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Über dieses Buch:

Sakiko ist alles andere als erfreut: Andreas, der Vertrauenslehrer der Wunderbar-Clique, hat eine neue Freundin. Die hat rote Haar und ist echt hübsch – und Andreas hat nur noch Augen für sie. Er wird doch seine Schüler nicht ganz vergessen? Bevor es soweit kommt, nimmt Sakiko die Sache lieber selbst in die Hand: Zum Glück ist ihr gerade ein Buch über Zauberei in die Hände gefallen. Mit ein bisschen Hokus Pokus will sie dafür sorgen, dass alles wieder so wird wie früher. Doch das hat ungeahnte Folgen …

Über die Autorin:

Sissi Flegel, Jahrgang 1944, hat neben ihren Romanen für erwachsene Leser sehr erfolgreich zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in 14 Sprachen erschienen sind und mehrfach preisgekrönt wurden. Die Autorin ist verheiratet und lebt in der Nähe von Stuttgart.

Die Autorin im Internet: www.sissi-flegel.de

Bei dotbooks erschienen Sissi Flegels Romane „Weiber, Wein und Wibele“ und „Das Flüstern der Vergangenheit“, ihr Kinderbuch „Gruselnacht im Klassenzimmer“ sowie die die Trilogie um das „Internat Sternenfels“.

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Neuausgabe Mai 2014

Copyright © der Originalausgabe 2000 Thienemann Verlag, Stuttgart/Wien

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

ISBN 978-3-95520-596-6

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Sissi Flegel

Internat Sternenfels

Band 2: Die Superhexen

dotbooks.

1

Punkt fünf stand Irene an der großen Tür zur Turnhalle. Heiner!, dachte sie. Heute muss Heiner kommen. Er hat es versprochen!

Fünf nach fünf war er noch immer nicht in Sicht, um zehn nach fünf nicht, um fünfzehn nach fünf auch nicht. Um achtzehn nach fünf machte sich Irene auf den Rückweg, humpelte die Treppen zur Wunderbar hoch, ließ sich bei Sakiko aufs Bett fallen und brach in Tränen aus.

»Alleine kann ich einfach nicht trainieren!«

Sakiko setzte sich neben sie. »Nimm es doch nicht so schwer«, versuchte sie sie zu trösten. »Es ist Frühling und er hat sich in Anna verliebt. Wart einfach ein wenig, irgendwann hat er wieder Zeit für dich.«

»Irgendwann! Das ist es ja! Später muss er auf Klassenarbeiten lernen und noch später aufs Abitur. Ich habe nicht viel Zeit, Sakiko!«

Nina und Naomi platzten ins Zimmer. »Ah, da bist du ja, Sakiko, wir wollen – he, was ist denn hier los?«

»Heiner hat Irene schon wieder versetzt. Er hat keine Zeit mehr, mit ihr zu trainieren«, erklärte Sakiko.

»Ach du liebes Lieschen!« Nina und Naomi ließen sich auf dem Fußboden nieder.

Irene, die bei einem Unfall ein Bein verloren hatte und vor einem halben Jahr ins Internat gekommen war, hatte durch die Bewohner der Wunderbar und durch das regelmäßige Krafttraining mit Heiner aus der Elften neuen Mut geschöpft. Sakiko hatte ihr schicke lange Röcke genäht und sie im Winter dazu überredet, trotz ihrer Prothese Hosen zu tragen. Irene war aufgeblüht, war ein neuer Mensch geworden – und ausgerechnet jetzt musste sich Heiner verlieben. Klar, jeder hatte Verständnis dafür, dass ihm Anna gerade wichtiger war als Irene. Aber für Irene war das ein echtes Unglück.

Sakiko, Nina und Naomi sahen sich an. Irene musste geholfen werden. Nur wie?

»Es muss doch noch jemand anderen geben als Heiner«, überlegte Nina laut. »Soll ich zu Herrn Siegmund gehen und ihn fragen?«

Herr Siegmund war der Direktor des Internats und hatte ihnen schon mehrfach in schwierigen Situationen geholfen.

»Nein, auf keinen Fall!«, heulte Irene auf. »Ich hab mich so an Heiner gewöhnt!«

»Dann gewöhn dich eben um«, sagte Naomi entschieden. Sie dachte immer sehr praktisch. »Wir könnten auch mit Heiner ein Wörtchen reden.«

»Klar, das machen wir! Sofort!« Nina sprang auf und zog Naomi mit. »Bis gleich!«

Sie polterten aus dem Zimmer und die Treppen hinunter. Aber die beiden hatten kein Glück. Heiner war nicht in seinem Zimmer, er war nicht in seiner Wohngemeinschaft und er schwänzte sogar mitsamt seiner Liebe das Abendessen.

Sehr viel später saßen Nina, Naomi und Sakiko im Schlafanzug am großen Tisch der Wunderbar. Sie schlürften heißen Kakao und besprachen das Problem.

»Wenn wir nicht aufpassen, legt sich Irene wieder ins Bett und zieht sich die Decke über den Kopf«, erklärte Nina gerade, als Aldo mit seiner Freundin Zilga hereinkam.

Aldo war Ninas älterer Bruder und schon viele Monate mit Zilga eng befreundet. Die musste jeden Abend mit dem Bus nach Hause fahren, weil sie das Internat als Externe besuchte und in der nahen Kleinstadt bei ihrer Großmutter wohnte.

»Ihr seht aus, als wären euch mehrere Läuse über die Leber gekrabbelt«, stellte Zilga amüsiert fest. »Was gibt's? Können wir helfen?«

»No way«, sagte Nina bekümmert, schilderte das Problem und sagte abschließend: »Wenn wenigstens Andreas da wäre! Aber der lässt sich ja auch kaum mehr sehen. Hallo, Cheerio! Wie war die Nachhilfe?«

»Stressig wie immer. Wenn ich die Schule mal hinter mir habe, will ich von Mathe nichts mehr wissen. Dann zähl ich nicht mal mehr zwei und zwei zusammen. Gibt's noch Kakao für mich?« Er holte einen Becher aus dem Schrank und zog einen Stuhl heran.

Cheerio hatte eine seltene, dafür aber umso ausgeprägtere Rechenschwäche und außerdem war er mit einem uneinsichtigen, lieblosen und ehrgeizigen Vater geschlagen, der für den Kummer seines Sohnes keinerlei Verständnis hatte und nur Leistung und Erfolg auf allen Gebieten sehen wollte. Das hatte Cheerio sehr zu schaffen gemacht. Er hatte in seiner Not zu unlauteren Mitteln gegriffen, war an den Computer von Andreas gegangen und wäre fast vom Internat geflogen. Fast – wenn seine Mitbewohner aus der Wunderbar nicht hinter ihm gestanden und Partei für ihn ergriffen hätten. Jetzt hatte er dreimal die Woche private Nachhilfe in Mathe und machte millimeterkleine, winzige Fortschritte.

»Es stimmt, dass sich Andreas kaum mehr sehen lässt«, stellte Cheerio fest. »Für mich ist das ein Glück. Er erinnert mich immer an den Matheunterricht.«

Andreas war Lehrer für Mathematik und Physik, ihr Ersatzvater und »Chef« der Wunderbar. Sie liebten ihn, denn er war humorvoll und hatte viel Verständnis für ihre kleinen und großen Kümmernisse und immer ein offenes Ohr und Zeit für sie.

»Trotzdem«, fuhr Cheerio fort, »trotzdem würd's mich interessieren, wo er steckt. Ich krieg ja nichts mehr mit. Vor lauter Mathe geht das wirkliche Leben an mir vorbei.«

»Wir haben keine Nachhilfestunden und wissen trotzdem nicht, was er seit neuestem treibt«, erklärte Aldo. »Aber Zilga und ich haben festgestellt, dass er immer Dienstag-, Donnerstag- und natürlich Samstag- und Sonntagnachmittag ins Auto steigt. Heute ist Dienstag. Es ist zehn Minuten nach zehn Uhr und eigentlich müsste er seit zehn Minuten hier sein.«

»Wer, ihr Lieben, müsste seit zehn Minuten hier sein?« Andreas schaute flüchtig in den Gemeinschaftsraum und fragte Zilga: »Was machst du denn noch hier? Hat sich der Busfahrplan geändert?«

»Ich fahre mit dem Rad nach Hause, Andreas. Es ist Frühling, die Luft ist lau, der Himmel klar – darf ich mal?« Zilga streckte einen Zeigefinger aus und rieb sachte über seine Wange. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Lippenstift. Interessante Farbe, ziemlich dunkel. Gefällt mir.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schnupperte an seinem Hals. »Hmmm, und das Parfüm ist auch nicht schlecht. Fragst du sie, wie es heißt?«

Andreas trat zurück, wurde ein bisschen rot und räusperte sich verlegen.

»Leute«, sagte Zilga und hängte sich bei Aldo ein. »Für den Lippenstift an der Backe und den guten Duft gibt's nur eine Erklärung: Andreas hat ...«

»Eine Freundin!«, rief Nina und Naomi setzte düster hinzu: »Es muss 'ne Seuche sein. Zuerst der Heiner, jetzt Andreas.«

»Es ist der Frühling«, stellte Aldo fest und zog Zilga an sich.

Alle starrten Andreas an. »Na ja«, sagte er verlegen, »und wenn's so wäre, wäre das schlimm?«

»Kommt drauf an«, entgegnete Naomi. »Kommt ganz drauf an.« Sie wiegte den Kopf hin und her. »Bring sie mit, dann können wir's dir sagen.«

»Was wollt ihr mir sagen?«

»Na, ob sie zu uns passt. Und zu dir natürlich auch, Andreas. Aber pass auf, dass du nicht zu viel Zeit mit ihr verbringst. So wie Heiner mit seiner Anna, der nicht mal mehr mit Irene trainiert. Schließlich bist du unser Ersatzvater, du bist unser Ein und Alles, das weißt du doch«, meinte Naomi.

»Ich hab das Recht auf ein bisschen Privatleben!«, rief Andreas empört.

»Na klar«, sagte Sakiko. »Ein bisschen Privatleben muss sein. Aber Privatleben am Dienstag-, Donnerstag-, Samstag- und Sonntagnachmittag ist verdammt viel für ein bisschen. Findet ihr nicht auch?«

Alle nickten.

»Keine Sorge«, meinte Andreas. »Ihr kommt schon nicht zu kurz.« Er gähnte.

»Die Liebe ist stressig, was?« Aldo grinste frech.

»Ins Bett mit euch!«, ordnete Andreas an und verschwand schleunigst in seiner Wohnung.

Zilga verabschiedete sich und ließ sich von Aldo nach unten begleiten. Die anderen leerten mit sorgenvollen Gesichtern die Kakaobecher und gingen in ihre Zimmer.

Sakiko zog sich aus, wusch sich und stellte sich dann in ihrem Zimmer ans offene Fenster. Sie sah auf den Hof hinunter. In der Mitte befand sich ein großer runder Brunnen. Das Wasser plätscherte vernehmlich, die Zweige der Tanne und der großen Buche wiegten sich sacht und der laue Wind trug den Duft von Blüten und frischem Grün bis zu ihr herauf.

Leise ging die Tür auf. »Können wir hereinkommen?«, flüsterte Nina.

»Nur ganz kurz«, fügte Naomi hinzu.

Sakiko machte Platz. Eng nebeneinander stehend schauten die drei aus dem Fenster.

»Vollmond«, stellte Naomi fest. »Bei uns in Irland sagt man, das sei die Zeit der Hexen.«

»Zeit der Hexen?«, wiederholte Sakiko. »Was tun die Hexen?«

»Na, was wohl? Sie hexen den Leuten Sachen an«, antwortete Naomi und kicherte. »Meine Großmutter hat ein Hexenbuch. Das hab ich mal zufällig entdeckt, und als sie gesehen hat, wie ich darin gelesen hab, ist sie fuchsteufelswild geworden. Das sei nichts für Kinder, hat sie gemeint und es so versteckt, dass ich es nie mehr gefunden hab.«

»Hast du's gesucht?«, fragte Nina interessiert.

»Und wie! Ich hab sogar meinen Bruder eingeweiht. Nichts.«

»Schade«, sagte Sakiko. »Ich würde gerne als Hexe um den Mond herumfliegen. Muss ein irres Gefühl sein, was?«

Sie lachten.

»Wenn ich 'ne Hexe wäre, würde ich Irene das fehlende Bein zurückhexen«, meinte Naomi.

»Und ich würde Cheerio Mathe ins Hirn hexen«, sagte Nina. »Was würdest du hexen, Sakiko?«

»Ich? Ich glaube, ich würde für meine Mutter einen Freund hexen«, antwortete Sakiko nachdenklich. »Sie ist so einsam. Eigentlich hat sie niemanden außer mir. Und ich bin im Internat ...«

Die drei schwiegen.

»Ja«, sagte Nina nachdenklich, »hexen sollte man können ... Dann wär das Leben ganz einfach.«

2

Beim Mittagessen am nächsten Tag sagte Zilga: »Am Samstag ist in der Stadt Flohmarkt. – Gibst du mir bitte das Salz, Naomi? Danke. Habt ihr etwas, das ihr verkaufen wollt? Ich hab nämlich einen Stand beantragt.«

»Einen Stand beantragt?«, wiederholte Nina kauend. »Wieso denn?«

»Weil sie was verkaufen will«, antwortete Naomi. »Stimmt's? Was verkaufst du denn?«

Zilga grinste. »Alte Comics, Kinderkram, leere Marmeladegläser von meiner Oma, ein defektes Bügeleisen, angeschlagene Vasen. Wollt ihr kommen? Meine Oma macht zum Mittagessen Waffeln und Apfelkompott, sie lädt euch zum Essen ein.«

Aldo horchte auf. »Waffeln? Ich bin dabei, Zilga. Wann geht's los?«

»Was? Der Flohmarkt oder das Essen?«

»Beides.«

»Mittagessen ist um zwölf. Ab neun Uhr in der Früh steh ich auf dem Marktplatz.«

»O. k., wir kommen«, sagte Nina. »Wir melden uns gleich heute vom Essen im Internat ab.«

»Irene, du bist auch eingeladen. Fährst du mit dem Bus?«

Irene schüttelte den Kopf. »Glaub nicht. Wahrscheinlich hab ich keine Lust dazu.«

Alle schauten sie besorgt an.

»Schade«, meinte Naomi. »Was willst du denn den ganzen Samstag tun, so ohne uns – und überhaupt? Überleg dir's noch mal, ja?«

Irene nickte. »Vielleicht«, antwortete sie ausweichend.

Irene kam nicht mit.

Also schoben die Bewohner der Wunderbar die Räder am Samstag kurz nach neun aus dem Fahrradraum und sahen dabei Andreas, wie er mit gebügelten Jeans und einem frischen weißen Hemd ins Auto stieg.

»Jetzt fährt er wieder zu seiner Flamme«, stellte Nina missbilligend fest. »Dabei ist noch nicht mal Mittag. Wo das nur hinführt?«

»Habt ihr's gesehen? Er hat sogar vergessen uns zuzuwinken«, sagte Naomi. »Einfach ohne Abschied fortzufahren! Das ist doch unmöglich, oder?«

»Das ist ein total schlechter Stil«, bestätigte Aldo. »Aber dass er 'ne Freundin hat, kann ich verstehen. Er ist ja auch nur ein Mensch.«

»Er hat doch uns!«, rief Nina und strampelte los.

Gegen zehn waren sie in der Stadt. Sie lehnten die Räder an eine Mauer, schlossen sie ab und sahen sich um. Es war allerhand geboten: Da war ein Stand mit Kinderkleidung, daneben wurden Skier und Skistiefel angeboten, ein Stückchen weiter verkauften zwei Mädchen Barbiepuppen und deren Zubehör, fünf kleine Jungs boten drei verbeulte Matchbox-Autos an, deren Farben kaum noch zu erkennen waren, und es roch nach gegrillten Würstchen und Crepes. Schließlich entdeckten sie Zilga, die laut schreiend ihre angeschlagenen Vasen als echte Antiquitäten anpries. Aldo stellte sich gleich zu ihr hinter den Stand. Nina, Naomi und Sakiko schrien ein bisschen mit und schafften es tatsächlich, dass die Marmeladegläser an einkochwillige Hausfrauen gingen.

»Jetzt hab ich genug getan«, sagte Nina. »Wollen wir uns die anderen Stände anschauen?«

»Ja, aber erst, wenn ich 'ne rote Wurst gegessen hab«, sagte Naomi entschieden und steuerte auf einen Stand zu, an dem »Würste für hungernde Kinder in Not« angeboten wurden.

»Mann!«, sagte sie und deutete auf ein ziemlich verkohltes Exemplar. »Wenn ich die esse, bekomm ich die dann billiger?«

»Was? Das ist die beste, knusprigste Wurst, die ich hab! Die verkauf ich ohne Senf und zum doppelten Preis!«

»Wer so blöd ist, ruiniert sein eigenes Geschäft«, sagte Naomi. »Gibt vor, armen Kindern zu helfen, und stößt sie nur noch tiefer in den Hunger. Kommt, das ist nicht unser Mann.« Energisch packte sie Sakiko und Nina am Arm und zog sie weiter.

Plötzlich blieb Sakiko wie angewurzelt stehen und deutete auf einen Tisch voller Bücher. Auf einem roten Tuch prangte als Lockangebot ein großer, farbiger Bildband. Japan war der Titel des Buches. Andächtig griff sie danach und begann zu blättern. »Schaut doch ...«

»Och, nur Gärten und Tempel«, meinte Nina und ging mit Naomi weiter.

»Ich komme gleich«, sagte Sakiko und fragte: »Was kostet das Buch?«

Der Mann nannte einen Preis, der sie erschrocken das Buch zurücklegen ließ.

»Haben Sie auch etwas Billigeres über Japan?«

Der Mann kratzte seine struppigen grauen Haare, zog den löchrigen Pullover über den Bauch, warf die Zigarette aufs Pflaster und stapelte die Bücherberge um. »Muss doch noch was da sein ... verkauft ist's nicht, das wüsste ich ...«

Sakiko beobachtete ihn. Plötzlich weiteten sich ihre Augen, ihre Hand schnellte vor, legte sich auf ein dünnes Buch mit lila samtenem Einband und zog es aus dem Stapel.

»Das ist es nicht. Das ist kein Buch über Japan«, sagte der Mann.

»Ich weiß«, antwortete Sakiko atemlos. »Trotzdem, das nehm ich.«

»Und das hier?«, fragte der Mann. »Alles über die japanische Teezeremonie– so was wolltest du doch, oder?«

»Ich kann nur eines kaufen«, meinte Sakiko bedauernd und öffnete ihren Geldbeutel.

»Ist's für dich?«, fragte der Mann.

»Nein, nein«, sagte Sakiko schnell. »Das bringe ich meiner Großmutter mit.«

»O. k. Für fünf Mark gehört es deiner Großmutter und das andere Buch gibt's gratis dazu. Oder ist es doch für dich?«, fragte er misstrauisch.

»Es ist ein Geschenk!«, rief Sakiko, gab dem Mann fünf einzelne Markstücke und klemmte sich den lilafarbenen Band unter den Arm. »Es ist genau das, wonach ich gesucht habe!« Sie drehte sich um. »Wo sind denn nur meine Freundinnen?«

Die werden Augen machen, wenn sie meinen Fund sehen, dachte sie. »Hexen-Hokuspokus«, darüber haben wir gesprochen, das ist genau das, was wir brauchen!

Plötzlich zog sie scharf den Atem ein. Wie wär's, dachte sie weiter, wenn ich's mir zuerst allein anschaue? Aufgeregt schlug sie den Band auf, blätterte, las, blätterte erneut und schlug das lila Buch dann zu. Zeigen kann ich's ihnen immer noch. Zuerst will ich es mal in Ruhe durchlesen, dachte sie und fragte den Mann: »Haben Sie eine Plastiktüte für mich?«

Er nickte, wühlte in einer Schachtel herum und zog eine gebrauchte Tüte hervor.

»Danke!« Sakiko wickelte das Buch ein, klemmte es unter den Arm und schob sich durch die Menge.

»Hallo, hier sind wir!«, hörte sie es hinter sich rufen und sah auch sogleich Nina und Naomi an einem Crepes-Stand.

»Willst du mal abbeißen?«, fragte Nina. Sie hielt ihr den süßen Pfannkuchen, von dem rote Marmelade tropfte, vor den Mund. »Schmeckt gut!«

»Hast du das Japan-Buch gekauft?«, fragte Naomi.

»Nee, ein anderes. Der Bildband war zu teuer«, antwortete Sakiko wahrheitsgemäß und biss zu. Wenn sie weiterfragen, zeig ich's ihnen doch, dachte sie und war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Zufallsfund für sich zu behalten, und dem Bedürfnis, ihre Entdeckung mit den Freundinnen zu teilen. Doch Nina und Naomi interessierte das Buch kein bisschen.

Auch andere Schüler von Sternenfels waren da, sie winkten sich zu und zeigten sich gegenseitig ihre Schätze. Und dann stellte Naomi fest, dass es beinahe zwölf Uhr und somit Zeit für die Oma-Waffeln war.

»Alles verkauft!«, sagte Zilga stolz und klappte eine Keksdose zu. »Darin ist jede Menge Geld!«

»Hat sich's gelohnt?«, fragte Naomi.

»Dicke«, bestätigte Aldo und nahm die Dose an sich. »Was machen wir damit, Zilga?«

»Wir?«, wiederholte sie. »Das Geld gehört mir!«

»Was? Alles? Wo ich dir so geholfen hab?«, protestierte Aldo. »Mindestens ein gemeinsamer Kinobesuch muss dabei schon rausspringen, meine ich.«

»Darüber lässt sich reden«, sagte Zilga großzügig. »Später. Jetzt müssen wir zu meiner Oma. Die wird sauer, wenn wir sie warten lassen.«

Die Kinder kannten Zilgas Oma. Zu Anfang des Schuljahres nämlich hatte Naomi ihre Schildkröte Piccolo ins Internat geschmuggelt. Haustiere nach Sternenfels mitzubringen war streng verboten, und als die Schildkröte entdeckt wurde, war die Aufregung groß. Naomi wurde aufgefordert, sie umgehend aus dem Haus zu bringen. Nach einigen Verzögerungen und vielen Protesten fand Piccolo schließlich als vorläufiger Dauergast bei Zilgas Oma einen Unterschlupf.

Manchmal besuchten die Kinder Oma und Schildkröte und so waren alle im Lauf der Monate gute Freunde geworden.

An einem »normalen« Tag hätte sich Sakiko sehr über den Besuch und das Waffelessen gefreut. Aber jetzt brannte ihr das Hexen-Hokuspokus-Buch auf der Seele und sie überlegte sich krampfhaft, ob sie nicht gleich nach dem Essen ins Internat zurückradeln könnte. Doch ihr fiel keine gute Ausrede ein, sich von den anderen abzusetzen.

3

So kam es, dass Sakiko erst nachts gegen elf den Stuhl vor ihre Tür stellte, die Lehne unter die Klinke schob – die Türen ließen sich nicht abschließen –, mit der Taschenlampe ins Bett schlüpfte und mit der Hand zärtlich über den lila Samtbezug des Einbands strich.

In grünen Lettern leuchtete der Titel. Hexen-Hokuspokus. Super, dachte sie, das ist ein cooles Ding!

Und dann begann sie zu lesen.

Das erste Kapitel lautete: Einführung in die Zauberei.

Zuerst wollte Sakiko weiterblättern, denn Einführungen fand sie immer langweilig und daher völlig überflüssig. Aber zufällig fiel ihr Blick auf die Zeilen: Es gibt Regeln, an die muss sich die Hexe unbedingt halten. Mit dem Zaubern muss man vorsichtig umgehen, es ist ein mächtiges Werkzeug Und weiter: Man braucht dazu keinen Kessel, ein einfacher Topf tut's auch.

Das ist schon mal beruhigend, dachte sie und las: Aber die Rituale müssen unbedingt eingehalten werden.

Rituale?, fragte sie sich. Was um alles in der Welt sind Rituale?

Jetzt blätterte sie zurück und las interessiert die Inhaltsangabe.

Die Kunst des Zauberns lernen und Die Elemente bändigen und Die Saat der Liebe säen. Hier machte sie Halt. Das klang gut. Die nächsten Kapitel versprachen aber noch viel mehr: Auf Gold gehen, Becher der Liebe und Mondlichtzauber ... Sakiko las und las, bekam rote Backen, ein heißes Gesicht und wurde ganz zappelig wegen all der Möglichkeiten, die ihr plötzlich offen zu stehen schienen.

Auf einmal merkte sie, dass das Licht ihrer Taschenlampe schwächer wurde. Voller Bedauern knipste sie die Lampe aus, legte das Buch auf das Tischchen neben ihrem Bett, streckte sich aus, verschränkte die Arme unterm Kopf und dachte nach.

Irenes fehlendes Bein ließ sich wohl nicht zurückhexen und auch Cheerios Mathehirn würde in Zukunft weiter Probleme bereiten. Aber einen Freund für ihre Mutter oder Heiners Interesse an Irene ließen sich sehr wohl herbeihexen, davon war sie nun überzeugt.

Womit beginnen?, fragte sie sich und erinnerte sich an Naomis praktisches Denken. Die würde sagen, wir fangen mit dem Einfachsten an, ist doch klar!

Einen Freund für die Mutter? Da galt es einiges an Entfernung zu überwinden. Heiners Interesse an Irenes Training wachrufen? Das war's, das war einfach und der Erfolg ließ sich leicht überprüfen.

Die Saat der Liebe säen hieß der Zauber, der wäre dafür perfekt, nur – wie ging er nochmal?

Wieder knipste sie die Taschenlampe an. Das Licht war verdammt schwach. Da fiel ihr auf, dass der Mond ein helles Band auf ihr Bett warf. Schnell stand sie auf, trug das Buch zum Fenster, schlug die richtige Seite auf und schaute hoch. Super, dachte sie, das Mondlicht ist der halbe Zauber!

Was würde sie brauchen? Fast lachte sie, weil das Rezept so einfach war. Sie benötigte nur einen kleinen Blumentopf und einige Basilikumpflanzen. Und dann? Dann musste sie den zunehmenden Mond abwarten.

Zunehmender Mond? Wann war das? Jetzt stand der volle Mond am Himmel, also würde er zuerst ab- und dann wieder zunehmen.

Mist, dachte sie, wenn ich nur den Mond wie die Zeiger einer Uhr zurückdrehen könnte! Nur zwei, drei Tage! Aber an der Mondlaufbahn ließ sich wohl nicht herumhexen ... Sie hob bedauernd die Schultern und las weiter.

Bette die Samen vorsichtig in die Erde und singe dazu ein sanftes Lied. Versäume nicht, dabei nur liebevolle Gedanken zu denken. Umsorge dann die Samen, bis sie keimen. Gieße sie behutsam, lasse sie nicht absterben und verwende sie auf keinen Fall zum Kochen, denn sie sind der Liebe heilig.

Total cool, dachte Sakiko. Die Pflanzen sind der Liebe heilig!

Sie schlüpfte ins Bett zurück.

Wo bekomme ich die Samen und den Blumenpott? In der Stadt? In einer Blumenhandlung?

Das Internat hat doch eine eigene Gärtnerei!, fiel ihr ein. Und sie nahm sich vor, gleich am Nachmittag – Mitternacht war schon längst vorüber und der neue Tag bereits mehr als zwei Stunden alt – dorthin zu gehen.

In dieser Nacht schlief sie kaum, und wenn, schlangen sich in ihren Träumen grüne Ranken um Heiners Beine und hinderten ihn am Laufen. Einmal steckte Irene kopfüber in einem riesigen Blumentopf und einmal stand eine Hexe vor ihr, hob warnend den Zeigefinger und krächzte: »Nur liebevolle Gedanken denken, hörst du?«

Darüber wachte sie auf und stellte fest, dass die Hexentraumstimme zu Nina gehörte, die vor der Tür stand und ins Zimmer rief: »Sakiko, wach auf! Es ist schon verdammt spät, hörst du? Du musst dich beeilen!«

Zum Glück hatte sie das Buch nicht gesehen!