Martin M. Falken

 

 

Papas unterm Regenbogen


 

 

 

 

 

Von Martin F. Falken bisher im Himmelstürmer Verlag erschienen:

„Model zu haben“  ISBN 978-3-86361-328-0

„Schatten eines Engels“ ISBN 978-3-86361-281-8

„Unter Beobachtung“ ISBN 978-3-86361-269-6

„Zusammenstöße“ ISBN 978-3-86361-172-9

 

 

 

 

 

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, Februar 2014

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: Coverfoto: © panthermedia.com 

 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

ISBN print: 978-3-86361-352-5
ISBN epub: 978-3-86361-353-2
ISBN pdf:   978-3-86361-354-9
 

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nicolas

 

„Hast du an die Kondome gedacht?”, fragte mich Ricardo, der in der langen Schlange an der Supermarktkasse die Rolle des Platzhalters eingenommen hatte, während ich den Einkäufen nachging.

Hinter uns reagierte ein heterosexuelles Pärchen mittleren Alters auf das Stichwort ,Kondome‘. Die Frau, adrett in einem hellbraunen Blazer gekleidet, haute ihrem stämmigen Mann auf die Brust, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen: „Hast du an die Dinger gedacht?”

„An welche Dinger?”

„An die … “ Sie beugte sich nah zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

„Nö, hab ich vergessen. Standen auch nicht am Zettel.”

„Du Esel!” Sie holte ihre Einkaufsliste aus seiner Brusttasche und hielt sie ihm vor die Nase: „Was steht da?” Sie deutete mit ihrem dunkelrot lackierten Fingernagel darauf.

„Präsens … Nein, Präservative. Ist das ne neue Käsesorte?”

„Kondome, Mann!”, schrie die Frau zurück. „Geh und hol sie!”

Sein Gesicht verfinsterte sich und er stampfte wie ein kleines Kind mit seinem rechten Bein auf den Boden und verdrehte die Augen.

„Nein, ich …“ Nervös kaute er auf seinen Lippen herum, als wollte er sich selbst von einem bissigen Kommentar abhalten.

„Ist einfach zum Kotzen, mit dir einzukaufen. Wäre ich doch besser wieder alleine gegangen!”

Irgendwie sprach sie mir aus der Seele. Ich betrachtete das Geschehen unauffällig aus meinem Blickwinkel. Ricardo war dabei, das Fließband zu füllen. Er holte zwei Päckchen Quark aus dem Einkaufswagen und fragte, ob das sein müsste. „Ja”, erwiderte ich, „das muss sein!” Als wäre ich nicht bereits genug genervt, fragte er, ob drei Flaschen Sekt sein müssten, eine würde doch über die Feiertage reichen. „Nein”, zischte ich, „die drei Flaschen sind im Angebot.”

„Holst du vielleicht mal die Kondome?” Nun klang Ricardo gereizt.

„Ich gehe nicht noch mal zurück”, sagte ich. Es war Karsamstag am Nachmittag, sämtliche Leute schienen heute beim Einkaufen einen Jahresvorrat anlegen zu wollen.

„Soll ich sie holen? Wo liegen die Dinger denn?” Typisch Ricardo. Platzhalter zu spielen war eben einfacher, als Einkaufszettel abzuarbeiten.

„Du weißt nicht mal, wo die Kondome liegen”, bemerkte ich und schüttelte den Kopf. Es war seltsam, aber seitdem wir uns das Ja-Wort vor drei Monaten gegeben hatten, gab es oft Verstimmungen wegen solcher Nichtigkeiten. Den Alltag mit einem Mann zu teilen, das wurde mir allmählich klar, war Arbeit, kein Vergnügen. Und beim Einkaufen eine echte Belastungsprobe.

„Ich hol die Kondome!”, sagte ich gereizt. Zufälligerweise sagte die Frau hinter uns das Gleiche zu ihrem Mann oder Lebensgefährten oder was auch immer der genervte Typ darstellte, der keine Miene mehr verzog und nur stur geradeaus schaute, als würde er meditieren. Bevor sie den Weg durch den von Menschen bevölkerten Supermarkt zurücklegte, griff sie in ihren Einkaufswagen und holte ein Sixpack Bier heraus.

„Hey!”, schrie der Dicke auf. „Was hast du vor?”

„Bier gegen Kondome. Ein Sixpack sollte reichen!”

„Das ist unfair, Anna!” Doch seine Anna reagierte nicht mehr und ging entschlossenen Schrittes durch den Supermarkt. Ich legte den gleichen Weg zu den Drogerieartikeln zurück und schmunzelte über die Szene - bis ich merkte, dass Ricardo und ich eben am Fließband eine ähnliche Szene abgegeben hatten. War er nicht auch gerade dabei, meine Sachen, die ich nur für mich eingekauft hatte, auszusortieren? Das wäre nicht das erste Mal. Anstatt sich auf mich zu verlassen, fiel Ricardo öfters mal auf die Tricks an der Kasse rein, holte sich ein Schokoriegel für unterwegs oder ein Feuerzeug. Mittlerweile haben wir eine ganze Schublade voller ungenutzter Feuerzeuge, mindestens zwanzig Stück.

 

Als wir nach Hause kamen, war Ricardo seine Erschöpfung anzusehen. Sein schwarzes Haar hing ausgefranst in seiner Stirn, während er den Kühlschrank vollmachte.

„Du, leg das anständig”, sagte ich. „Da will ich heute Abend noch ne Käsesahne-Torte reinstellen.”

„Dann räum doch selbst ein”, erwiderte Ricardo und drückte mir eine Gurke in die Hand. Er verschwand ins Wohnzimmer, als ich verdutzt mit dem langen, grünen Gemüse in der Küche stand. „Ach, übrigens! Wo sind denn jetzt die Kondome?”

„Als hätte ich nicht genug zu tun”, murmelte ich vor mich hin, als ich die Einkäufe einräumte. Mir fiel eine Packung Müsli mit Rosinen in die Hände. „Ricardo!”, rief ich. „Du weißt, dass ich Rosinen verabscheue! Ich bekomme davon Würgreiz.”

„Ist auch nicht für dich!”, rief er und ich hörte nun den Fernseher im Hintergrund. So, ich musste meine Gedanken sortieren. Nach dem Einräumen schnell runter, noch meine Chocolaterie putzen. Dann wieder hoch in die Wohnung und die Käsesahne-Torte backen.

„Ricardo! Magst du die Torte mit Mandarinen oder lieber mit Kirschen?”

„Welche Torte?”

„Ja, die Käsesahne-Torte. Hab dir schon dreimal erzählt, dass ich die backen will.”

„Ist mir egal.” Oh, wie sehr ich diese Antwort hasste! Immer schön die Verantwortung auf mich übertragen.

„Komm, sag was!”, drängte ich. Auch hasste ich es, mich mit Ricardo zu unterhalten, der gar nicht im gleichen Raum war.

„Nimm Mandarinen!”

„Wir haben aber nur noch Kirschen im Haus.”

 

Als ich die hellbraunen Marmorfließen meines Schokoladen-Geschäfts putzte, dachte ich, dass das auch Ricardo hätte machen können. Heute hatte er nur als Platzhalter hergehalten, sich nicht an den Einkäufen beteiligt und so gut wie nichts in den Kühlschrank eingeräumt. Zumindest war er gefahren und behielt trotz des wahnsinnigen Verkehrsaufkommens die Ruhe. Zu mir meinte er einmal, ich bekäme schon Panik, wenn die Signalfarbe der Ampel wechselt.

So schön es auch war, seinen eigenen Laden zu haben, so sehr quälte ich mich oft abends mit Abrechnungen und der gesamten Buchhaltung bis spät in den Abend - und das obwohl ich jeden Tag früh raus musste, damit die fertigen Pralinen bis zehn Uhr in der Auslage lagen und den Kunden das Wasser im Mund zusammenfließt. Dennoch möchte ich nicht behaupten, dass mir die Arbeit keinen Spaß machte, im Gegenteil.

Der Boden war geputzt. Wofür eigentlich? Dafür, dass ihn zwei Tage keine Kunden betreten würden? Am Abend des Ostermontags würde ich doch bestimmt wieder hier stehen und den Putzlappen schwingen. Sollte ich die Regale noch wischen? Nein, dazu hätte ich die ganzen Dekorationen abräumen müssen, sämtliche kleine Häschen und Küken, die folienverpackt auf Schleckermäuler warteten. Und dann die Tassen mit den Motiven, die Ricardo so gerne erstellte. Das war eine heißbegehrte Ware, da in ihm ein Künstler schlummerte. Sämtliche Tiermotive zierten die weißen Tassen, an denen er sich unheimlich lange aufhielt, dieser Perfektionist. Aber er scheute auch nicht vor gesellschaftlichen Aussagen auf den Tassen. So bemalte er eine Tasse mit dem Symbol für die Homo-Ehe, zwei ineinander verhakte Symbolringe für Männlichkeit. Erstaunlicherweise war das der Renner. Schwer vorstellbar war allerdings, dass all diese Kunden, die sich für diese Tasse entschieden hatten, homosexuell waren. Da denke ich nur an den alten Mann in seinem dunkelgrünen Jägeroutfit, mit Hut und Gamsbart. Um das Klischee noch zu vervollständigen, brachte er stets seinen kläffenden Dackel mit, der meinen Boden immer vollsabberte. Als er die Homo-Ehe-Tasse kaufte, dachte ich, seine Augen sahen nicht mehr so gut. Nachdem er aber nach einem nackten Mann aus Schokolade gefragt hatte und seine Augen bei dessen Anblick funkelten, zerbrach mein Weltbild, auf positive Weise wohl bemerkt. 

So hing ich eine Weile meinen Gedanken nach und erinnerte mich an die interessantesten Kunden meiner Nicolaterie. Das Abbild der gesamten Gesellschaft kostete und kaufte bei mir Pralinen, vom linksautonomen Veganer, der sich durch eine Inspektion in meiner Küche versichern ließ, dass es Pralinen ohne Tierprodukte gab, bis hin zum emeritierten, erzkonservativen Wirtschaftsprofessor, der sich - wie fast zu erwarten war - für Cognac-Trüffel entschied. In zwei Jahren hatten sich hier eine Menge Leute eingefunden. Ja, wir alle verschmelzen mit der Schokolade. 

 

Nachdem ich mich für zwei Tage vom Laden verabschiedete und mich auf deftiges Essen wie einen leckeren Schweinebraten mit Kartoffelgratin freute, ging ich hinauf in die Wohnung und sah auf dem Küchentisch eine fertige Käsesahne-Torte. Ricardo war beim Abtrocknen und lächelte mich an.

„Wow! Du kannst backen?”, fragte ich verblüfft. Wie hatte er das so schnell geschafft, wo er doch vorher nie gebacken hatte, zumindest keine Torten.

„Ja, nach Rezept.”

Ich betrachtete die Torte von allen Seiten. Er hatte sie selbst mit Puderzucker bestäubt. Ich hätte beinahe gefragt, bei welchem Bäcker er gewesen sei, doch ich wollte ihn nicht kränken. Um ehrlich zu sein, war ich etwas gekränkt. Meine Backkünste waren also doch ersetzbar … Wenn sie nun auch besser als meine Torte schmecken würde, wäre mein Stolz aber wirklich gekränkt. Insgeheim hoffte ich, dass sie vielleicht nach Seife schmecken würde oder dass Ricardo Salz statt Zucker genommen hätte.

„Die hättest du aber direkt nach dem Fertigstellen in den Kühlschrank stellen müssen, Ricardo.” Ich konnte mir es nicht verkneifen, zu mäkeln. „Und man bestäubt die Torte erst kurz vorm Servieren mit Puderzucker. So was muss man als Ehemann eines Chocolatiers doch wissen.” Ricardo nickte nur, er meinte, ich würde das nicht ernst meinen. Ich nahm mich ja auch selbst nicht wirklich ernst. Die Versuchung war zu groß, als dass ich hätte widerstehen können. Mein Zeigefinger verirrte sich kurz in der schneeweißen Creme und ich kostete. Wow! Besser als meine!

„Schmeckt’s?”, fragte Ricardo.

„Was denn?” Ich tat unschuldig wie ein kleines Kind.

„Dein Spiegelbild ist im Küchenfenster.” Da drehte er sich zu mir um und grinste. „Und deine Lippen haben eine verräterische, weiße Spur.”

Schnell ließ ich meine Zunge nach dem Rest der köstlichen Creme suchen, doch Ricardo tat Abhilfe, kam zu mir und ließ seine Zunge über meine Lippen gleiten, bevor sie in meinen Mund drang. „Du schmeckst nach Käsesahne-Creme”, kommentierte er. „Jetzt sieh zu, dass du das Loch wieder stopfst.”

„Mit Vergnügen”, sagte ich und lächelte schelmisch. Mit einem Messer kaschierte ich meine Fingerspur in der Creme. Backen war für mich eine mindestens genauso erotische Tätigkeit wie Pralinen machen und Ricardo vernaschen.

„Ist sie mir denn gelungen, Nicolas?”

Fairerweise hätte ich ihn in den Himmel heben müssen beziehungsweise in einem Outfit seiner Wahl die Wohnung putzen müssen, um mich anschließend zu vernaschen. Aber ich wollte nicht, dass mir mein Mann ernsthafte Konkurrenz beim Backen machte: „Etwas zu süß. Konsistenz aber meisterhaft.”

„Danke! Eigentlich solltest du die Creme, nicht mich bewerten”, bemerkte er, als er die Teigschlüssel abtrocknete. „Ich hab jetzt was gut bei dir.” Ricardo zwinkerte mir zu.

„So, was denn?”

„Nun ich habe gerade gebacken und der Küchenboden hätte es sehr nötig.”

Ja, ja, nicht der Küchenboden, sondern er hatte es nötig, geschrubbt zu werden der Lustmolch. Er räumte die Teigschlüssel in den Schrank, wischte die Spüle ab und sah mich dann nachdenklich an: „Komm, wir gehen mal zum Kleiderschrank.”

Ricardo war bei jeder Art von Vorspiel äußerst kreativ und konnte es richtig spannend machen.

„Hm … Sportklamotten vielleicht? Nicht schon wieder, brauche mal Abwechslung. Aber die Radlerhose hat was.” Ja, die Radlerhose, in der die Pobacken so gut zum Ausdruck kommen. Er hatte sie mir mal gekauft und ich wusste sofort, warum. Zum Fahrradfahren jedenfalls nicht. Ricardo legte nachdenklich seinen Finger auf den Mund, als er minutenlang in den Schrank spähte.

„Soll ich das Putzwasser schon mal machen?”

„Ja, kannst du!”

Er war kompliziert. Was er wohl aussuchen würde? Auf das Lederoutfit hatte ich heute keine Lust und auf den hautengen Latexanzug auch nicht. Doch was Seriöses? Ja, er ließ mich auch mal im Anzug, mit Krawatte, Designer-Hose und teuren Lackschuhen die Küche putzen. Wenn uns jemals jemand dabei beobachten würde … Aber wer weiß, was in den Wohnungen anderer Leute vor sich geht? Vielleicht gehört unsere Art von Vorspiel sogar zum Mainstream.

Im Bad ließ ich warmes Wasser in den Putzeimer laufen bis Ricardo plötzlich neben mir stand. Ich blickte neugierig auf die Klamotten, die er mitgebracht hatte.

„Oh, nur?”, fragte ich.

„Ja, passt heute einfach zu dir.” Er reichte mir eine zerschlissene, gebleichte Jeans, die an den Knien unsauber abgeschnitten war.

„Ich freu mich!”, sagte er. „Also, damit wir uns richtig verstehen, Nicolas: Nur die Jeans.”

Wenn Ricardo sagte, dass ich nur dieses Kleidungsstück anziehen sollte, dann war alles andere tabu, auch Unterwäsche. So was von versaut!

 

 

Ricardo

 

Ich bewunderte meinen Freund, der nur mit seiner zerschlissenen Jeans, Eimer und Schrubber bewaffnet, die Küche betrat. Der kleine Streit im Supermarkt war angesichts dieser erotischen Erfahrung vergessen. Ja, mit solchen Spielereien hielten wir unsere bis heute kurze Ehe frisch. Wie anmutig er sich beim Putzen bewegte, wie er sich bückte, so dass ich kurz drauf und dran war, ihm auf seinen ausdrucksstarken Hintern zu schlagen. Herrlich einladend! Und seine Figur, seine starke Brust, seine leicht muskulösen Arme, seine strammen Waden … Lecker! Man sollte nicht annehmen, dass er sich den ganzen Tag mit Schokolade beschäftigt. Na ja, er meinte ja selbst schon, dass er sie nicht mehr essen kann, seitdem er wirklich jeden und jeden Tag Pralinen und andere Köstlichkeiten zubereitet. Er wollte mir suggerieren, dass er seine neuesten Kreationen nicht vernaschte. Natürlich tat er das, was ich spätestens beim Küssen herausschmeckte. Trotzdem, die Naschkatze war ich, denn ich schlich mich oft am frühen Morgen in die Küche, um eine frisch gemachte Praline zu verzehren, deren Schokoüberzug noch warm war.

Schon nach drei Minuten Zuschauen fuhr meine rechte Hand unter meine Boxer Shorts und knetete meinen Schritt. Da kam Nicolas mit seinem nackten Oberkörper auf mich zu, sein Gesicht ganz nah an meinem und ich konnte in seine funkelnden, dunkelblauen Augen sehen. Mit seiner nassen Hand ging er verführerisch durch sein hellbraunes Haar, das nun völlig zerzaust und feucht war. Ich musste schlucken bei diesem Anblick. Nein, ich konnte nicht mehr an mich halten, ich stand auf, fasste Nicolas an seinen nassen Arm und zog ihn ins Schlafzimmer. Dass ich mit meinen Socken durch die triefende Küche gelaufen war, störte mich nicht, sie würden ja ohnehin gleich mit anderen Klamotten neben dem Bett liegen.

„Nimm die Torte mit!”, sagte Nicolas. „Frisch schmeckt sie am besten!”

So, da hatte mein Chocolatier wieder mal Sauereien im Kopf. So etwas war mir immer recht, aber nur unter der Bedingung, dass er die Betten nachher abzieht …

Die Sahne fühlte sich kalt auf meinem nackten Oberkörper an, die Nicolas mit seiner feuchten und warmen Zunge langsam von mir abschleckte. Kaum war er fertig, drehte ich ihn auf den Rücken, griff mit meiner rechten Hand in die Käsesahnetorte, die bereits verunstaltet auf dem Nachttisch stand und nahm etwas von der Füllung heraus. Ich streckte Nicolas meine Finger hin, die er alle sauber ablecken sollte. Ich spürte, dass in meinem Gesicht noch Sahnespuren waren und presste es auf Nicolas’ Brust, um sie dort abzuwischen. Er ging mit seinen sahnigen Händen in mein Haar und verteilte dort die süße Pracht.

Unser Vorspiel dauerte bis nach Mitternacht, bis ich endlich Nicolas’ Prügel ein Kondom überstülpte und davon die Sahnecreme abschleckte. Das Gleiche tat er dann auch bei mir. Es war himmlisch, wie seine Zungenspitze erst ganz sachte an meinem steifen Teil herumleckte und es dann vollständig in seinen Mund nahm.

Von diesem Moment an erinnerte ich mich immer, wenn ich eine Käsesahnetorte sah, an heißen Sex mit allen Sinnen, ja, ich bekam in Konditoreien beim Anblick dieser Torte sofort rote Ohren.

 

 

Nicolas

 

Der Ostersonntag begann mit einem ausgiebigen Frühstück. Nein, er begann damit, dass wir die Betten neu bezogen und darauf hofften, die Sahneflecken würden von unserer hellblauen Bettwäsche verschwinden. Wie gut, dass Ricardo keine Kirschen in die Käsesahne-Torte gemacht hatte. Rote Fruchtflecken gingen ja so gut wie gar nicht mehr raus.  

Nachdem ich die Betten abgezogen hatte, schlich ich mich in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Doch der Tisch war bereits üppig gedeckt: Warmer Kaffeeduft spazierte in meine Nase, ein Osterbrot mit Hagelzucker regte meinen Appetit an und zahlreiche bunt gefärbte Eier lagen auf dem schön gedeckten Tisch bereit. Ja, so war Ricardo, im Frühling schossen romantische Gefühle in ihm hoch.

Frisch geduscht und sehr adrett gekleidet betrat er die Küche. Er sah feierlich aus: Weißes Hemd und schwarze Hose, als wollte er nach dem Frühstück in die Kirche gehen. Ich hingegen stand mit Sahneflecken auf Shirt und Boxer Shorts am Tisch. „Ich mache mich auch schnell fertig”, sagte ich.

„Bleib doch! Ich sehe dich gerne in diesem lässigen Look.”

„Und ich dich gerne in weißem Hemd”, erwiderte ich und küsste Ricardo sanft auf seine Lippen, um dann meine Zunge in seinen Mund gleiten zu lassen. Während unseres innigen Kusses knöpfte ich sein Hemd bis zur Brust auf. „So gefällst du mir am besten”, bemerkte ich und streichelte sanft über seine leicht mit schwarzen Haaren gespickte Brust.

„Du bist hungrig”, stellte Ricardo fest. „Ich aber auch. Also lass uns das Osterbrot anschneiden!”

„Keinen Sex?”, fragte ich.

„Nach dieser Nacht? Ich habe gerade geduscht.”

„Es ist nur so … du siehst so scharf in deinem Outfit aus. Seriös, aber dennoch sexy.”

„Danke! Und ich würde dich gerne in deinen jetzigen Klamotten wieder putzen lassen. Aber besser wir vertiefen das Thema jetzt nicht.” Ricardo ging zum Tisch und schüttete jedem von uns beiden eine Tasse Kaffee ein. Ich setzte mich an den Tisch und mein Appetit war enorm, obwohl ich letzte Nacht die halbe Torte gegessen - nein, von Ricardos Körper geleckt! - hatte.

„Du wirst doch noch der perfekte Hausmann”, sagte ich, als er mir eine Scheibe Osterbrot gab. Das war so lecker! Innen waren gesüßte Nüsse eingearbeitet. Ich aß es am liebsten ohne Aufstrich.

„Mein Geschenk bekommst du erst morgen”, bemerkte Ricardo plötzlich. „Es lässt sich nicht verpacken. Ich lade dich nämlich zum Essen ein. Zu diesem sündhaft teuren Italiener. Ich habe schon vor Wochen reservieren müssen.”

„Doch nicht ins Pasta Royale?” 

„Genau das!” Wie krass! Ricardo würde mich in diesen Nobelschuppen einladen, der vor Dekadenz nur so strotzte. Kürzlich hatten sie dort die Türgriffe vergolden lassen, ja selbst die Toiletten sollen dort schon sehenswert sein. Ein Teller Spaghetti Carbonara soll besondere Gewürze enthalten, die ich zuvor noch nie gehört hatte.

Wieso musste er mir denn ein Ostergeschenk machen? Wir hatten uns noch nie zuvor an Ostern etwas geschenkt. Und nun saß ich da und hatte nichts. Natürlich konnte ich ihm eine Schachtel Pralinen aus meinem Laden schenken, aber das käme doof. Na ja, vielleicht würde mir auf unserem Vormittagsspaziergang über die Felder noch etwas einfallen.

 

Blauer Himmel, ein wenig frisch. Auf dem Osterspaziergang mit Ricardo sah ich schon den Grünschimmer in den Bäumen. Bald würden alle Blumen explodieren, in allen Farben. Und Ricardos Nase wird laufen, unentwegt würde er wieder Taschentücher verbrauchen anstatt einmal einen Allergietest zu machen. Ich liebte diese Jahreszeit, abgesehen von der triefenden Nase meines Freundes. Kaum waren wir wieder von unserem Morgenspaziergang zurückgekehrt, versprach mir Ricardo, dass er mir noch Eier verstecken wollte. 

„Welche?”, fragte ich und schloss die Haustür zum Treppenhaus auf.

„Ricardo!”, rief plötzlich eine angenehm weibliche Stimme. Sie kam von der anderen Straßenseite.

„Wer ist das?”, fragte ich. Ricardo erblickte die junge Frau mit wunderschön langen schwarzen Locken. Sie war etwas dunkelhäutig und ich schätzte, dass sie Spanierin war. Sie überquerte zielstrebig die Straße. In Ricardos Miene sah ich eine Mischung aus Erstaunen und Entsetzen. Seine Farbe wich aus seinem Gesicht, als hätte er den Leibhaftigen gesehen.

„Du?”, fragte er, als sie vor ihm zu stehen kam.

„Ja, ich. Frohe Ostern übrigens!”

„Gleichfalls”, gab er zurück.

„Ich bin Nicolas, sein Mann.” Ich reichte ihr meine Hand, sie legte ein herzliches Lächeln auf.

„Freut mich, ich bin Gabriela. Ja, Ricardo hatte schon immer einen guten Geschmack.”

Ich war geschmeichelt und kratzte mich verlegen am Hals. „Er hat bestimmt schon viel über mich erzählt.” Aha? Über sie? Bislang kam keine Gabriela in seinen Erzählungen vor. Der Name ist ja so selten und er wäre mir garantiert aufgefallen.

„Gabriela”, brachte Ricardo nur hervor. Was machte ihn nur so sprachlos? Und was hatte er mit dieser hübschen jungen Frau zu tun?

„Also, du hast deinem Mann nichts über mich und Julio erzählt?”, fragte sie Ricardo und ihre dunklen Augen weiteten sich. Ricardo schüttelte den Kopf.

„Nein …”

„Wer ist Julio?”, fragte ich und kniff Ricardo in seinen Arm. Er sollte endlich reagieren, schaute Gabriela aber immer noch an, als wäre sie eine gespenstische Erscheinung.

„Mein Sohn …”, antwortete Ricardo endlich. Sein was???

„Er sitzt drüben im Wagen”, sagte Gabriela.

Wer war jetzt sprachloser? Er oder ich?

 

 

Ricardo

 

Der kleine Julio. Mein Sohn. Als ich erfahren hatte, dass Gabriela von mir schwanger war, wusste ich mehrere Tage lang nichts mit mir anzufangen. Einmal nur hatte ich mit ihr geschlafen, ja nur ein einziges Mal. Und doch zeugten wir ein Kind. Unser Kind. Noch heute gebe ich meiner Mutter die Schuld für diesen Umstand, war sie es doch immer, die mich als heterosexuellen Mann an der Seite einer schönen Frau und mit einem Haus voller Kinder sehen wollte. Ich erinnere mich noch genau, wie sie scheinheilig immer gefragt hatte, ob denn Benjamin wieder zu mir komme. Ach ja, der Benjamin … 

Benjamin, der drei Jahre in meiner Stufe war, lernte ich erst im Kunstunterricht richtig kennen. Seitdem ich ihn das erste Mal bei einer Versammlung in der Aula sah, hatte ich bereits ein Auge auf ihn geworfen. Am Schulhof ertappte ich mich dabei, wie ich ihn immer wieder heimlich anhimmelte. Besonders fasziniert war ich von seinem blonden Haar: Im Winter dunkelte es leicht, im Sommer färbte es sich wie von Geisterhand heller. Und dann diese makellose Bräune, nicht zu viel, nicht zu wenig. Ich war sowohl bei Freunden als auch bei meiner Mutter ungeoutet, mein Vater war kein Thema, da er sie für eine andere Frau verlassen hatte, als ich fünf Jahre alt war.

Erst in der zwölften Jahrgangsstufe lernte ich Benjamin besser kennen, der es hasste, wenn man ihn „Benny” rief. Natürlich taten das dann einige seiner coolen Freunde erst recht. Meine Beine zitterten, als Benjamin sich eines Tages im Kunstraum neben mich setzte. Sein Duft, sein Duschgel, ich inhalierte es heimlich. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Es war Ende August, kurz nach den Sommerferien, in denen ich meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Ich war also im hochexplosiven Alter. Und dann Benjamin in seinem schwarzen Achselshirt, seinen blonden, schulterlangen Haaren und in hellgrüne Shorts und roten Sneakers, die mir sofort an ihm auffielen, neben mir. Während die junge dynamische Kunstlehrerin in ihrem Dia-Vortrag Naturbilder ihrer Urlaubsreise in der Toskana zeigte, die sie in ihrem konfusen Vortrag mit Goethes Farbenlehre in Verbindung brachte, saß ich so angespannt neben Benjamin, dass ich mittags mit einem verspannten Nacken und mit Kopfschmerzen zu kämpfen hatte. Mir war auch übel, mein Magen kribbelte, als hätte ich einen Ameisenhaufen verschluckt.

Das Gute am Kunstunterricht war immer, dass wir beim Zeichnen mit unseren Freunden und Mitschülern plaudern konnten. So kam ich mit Benjamin ins Gespräch, wir hielten erst etwas Smalltalk und als    wir uns dann dazu entschlossen, zusammen ein Referat in Kunst zu halten, schlug ich vor, dass wir uns ja nach der Schule bei mir oder ihm treffen konnten. Mir war lieber, dass ich mal bei ihm vorbeischauen konnte. Sein Zimmer würde mir einiges über ihn verraten. Und so kam es dann auch.

 

Als ich vor dem Haus seiner Eltern stand, wurde mir unbehaglich. Ich ging langsam durch den gepflegten Vorgarten und zwei Stufen bis zur Tür, traute mich aber nicht zu klingeln. Obwohl es ein kühler Novembertag war, begannen meine Hände zu schwitzen. Nicht auch das noch! Schwitzende Hände! Wie soll ich Benjamin denn nun begrüßen?, fragte ich mich. Ich wischte sie an meiner Jacke ab, holte tief Luft und klingelte.

„Hallo!”, begrüßte mich ein kleiner Junge, der mir die Tür öffnete. Er hielt zwei Spielzeugautos in der Hand und rannte durch den Flur.

„Darf ich reinkommen?”, fragte ich.

„Klar!”, rief er und machte Motorgeräusche, als er seine Autos über den Boden schnellen ließ.

„Ist Benjamin da?”

„Benny, Besuch für dich!”, schrie der Junge. Seine schreiende Stimme war Folter für meine Ohren. Benjamin kam in einem hellgrauen Jogginganzug und mit indigoblauen Turnschuhen die Treppe hinuntergerannt. „Oh, ich hab die Zeit verschwitzt. Komm ruhig hoch!”

Ich folgte Benjamin nach oben in sein Zimmer, das sehr geräumig war. Auf der einen Seite stand ein großes Regal mit Büchern, auf der anderen Seite stand sein Bett. Ein paar Kakteen zierten seine Fensterbank. In der Ecke des Zimmers stand ein Trimmrad. Daher also der Schweiß. Leider war meine Suche nach einem Männerposter oder irgendwelcher Boygroups vergebens. Also keine Hinweise darauf, dass er schwul ist. Allerdings hingen auch keine Bilder von Mädchen herum. Stattdessen fiel mein Blick auf seinen Monatskalender, der Pflanzenmotive aus der Froschperspektive zeigte. So groß war also ein rosafarbener Fingerhut für eine Ameise. Wieso kam ich bei dem Anblick dieser Pflanze auf erotische Fantasien? Oder war es Benjamins Gegenwart, seine Bewegung, wie er sich lässig mit einem Handtuch den Schweiß vom Kopf wischte?

„Du, kannst du kurz warten? Ich würde mich schnell noch duschen.”

Ich schaute ihn an, mein Mund stand offen. Benjamin in der Dusche!

„Oder hast du nicht so viel Zeit?”, fragte er nach.

„Doch, klar! Mach nur. Ich warte solange hier und räume      schon mal meine Tasche aus. Hab einiges im Internet über das Thema Exhibitionis ...”

„Exhibitionis …?”

„Äh … Ich meinte natürlich Expressionismus.”

„Obwohl, so gesehen ist ja beides Kunst. So, bin gleich wieder da!”

Wie peinlich mir das war! Ich legte meine Jacke und Tasche ab, setzte mich aufs Bett, strich über die gefaltete Bettdecke mit Sonnenblumenmotiven und roch daran. Benjamins Geruch! Wahnsinn!

Ich hörte Wasserrauschen. Nun, da er unter der Dusche stand, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, in seine Schreibtischschubladen zu schauen. Ich öffnete die erste von drei. Darin waren nur Notizzettel, seine Schrift konnte ich nicht entziffern. In der zweiten Schublade lagen gesammelte Ansichts- und Geburtstagskarten herum. Ich las aber keine davon. Die dritte Schublade offenbarte mir aber etwas sehr Spannendes und Aufschlussreiches. Zuerst sah ich das aktuelle Programmheft, darunter erspähte ich ein Gay-Magazin. Ja! Es war ja so einfach! Ich zog das Hochglanzmagazin heraus und versuchte möglichst wenige Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen. Ich blätterte darin herum und sah, dass Benjamin einen Sex-Test gemacht hatte: Wie gut bist du im Bett? 

Die Brause wurde abgestellt, ich schlug das Heft schnell zu und legte es wieder unter die Programmzeitschrift. Im Nachhinein war es nicht so tragisch, dass ich Benjamins Ergebnis nicht lesen konnte, denn wenig später war ich selbst derjenige, der seine Bettqualitäten beurteilen durfte. Da erschien Benjamin mit einem Badetuch um seinen Intimbereich und suchte Klamotten aus seinem Kleiderschrank zusammen … Ich bewunderte ihn dabei und für einen Moment war ich mir sicher, dass er bewusst vor meinen Augen halbnackt nach seinen Klamotten suchte … Krampfhaft wandte ich meinen Blick aus dem Fenster, um nicht als Spanner daneben sitzen zu müssen.

 

 

Nicolas

 

Gabriela musste ihren Sprössling mehrmals rufen, bis er endlich trotzig aus dem Auto stieg und ohne nach links oder rechts zu schauen, einfach die Straße überquerte. Na ja, Sprössling war nicht treffend, er war ja fast mit mir auf Augenhöhe. Wuchsen Teenies heutzutage schneller als ich früher? Ich meine, ich mit ein Meter achtzig bin auch nicht klein. Ich reichte Julio meine Hand, doch er behielt sie in seinen Taschen. Erschreckend war für mich, dass er im Gesicht Ricardo unheimlich ähnlich sah. Ein vertrautes Gesicht und doch fremd. Wie konnte Ricardo ihn mir all die Jahre verschweigen?

„Du hast aber früh angefangen”, flüsterte ich Ricardo mahnend zu.

„Gabriela auch”, erwiderte er leise.

„Sag ,Hallo’, Julio!”, forderte Gabriela ihren Sohn auf.

„Hallo Julio!” Julio scheute Blickkontakt und starrte nur auf seine Schuhe mit den offenen Schnürsenkeln. Plötzlich fummelte er in seiner Hosentasche, zog seinen MP3-Player raus und steckte sich Kopfhörer in die Ohren.

Gabriela lächelte uns entschuldigend an: „Ja, das Alter.”

„Was wollt ihr eigentlich?”, fragte Ricardo.

„Ich versuche dich seit zwei Tagen zu erreichen. Aber niemand geht bei euch ans Telefon.”

So gingen wir in unsere Wohnung und machten es uns im Wohnzimmer gemütlich. Gabrielas Blick wurde ernst, fast traurig, als sie von ihrer kranken Mutter in Brasilien erzählte. Sie hatte vor drei Tagen einen heftigen Schlaganfall im Supermarkt erlitten und sei halbseitig gelähmt. „Nun braucht sie mich. Ich bin ihre einzige Tochter und ihre zwei älteren Schwestern, die dort leben, sind auch krank. Ich würde, nein, ich muss so schnell wie möglich zu ihr.”

„Willst du sie pflegen?”, fragte Ricardo. Julio bekundete sein Desinteresse, indem er die Lautstärke seiner Kopfhörer lauter drehte. Er saß isoliert auf der anderen Seite der Couch und wippte mit seinem Kopf zur Musik. Ich richtete meine Aufmerksamkeit nicht nur auf Gabriela, sondern auch auf Julio und dachte darüber nach, wie ich einen Draht zu ihm herstellen konnte. Für mich war es sehr befremdlich, ja fast unheimlich, welches riesige Maß von Desinteresse Julio Ricardo entgegenbrachte, seinem leiblichen Vater, nach dem er doch bestimmt mal gefragt hatte. Ich an seiner Stelle wäre neugierig, wie mein Papa aussehen, wie er leben würde. Ich fragte mich, ob ich in dem Alter auch so war. Nein, bestimmt nicht. Ich hätte mir diese kleinen schwarzen Kopfhörer nicht so tief in meinem Gehörgang gesteckt, weil ich viel zu lärmempfindlich war. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch zwischen Ricardo und Gabriela.

„Ja, sie akzeptiert keine fremde Hilfe. Und Familie bedeutet bei uns sehr viel. Sie hat sich um mich gekümmert, hat mich und Julio über Jahre hinweg finanziert, weil ich Ricardo nicht belasten wollte.”

Ich ahnte es schon: Sie will uns Julio aufs Auge drücken!

„Ich will Julio nicht nach Brasilien mitnehmen, er soll hier weiterhin zur Schule gehen.”

Ich sah in Ricardos Gesicht, dass er überhaupt nicht damit einverstanden war.

„Hast du keine Alternative? Ne gute Freundin vielleicht?”

„Leider nicht. Wenn Julio hier bei euch wohnen könnte, dann hätte er bis zu seiner Schule sogar eine noch kürzere Busfahrt. Das wäre ideal. Und Ricardo, du bist sein Vater.”

„Und kann er nicht zu seiner Oma?”, fragte Ricardo. Wie blöd!

„Seine Oma ist zufälligerweise meine Mutter, die im Pflegebett liegt, du Esel. Und ich glaube nicht, dass ich deine Mutter fragen sollte, oder?”

 

 

Ricardo

 

Nein, meine Mutter zu fragen, wäre die schlechteste Idee überhaupt. Ich hatte sie nie davon in Kenntnis gesetzt, dass ich Gabriela geschwängert hatte … Sehr wohl wusste sie aber davon, dass sich an jenem Nachmittag, an dem ich Benjamin zum ersten Mal zu Hause besucht hatte, eine Beziehung zu einem gleichaltrigen Mann anbahnte. Benjamin, der sich nach dem Duschen ein Shirt und eine kurze Hose anzog, breitete auf seinem Zimmerboden all seine gesammelten Unterlagen aus. Wir saßen lange Zeit nebeneinander, ich betrachtete immer wieder seine nackten Arme, Beine und Füße. So schön! Anstatt zu lernen, lästerten wir über Lehrer und Mitschüler. Bis ich ihm die Frage stellte, ob er eine Freundin hatte. Ein Treffer, denn Benjamin wurde rot und kratzte sich verlegen am Kopf.

„Na ja … ich … ich mag Mädchen nicht. Also nicht im Bett.” Jetzt wurde er noch roter, so dass ich kurz Angst bekam, er würde einen Herzinfarkt bekommen. Ich lächelte ihn an:

„Ich verstehe. Na und? Das ist doch heutzutage nicht weiter schlimm!” Ja, ich war absolut feige! Er outete sich und ich gab so einen diplomatischen Kommentar ab.

„Wissen deine Eltern davon?”

Benjamin schüttelte nur den Kopf. „Ne, ich war mir bis vor kurzem selbst nicht sicher. Aber seit … Ne, du, wir sollten mal langsam mit dem Referat anfangen.”

Wie doof! Jetzt lenkte er ab und wirkte sehr angespannt.

„Mir kannst du es ruhig anvertrauen, wenn du auf einen Mitschüler stehst. Ich tratsche es auch nicht weiter. Ich … also … ich bin selbst schwul.”

Benjamin schaute mich eindringlich an: „Also doch! Ich habe das die ganze Zeit irgendwie gemerkt. Du hast mich im Kunstunterricht oft angeschaut. Zwar nur verstohlen, aber ich hab das gemerkt.”

Nun wurde ich rot.

„Braucht dir nicht peinlich sein, im Gegenteil.” Da zog Benjamins rechte Hand meinen Kopf zu sich und legte seine warmen, feuchten Lippen auf meine. Seine Zunge ließ nicht lange auf sich warten. Oh nein!, dachte ich, mein erster Zungenkuss! Ich hatte das zuvor niemals ausprobiert. Doch das war auch nicht nötig, es ging von ganz allein, ich brauchte nicht viel machen, außer meine Zunge in seinen Mund zu schieben und seinen nach Pfefferminzgeschmack riechenden Mund zu erforschen. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf seine gelenkige Zunge, auf seine glatten Zähne und seine Lippen. Meine Hand wanderte zu seinem Nacken, ich streichelte sein immer noch feuchtes, blondes Haar. Währenddessen pulsierte mein Schwanz in meiner Hose und als wir nach unserem ersten Kuss voneinander abließen und uns nur in die Augen sahen, konnte ich eine deutliche Beule unter seiner kurzen Hose ausmachen.

„Geil”, bemerkte ich.

„Aber echt!”

Müsste ich jetzt mit ihm schlafen? Das wollte ich gar nicht ansprechen, obwohl ich absolut spitz war. Aber die Angst davor war mir zu groß und es war noch alles zu frisch, zu neu. Ich musste sein Bekenntnis und unseren Kuss erstmal verarbeiten.

Wir plauderten noch eine Weile, nur nicht über unser Unterrichtsthema. Das vertagten wir auf den nächsten Nachmittag. Bei mir. Doch auch dann schien uns alles andere wichtiger. Es ging weniger um die Kunst der Malerei, nein, es ging mehr um unsere Leckkünste und den Geschmack von salziger Haut. Obwohl ich wieder alles vorbereitet und meine Materialien sauber zurechtgelegt hatte, konzentrierte ich mich wieder mehr auf Benjamin und seinen Körper. Wir zogen uns bereitwillig unsere Pullis aus und erforschten mit Finger und Zunge unseren nackten Oberkörper. Benjamin saugte dabei zuerst an meinen Brustwarzen und dann an meinem Hals. Letzteres hinterließ seine Spuren, wofür meine Mutter dann beim Abendbrot einen Blick hatte: „Du hast einen Knutschfleck!”

Mir war das unangenehm. Sie konnte sich ja zusammenreimen, dass ich ihn nur von Benjamin haben konnte, denn bevor er am Nachmittag zu mir kam, hatte ich noch keinen. Ich saß ihr beim Abendbrot schweigend gegenüber, während sie mich musterte und mit ihren schwarzen Locken spielte. Sie schob ihre Brille zruecht und fragte, ob ich nicht bald einen Tanzkurs belegen wollte, damit ich beim Abi-Ball mit einem Mädchen tanzen konnte.

„Diese Gabriela ist doch sehr hübsch”, meinte meine Mutter. Dabei hatte sie sie nur einmal bei einer Stufenversammlung flüchtig gesehen. „Hat sie denn einen Freund?”

Ich zuckte mit den Schultern.

„Und dieser Blonde, der heute hier war. Hat der ne Freundin?”

„Nein, hat er nicht.”

„Er ist sehr hübsch.”

Worauf wollte sie hinaus? Sie traute sich nicht, mich direkt zu fragen, ob ich den Knutschfleck von ihm hatte. Nein, sie wirkte unbeholfen. So konnte das Gespräch nicht weitergehen.

„Benjamin ist der hübscheste Junge unserer Stufe”, bemerkte ich. Nun sollte sie genug Infos haben.

„Ich würde mich sehr freuen, beim Abi-Ball Gabriela an deiner Seite zu sehen. Sie stammt aus gutem Haus, ist gepflegt und hübsch.”

„Das trifft auch alles auf Benjamin zu”, konterte ich. Da sah sie mich scharf an.