Alfred Wolfenstein (1883–1945)

(Foto unbekannt)

ALFRED
WOLFENSTEIN

LESEBUCH

Herausgegeben und mit einer Einführung
versehen von Bernhard Spring

mitteldeutscher verlag

Literatur aus Mitteldeutschland
Band 3

Die Veröffentlichung wurde
durch das Land Sachsen-Anhalt gefördert

INHALT

Cover

Titel

Vorwort

Einführung

I »Musik nicht will ich machen«
Frühe Gedichte

Die gottlosen Jahre

Im Zimmer

Veränderung

Spät im Jahr

Jetzt

Knabennacht

Immer wieder

Städter

Unten

Leidendes Wohnen

Hinterm Fenster

Erste Nacht

An eine oder alle

Zwischen den Lieben

Der Jude

II »Einen ganzen Waldgeruch habe ich hier«
Erzählungen

Der Baum vor dem Hause

Die Schuld

Die Frau

Ein Engel

Die künstliche Liebe

Die beiden Seen

Mörderische Reklame

Unter den Sternen

Die Schildkröte

III »Mitten in dem dunklen Regen«
Späte Gedichte

An Alia

Verbunden

Zwischen den Orten

Mädchen

An G.

Frau

Eine Mutter: achtzig Jahre alt

An die junge Gestalt

Für Carl v. B.

Schlaf

Nacht des Verbannten

An Die von 1914

Das Herz

Die Friedensstadt

Sommer

Europaflucht I (1938)

Exodus 1940

Ein Häftling schreibt

Trennungen in dieser Zeit

Unser Sohn

IV »Die Freundschaft überlebt die Freunde«
Essays und Aufsätze

Alfred Wolfenstein

Toast auf die Damen

Von der Dichtung der Juden

Freundschaft

Die Gefährlichkeit des Buches

Interview mit Lyrik

Letzte Begegnung mit Franz Kafka

In Europa!

Deutsche Schriftsteller – Kader der Erziehung

Lebensdaten und Werk

Quellenvermerk

Impressum

Endnoten

VORWORT

Da Alfred Wolfenstein schon zu Lebzeiten hauptsächlich als Lyriker große Popularität genoss, ist seinen Gedichten auch in diesem Lesebuch ein großer Raum vorbehalten worden. Wichtig erschien mir trotz der von Wolfenstein immer wieder aufgegriffenen Themen und der nahezu unveränderten Symbolik eine augenscheinliche Trennung der frühen Gedichte von den späteren. Das erste Kapitel der vorliegenden Sammlung enthält somit ausschließlich Texte aus Wolfensteins erstem Gedichtband Die gottlosen Jahre, während das dritte Kapitel eine Auswahl der in Die Freundschaft veröffentlichten Gedichte und späterer Texte vereint.

Aber auch andere Textsorten wurden bei der Zusammenstellung dieses Bandes berücksichtigt. So finden sich im zweiten Kapitel einige sehr unterschiedliche Erzählungen Wolfensteins, und das vierte und letzte Kapitel vereint eine Auswahl aus Wolfensteins essayistischem Schaffen.

Auf die Aufnahme von Dramen und des Roman Frank in das Lesebuch wurde hingegen verzichtet. Dies geschah mit Rücksicht auf den Autor: Als Dramatiker war ihm kein Ruhm beschieden, seine Stücke fielen sowohl beim Publikum als auch in der Kritik durch. Sie hier erneut zu veröffentlichen, hieße, dem Autor einige kleine literarische Fehltritte nachträglich vorzuhalten und von seiner eigentlichen Größe abzulenken. Der Roman Frank hingegen ist ein Fragment geblieben. Da der Autor selbst keine zum Abdruck autorisierte Fassung dieses Werkes hinterließ, möchte ich mich nicht erdreisten, das Unvollendete als Vollendetes zu präsentieren.

Wenn der geneigte Leser dennoch Interesse an den hier nicht berücksichtigten Texten haben sollte, so sei ihm die vollständig erschienene Werkausgabe anempfohlen.

Bernhard Spring, September 2011

EINFÜHRUNG

Leben und Werk des Schriftstellers Alfred Wolfenstein (1883–1945)

Ein Essay

»Ich begegnete Wolfenstein zum ersten Mal im Jahre 1911 in Berlin«, erinnerte sich der Schriftsteller Egmont Seyerlen. »Vor mir stand eine große Gestalt mit vollem dunklem Haar, sehr lebhaften, dunklen Augen und einer auffallend spitzen Nase. Noch auffallender war die leise, sehr eindringliche Stimme. Die Augen waren durch eine schwarzumrandete Brille geschützt; wenn AW sie abnahm, schloß er die Augen; sie waren kurzsichtig.«1

Alfred Wolfenstein gilt als »eine der seltsamsten und problematischsten Nebenfiguren des Expressionismus, einer Bewegung, der es wahrlich nicht an Vielfalt und Eigenart gefehlt hat«.2 Zwischen den Weltkriegen vor allem als Lyriker zu großer Bekanntheit gelangt, geriet Wolfenstein nach seinem Tod im Jahr 1945 schnell in Vergessenheit. Während frühere Weggefährten wie Rainer Maria Rilke, Johannes R. Becher oder Hermann Hesse zu Klassikern der Moderne erhoben wurden, blieb dem »Freiheitsdichter«3 Wolfenstein diese nachträgliche Anerkennung seines Schaffens verwehrt.

Alfred Wolfenstein ist heute somit in erster Linie ein vergessener Dichter, den es dennoch wiederzuentdecken lohnt, da er einer der bedeutendsten Lyriker des späten Wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik war, der die Widersprüche seiner bewegten Zeit lebte und in seinem vielseitigen Werk auszudrücken wusste. Wolfenstein war der Berliner Großstadtdichter aus der Provinz, der Dramatiker ohne Bühne, ein Übersetzer, Theoretiker und Erzähler mit Visionen. Er verstand sich als einsamer jüdischer Künstler, als idealistischer Pazifist, als Europäer auf der Flucht durch Europa. Vor allem aber war Wolfenstein ein fantastischer Zukunftsoptimist, ein Humanist, der Menschlichkeit und Fortschrittsglaube verkündete und dabei doch »einen von persönlichen Alpträumen überschatteten Weg« ging.4

***

»Geboren wurde ich an vielen Tagen«, heißt es in Wolfensteins Selbstbiografie. Tatsächlich lässt sich der Lebensweg des Dichters schwer erfassen, denn er selbst schreibt ihn mehrmals um, lügt unangenehme Details weg, kaschiert und erfindet, bis er zuletzt zu einem idealisierten Lebensentwurf kommt, der nichts mehr mit seiner Herkunft zu tun hat.

Alfred Wolfenstein wird am 28. Dezember 1883 in Halle geboren. Die Eltern Heymann und Klara gehören dem Kaufmannsstand an und sind um 1875 aus dem posischen Schtetl Obersitzko (poln. Obrzycko) in die Saalestadt gekommen. Inmitten des Gründerkrachs. Heymann Wolfenstein macht als Herrenausstatter und Vermieter bankrott, Alfred erlebt eine Kindheit in Armut und ständiger Existenzangst.

1889 siedelt die Familie nach Dessau um, wo sich Heymann im Möbelgeschäft versucht. Das Geld für den Neubeginn stammt wahrscheinlich von Verwandten. Der alte Wolfenstein als jüdischer Aufsteiger aus der östlichen Provinz, als Stehaufmännchen, als Verlierer der Wirtschaftskrise, vielleicht auch mit ein wenig mangelndem Geschick. 1890 stirbt er im Alter von gerade einmal 54 Jahren.

Der erste Riss in Wolfensteins Biografie. Das Geld ist von nun an permanent knapp. Die Mutter leitet zwar nach wie vor das Möbelgeschäft der Wolfensteins, aber die Gewinne sind spärlich. Sie muss Untermieter aufnehmen, Stunden geben, immer wieder sparen.

Die Kinder sollen es einmal besser haben. Der Aufstieg in die gutbürgerlichen Sphären wird nach wie vor angestrebt. Umso bedeutender ist die Ausbildung von Alfred und seiner drei Jahre jüngeren Schwester Sofie. Es winden sich die Zwänge und Nöte des Bildungsbürgertums. Alfred Wolfenstein hasst den Schulbetrieb, hasst es, als Jude gehänselt zu werden. Irgendwann findet er sich mit der Außenseiterrolle ab. Ein ruhiger Junge mit schwarzem Haar, seltsamen Augen hinter der dicken Brille. Diese äußere Fassade bleibt ihm ein Leben lang: »Wolfenstein war groß, mit blassem, gutgeschnittenem Gesicht, glattem, schwarzem Haar und dunkel gerahmter Brille. Er sah aus, wie ein Dichter aussieht.«5

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Die Risse bleiben. Ohne männliches Oberhaupt ist die Familie unvollständig im biederen Kaiserreich. Das Geld bleibt zudem knapp, sodass von einem Aufstieg nur geträumt werden kann. 1899 wird Wolfenstein vom Herzoglichen Friedrichs-Gymnasium in Dessau genommen, um eine Lehre im Holzhandel aufzunehmen, damit er die Mutter als Alleinverdienerin entlasten kann. Der Junge wird jäh aus der Welt der Träume und Bücher herausgerissen, ist »todunglücklich«, aber fügsam.6

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Wolfenstein beginnt zu dichten, irgendwo draußen auf dem Holzplatz von Dessau. Was er schreibt, zeigt er nur selten anderen, das meiste vernichtet er wieder. Die Mutter duldet das literarische Interesse ihres Sohnes, immerhin zeugt es von bürgerlichem Kulturverständnis und gefährdet ihre Pläne nicht. Diese offenbaren sich um 1901. Klara Wolfenstein hat erfolgreich den Kontakt zu Berliner Verwandten hergestellt. Bei ihnen darf Alfred wohnen, in Berlin das Askanische Gymnasium besuchen. Bis 1905 lebt Wolfenstein getrennt von Mutter und Schwester, lernt strebsam und wohl auch ein wenig gedankenverloren, realitätsfern. Er ist durch seine zwischenzeitliche Ausbildung älter als seine Mitschüler, zudem wurde er um ein paar Jahre zurückgestuft. Aus Scham lügt er sich fünf Jahre jünger, gibt sein Geburtsjahr mit 1888 an. »Geboren wurde ich an vielen Tagen …«

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1905 als die große Wende im Leben des jungen Wolfenstein: das Abitur, danach das Studium, Jura, auf Wunsch der Mutter. Wie sonst kann ein deutscher Jude in der starren Gesellschaft des Wilhelminischen Kaiserreichs zu Ansehen gelangen? Jura also.

Klara Wolfenstein hat geschickt ein Netz von Förderern und helfenden Verwandten geknüpft, und so studiert Alfred für ein paar Semester in Berlin, in Freiburg im Breisgau, in München und auch in seiner Geburtsstadt Halle. Das Vorlesungshonorar wird ihm gestundet, teilweise bezahlt er es nie.

Besonders in Halle wird ihm das Studium verleidet, denn im nahen Dessau lebt ja die übergroße Mutter mit ihren Ambitionen. Verschärft wird der unausgefochtene Konflikt zwischen Mutter und Sohn nach 1909, als Klara Wolfenstein samt Tochter zu Alfred nach Berlin zieht und seinen Werdegang aus unmittelbarer Nähe erlebt und kommentiert. Wolfenstein arbeitet als Referent bei Gericht, doch die Promotion lässt auf sich warten. Viel lieber flieht Wolfenstein aus den beruflichen Zwängen und der häuslichen Enge in die Natur, macht ausgedehnte Spaziergänge und schreibt.

Klara Wolfenstein

(© Akademie der Künste, Berlin, Alfred-Wolfenstein-Archiv)

Anmeldebuch Alfred Wolfensteins
an der Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg

(© Universitätsarchiv Halle: Rep. 39 Nr. 318)

Klara Wolfenstein äußert ihren Verdruss über den säumigen Sohn in literarischer Form: »Wer sieben Jahr / Referendar, / der ist fürwahr / ein Jubilar.«7

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Wolfensteins Weg zur Literatur liegt im Dunkeln. 1910 erscheint eine erste Rezension im »Blaubuch«, 1911 übersetzt er Ernest Feydeaus Roman Fanny aus dem Französischen. Eigene literarische Texte erscheinen ab 1912 in Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion.

Im Jahr darauf wird Wolfenstein von Max Brod in dessen »Jahrbuch für Dichtkunst« Arkadia aufgenommen. Er rangiert dort zwischen Kafka und Tucholsky, Franz Werfel und Robert Walser.

Dann tritt unmittelbar ein erster Erfolg ein: Robert Musil vermittelt den jungen Wolfenstein an den S. Fischer-Verlag, der 1914 den Gedichtband Die gottlosen Jahre veröffentlicht. Über Nacht wird Wolfenstein zum Wortführer einer ganzen Generation. Aber was hat er zu sagen? Die stark biografischen Texte thematisieren Einsamkeit inmitten von Menschen, Verunsicherung und Beklemmung in geschlossenen Räumen, Kaltherzigkeit, Abscheu vor Körperlichkeit, Selbstzweifel, Frauenhass. Das Leben in der Stadt, in der Anonymität der Masse, das Leben mit Mutter und Schwester, eingeengt in eine ungeliebte Laufbahn. Wirre Träume und Visionen einer brüderlichen Welt. Der Kritiker Rudolf Kayser schreibt von »redlichen Projektionen einer tiefst empfundenen Hirnlichkeit«, die »einen jeden von uns bedrängen«.8

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Alfred Wolfenstein als gefeierter Jungautor des Expressionismus. Ausdruck mit allen Mitteln gegen die starre traditionelle Literatur. Revolte der Bürgersöhne gegen das Bürgertum, gegen dessen überholte Werte, gegen dessen fadenscheinige Moral. Sprachexperimente bis zum Nonsens. Sprachgewalt.

Und Wolfenstein? Provoziert »redlich«, mokiert sich aber nicht. Er träumt. Sprachlich hingebungsvoll, doch weniger brutal wie etwa Gottfried Benn oder Else Lasker-Schüler. Vielmehr leuchten bei Wolfenstein die bürgerlichen Vorbilder durch, ein Stefan George etwa oder Rilke, Hugo von Hofmannsthal. Wolfenstein ist ein bedingter Expressionist, viel eher ein stilmischender Individualist.

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Die Weggefährten: Vergeblich die Suche nach dauerhaften Kameraden Alfred Wolfensteins. In Berlin schloss er sich den Expressionisten um Kurt Hiller und Franz Pfemfert an, in München klüngelte er mit Johannes R. Becher, mit Rainer Maria Rilke und Ernst Toller. Oskar Maria Graf aber will ihn nur flüchtig gekannt haben, Robert Musil und Marta Feuchtwanger wissen nur Anekdoten über Wolfenstein zu berichten. Die Beziehung zu Else Lasker-Schüler ist unklar, ebenso die Kontakte zu Thomas Mann, Gottfried Benn, Kafka und Hesse. Wolfenstein kannte sie alle persönlich und wurde doch von niemand gekannt. Er vermied die Gruppierungen, zog sich zurück, wo es ihm zu eng wurde. Ein geübter Außenseiter.

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Henriette Hardenberg, München, 1918

(Aus: Henriette Hardenberg: Südliches Herz. Nachgelassene Dichtungen.
Hg. v. Hartmut Vollmer. Zürich, 1994. S. 2)

Rainer Maria Rilke begegnet Wolfenstein erstmals im Frühjahr 1914, im Haus des Fischer-Verlages. Beide Literaten stehen seit mindestens vier Jahren in regem Briefkontakt und tauschen Bücher und Manuskripte aus.

Im Herbst 1916 besucht Rilke eine Lesung Wolfensteins in München, zwei Jahre darauf liest Rilke aus Wolfenstein-Texten während eines geselligen Abends in seiner Privatwohnung. 1919 nimmt Wolfenstein vier Gedichte Rilkes in sein Jahrbuch Die Erhebung auf. Im Mai 1925 besucht Wolfenstein den schwerkranken Dichter für ein paar Tage in Paris.

Doch diese Bekanntschaft ist kaum von Produktivität geprägt. Außer ein paar freundlichen Worten ist nichts überliefert.

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Er sei mit ihm verwandt gewesen, erklärt Alfred Kantorowicz, aber »wir sind uns nur hin und wieder begegnet«.9 Er wünsche sich, dass in Wolfensteins Geburtsstadt Halle doch ein Straßenzug nach dem Dichter benannt würde. Dies geschieht am 15. September 1945.

Ein seltener Satz: »Ich war mit Wolfenstein, einem der reinsten und edelsten Menschen und Dichter, die ich je gekannt habe, seit unsern gemeinsamen literarischen Anfängen eng befreundet …« Er stammt von Rudolf Leonhard.10

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Wie wurde Wolfenstein zum Schriftsteller? Völlig unklar. Die – wie auch immer zustande gekommenen – Kontakte zur Berliner Kultur befördern seinen Aufstieg, seine erste Buchveröffentlichung. Dieser Erfolg sichert Wolfenstein den Austritt aus der von der Mutter ersehnten Juristenlaufbahn.

Ebenfalls 1914, zeitgleich mit seiner ersten Buchveröffentlichung, lernt Wolfenstein die Anwaltstochter Margarete Rosenberg kennen. Zwei Jahre darauf heiratet er die gut zehn Jahre jüngere Schriftstellerin, die unter dem Pseudonym Henriette Hardenberg gelegentlich Gedichte veröffentlicht.

Mit der Heirat signalisiert Wolfenstein der Mutter endgültig, dass er mündig geworden ist. Er fordert stumm Freiheit von ihr. Doch wieder bleibt der Konflikt unausgesprochen. Das junge Paar siedelt einfach nach München über und entgeht der Mutter Wolfenstein.

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»München leuchtete«, lässt Thomas Mann seine Novelle Gladius Dei (1902) beginnen. Hier, am Ufer der Isar, lebt die revolutionäre Kultur. Brecht. Feuchtwanger. Rilke. Oskar Maria Graf. Gustav Landauer, Ernst Toller. Und nun auch Wolfenstein, der in München begeistert empfangen wird: »Wir Beiden, o wir können Tausende in Brand setzen«, ruft etwa Becher entzückt aus.11

Vordringlichste Frage für Wolfenstein ist die gesellschaftliche Bedeutung der Literatur. Inmitten des Weltkrieges plädiert er für Völkerverständigung, Brüderlichkeit und Sinnlichkeit. Wolfenstein vertritt diese Forderungen bereits 1915 im »Aufbruch«-Kreis um Kurt Hiller und auch in der Novelle an die Zeit (1915) – einem der ersten expressionistischen Texte gegen den Krieg.12

Umfangreicher äußert sich Wolfenstein in einem zweiten Gedichtband, Die Freundschaft geheißen, zur grausigen, erdrückenden Gegenwart und dem zu beschreitenden Weg in eine humanere Zukunft. Doch den Gedichten haftet etwas Melancholisches an, das den zum Ausdruck gebrachten Zukunftsoptimismus konterkariert. Wolfensteins Träume von der Revolution platzen bereits vor der Revolte.

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Bürger Wolfenstein. Am 4. November 1916 wird Henriette Hardenberg und Alfred Wolfenstein ein Sohn geboren, Frank Thomas. Anlässlich der Geburt sind die werdenden Eltern für einige Monate nach Berlin gereist, haben die Nähe zu den eigenen Eltern gesucht.

Nun droht also Wolfenstein, ein Vertreter desselben bürgerlichen Lebens zu werden, zu dem ihm seine Mutter immer erziehen wollte. Zur selben Zeit erlangt Wolfenstein seinen Doktorgrad und hat nun endlich seine akademische Laufbahn abgeschlossen.13 Droht nun tatsächlich das bürgerliche Leben mit seiner Enge?

»Ein Söhnchen ist erschienen (ich habe mehr die Empfindung, es sei ein kleiner Bruder)«,14 schreibt Wolfenstein dem befreundeten Schriftsteller Gottfried Kölwel. Die Vaterrolle lehnt er ab, sie ist ihm zu bürgerlich und auch zu fremd. Immerhin erlebte er den eigenen Vater kaum.

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Die Münchener Räterepublik. Ausnahmezustand in der allgemeinen Orientierungslosigkeit. Der Krieg ist verloren, das Reich teils besetzt, teils abgetreten. Der Kaiser ist zum Abdanken gezwungen worden, mit ihm verschwindet der gesamte Adel aus deutschen Landen. Die Deutschen als schuldiges Tätervolk, wirtschaftlich ruiniert.

Es beginnt der Wettlauf der Systeme: Welche Staatsform soll die Monarchie ablösen? In München gewinnen für kurze Monate die Linken die Oberhand. Eine bunte Mischung aus Kommunisten, Sozialisten, Fantasten, Sozialdemokraten, Anarchisten, Antimonarchisten und namenlosen Sympathisanten. Der Schriftsteller Ernst Toller versucht, staatliche Strukturen aufzubauen, ihm zur Seite steht ein »Rat der geistigen Arbeiter«, in dem Rilke vertreten ist, Becher, Graf, Erich Mühsam, Landauer – und Alfred Wolfenstein. Die Bürgersöhne zeigen sich begeistert von der Sache der Proletarier, drucken Pamphlete und Flugschriften, bleiben den Arbeitern im Grunde aber wesensfremd und über deren eigentliche Bedürfnisse »maßlos erstaunt«.15

Alfred Wolfenstein mit Sohn Frank, München,
Frühjahr 1919

(© Akademie der Künste, Berlin, Alfred-Wolfenstein-Archiv)

Bald hat sich das revolutionäre System erledigt und wird von Reichstruppen zerschlagen. Nun herrscht die Zeit der Vergeltung. Auch Wolfenstein wird von einer Bürgerin denunziert, da er propagiert haben soll: »Wenn Christus heute lebte, würde er wie jeder anständige Mensch Kommunist sein.« Wolfenstein wird gefangen genommen und bald wieder von einem Offizier, der ihn schätzt, laufen gelassen.16 Die linke Revolution und mit ihr das Münchner Kulturleben sind zu Ende.

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Wolfenstein aber findet keinen Neuanfang. Er wird mit seinem Jahrbuch Die Erhebung zum Chronisten der Revolution und des jugendlichen Zeitgefühls. Alfred Döblin, Franz Werfel, Ernst Bloch, Paul Zech, Rilke und Becher steuern Texte für Wolfensteins Projekt bei, das bereits im zweiten Jahrgang wieder eingestellt wird. Es stößt auf geteiltes Echo, doch die Aussagekraft der Sammlung wird nicht angezweifelt, auch nicht von dem ablehnenden Arnold Zweig: »Alles Gute, das wir erstrebt oder geleistet haben, ist einfach verschüttet vom Wust des dilettantischsten, gesinnungsvollsten Geschmackes, das je für Dichtung ausgegeben worden ist.«17

Das Jahr 1919 wird zur Zäsur im Leben und Werk Alfred Wolfensteins. Die Revolution ist endgültig gescheitert, Ernst Toller verhaftet, Gustav Landauer ermordet. Wolfenstein wendet sich von der Lyrik ab, findet nur noch vereinzelt zu seiner dichterischen Größe zurück.

Stattdessen steigert sich Wolfenstein in die Verehrung der Jugend hinein, des Aufbruchs, des Wandels, hält an seinem leicht expressionistischen Stil fest und verweigert sich jeder Umorientierung.

Zudem häufen sich alltägliche Probleme. Die Inflation der Nachkriegszeit setzt die Künstler unter wirtschaftlichen Druck. Die Hardenberg sucht Trost und Abenteuer außerhalb der Ehe mit dem sexuell eher weniger interessierten Wolfenstein. Er duldet ihre Affären zähneknirschend, erträgt sie – und meidet erneut den Konflikt.

***

Eine unruhige Zeit beginnt. Wolfenstein pendelt zwischen München und Berlin, gewinnt Abstand zu den politischen Ereignissen in Süddeutschland, lernt ein zweites Mal die Kulturmetropole Berlin kennen. Während Johannes R. Becher monatelang in Wolfensteins Münchener Wohnung haust,18 findet dieser Anschluss an die Literaten um Carl von Ossietzky, den Herausgeber der Weltbühne. Klabund und Kästner also, Alfred Polgar, Walter Mehring.

Privat verkehrt Wolfenstein mit dem »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch und dem Ehepaar Claire und Yvan Goll. Man gibt sich weltgewandt und auch ein wenig altklug. Die Zeiten werden langsam verklärt goldener, aber immer noch ist das Künstlerleben ein Drahtseilakt.

Wolfenstein übersetzt, um sich wirtschaftlich zu halten. Er überträgt Gérard de Nerval, Molière und Victor Hugo aus dem Französischen, Percy B. Shelley, den Nobelpreisträger Eugene O’Neill und Edgar Allen Poe aus dem Englischen.19 Auch die populären Denkwürdigkeiten der Scharfrichterfamilie Sanson aus den Tagen der Französischen Revolution übersetzt Wolfenstein ins Deutsche.

Henriette Hardenberg trägt auf ihre Weise zum Einkommen bei. Sie arbeitet als Schauspielerin und Modell, reist viel herum, ist mal in den Alpen, mal bei Rilke in Paris. Ihre Liebschaften – im Grunde aber ihr unterschiedliches Temperament – und die seltener gemeinsam verbrachte Zeit führen zur Entfremdung. Das Paar geht bald getrennte Wege, der Sohn verschwindet in einem altmärkischen Internat.20

Im September 1922 siedelt Wolfenstein endgültig nach Berlin über, wo er für verschiedene Zeitungen und gelegentlich auch für den Rundfunk arbeitet.21

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Wolfenstein als Dramatiker. Die Neuentdeckung, die Selbstfindung, endlich der ersehnte Fortschritt nach Jahren des Darbens und Verarbeitens. Wolfenstein lässt die Hoffnungen und Resignation der vergangenen Jahre hinter sich und wendet sich stattdessen der Bühne zu.

Er schreibt Stücke, ganz im expressionistischen Stil gehalten, wortkarg, gewaltvoll und düster. Selten schön. Noch seltener aufgeführt. Wolfenstein reitet ein neues Steckenpferd kaputt.

Seinen Stücken, die mehr als Lesedramen angelegt sind, als dass sie tatsächlich für die Bühne geeignet wären, ist nur wenig Anerkennung beschieden. Lediglich drei Dramen Wolfensteins schaffen in den Zwanzigern den Weg auf die »Bretter, die die Welt bedeuten«: So werden Bäume in den Himmel 1928 in Oberhausen, Celestina im selben Jahr in Frankfurt und Die Nacht vor dem Beil 1929 in Erfurt uraufgeführt, alle ohne besonderen Erfolg. An ihnen werden hauptsächlich die Künstlichkeit der Handlung, die Schwäche der Aussage und der belehrende Duktus ihres Verfassers kritisiert.22 So bleibt Wolfenstein die ersehnte Anerkennung auf dem Theater letztlich verwehrt.

Dennoch zählt Wolfenstein zu den großen Künstlern seiner Zeit. Er ist in den maßgeblichen Jahrbüchern vertreten, diskutiert in Essays über die aktuelle Lage der Literatur und erfährt großen Ruhm als Dichter – ein Kuriosum, da Wolfenstein seit 1917 keinen eigenständigen Lyrikband mehr veröffentlicht hat und auch die 1928 erscheinenden Bewegungen lediglich eine Zusammenstellung bearbeiteter, älterer Texte darstellen.

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