Gesa M. Valk

Georg Kaiser

Berühmter Dramatiker und ein rätselhafter Mensch

mitteldeutscher verlag

Mit Dank für die freundliche Unterstützung des Projekts durch die Akademie der Künste, Berlin/Vermächtnis Klaus Schulte.

Inhalt

Titel

Dank

TEIL I

1. Kapitel – Die Vorgeschichte

2. Kapitel – Spurensuche

3. Kapitel – Die Blechschatulle

4. Kapitel – Reise nach San Francisco

TEIL II

1. Kapitel – Madame de Nice

2. Kapitel – Jetzt seid ihr dran

3. Kapitel – Der berühmte Dichter zu Gast

4. Kapitel – Julius Marx

5. Kapitel – Zukunftspläne

Quellen

Über die Autorin

Impressum

TEIL I

1. Kapitel – Die Vorgeschichte

Als Georg Kaisers enge Beziehung zu Käthe Wurm, der Frau seines Verlegers Fritz Wurm, »Tatsache« wurde und nicht mehr nur Ahnung war, da legte sich seine Geliebte Maria Megerle von Mühlfeld ins Bett zu ihrem Scheinehemann Karl Megerle von Mühlfeld.

Nicht nur Maria hatte diese Ahnung, sondern auch Georg Kaisers Ehefrau Margarethe – allerdings etwas später. Sie schrieb ihm einen bösen Brief, und das nicht zum ersten Mal. Zur gleichen Zeit (es ist Mitte Oktober), da er auf diesen Brief antwortet – und zwar tödlich beleidigt –, weilt er im Palace Hotel in Merano mit Käthe Wurm. Maria von Mühlfeld erscheint auf dem Standesamt in Berlin-Wilmersdorf, um die Geburt einer Tochter anzumelden: Olivia ist am 15. September 1927 abends um zehn Uhr zur Welt gekommen, benannt nach einer Figur des Georg-Kaiser-Stücks »Zweimal Oliver«, 1926 erschienen im Verlag »Die Schmiede« – Inhaber: Fritz Wurm und Julius Salter. In der Geburtsurkunde mit der Nummer 682 ist weiterhin zu lesen, dass Maria Bettina Megerle von Mühlfeld, geborene Fischel, ausgewiesen durch ihren Reisepass und wohnhaft in der Albrecht-Achilles-Straße 4a, die rechtmäßige Ehefrau des Karl Megerle von Mühlfeld ist, Schriftsteller von Beruf und wohnhaft in der Schaperstraße 18. Für Maria wird ferner ein zweiter Wohnsitz angegeben, nämlich der ihres rechtmäßigen Ehemanns, also Schaperstraße 18. Damit nicht genug der Verwirrung: Im Schweizer Exil, das sie sieben Jahre lang – oder auch sieben lange Jahre – mit Georg Kaiser teilte, schreibt Maria aus dem Forest Hotel in Montana in einem Brief an Julius Marx Anfang September 1943, dass sie mit Georg Kaiser schon einmal in diesem Hotel war, »einst vor sechzehn Jahren« – also ganz kurz vor Olivias Geburt.

All dies wäre Stoff genug für ein Drama, wie es auch ein Georg Kaiser nicht hätte erfinden können. Aber hier ist nichts erfunden worden, sondern gefunden – das Resultat jahrelangen Forschens nach Einzelheiten und Zusammenhängen, Einzelschicksalen, die dann doch alles andere als einzeln sind, sondern eng miteinander verknüpft. Es sollte ein Buch entstehen mit einem großen Vorwort als Einführung zu den über hundert Briefen, die Maria von Mühlfeld an Julius Marx schrieb – hinter Georg Kaisers Rücken. Diese Briefe sind tagebuchähnliche Aufzeichnungen über ihr Leben mit Georg Kaiser und der Tochter Olivia, das Vermächtnis der »ehrenvollen Konkubine«, wie sie einen Brief an Julius Marx unterzeichnet. Wiederholt erkundigt sie sich fast ängstlich bei ihm, ob ihre Briefe auch gut aufgehoben seien, ob er sie verstecke vor Georg Kaiser, denn der dürfe doch nichts wissen von dieser Korrespondenz oder gar, dass die beiden Mühlfelds Julius Marx ihr Herz ausschütten. Sie leben versteckt vor allen, Georg Kaisers heimliche Familie in der Schweiz, denn in Deutschland lebt die offizielle Familie: Margarethe mit den erwachsenen Kindern Anselm, Laurent und Sibylle, die er in Grünheide bei Berlin zurückgelassen hat. Wohl auch aus diesem Grund ist den beiden jeglicher Kontakt mit anderen Menschen untersagt – so will es Georg Kaiser. Schon seit über zwanzig Jahren lebt Maria von Mühlfeld dieses Schattendasein, wie sie in einem Brief vom Dezember 1943 sagt.

Zur Vorgeschichte könnte folgende Überschrift passen, die aus einem ihrer Briefe an Hugo von Königsgarten stammt: »Die Entführung von einem Adler in den höchsten und einsamsten Horst.«

Mary Fischel – so heißt sie, als Georg Kaiser ihr 1920 in Berlin begegnet – ist vierundzwanzig Jahre alt und lebt bei ihrem Bruder in der Prager Straße. Ihr Vater, Adolf Fischel, war bereits 1913 gestorben, und es ist anzunehmen, dass auch die Mutter Pauline, geborene Goldschmidt, nicht mehr lebte, und Mary Fischel deshalb bei dem Bruder zu Hause ist. Bernhard Albert Fischel, von Beruf Kaufmann, brachte Georg Kaiser eines Tages mit nach Hause, und seitdem ist er ein gern gesehener Gast bei den Geschwistern.

Zu dieser Zeit lebt seine Familie, Ehefrau Margarethe mit den kleinen Kindern, in München. Georg Kaiser ist häufig in Berlin, hauptsächlich um Kredite zu erzielen und Geld zu beschaffen, denn die finanzielle Situation der Familie ist katastrophal. Obwohl ihm nach langen Jahren endlich 1917 der Durchbruch gelungen war – bis dahin hatte er praktisch keinen Heller verdient –, ist jetzt nicht genug Geld da, um alten Verpflichtungen nachzukommen und gleichzeitig den Lebensunterhalt für die Familie zu bestreiten. 1918 schon war sein gesamtes Eigentum konfisziert worden, die beiden Wohnsitze – Seeheim und Weimar – mussten aufgegeben werden, die Familie lebte zuletzt in einer kleinen Münchner Pension.

Aber in Berlin im Frühjahr 1920 machte Georg Kaiser keineswegs den Eindruck, als stünde er finanziell am Abgrund. Er tritt nicht etwa als armer abgerissener Stückeschreiber auf – im Gegenteil. Den Rahmen, den er nach außen hin präsentiert, kann man nicht anders als luxuriös nennen. Er residiert und speist in den besten Hotels wie dem »Adlon« und dem »Esplanade«, die Anzüge sind maßgeschneidert und die Glacéhandschuhe werden im Dutzend bestellt. Das ist der Georg Kaiser, den Mary Fischel kennenlernt und der am 13. Oktober gleichen Jahres verhaftet wird.

Am Tag der Verhaftung wird Georg Kaiser bei den Geschwistern zum Mittagessen erwartet – seine Lieblingsgerichte stehen bereit: Kartoffelpuffer und zum Nachtisch Schokoladenspeise. Aber Georg Kaiser erscheint nicht. Marys Bruder kommt nervös zu Tisch, isst fast nichts und reicht der Schwester schließlich die B. Z. am Mittag: »Georg Kaiser verhaftet.« Plötzlich wird ihr klar, was der Portier des »Esplanade« am Morgen auf ihre Frage, ob Georg Kaiser abgereist sei, so betont höhnisch geantwortet hat: »Abgereist worden.«

Maria von Mühlfeld schildert diesen Tag in Form einer kleinen dramatischen Skizze, um von Julius Marx zu erfahren, ob sie vielleicht genug Talent besäße zu solch literarischen Versuchen. Aus dieser Skizze geht auch hervor, dass sie Georg Kaisers Verleger Gustav Kiepenheuer bereits gut genug kennt, um ihn sofort anzurufen und umgehend zu einer Besprechung mit ihm und seinem Anwalt nach Potsdam zu fahren, um für Georg Kaiser beschwörend Fürbitte einzulegen: Juristisch gesehen hätte er zwar ein Delikt begangen, vom menschlichen Standpunkt aus aber dürfe dieser Mann alles … so in etwa.

Georg Kaiser wird beschuldigt, sowohl aus der Münchner Wohnung als auch aus der Villa in Tutzing – beide von ihm angemietet – Wertgegenstände verschiedener Art verkauft oder verpfändet, weiterhin Scheckbetrügereien begangen zu haben. Bei den Vernehmungen hat er den Tatbestand in allen Fällen eingeräumt und gleichzeitig geltend gemacht, dass er stets die Wiedergutmachungsabsicht gehabt habe und daher die Strafbarkeit seiner Handlungen nicht einsehen könne. Detaillierte Aussagen wurden in einem psychiatrischen Gutachten festgehalten, das Dr. Eugen Kahn in der Psychiatrischen Universitätsklinik München über mehrere Wochen hin verfasste.

»Mein Prozess ist eine Blamage für Deutschland« (I, 242) – so schreibt Georg Kaiser an seine Frau Margarethe am 2. Januar 1921, seinem letzten Sonntag dort, bevor er in das Strafvollstreckungsgefängnis München-Stadelheim verlegt wird. Monatelang berichten die Zeitungen immer wieder von dem Skandal:

Der Fall Kaiser ist bitter und tragisch – aber er sollte auch im Sinne einer höheren Wahrheit nicht verfälscht und verdunkelt werden. Dem bedeutenden Dramatiker von eigenem Wurf ist es Jahre hindurch schlecht ergangen – weil die Zensur seine Bühnenwerke nicht zum Leben kommen ließ. Als der Ruhm und der Erfolg kam, kam auch der begreifliche Drang, nachzuholen, was in langen Jahren der Entbehrung versäumt wurde. Georg Kaiser begann seinen Lebensstil seiner Berühmtheit anzupassen. Die Folge: neue Schulden zu den alten. Man mußte in einer Villa wohnen, man mußte ein Haus haben, man mußte reisen. Schade, daß auch die Geistigen das Vorbild ihrer Lebensführung lieber dem von ihnen verachteten Dasein der Kriegsgewinnler entnehmen, als der Biographie des armen Dramatikers Friedrich Schiller und seiner armen Weimarer Dichterstuben … (Anonym – GKA)

Es gibt aber auch weniger verständnisvolle Stimmen in der Presse wie diese hier:

»Der Fall Kaiser« Bringen wir das Abscheuliche der Sache auf drei Worte: Ein deutscher Dichter hat gestohlen. Auf wen wirkt das nicht selbst in dieser Zeit der gegen Abscheuliches abgestumpften Nerven wie Peitschenhieb. Denn diese deutsche Nation war zwar nie das Volk der Dichter in dem Sinn, daß sie ihre Dichter anständig behandelt hätte, aber doch in dem Sinn, daß sie bei ihren Dichtern unter allen Umständen als Selbstverständlichkeit eine sittliche Haltung voraussetzte, die sie von vornherein über die Sphäre des gemeinen Verbrechens erhaben sein ließ. In dieser Nation war es ein ungeschriebenes Gesetz, daß zur Not jeder Mensch einmal stehlen konnte, nur der Dichter nicht. Ein Aberglaube? Nein, mehr! Der Dichter war der Priester seines Daimonions. Der Dichter konnte seine bürgerlichen Angelegenheiten in sträflicher Weise vernachlässigen. Er konnte sich die Haare über die Ohren wachsen lassen. Er konnte Gott lästern. Er konnte Frau und Kind verhungern lassen. Er konnte Vielweiberei treiben. Er konnte den Fisch mit dem Messer essen. Er konnte ein Säufer sein. Es gab beinahe nichts, was ihm der Dämon und das Gewissen der Nation nicht allenfalls erlaubten oder nachsahen. Nur stehlen konnte er nicht. Nur mit Plan und Bewußtsein betrügen konnte er nicht. Beging er ein Verbrechen, so mußte es wenigstens vom Ruch des Außerordentlichen, des Tragischen umwittert sein. Daß aber ein Dichter, einer, der seinem Volk glaubt etwas zu sagen zu haben, einer, den die zünftige Tagesmeinung und der Heulchor der modernen Kritiker schon als Meister ausgeschrien haben, sich in der Sphäre des allergemeinsten und plattesten Verbrechen bewegt, das ist eine so abscheuliche Desillusion, daß man selbst in der Ära der Beamtenkorruption und der billigen Schlossmöbelkäufe durch Revolutionskoryphäen sich dagegen sträubt. Von manchen Seiten ließe sich der »Fall Kaiser«, dieser Fall des Dichters, der nach den häßlichen Erzählungen der Zeitungen fremdes Eigentum zusammen mit seiner Frau maust und verkauft, anleuchten. (Anonym – GKA)

Am 15. Februar 1921 wird Georg Kaiser zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, jedoch im April 1921 bereits wieder entlassen. Am 17. Februar erscheint ein sehr ausführlicher und außergewöhnlich brillanter Artikel von Gustav Kauder in der B. Z. am Mittag, auch wieder unter dem Titel »Der Fall Georg Kaiser«. Der Autor scheint mehr als alle anderen auf die Einmaligkeit dieses Prozesses einzugehen, beweist vor allem ein ungeheures Einfühlungsvermögen in die Persönlichkeit des Dichters Georg Kaiser und der besonderen Umstände, die ihn schuldig werden ließen. Und immer wieder schuldig werden lassen, bis an sein Lebensende:

Georg Kaiser glaubt, was ihm widerfahren ist, sei eine der ungeheuerlichsten Schmutzereien in der Literaturgeschichte der Welt. Einer, der so tragisch getroffen worden ist wie er, darf glauben was er will, um seinen Lebenswillen über Wasser zu halten. Außenstehende mit ihrer schmerzlosen Objektivität werden dagegen finden, daß Georg Kaiser in seinem großen Unglück auch noch genug Glück hatte. Landgerichtsdirektor Zeiss erwies sich als ein weit über den besten Durchschnitt hinaus kluger und edler Richter, von ungewöhnlicher Welt- und Seelenkenntnis, der den Mut hatte, sich als das zu zeigen, was er wirklich ist: als philosophischer Relativist, wenn nicht gar Skeptiker der menschlichen Gerechtigkeit. Der Münchner Prozeß gegen Georg Kaiser und seine Frau war eine der intellektuell höchststehenden Gerichtsverhandlungen, die in Deutschland seit langem geführt wurde. Im übrigen war es ein Prozeß zwischen lauter sympathischen, verfeinerten, liebenswerten Menschen, vom Staatsanwalt und dem jungen Psychiater an bis zur jüngsten Zeugin, es war aber auch ein Prozeß zwischen lauter lebensunzulänglichen Menschen. Außer dem Richter und einer Zeugin trat in diesem Prozeß kein einziger unmittelbarer Mensch auf: sie waren alle in ihrer Lebensart, in ihrer Seelenempfänglichkeit indirekt, nämlich literarisch, vor einer Welt hinter ästhetischen Schleiern stehend.

Aus diesem Milieu, das sein Milieu ist, fiel Georg Kaiser jedoch noch als ganz eigener Einzelfall heraus. Er hat, wenn man die Dinge bedenkt, wie sie brutal wirklich sind, tatsächlich silberne Löffel gestohlen. Sein Psychiater aber erklärte mit Energie, daß Georg Kaiser eine geistig vollkommen durchgebaute und sittlich äußerst hohe Weltanschauung nicht nur vorredet, sondern wirklich hat, aus ihr seinen ganzen Glauben zieht, durch den er sich am Leben erhalten kann. Nun mache einer einen Vers daraus. Der Psychiater reimte es goethisch: daß man kriminell werden könne, ohne ein Verbrecher zu sein (Ihr laßt den Armen schuldig werden; und »es gibt kein Verbrechen, das zu begehen ich nicht fähig gewesen wäre«). Er ließ aber auch, indem er sich von der angeblichen Heftigkeit der Kaiserschen Inspiration nicht überzeugt erklärte, die Nebendeutung offen, daß Kaiser wie jeder Literat auch ein wenig vor sich selber schwindle. Ein wenig auch der Hochstapler seines eigenen Geistes sei.

Nach den Menschenerfahrungen des Schreibers dieser Zeilen ist jeder Mensch zuletzt doch ein Rätsel, und fast jeder Mensch hat irgendwo ein unenträtseltes Geheimnis, das immer körperlichen Ursprungs ist. Im Falle Kaisers, der tatsächlich schon als Kind zu gesteigerter Lebensempfindlichkeit vorgezeichnet war, liegt das Geheimnis beinahe offen und doch unenträtselt zutage. Was ist ihm in Südamerika widerfahren? Welche Krankheit (oder welches Erlebnis?) warf ihn so um, daß er die nächsten Jahre tatsächlich nicht lebte, sondern auf einem Sofa dämmerte? Niemand weiß es, und er geht darüber hinweg. Diese Jahre aber haben seine Furcht vor dem wirklichen Leben zweifellos verewigt. Auf diesem Sofa wurde er Dichter, nicht durch Erleiden der Lebensrealität, sondern durch Erleiden gedanklicher Lebenskonstruktionen.

Georg Kaiser ist ein Literat, weil er nie lebt, sondern nur schreibt, weil es unaufhörlich in ihm schreibt. So hat er wirklich keine anderen Beziehungen zum Leben als die übertragenden. Was ihm immer geschieht, er kann es nicht erleben, er muß es nur sogleich verarbeiten, selbst wider Willen. Es schreibt in ihm qualvoll. Seine Produktion ist ein entsetzlicher Befreiungskampf von diesem Schreibzwang. Das meint er, wenn er dem Richter sagt: »Wir sind der stöhnende Amboß unserer Berufung.« Und was er Seligkeit des Schaffens nennt, ist nur die Seligkeit einer Schmerzbefreiung. So erklärt es sich, daß er Dramen, die er für seine besten hält, in sechs oder zwölf Tagen in einer einzigen Niederschrift vollendet. Und doch nie fertig wird, weil es in ihm unaufhörlich weiterschreibt. Es war so deutlich zu sehen, wie er nie gegenwärtig wurde, daß dieses Gerichtsverfahren sich wirklich um ihn drehte, um diese Lebensrealität Georg Kaiser, die es doch gibt, sondern wie er sie nur als eine ihm von seinem Schicksal gestellte neue Schreibaufgabe empfand. Er ist in Ketten 23 Tage lang mit einem Zuchthäuslertransport von Berlin, aus dem Hotel Esplanade, ins Bayrische Gefängnis befördert worden, frierend, hungernd. Er steht in einem Verfahren, das seine Existenz zu vernichten droht. Das alles ringt ihm im Gerichtssaale nur den verräterischen Ausruf ab: »Ich bedaure schon heute meine mitschreibenden Kollegen, ihnen durch diese Erlebnisse (?) so weit vorausgekommen zu sein.« Und deutlich quält ihn dabei die Angst, daß er dies ja alles schon voraus geschrieben habe – »Von morgens bis Mitternacht« –, und daß er sich nun durch früher unerfundene realistische Einzelheiten wird selber desavouieren müssen.

Die Frage nach der Güte seiner Produktion, immer nur subjektiv zu beantworten, scheidet dabei aus. Der Richter stellte sich auf den Standpunkt, daß niemand entscheiden könne, ob hier wirklich eine außermenschliche Höhe der Berufung auch eine außermenschliche Stellung zum Menschengesetz rechtfertigen könne – wie Kaiser das für sich beansprucht. (Äußerstes Selbstbewußtsein und äußerste Verschämtheit ist bei Lebensunzulänglichen oft einziger und letzter Naturschutz des Lebenswillens.) Er urteilte praktisch, nicht kritisch, daß der außerordentliche Erfolg der Kaiserschen Werke (im letzten Jahre die meist gespielten nach denen Gerhart Hauptmanns) genügend den Wert beweise, den eine große Anzahl Menschen ihnen beimesse. Der Richter gab also zu, daß Kaiser, zum Unterschied vom einfachen Dieb, der nur nimmt, um sich zu bereichern oder um sich selbst zu helfen, selber viel gegeben habe, was einem großen Teil der Allgemeinheit wertvoll oder beglückend erscheint. Dazu wurde Kaiser von allen Zeugen, selbst von den mit ihm jetzt verfeindeten, außerhalb seiner Delikte äußerste Anständigkeit, Vornehmheit, Hilfsbereitschaft und dazu noch eine gewisse bezaubernde Wirkung seiner Persönlichkeit zugestanden. Er ist nicht nur liebenswürdig, sondern liebenswert. Dafür brachte die Zeugin Liebscher, die diesem Verkehrskreis intellektuell nicht ganz gewachsen war, aber dafür ein viel ursprünglicherer, geraderer, blutvollerer Mensch ist, einen merkwürdigen Beweis. Sie steht Kaiser mit einem Gemisch von Haß und Begeisterung gegenüber und äußert beides nach Temperamentseinfluß. Er hat ihr Geld genommen, das sie nun selber braucht, sie griff ganz simpel seine Lebensführung, seinen Hang zu Eierkuchen, seine Einladungen »für ihr Geld« scharf an, sieht ihn dann plötzlich an, verstummt und fragt dann draußen auf dem Korridor, obwohl sie genau weiß, daß sie für sich recht hat, ganz unglücklich: »Habe ich unrecht gehabt, das alles zu sagen?«

Dieses Unrecht ergibt sich von selbst aus seiner völligen Beziehungslosigkeit zur wirklichen Welt, von der dieses Gesetz ist, nach dem er gestraft wird. Für diese Beziehungslosigkeit hat Kaiser auch im Prozeß durch sein Verhalten hundert Beispiele erbracht. Um nur eins zu nennen: eine Zeugin erzählt: Kaiser habe sich ihr schon 1917 gegenüber als reich bezeichnet. Er arbeitete damals an der »Koralle«, und sie (Literatin) glaubte daher, daß er in der Figur des Milliardärs lebe. Da steht Kaiser unmutig auf: »Aber Unsinn, ich bin doch kein Narr. Ich dachte damals zufällig an das Grundstück, das ich noch bei Buenos Aires besitze, und dessen Wert inzwischen erheblich gewachsen sein muß.« Im Kreuzverhör kam nun heraus, daß er tatsächlich noch ein Stück Land in Argentinien besitzt, sich aber nie darum gekümmert hat. Fiel es ihm gerade ein, betrachtete er die Markvaluta, so sagte er sich: ich bin vielleicht Millionär, und vergaß es wieder. Ist das ein Beweis, daß er doch nicht ohne geschäftliche Veranlagung sei? Er hat vom Kaufmann nur eine literarische Geste übrig behalten. Ein Normalmensch (auch wenn er Künstler ist) in Deutschland hätte Tag und Nacht an nichts anderes als dieses Grundstück und seine Verwertbarkeit gedacht.

Und nun kommt das punctum puncti: selbst dieser ganz beziehungslose Mensch muß doch in der wirklichen Welt körperlich leben, muß seine wirklichen physischen Funktionen erfüllen. Das einzige Bindeglied zwischen ihm und dieser Welt ist auch nur das Geld. Er sagt: ich brauchte den Luxus nur als die Negation der verhaßten Realität. Er meinte gar nicht Luxus, er meinte nur Geld, er hat ja nie Luxus gehabt. Er hat in dem Jahre, in dem er schuldig wurde, wie das Gericht endlich mühselig errechnete, höchstens 50 000 Mark für sich, Frau und Kinder wirklich verbraucht. Das ist beim heutigen Geldwert nichts weniger als Luxus. Dabei hat er auch dieses Geld grundfalsch verteilt, verwendete 22 000 Mark – allein auf die Miete zweier Wohnungen, und es blieb wirklich wochenlang, zumal das Geld ganz unregelmäßig kam, kaum genug für Wasser und Brot. Aber endlich ging es überhaupt nicht mehr; und da benutzte er, was man ihm anvertraut hatte. Weil das für seine Weltfremdheit und persönliche Empfindlichkeit der leichteste und kürzeste Weg war, sich sogleich Geld zu verschaffen.

Man braucht seine zweifellos erst nachträglich konstruierten moralischen Entschuldigungen nicht zu glauben. Sie sind vor allem unlogisch, denn mit der Entschuldigung tritt er selber auf den Boden der Moral, die er für sich leugnet, weil er eine andere, außergesellschaftliche habe. Aber dann bleibt doch noch anderes zu erwägen.

Er hat bis zum Herbst 1919 niemals eine Unredlichkeit begangen. Dabei wirkte er in der Welt des Theaters und des Films, wo großer Geldverbrauch oft zum guten Ton gehört. Dabei wirkte er ganz allgemein auch noch in einer Welt, deren Moralbegriff durch und seit dem Krieg sehr labil geworden ist. Blind ist er nicht, er sieht die Schieberkrankheit, von der selbst seine Leute nicht frei bleiben. Er versetzt einen Schmuck, der eigentlich in die Schweiz gebracht werden sollte. Es handelt sich um einen elsässischen Flüchtling, einen tadellos vornehmen Mann, der Verbindlichkeiten in der Schweiz, vielleicht ruinöse, unverschuldet nicht einlösen konnte. Wer versteht so etwas nicht? Das Gericht gleitet mit Recht darüber hinweg. Aber ganz korrekt ist das doch auch nicht. Die Wahrheit ist wahrscheinlich die, daß unter den heutigen wirtschaftlichen Umständen allzuviele Menschen »korrekt« nicht zurechtkommen können. Daher die Krankheit der schieberischen Mittel. Kaiser beherrscht sie nicht, er versteht das überhaupt nicht. Ist sein Vorgehen deshalb schlimmer als die der Schieber?

Man darf gegen ihn auch nicht die tatsächliche Höhe der Schulden, Schaden- und Verbrauchssummen ausspielen, die über sein Konto, nicht durch seine Hände gelaufen sind. In Wirklichkeit verteilen sie sich auf 10 fast erwerbslose Jahre seines Ehelebens. Im jährlichen Durchschnitt sind sie so bescheiden, daß von verschuldeter Notlage nicht gesprochen werden kann. (Das Gericht hat das anerkannt.)

Das war die Situation, der sich der Richter gegenüber sah. Er lehnte es ab, sich von literarischen Erinnerungen an Rembrandt, Kleist, Büchner, Wagner beeindrucken zu lassen, weil dies alles schief ist. Und er verstand die Situation doch: daß hier wieder einmal zwei inkompatible Dinge zusammenstießen. Eine wirkliche Welt der sehr konkreten Gesellschaft und die ganz andere krankheits-geheimnisvolle Welt eines indirekten Menschen. Einem von beiden mußte er durch Anwendung oder Nichtanwendung eines nur für durchschnittliche normale Fälle entwerfbaren Gesetzes unrecht tun.