwester Mary Inconnue in die Tasten hackte. Und das machen wir immer noch. Ich schreibe, und sie tippt.

»Gut«, sagt sie. »Sehr gut.«

 

Später kam die diensthabende Krankenschwester zu unserem Abendritual. Sie reinigte mir den Mund mit Mundwasser und einem Schwämmchen am Stab. Sie strich Gel auf die Stellen, wo meine Lippen rissig waren, und wechselte dann die Verbände. Dr. Shah, der Palliativarzt, fragte, ob meine Schmerzen stärker geworden seien, aber ich verneinte, sie seien wie immer. Ich müsse nichts Unangenehmes aushalten, sagte er. Wenn mich etwas störe, könnte man die Medikamente anders einstellen. Nachdem die Krankenschwester mir ein neues Schmerzpflaster angelegt hatte, massierte mir Schwester Lucy die Hände. Mit ihren glatten Pummelfingern knetete sie meine steifen Finger durch, lockerte die Gelenke und strich sie aus. Sie holte ihren Glitzerlack und malte mir die Nägel an.

Im Schlaf sah ich deinen Sohn. »Ja, David«, sagte ich. »Ja.« Ich nahm eine Decke und stopfte sie fest um ihn herum, falls ihn fror.

Pssssst!

Keine gute Nacht. Da ist David. Immer wieder David, in meinem Kopf.

Ich kann nicht schlafen.

Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich David. Im Sessel neben meinem Heizlüfter. Im schwarzen Mantel. Mit lauten Forderungen.

Ich klingle, hole Hilfe.

Schwester Philomena: »Was ist los?«

Ich: Ich habe einen Albtraum.

Schwester Philomena: »Nehmen Sie das. Morphium.«

(Schluck, schluck.)

Schwester Philomena: »Legen Sie Ihren Bleistift weg, Queenie. Ihr Heft auch. Und jetzt wird geschlafen.«

Letzter Halt

Nach der schlimmen Nacht schlief ich bis Mittag. Als ich aufwachte, hatte ich Besuch. Eine Frau mit einer Pampelmuse auf dem Kopf. Sie hatte auch ihr Pferd mitgebracht. Die beiden gingen erst, als Schwester Mary Inconnue mit ihrer Schreibmaschine kam.

Ich schrieb ihr auf, ich hätte seltsame Gäste aus dem Zirkus gehabt, die gar nicht ins Hospiz passten, und sie lächelte. »Für die Drogen, die Sie hier bekommen, zahlen manche Leute teures Geld.« Ihre Augen stellten sich schräg hinter ihrer Lesebrille.

Sehen Sie schlecht?, buchstabierte ich.

»Ganz im Gegenteil«, sagte sie. »Ich habe Ihnen nur zugezwinkert. Wie geht’s Ihnen heute?«

Ihre gestärkte Haube leuchtete milchweiß wie auch ihr Habit unter der schwarzen, mit einem Gürtel zusammengehaltenen Schürze. Ihre weißen Socken, über denen sie Sandalen mit Klettverschlüssen trug, bauschten sich ein wenig zwischen den Riemen. Sie zog einen neuen Packen DIN-A4-Papier aus der Tasche, dazu einen Tipp-Ex-Korrekturstift. »Ich sehe, Sie haben wieder eine Nachricht bekommen.« Sie deutete auf die Postkarte auf meinem Nachttisch, die vor deinem Brief lehnte.

Ich hatte es wieder vergessen, Harold. In der Nacht hatte ich vergessen, dass du wanderst.

»Ach, Queenie, Sie werden doch jetzt nicht anfangen zu weinen?« Schwester Mary Inconnue lachte, und ich legte den Kopf in den Nacken. Ich würde mich nicht zum Narren machen. »Mal sehen, was Harold Fry uns zu erzählen hat.«

Auf der Postkarte ist Bantham Beach abgebildet. Eine der Nonnen musste sie gebracht haben, während ich schlief. Ich las die Worte auf der Rückseite. »Nur nicht nachlassen im Glauben, Harold Fry.« Du weißt vielleicht nicht, Harold, dass ich kein gläubiger Mensch bin. Ich höre die Nonnen beten, höre ihre Lieder in der Kapelle, aber ich bete nicht mit. Und seit wann hast du etwas mit Glauben am Hut? Wenn ich mich recht erinnere, hast du niemals eine Kirche betreten. Als ich dich das letzte Mal sah, da … nun, da wirktest du nicht wie ein Mann, der Gott gefunden hat.

Soviel ich weiß, bist du aber auch nie weit gelaufen. Nur einmal. Aber darüber zu schreiben ist jetzt vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt.

»Dann mal zurück zu Ihrem Brief«, sagte Schwester Mary Inconnue.

Sie schlug mein Heft auf und gab mir den Bleistift. Sofort bekam ich einen Krampf. Ich konnte den rechten Arm kaum bewegen. Das Handgelenk war ganz steif. Das kam sicher von dem vielen Schreiben gestern. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, mit den Händen zu arbeiten. Meine Finger zitterten wie die Seeanemonen in den Felstümpeln meines Gartens, den ich in Embleton Bay auf den Klippen direkt am Meer angelegt habe.

»Hilfe«, tutete ich. »Ich kann nicht schreiben.«

Schwester Mary Inconnue stellte die Schreibmaschine beiseite und nahm meine Hände in die ihren. Sie rieb meine Finger und hob sie an den Mund. Dann pustete sie sie an, als wolle sie sie aufblasen. »Ja, so was, Queenie«, sagte sie. »Schau mal an, die Dame hat jetzt Glitzernägel!« Sie lächelte.

Wenn man nichts mehr sieht als Schwierigkeiten, braucht es manchmal nur so ein Lächeln. Dann löst sich das Problem zusehends in Luft auf, und alles wird ganz einfach.

»Zweiter Versuch«, sagte sie.

Sie drückte mir den Bleistift in die Hand und bog meine Finger darum, einen nach dem anderen.

»Was möchten Sie Harold Fry heute erzählen?«

 

Ich erinnere mich an Bantham Beach. Ich war einmal dort, als ich neu nach Devon kam. Vor fast vierundzwanzig Jahren war das, da kannte ich dich noch gar nicht. Es war Weihnachten, und mir ging eine Menge im Kopf herum.

Ich hatte mich nicht bewusst dafür entschieden, nach Kingsbridge zu kommen. Mir war nur klar, dass ich nicht in Corby bleiben konnte. Dort war für mich einiges schiefgegangen, und deshalb tat ich, was ich immer tat, wenn in meinem Leben etwas schiefging: Ich lief davon. »Wenn mal was kaputt ist«, sagte meine Mutter immer, wenn sie angeschlagenes Porzellan in den Mülleimer warf, »macht es einfach nichts mehr her. Weg damit.« Ich kann immer noch ihre Worte hören, ihren kehligen Akzent. Angeschlagene Teller und Gläser, zerrissene Strümpfe, Strickjacken, an denen Knöpfe fehlten, Porzellanfiguren, denen ein Fuß oder der Kopf abgebrochen war – nichts fand Gnade vor ihren Augen. Meine Eltern waren nie wohlhabend, wir lebten von dem Geld, das mein Vater als Schreiner und Zimmermann verdiente, in einem kleinen gemieteten Haus in einem Dorf in Kent. Meine Mutter war eine große Frau, Österreicherin, mit großen Händen, die immer glänzten wie mit Gänsefett eingerieben. Sie ließ ständig alles fallen. Es war ein Wunder, dass wir überhaupt noch etwas hatten. Wenn sie nicht hinsah, durchsuchte mein Vater den Mülleimer und zog heraus, was sich noch retten ließe. Er verschwand damit in seiner Werkstatt, wo schon eine lange Reihe kaputter Gegenstände auf ihre Reparatur warteten. Aber dazu kam es selten, und wenn doch, sah meine Mutter den geklebten Teller anklagend an und sagte: »Du schon wieder? Ich dachte, mit dir wäre ich fertig.«

Vielleicht nahm ich meine Mutter zu wörtlich, aber ich wandte ihre Grundsätze auch auf mein Leben an. Schließlich suchen wir doch alle nach Regeln. Wir lesen sie an den seltsamsten Stellen auf, und wenn die Regeln zu funktionieren scheinen, leben wir unser ganzes Leben nach ihnen, auch wenn sie uns später unglücklich machen und Schwierigkeiten bringen.

Als ich zum Beispiel einmal eine Tanzprüfung nicht bestand, stieg ich gleich ganz aus. Es war leichter für mich aufzuhören, als mich mit der Enttäuschung meiner Lehrerin auseinanderzusetzen. Als in einem Feriencamp eine Freundin sehr gemein zu mir war, tat ich das Gleiche: Ich bestand darauf, ganz heimzufahren. Jahre später bewarb ich mich in Oxford an der Universität, was man wahrscheinlich als Flucht vor meinen Eltern deuten könnte. Es war zu kompliziert geworden, ihr einziges Kind zu sein.

Nachdem ich Corby verlassen hatte, reiste ich tagelang herum. Eine Nacht hier, eine Nacht da. Manchmal auch nur Stunden. Nie blieb ich lange genug, um Leute kennenzulernen. Nie lange genug, um gekannt zu werden. Ich packte den Koffer kaum aus. Ich fuhr einfach immer weiter, bis der kleine Bus stehen blieb und ich den Strand sah. Letzter Halt, sagte der Fahrer. Er schaltete die Scheinwerfer aus. Stellte den Motor ab.

Und was geschieht beim letzten Halt?, dachte ich.

Ich suchte mir einen Weg durch die Sanddünen, die hohen Stachelbüschel des Strandhafers. Vom Meer her wehte ein kräftiger Wind; ich musste mich mit gesenktem Kopf gegen ihn stemmen, um voranzukommen. Mit der einen Hand hielt ich den Kragen zusammen, mit der anderen zerrte ich meinen karierten Koffer hinter mir her. Darin war alles, was ich besaß. Meine Bücher, meine Kleidung. Meine Tanzschuhe. Dann gelangte ich zum Wassersaum und wurde von einer schrecklichen Verzweiflung erfasst wie ein Mensch, der es gewöhnt ist, ständig vorwärtszustürmen, weil er das schon immer so gemacht hat, und der nun plötzlich vor einer Mauer steht.

Ich erinnere mich noch heute an den Winterhimmel jenes Abends. Immer wenn ich in meinem Garten am Meer arbeitete und einen solchen Sonnenuntergang sah, stieg das Bild von Bantham Beach in mir hoch. Die Sonne hing am Himmel wie aufgerissen. Scharlachrot überall. Die Wolken waren Flammen, sie loderten so grell und ungestüm, dass alles Blau verblasste. Meer und Land warfen das Rot zurück wie ein Spiegel. Der geriffelte Sand war genauso in Brand geraten wie die Steine und rotbraunen Felstümpel. Wie die rosa Gischt auf den Wellen. Und der Buckel von Burgh Island. Das Feuer sprang sogar auf meine Hände über.

Warum bin ich nicht einfach weitergelaufen? Ich hatte kaum Geld. Keine Arbeit. Keine Bleibe. Das Wasser leckte an meinen Zehen. Nicht mehr lange, und es stiege mir bis zu den Knöcheln. Wenn mal was kaputt ist …

Doch da spürte ich ein feines Flattern in der Magengrube.

Ich kehrte dem Meer den Rücken zu und schleifte den Koffer zurück durch die Sanddünen. Als ich wieder oben auf der Straße stand, war der Wind abgeflaut und die Sonne untergegangen. Himmel und Landschaft waren von einem kalkigen, fast silbernen Malvenviolett. Der erste Abendstern durchdrang die Dämmerung.

Ich fange wieder neu an, dachte ich. Denn das geschieht beim letzten Halt. Man macht einen neuen Anfang.

 

Schwester Mary Inconnue hebt die Arme über den Kopf, hakt die Fingerspitzen ineinander und macht eine Reihe von Yoga-Dehnübungen für den Nacken. Meine Blätter liegen zu ihren Füßen. Hinter dem Fenster ist kein Licht mehr, und der Mond ist zurückgekehrt, ein weißes Nagelhäutchen.

»Schauen Sie mal Ihren Ausstoß von heute an, Queenie. Sie schreiben erst den zweiten Tag und haben schon so viele Seiten gefüllt. Es gibt so viel zu erzählen. Woran Sie sich alles erinnern!«

Natürlich erinnere ich mich. Mein Kopf ist voll von den Liedern der Vergangenheit. Ich werde alles gestehen. Ich werde keine Angst haben.

»Wie geht’s der Hand?«, fragt Schwester Mary Inconnue. »Tut hoffentlich nicht allzu weh?«

Ich versuche zu lächeln, aber leider kommt etwas anderes dabei heraus, und ich brauche ein Taschentuch.

Ich schlage eine neue Seite auf.

Bringen wir diesen Teil schnell hinter uns, ja?

»Das Bernardino-Hospiz ist eine karitative Pflegeeinrichtung, in der Patienten mit lebensverkürzenden Erkrankungen aller Art fachgerechte und liebevolle Pflege erhalten«, heißt es im Prospekt. »Die Nonnen, die hier leben und arbeiten, sind ausgebildete Krankenschwestern und ehrenamtliche Betreuerinnen. Sie werden durch ein Team von Klinikärzten unterstützt.«

»Aber ich will nicht dahin«, versuchte ich zu sagen. Das war nach meiner letzten Operation, als ich immer noch Laute erzeugen konnte, die von anderen als Worte erkannt wurden. Ich legte den Prospekt auf den Schreibtisch meines Hausarzts zurück.

Ich kannte das Bernardino-Hospiz, ein niedriges Gebäude aus dunklem Flintstein am Stadtrand. Ich war öfter mit dem Bus vorbeigefahren, wenn ich Gartengeräte zur Reparatur in den großen Eisenwarenladen in Berwick upon Tweed bringen musste. Für meine Gartengeräte habe ich immer eine Art Zärtlichkeit empfunden und sie wie Freunde behandelt. Ich hatte dem Hospiz immer den Rücken zugekehrt und lieber aufs Meer hinausgesehen.

Ich holte mein Notizheft heraus. Ich will in meinem Strandhaus bleiben, schrieb ich.

Der Arzt nickte. Er nahm einen Stift in die Hand und rollte ihn zwischen den Fingern hin und her. »Natürlich müssen Sie nicht ins Bernadino-Hospiz, wenn Sie nicht möchten, Queenie.«

Er starrte seinen Stift unverwandt an; ab und zu entschlüpfte ihm ein Seufzer wie der Nachhall einer Explosion tief unten in seiner Brust. »Aber der Krebs ist weit fortgeschritten. Wir können Sie nicht mehr operieren. Sie wissen, dass die Prognose nicht –?«, flüsterte er. »Das wissen Sie doch?«

»Ja«, sagte ich. Ich griff nach meinen beiden Walking-Stöcken, obwohl ich noch nicht gehen wollte. Ich wollte nur, dass er nichts mehr zu sagen brauchte, und etwas Besseres, als mich an meinen Stöcken festzuhalten, fiel mir dafür nicht ein.

»Ich zwinge Sie nicht, in das Hospiz zu gehen. Natürlich nicht. Aber dort können wir uns gut um Sie kümmern. Und ich mache mir Sorgen, wie Sie in Ihrem Strandhaus zurechtkommen. Im Winter lebt sonst niemand in Embleton Bay. Sie haben keine richtige Heizung. Der Küstenpfad ist bei diesem Wetter fast unpassierbar. Wir könnten Ihnen keinen Krankenwagen schicken. Wenn wir einen bräuchten.«

Ich habe Simon. Den ehrenamtlichen Betreuer aus der Klinik. Er kommt.

»Aber nur dreimal die Woche. Sie brauchen Vollzeitpflege.«

Die Luft schien so zäh, dass ich mich darauf konzentrieren musste, weiterzuatmen. Irgendwie hörte ich nichts mehr oder nur vereinzelte Worte wie »kompliziert« und so etwas.

Trotzdem wäre ich bei meinem Entschluss geblieben und in meinem Holzhaus. Aber mein ganzes Gesicht hatte sich verschoben. Mein Mund versagte endgültig seinen Dienst, ich konnte mein Auge nicht mehr öffnen. Ich ging nicht mehr einkaufen. Ich wollte nicht, dass mich jemand sah. Ich schämte mich. Wenn Besucher kamen, ging ich nicht an die Tür. Ich vermied es sogar, in meinem Garten zu arbeiten, aus Angst, dass man mich dort finden würde. Ich dachte, jetzt werde ich schlafen, schlafen, schlafen, aber der Schlaf kam nicht. Ich wollte niemanden belästigen. Ich wollte einfach loslassen können. Aber jedes Mal, wenn ich ans Loslassen dachte, wollte ich nur noch festhalten. Ich gebe zu, dass ich geweint habe. Der Regen hörte nicht auf, der Wind auch nicht. Von der Tür aus sah ich zu, wie der Sturm in meinem Garten die Treibholzfiguren auf den Kopf stellte, wie der Regen die Felstümpel ertränkte. Der Winter schien kein Ende zu nehmen.

Als mein Betreuer Simon hörte, dass ich mich für das Bernardino-Hospiz entschieden hatte, sagte er, oh, seine Tante sei auch dort gewesen. »Ein ganz besonderer Ort«, versprach er. »Man braucht kein religiöser Mensch zu sein. Die machen da alles Mögliche. Musik und Kunst und so. Und es gibt einen schönen Garten. Dort wird’s Ihnen gefallen. Meine Tante war sehr glücklich dort bis zum …«

Und dann lächelte er, als hätte er das Sprechen komplett verlernt.

Simon ist groß wie ein Bär und trägt einen Dufflecoat, den er über dem Bauch nicht ganz zuknöpfen kann. Ich saß ganz still da, während Simon meine Nachthemden, Hausschuhe, Handtücher einpackte. Dieser Koffer und ich, wir sind zusammen überall gewesen. Simon fragte mich, ob ich sonst noch etwas mitnehmen wolle, und mir fiel nichts ein, weil mir die Vorstellung, von hier fortzugehen, so fremd war. Ich hatte zwanzig Jahre in diesem Strandhäuschen gelebt, die ganze Zeit, seit ich dich und Kingsbridge verlassen hatte. Das Haus war genauso ein Teil von mir wie die Vergangenheit und du und meine Knochen. Ich ließ den Blick über die gestrichenen Holzwände wandern, über die rohen Bodendielen, die Paisley-Überwürfe, die ich in Secondhandläden gefunden hatte, den bunten Flickenteppich, den ich in einem Winter gemacht hatte. Den alten Herd, die Kupfertöpfe, die blauen Holzläden, die Glasflaschen und die Bücher auf dem Fensterbrett. Die erbsgrünen Porzellantassen und Unterteller mit vergoldetem Rand, die ich damals in Kingsbridge gekauft hatte, falls du mich je zum Tee besuchen kämest. Ohne die Wärme des Holzofens war es schon so kalt, dass Simons Atem wie eine große Rauchwolke über seinem Kopf hing. Mein eigener Atem war nur ein dünner Faden.

Simon trug mich den sandigen Weg bis zu seinem Auto hinunter. Alle anderen Strandhäuser waren über den Winter verschlossen und verlassen. Ich sei leicht wie ein kleiner Vogel, lachte Simon.

Wenn ich wirklich ein Vogel wäre, wäre ich schon tot, das wusste ich. Dann schob ich den Gedanken schnell weg, denn es macht mir Angst, Harold, an so etwas zu denken.

Simon trug mich am Golfplatz vorbei und am Clubhaus. Niemand sah aus dem Fenster, und darüber war ich froh. Simon stellte das Autoradio an, damit ich Unterhaltung hatte, während er meinen Koffer holen ging. Aber ich bin an Einsamkeit und Stille gewöhnt.

Als wir davonfuhren, drehte ich den Kopf, um noch einen Blick auf meinen Garten zu werfen. Ich sah die Mauern aus Flintstein. Die bunten Fahnen. Die Samenstände und die Treibholzskulpturen. Sie hoben sich als Silhouetten vor dem dichten Meeresdunst ab. Im Dorf fuhren wir an der Reihe weißgekalkter Steincottages vorbei, und das Land öffnete sich wie ein Winterbuch. Die Hecken, ein nacktes Gestrüpp. An den Bäumen hingen die Blätter vom Vorjahr wie Fledermäuse, und ein Saum von Fichten schwankte im Wind. Von den Cheviot-Hügeln war nichts zu sehen. Erst später wurde mir bewusst, dass ich alle diese Details der Landschaft nur betrachtet hatte, anstatt mich von ihnen zu verabschieden. Aber manchmal verabschiedet man sich nicht, weil man glaubt, etwas gehe noch weiter, obwohl es in Wirklichkeit schon vorbei ist.

Die zehn Zimmer hier liegen im vorderen Teil des Hospizes mit Blick auf die Festungsmauern, auf die Mündung des River Tweed und auf das Meer. Der Tagesraum, die Kapelle und der Speisesaal gehen nach hinten hinaus; durch die bodentiefen Fenster sieht man den »Garten des Wohlbefindens«. Ehrenamtliche wie Simon kommen jeden Tag, um uns Gesellschaft zu leisten und den Garten zu pflegen – zurückschneiden, zusammenrechen, umgraben. Ich sehe vom Fenster aus zu. Ich beobachte auch die Nonnen im Garten. Mit ihren Gewändern, die sich im Wind bauschen, sehen sie aus wie weiße Segel auf grünem Meer.

Als es Zeit für den Abschied wurde, sagte Simon: »Ich gehe weg. Für ein paar Monate. Aber wir sehen uns, wenn ich wiederkomme. Ja?«

Ich nickte, weil er ein lieber junger Kerl ist und ich kein Drama wollte. Er beugte sich herunter, um mich zu umarmen, und ich spürte den mächtigen Schlag seines Herzens. »Passen Sie auf sich auf«, sagte er. Sein Gesicht war nass von Tränen, aber wir lächelten beide, als wäre es das nicht.

Dann sah ich ihm nach, wie er die Stufen zum Parkplatz hinunterlief, immer zwei auf einmal. Er sprang in sein rotes Auto und hupte zweimal kurz, als er davonfuhr. Ich schaute zu den Doppeltüren, die zum Patiententrakt führten. Einfache Türen, nichts Besonderes, aber es kam mir vor, als bestünden sie aus Eisen, Bolzen und Riegeln. So muss sich ein Häftling fühlen, dachte ich. Als schließe sich das Leben hinter ihm. Schwester Philomena, die Mutter Oberin, nahm meinen Koffer.

Von der anderen Seite der Tür drang schallendes Gelächter. »Meine Fresse! Ich hab ein Wohnmobil gewonnen!« Darauf knarzte verdrießlich eine Stimme mit schottischem Akzent: »Sie haben das Kleingedruckte nicht gelesen. Die Frau hat das Kleingedruckte nicht gelesen.«

In Schwester Philomenas Gesicht blitzte ein Lächeln auf. »Unser Hospiz ist vielleicht nicht ganz das, was Sie erwartet haben.«

Der große Mann und der Schnee

Als ich heute aufwachte, Harold, dämmerte perlmuttsilbern der Morgen. Ich blickte aus dem Fenster in ein Gestöber weißer Blütenblätter. Da erinnerte ich mich an Schnee. Ich griff nach meinem Heft.

 

Es ist vierundzwanzig Jahre her. Ich stehe in meinem neuen Büro. Es ist mein erster Arbeitstag in der Brauerei, und mir ist angst und bange. Bin ich der Sache überhaupt gewachsen? Mein Büro ist klein und sehr kalt. Außer dem Schreibtisch stehen dort Kästen voller fehlerhafter Rechnungen; ein System ist nicht erkennbar. Ich zücke meinen Taschenspiegel, sehe mich prüfend an und stecke ein paar braune Strähnen fest, die sich gelöst haben. Lippenstift? Kein Lippenstift? Ich versuche immer noch dahinterzukommen, wie eine qualifizierte Buchhalterin aussehen sollte. Vom Geruch hier, Hopfen und Zigaretten, wird mir übel. Da springt mir etwas ins Auge, draußen, ein weißes Flöckchen. Ich trete näher ans Fenster. Spähe hinaus.

Vom Fenster blickt man in den Hof hinunter, auf die übergroßen Mülltonnen. Nicht gerade ein Idyll. Aber am Himmel hängen schwere Winterwolken, es fängt an zu schneien, wie weiße Federn, die in der Luft ihre Pirouetten drehen. Ich drücke das Gesicht und die Finger an das kalte Glas und schaue in das schwindelerregende weiße Gestöber hinauf. Der Wetterbericht hat keinen Schnee angesagt, es ist, als ereigne sich ein kleines Wunder, ein Gefühl, das sich bei einem überraschenden Wetterumschwung manchmal einstellt. Ich betrachte den Hof und die Mülltonnen, und alles sieht schön aus, Dunkles wird langsam weiß, Hartes weich. Meine Übelkeit, die Kälte und meine Ängste sind vergessen.

Mit einem Klick öffnet sich eine Metalltür, eine große Gestalt im Mantel eilt heraus.

Das bist du.

Wie ich siehst du die Schneeflocken und bist überrascht. Wie ich blinzelst du nach oben, schirmst die Augen mit der Hand ab, schaffst einen Tunnel für deinen Blick. Du lachst. Dann schaust du verstohlen nach links und nach rechts, ob dich auch niemand beobachtet, und gehst zu den Mülltonnen hinüber. Froh, dass du allein bist, ziehst du unter dem Mantel eine Tüte hervor. Rasch hebst du den Deckel einer Tonne und wirfst mehrere leere Bierdosen hinein. In der Brauerei sind alle Lampen an und hüllen dich in einen tintenbläulichen Schein, dein Schatten fällt auf die dünne Schicht Neuschnee. Ich frage mich, warum diese Geheimnistuerei mit den Dosen? Wir sind hier schließlich in einer Brauerei. Der Vormittag ist erst halb um, und schon habe ich mehrere angetrunkene Vertreter gesehen.

Aus welchen Gründen auch immer, du scheinst erleichtert, dass du die Dosen los bist. Du klappst den Tonnendeckel wieder zu und reibst dir die Hände wie meine Mutter früher, wenn eine Arbeit zu ihrer Zufriedenheit erledigt war.

Du drehst dich um und willst dich auf den Rückweg machen, als du zu spüren scheinst, dass jemand in deiner Nähe ist. Du lässt den Blick durch den Hof wandern. O nein, denke ich, er hat mich hier oben entdeckt. Aber dann erkennst du deinen Verfolger, es ist nur dein Schatten im Schnee, und du lachst wieder. Ich auch. Dein Schatten ist unser beider Rettung.

Eingerahmt in einem Viereck aus Licht, das aus einem der Fenster fällt, hebst du den Arm, und dein Schatten tut es dir gleich. Du winkst, und dein Schatten winkt zurück. Dann hebst du den linken Fuß und schüttelst ihn ein wenig. Auch dein Double schüttelt den Fuß. Noch einmal siehst du dich sorgfältig um, ob nicht doch jemand im Hof ist und dich beobachtet. Dann wirfst du dich wieder in Positur. Was hast du vor? Ich bin fasziniert. Du hebst die linke Schulter, ziehst die Ellbogen nah an die Taille und fängst an, im pudrigen Schnee einen langsamen Shuffle zu tanzen. Du schiebst dich ein wenig nach links, ein wenig nach rechts, biegst deinen Körper hierhin und dorthin, wiegst dich leicht auf dem einen Fuß, dann auf dem anderen. Einmal legst du sogar eine volle Drehung auf den Fersen hin. Während du tanzt, schaust du die ganze Zeit aus den Augenwinkeln amüsiert weiter auf deinen Schatten, als könntest du kaum glauben, dass er wirklich mit dir mithalten kann.

Ich lache auch. Jahrelang habe ich Gesellschaftstänze getanzt, nicht professionell, nur als heimliches Vergnügen. Wo auch immer ich hinkam, habe ich mir ein Tanzlokal gesucht. Aber noch nie habe ich einen Mann mit einer solchen Leichtigkeit in den Bewegungen gesehen. Meine fremden Tanzpartner haben meist zwei linke Füße, riechen leicht medizinisch nach Kampferseife und legen mir eine klamme Hand in den Rücken. Rings um dich kreiseln immer noch zarte weiße Flocken durch die Luft, es ist, als riesle Musik herab, in leisen, sachten Tönen.