Manfred Köppe

Nachrichten aus der Kindheit

mitteldeutscher verlag

Alle Figuren in diesem Buch sind Erfindungen … Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person. Nein, verehrte Landsbergerin, soweit möchte und kann ich nicht gehen. Die Personen stehen vor mir, so, wie ich mich an sie erinnere und was die Zeit hinzugedichtet hat, selbst jetzt noch, während ich das schreibe.

Und nun den pädagogischen Zeigefinger zu heben und altklug hinauszuposaunen: Der X war der Y, du weißt doch, der wohnte neben dem Z, und der zog nach A – oder war es nach B?, und dieses oder jenes waren ganz anders.

Solches hat die Nachwelt dem Großen mannigfach vorgehalten, obwohl er bereits im Titel davor gewarnt hatte. Diese Klugscheißereien füllen Regale und gammeln still vor sich hin.

Wieder ein literarischer Zugang.

(Aus: Das achte Fenster)

Inhalt

Titel

Vorwort

Zitat

DAS ERSTE FENSTER

1 Aber es war so

2 Kindheit. Eine Ortsbeschreibung

3 Von Schulen, Juden und meiner alten Straße

DAS ZWEITE FENSTER

1 Das kurze Glück meiner Mutter

2 Meine späte Geburt

3 Kreuze

4 Ein DAVOR. Ein DANACH

5 Ein Mörder?

6 Immer die Sorgen

7 Da versagte sie

DAS DRITTE FENSTER

1 Aber in Maßen

2 Mit der heilenden Hand

3 Mein kleiner Friede

DAS VIERTE FENSTER

1 Ein Bild baute sich auf

2 Von West nach Ost

3 Der Alte aus Bessarabien

4 Auch wir mussten auf die Landstraße

5 Fremde. Die Russen kommen

6 Flüchtlinge

7 Zigeuner

8 Ein babylonisches Sprachgewirr

9 Nur noch ein Farbtupfer

DAS FÜNFTE FENSTER. UND WIEDER IM JUNI

1 Die schaffen uns

2 Du bleibst! Geh schon!

3 Er war nicht alles. Aber es war viel

DAS SECHSTE FENSTER

1 Mein Birnbaum oder Was da kreucht und fleugt

2 Mein zwitschernder Vater

3 Die Heide

DAS SIEBTE, DAS FENSTER IN DIE BÜCHERWELT

1 Von Büchern, Särgen und vom zweiten kleinen Frieden

2 Bücher. Bücher

3 Und es begann … Ja, wann?

Impressum

Wer doch einmal die Geschichte des Fensters schriebe – dieses wunderlichen Rahmens unseres häuslichen Daseins, vielleicht sein eigentliches Maaß … mehr haben wir nicht von der Welt … Unser Umgang mit der Weite ist recht eigentlich auf die Vermittlung des Fensters angewiesen, draußen ist sie nur noch Macht, Übermacht, ohne Verhältnis auf uns, wenn auch ungeheuer im Einfluß –; das Fenster aber setzt uns in einen Bezug 

Rainer Maria Rilke

DAS ERSTE FENSTER

1

Aber es war so

Der Kreis schließt sich, die Kindheit rückt mit den Jahren näher heran.

Ernst Jünger

Also doch.

Und sie begann … Ja, wann?

Das kann ich so genau nicht sagen. Die Kindheit ist ein Fabelstück des Lebens, ohne so recht zu wissen, wann sie in der Erinnerung begann. Und doch sollen, wie kluge Menschenerklärer meinen, die Grundmuster in den ersten drei Jahren angelegt werden …, die dann nur noch auszufüllen sind. Die Lebensmelodie sei von Anfang an da. Hier grundiert vom Krieg.

Nun, einem Dreijährigen solle man zutrauen, denken zu können, sich zu erinnern allemal. Also wann?

: Als Soldaten mich auf den blechernen Sitz des K1 einer riesigen Bahnflak hoben, ich war ängstlich, weil ich auf dem blanken, für breite Männerhintern zugeschnittenen mir haltlos und verloren vorkam; als die aufheulenden Sirenen mich zum ersten Mal aus dem Schlaf rissen und die Bomberstaffeln wie Geisterschwärme hoch übers Städtchen brummten; als wir zum ersten Mal in dem muffigen und stickigen kleinen Keller, nicht mehr als eine große Mausefalle, Schutz vor Granatsplittern suchten; oder früher, als ich meinen kleinen Bullerwagen vom unteren zum oberen Hausgarten hochzog und vor Schmerzen aufschrie, Schmerzen, die sich tief einkerbten, ich hatte mir einen Leistenbruch zugezogen; oder als ich die vielen Ferkel in meiner Straße sah? Aber 1939 soll der letzte Markttag gewesen sein. Ich könnte wetten. Aber: Wer wettet, will betrügen! Eine Weisheit der Mami-Mutter aus ihrem unerschöpflichen Sprüchebeutel. Ich werde noch des Öfteren hineingreifen, hier die erste nun.

Und wann endete sie?

Die Kindheit ist mehr als nur ein Zeitabschnitt mit zumeist künstlichen Zäsuren, der, nicht austauschbar, lediglich den Anfang markiert. Und das Ende? Für viele war es Ostern, dann der Frühsommer: das Ende der Schulzeit – und manchen Lehrling (Stift, Ladenschwengel, Bursche – lerecin, lereknecht, lirlinc) zog es zum Meister an einen fremden Ort. Die Mami-Mutter ging mit vierzehn Jahren als Kindermädchen nach Brandenburg und kam nur in den Sommerferien mit der Familie zu Besuch ins Dorf zurück. Ihr wehte ein frischer Wind um die Nase. Ich ging mit achtzehn zum Studium nach Halle. Der erste Schubs, sich vollends von der KINDHEIMAT abzunabeln.

Andere blieben länger am Schürzenzipfel der Mutter kleben, einige ein Leben lang. Viele waren es in meiner Straße. Manche Frauen ohne Mann, gefallen oder vermisst oder geschieden, wurden wieder in die Rolle des Kindes zurückgestuft.

Die Mami-Mutter sprach mich im wirren Alter mit Wilhelm, ihrem ältesten, längst verstorbenen Bruder, dem Garde-Wilhelm, an, äußerlich mit mir vergleichbar: hager, schlank, groß, er hatte bei der Garde gedient. Und dann nur auf Platt. Hier schloss sich für sie der Kreis auf eine sonderbare Weise.

Und nun 

Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann. Da kann ich dem Großen nur zustimmen. Ich beginne erst jetzt – oder begann mit Mein zwitschernder Vater etwas früher … Und dann ganz im Sinne Schopenhauers? Die ersten vierzig Jahre unseres Lebens liefern wir den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu. Nein, nein, einer solchen Zeiteinteilung kam mit fünfzig glücklich die Wende in die Quere.

Erst mit siebzig gab ich der Landsbergerin recht: Immer im Alter blüht der Tourismus in halbversunkene Kindheiten.

Als sie das schrieb, war sie Mitte vierzig. Ich bin über siebzig. Noch beschränkter der Platz … nach vorn. Gestundete Zeit nannte ich meinen letzten Roman und bezog das nicht nur auf meine Heldin und ihre Zeit. Der Kreis schließt sich  Verdammt noch mal!

Rosi ist vor Jahren gestorben, und tot sind Konrad und Wilfried und Lothar und Hannelore und Heinz und Hans und Wally und Bartold … Die Vergangenheit holt mich ein. Das Reich der Toten wirft seine Schatten voraus. Den Wettlauf mit der Zeit gewinnt der Tod. Ihm kommt es auf den Tag nicht an. Er kann warten. Nur wie lange?

Und sie ist 

Nein, das ist sie nicht!

Die Kindheit ist mir keine Erinnerungen melkende Kuh, die ständig an den Zitzen gestreichelt wird. Ja, meine Lieblingskuh, „und so weich zu melken!“, hast du selber gesagt, wörtlich. So der Jaunfelder.

Manche Autoren haben es darin zur Meisterschaft gebracht und sollten wenigstens im Alter zu Ehren-Schweizern ernannt werden. Ihre Kindheit schien dank der nimmermüden Kuh eine Ewigkeit gedauert zu haben. Jeder Tag ein Jahr.

Der EINE fuhr in seine Kindheit zurück und motzte den Laden tüchtig auf. Zuvor war schon Wundertätiges vom Knaben und Soldaten-Polizisten zu erfahren.

Der ANDERE versammelte seine Kinder (von verschiedenen Müttern) märchenhaft um sich und hörte wortlos zu, in der Hoffnung, dass sie ihn als einen tollen Hecht herauskehren würden. Er ließ in ihrer Kindheit graben. Vielleicht mit Gewinn für sein berufliches Erinnern, dem Bekannten, mehrfach Abgegrasten und Wiedergekäuten noch eins draufzusatteln, weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muß, solang er noch da ist 

SIE fuhr mit ihrer Familie in ihren Geburtsort, heute in einem anderen Land, auf der Suche nach dem Schnittmuster ihrer Kindheit, nach dem manches im späteren Leben geschneidert worden war.

Andere machten sich erst gar nicht solche Mühen und schrieben Romane, in der die Erinnerung … Fundgrube, Müllhalde, Archiv, Tummel- und Rummelplatz oder Friedhof war.

Und wiederum andere …, aber ich will keinen Traktat über das Sicherinnern oder über die Erinnerungskultur schreiben, obwohl es mich reizen würde und für meine Fenstergeschichten durchaus gewinnträchtig sein könnte.

Wie ist sie dann?

Die Kindheit ist voller bunter Bilder. Manche nur in schwarzweiß und andere abgeblasst in Grautöne des Vergessens. Wenn einer damit brillierte, ach, er habe seiner ganzen Kindheit misstraut, sie sei nicht mehr auffindbar. Es bleiben nur die ungenauen Reste und Vorstellungen in uns. Verzerrt, verschönt, falsch. Nichts ist mehr überprüfbar – wollten er oder sie entweder Widerspruch erfahren oder bedauert werden. Der Arme, oder: Die Arme. Keine Kindheit? Keine Autos oder Puppen? Wie sollten sie diese Welt ertragen? Manches verlorene Kind ertrug sie unter den Fittichen / der Gewalt.

Natürlich ist es unmöglich zu beweisen, dass alles, was ich zu erzählen habe, mir wirklich zugestoßen ist. Es könnte so oder ganz anders gewesen sein. Im Februar oder März oder Monate später.

Aber es geschah.

Ein großes Aug ist mir für unsere Familie

geworden, ein großes Ohr für ihre Sprachen,

ein großes Schweigen mir geworden über

soviel, das aus großer Nähe zu verschweigen ist.

Ingeborg Bachmann

Nicht wie beim Jaunfelder näherten sich mir meine Vorfahren, wenn möglich paarweise. Den Garten herauf. Oder die Straße herunter. Oder vom Bahnhof her. Als wollten sie mich wiedersehen. Als wollten sie mich sprechen. Als wollten sie mir sagen: Ach. Du hier!?

: Einmal in einer Traumsekunde sah ich sie unter meinem Birnbaum sich zu einem Foto mittels großem Kasten mit Kuckucksblick und -ruf, wie ich ihn meiner Vater-Geschichte zuschrieb, aufstellen:

Da stand breitbeinig ein riesiger Fotokasten, und am Ende hing ein großes, schwarzes Tuch, unter das sich der Fotograf mit dem Kopf verkroch. Er zählte – und keiner durfte auch nur zucken, dann ein kleiner Blitz, und schon war das Bild im Kasten. Bei Kindern sagte er noch: „Kuckuck!“

Die Mami-Eltern waren jung. Und blutjung meine Mami, verträumt wie auf einer Werbekarte für Dirndl aus Indanthren, also auch jung ihre Brüder und ungeboren noch die anderen wie ich.

Die Mami-Mutter mit zigeunerhaft schwarzen stechenden Augen und schwarzem Haar. Ja: Und diese: schwarze Augen, schwarze Haare  = Clemens’ Zigeuner’sche, Bullerts und der Elbnixe Schwester. Und: Maximilianes „schwärzeste Augen“  Eine Galerie der schönen Schwarzen.

Und der Mami-Vater, zackig wilhelminisch, gedient, mit einem Schalk in den Augenwinkeln. Da fallen mir sogleich eine Handvoll Schnurren ein: Was gibt’s bei euch zu Mittag? Gebratene Flohherzen mit gefülltem Schnittlauch. Mein Junge, erzählte eine Kundin, habe Läuse aus der Schule mitgebracht. Und der Mami-Vater: Besser Läuse als gar keine Haustiere. Er malerte oft im Krankenhaus des Städtchens. Mit Stolz sagten die Schwesterschülerinnen nach dem Examen: Nun können wir alles, Meister! Nee, ihr könnt mir nicht meinen Mastdarm verbinden. Oder: Horch! Das Gras wächst. Oder: Die Flöhe niesen. Das war mein Maler-Opa.

Und Alte auf dem Bilde, verhärmt vom Dahinleben, einander ähnlich, eine Masse Mensch, die ich nur vage vom Hörensagen kannte und sie nicht einmal familiär zuzuordnen wusste. Wie dem Jaunfelder erschienen sie mir in Schwarzweiß. Farbige Bilder waren derzeit handkoloriert, in kotzigen Farben. Das passte ohnehin nicht zum Traum.

Nur eine, zwischen Jung und Alt, des Mami-Vaters Schwester, fiel da aus dem Bild heraus: in Kleidung, Aufmachung, Staffage. Ein Hauch der großen, weiten Künstlerwelt, und richtig, sie führte nahe des Magdeburger Kristallpalastes eine kleine Künstlerpension. So etwas färbte ab. Später ausgebombt und verwitwet, so genau weiß ich es nicht, war sie jeden Winter ein paar Wochen Schlafgast der Mami-Eltern und machte sich im Hause nützlich. Sie musste schon steinalt gewesen sein, aber noch immer gut beisammen und gut zu Fuß. Im Sommer ging sie auf Engels Flügeln, was ich nie so recht verstand, das mit dem Fliegen und Gehen, und dann war Gott noch dabei. Jedenfalls lief sie zur Gartenzeit die vier Kilometer zwischen Wohnung und grünem Reich morgens hin und abends zurück. Hin Grudekoks im Rucksack und heimwärts das Erntegut. Auf Engels Flügeln.

Sie konnte wunderbar erzählen. Aus ihrer Kindheit – und die lag märchenhaft weit zurück. Sie war allen nur Tante oder schlichtweg Emma. Wie sie mit Familiennamen hieß, habe ich nie erfahren. Wozu auch. Im Mittelpunkt des Fotos sollte sie wohl nicht stehen, wie sich das jetzt so anhört. Aber ich habe sie etwas umständlich vorgestellt, weil ich sie später noch als Zeuge aufrufen werde – in einer Angelegenheit, die ich mit der Mami-Mutter bereits angedeutet habe. Mit ihr und dann auch mit anderen. Ich will keinen Mummenschanz treiben. In ihren Geschichten, kreuz und quer, mich verlieren. Man könnte es mir verübeln.

Wie gesagt: Ach. Du hier!?

Was willst du … oder willst es nicht? So kann und so werde ich keine unterhaltsame Kindheitsgeschichte erzählen, eher dem frischen Schweizer zustimmen: Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu  Seine Geschichte. Mein zwitschernder Vater war eine solche.

Wir sind alle zur Autobiographie verdammt – genealogisch trocken oder unterhaltsam. Das ist die Frage. Aber keine Selbstentblößung. Immer ein Spiel. Eigentlich ist das Leben viel zu schade für eine Autobiographie, und wenn doch, dann nicht an der Schnur der Chronologie entlang, sie ist, gelobt sei der Schulzenhofer, ein Mistbeet für Langeweile.

Die Neugier liegt nicht im Friedhof begraben

noch im Sessel der Greise.

Sie steigt mit den Kindern aufs Fahrrad

und macht sich auf die Reise.

Georg Maurer

Ich bin neugierig wie meine Sophie (nicht wie Schmidts oder des Waldgängers Katzen). Was ich bin, das wollte ich immer wissen. Gebe ich hier eine Antwort? Eine erste, vermutlich. Die Neugier schafft Unruhe. Sie ist der Gegenpol von Langeweile. Der Plus-Pol vielleicht. Oder der Minus-Pol?

Die Neugier schaffte sich Gucklöcher: das Astloch in der Planke, den Türspion, das berüchtigte Schlüsselloch, dem die teuflische Warnung anhängt, man könne vom Durchsehen blind werden, das gebohrte Loch in der Umkleidekabine, die zum Fernrohr gekrümmte Hand, die Papp- oder Papierrolle. Und die schönsten: Fernglas, Lupe und Mikroskop.

Und große Gucklöcher schaffte sich die Neugier, Fenster genannt. Eine unendliche Vielfalt: das kleine Fenster in der Stubentür, verhängt mit einer Tüllgardine, das Fenster in der Decke, direkt über der Kasse in Schluck-Hauf’s Schnapsladen und das Berliner Fenster vor meiner Schreibplatte.

Wie schön, in die vorweihnachtlichen, vom Kerzenschein traulichen Wohnzimmer zu schauen. Ansonsten waren die Zimmer mit Gardinen, Läden oder Jalousien vom Draußen abgeschirmt, als gäbe es den bösen Blick. Wie wohltuend die freie Sicht in die Wohnungen im Amsterdam der Grachten.

Ohne die Staubfänger, wie der Maler-Opa gesagt hätte.

es ist wohl so, daß man den Fluß seiner Kindheit einmal verlassen muß, um in die Welt zu gehen 

André Schinkel

: Immer häufiger sehe ich mich, je älter ich werde, an meinem Schreibplatz sitzen, einer Platte, aus Brettern zusammengefügt, die ich mittels Haken und Schraubösen abklappbar und mit derben Leisten schräg abgestützt, an das Fensterbrett montiert hatte.

Der sternenlose Abend stand wie eine schwarze Mauer vor dem Fenster. Unruhe ergriff mich wie meinen Birnbaum im Wind. Es war still im Haus. Kein Lichtschein drang aus einem Fenster. Der kleine Kachelofen strahlte behagliche Wärme ab. Ich war mit den Hausaufgaben beschäftigt. Je öfter ich vom sauber geführten Hefter zum nachtschwarzen Fenster aufsah, desto mehr begriff ich, dass diese meine kleine Welt – Straße, Hof, Garten, Schule, Küchenhorn und mein Revier – nicht alles ist. ICH blickte mit Bangen durch das dunkle Fenster auf die große fremde Welt dahinter, in der ich einmal ankommen müsse. Nicht heute. Aber auch nicht erst in alle Ewigkeit. Weiterer Schulbesuch und Studium? Oder Lehre? Die Antworten waren Fenster in die große Welt.

Ich weiß nicht einmal, mit welcher Hausaufgabe ich beschäftigt war. Es wird Biologie, nicht Erdkunde oder Geschichte gewesen sein, eher Deutsch.

ICH muss darüber schreiben. JETZT. Wenn ich auch DAMALS bereits davon träumte – im Rücken den kleinen Bücherschrank mit dem Heidedichter, der beide Lieblingsfächer in sich vereinte: die Vogelkunde als schönstes Stück der Biologie und die Literatur. Ein von mir verehrter Lehrer, dem ich später in einer kleinen Erzählung ein Denkmal setzte, hatte mir geraten, für zwei Schulfächer täglich mehr zu arbeiten, auch über den üblichen Lehrstoff hinaus – als Vorbereitung auf das Leben: auf die große fremde Welt hinter dem schwarzen Fenster.

So hielt ich es und bin gut damit gefahren.

Ich müsste nun das Fenster öffnen. Die große fremde Welt wollte herein. Noch war ich nicht in ihr angekommen. Mit meinem Bild auf der nachtdunklen Scheibe blieb ich ausgesperrt.

Also öffnete ich das Fenster:

Nun schau, sagte die Welt, mit der Gabe des Schauens, die dem Krull des Zauberers verliehen war, oder ohne sie, schau – und dann komm!

Ich werde meine Kindheit, vielleicht noch ein paar Jährchen mehr, die man Jugend nennt, nach Erlebnissen befragen, die mir Fenster in die kleine oder große Welt weit aufstießen.

Ich hatte mich in Vorbereitung auf meine erste Lesung im Städtchen an solche FENSTERÖFFNER erinnert und war überrascht, was die KINDHEITSBLICKE in mir angelegt, was sie in mir gespeichert und wozu sie mich befähigt hatten.

Wer allein ist, ist auch im Geheimnis,

immer steht er in der Bilder Flut,

ihrer Zeugung, ihrer Keimnis,

selbst die Schatten tragen ihre Glut.

Gottfried Benn

Nun könnte man meinen: Kaum aus dem Ei gekrochen, schon ein Musterexemplar von Strebsamkeit, und ach, so helle, wie er in die Welt schaute 

Ja, wie schaute er denn?

: Ich lebte gern, als ich noch klein war, und später dann an den Wochenenden und noch besser, wenn Ferien waren, einfach so in den Tag hinein. Am liebsten ganz für mich.

Das gelang mir seitdem nicht wieder, wenn auch manchmal nur durch Nichtigkeiten vergrault. müßiggang ist aller dichtung anfang! Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht kommt es noch einmal wieder. Ich habe noch Lebenszeit dafür übrig.

Warte, warte nur ein Weilchen 

Langweilig war das nicht. Ein Spielchen holte mich vom anderen ab. Ich schlüpfte auf den Boden, leise, kramte in Truhen und Kästen, holte den Degen aus sicherem Versteck und befreite die Prinzessin aus den Fängen der bösen Räuber. Später focht ich mit d’Artagnan oder war ein Fuchs auf dem Paukboden. Dann stieg ich mit einer kleinen Leiter zum Bodenfenster hinauf. Da sprangen mich die Dächer an: schwarz, braun, rot, grau, bunt wie mein Baukasten, überall geflickt wie Omas Warbschürze. Hühnchens Katze jonglierte auf dem First wie der Clown im Zirkus, in dem der Maler-Opa mit mir gestern war. Wir liefen in jeden Zirkus, der im Städtchen sein buntes Zelt aufgeschlagen hatte. Auf Schleichpfaden dann runter auf den Hof, ein Blick in die Malerwerkställe, und schon riefen Pferd und Wagen zum Spiel: Der Sägebock wurde zum Pferd und der große Bullerwagen zum Ackerwagen, eiligst quer ein Brett als Schosskelle, anschirren, aufsteigen und: hü, hott! Manchmal ließ der kleine Kutscher die Zügel schleifen und schaute gebannt auf die schwarzen Essenholer im Birnbaum oder auf die kleinen blau-gelben im Grenzpfahl des Zauns. So reichte mir der Tag eins ums andere zu, ärgerlich nur, wenn ich das Ausspannen vergaß. Es kam nicht immer vor.

Dann zurück ins Haus zu meinen Kinderbüchern. Keine neuen Freunde. Ich hatte sie schon so oft gelesen. Aber heute noch nicht. Was ich las, kannte ich, was mir der verbummelte Tag dazu schenkte, noch nicht. Eine bunte Welt. Eine Bilder-Flut. Und mein großer Bullerwagen, nun schon Acker- und auch Bierwagen, wurde Kutsche und Salzfuhrwerk und Zigeunerwägelchen, holperte über Landstraßen oder mühte sich im mülmenden Sand der Heide. Ich genügte mir allein.

Willst du nicht zu Westi spielen gehen? Immer so allein. Ein richtiger Stubenhocker. Aber ich war doch auf dem Hof? Immer die Sorgen.

Und schon kriegte der MEINTAG einen Knacks. Ausgerechnet heute zu Westi. Morgen kommt sein Vater, da kann der nur noch Westmarken aufzählen: die Schokoladenmarken hoch und runter, gab es schon Matchbox?, aber Levi’s auf alle Fälle, schmal wie Röhren, kleidsam bei seinen O-Beinen. Das alles und viel mehr werde er ihm mitbringen. Neidisch? Nein, neidisch war ich nicht. Denn das dicke Ende käme noch. Sein Vater sei für Ordnung und Anstand, sagte der und greife schnell zum Rohrstock, als habe er sich schon lange darauf gefreut. Er lebte im Westen, der Pension wegen, sagte Mami, die er im Osten nicht bekäme. Pension – das ist viel Geld. War er hier, dann drehte sich alles nur um ihn. Sie stolzierten durch die Straßen wie Graf Koks von der Gasanstalt mit seiner Gnäd’chen, sagte meine Mami. Er mit einer großen schwarzen Hornbrille. Mit Fensterglas, sagten die Nachbarn. Die Freude dauerte bei Westi nie lange, dann verfluchte er seinen Alten und wünschte ihm die Pest an den Hals. So war es jedes Mal. Wenn seine Tante, die Mutter-Schwester zu Besuch kam, auch aus dem Westen, war das ganz anders. Sie kamen beide niemals zusammen, obwohl sie doch drüben ganz in der Nähe wohnten. Viel später erzählte mir Westi, dass die beiden zusammenwohnen wie Mann und Frau … Deshalb kam jeder allein. Man könnte sich verraten. Also heute nicht Westi als Spielkameraden.

Und Margi?

Warum nicht Margi? Natürlich reizten mich ihre rosa, lila oder grünen Höschen. Und mehr. Als wir uns einmal krachten, sagte sie unter Tränen: Ich heirate dich doch! Und gab mir zur Versöhnung ein Küsschen. Da wusste ich, warum die Erwachsenen sich abknutschen. Aber diesmal war sie nicht da. Irgendwo bei der buckligen Verwandtschaft zum Geburtstag. Ich brauchte heute nur mich.

Und später, wenn ich in mein Revier fuhr? Selten, dass ich eine Menschenseele traf. Ein Pferdefuhrwerk mit einem schläfrigen Bauern in der Schosskelle oder einen Angler vielleicht. Aus einem Lug-ins-Land erfreute ich mich an den Flugspielen des Bussards oder an einem Fliederbäumchen. Wer weiß, wie es hierhergekommen war. Eine Wegwarte war hineingewachsen. Übermannshoch. Das Bäumchen blühte noch einmal. Zartblau nach weiß.

Und auch sie liebte ich: die geschäftige Einsamkeit und Stille in den Lesesälen der Buchburgen.

Viel viel später schrieb ich in mein Tagebuch: In-mich-hineinhören und einen Wall aufbauen, um die eigenen Klänge besser zu hören. Keine Lärmschutzwand. Nicht zur Isolierung, sondern zur eigenen Tonverstärkung.

Hat das im Damals ein Würzelchen?

Ich war nicht immer allein, fühlte mich wohl in Gesellschaft und geborgen bei Freunden. Es zog mich dennoch immer wieder zu Frau Einsamkeit: Die Einsamkeit wollte ich haben, nicht die schmerzliche, traurige verlassene, die nicht, aber meine stille, gute, kluge, liebe Einsamkeit, die mir zuredet mit leisen Worten, die mir ihre stillen Lieder singt und mit mir geht, stumm und froh 

Auf diesem ungewöhnlichen Weg.

Johannes Bobrowski

Ich hätte ihn küssen können, den Kunert, Günter, Jahrgang 29. Er hatte ausgeplaudert, wie ich meine Fensterblicke angehen könnte: meine KINDERWELT, mein Städtchen, nämlich auf literarischem Zugang zu betreten. Genau das ist es. In fünf Worten nur und so brillant! Er gab mir das Maß vor.

Und die Probe aufs Exempel: Mit MEINER SOPHIE bevölkern Persönlichkeiten das Städtchen, die es mit Sicherheit nicht kennen, kommen mit Freunden anderer in die Runde oder bilden einen neuen Freundesbund. Das Städtchen belebt sich, weltläufig, wer es zu sehen versteht.

Gemeint ist meine Bleibe – und nicht mein Heimatstädtchen, wohin ich jetzt zurückkehre, und das nun auch bevölkert wird von Hannes, dem Sarmaten, vom Wilhelmshorster, vom frischen Schweizer, vom Jaunfelder, von der Landsbergerin, dem Schulzenhofer und der Schulzenhofbäuerin, vom Heidedichter, vom Waldgänger, von dem Großen, vom Zauberer und von vielen anderen mehr.

Also: Insofern wird jeder Ort ungewöhnlich und betretenswert und ein Anlaß zum Weltverständnis. Jawohl, Herr Kunert, so soll es werden. Tausend Dank und Grüße an die Frau Gemahlin.

Bis jetzt habe ich geschwiegen. Nun aber ein bescheidener Einwurf, eigentlich nur eine kleine Frage zu deiner netten Konversation.

Entschuldigung, ich vergaß mich vorzustellen: Ich bin ein FREUND des Schreibers, habe seine Bücher und Aufsätze gelesen, mich in seine Lesungen, wo auch immer, hineingeschlichen, sammle alles über ihn, sogar sein Konterfei klebt auf einem Ordnerrücken.

Ich bin sein treuer LESER und nehme mir heraus, hin und wieder mich einzumischen. In Verehrung. Aus Spaß an der Freud’. Und nun frag’ ich dich: Wie stehts dann mit Arno Schmidts Gebot: Solls’Da ábgewöhn’, in Zitatn zu quatschen!? Mein Rat bei aller Wertschätzung des Bargfelders: Mach weiter so, mein großer Freund und Schreiber.

Das Fenster

Die vielen Himmel über

Sehr flachem Land! Im ersten

Fliegen die Elstern, im zweiten

Hochfahrende Wolken. Der dritte

Für Lerchen. Im vierten

Sah ich ein Flugzeug stehn.

Sarah Kirsch

Sieben Fenster oder neun oder dreizehn. Wer hatte sie gezählt? Es war etwas Mythisches, das von ihnen ausging. Entwürfe auf die Zukunft hin. Manchmal war es dasselbe Fenster, aber mit einem Blick in eine andere Welt. Und manchmal mischten sich die Welten. Auch die Fenster rückten zusammen. Nur ich blieb derselbe, aber nicht der gleiche. Die sieben Fensterblicke, begrenzte Ausschnitte und die leidliche Auswahl, machten in der Summe meinen kindlichen Kosmos mit seinen Hintergrundstrahlungen aus.

Aber ist das möglich …, aus dem Dunkel des gelebten Augenblicks herauszutreten? Ist es ein anderes: zu leben und zu erleben? War es nicht gerade das Erleben, das die Fenster öffnete und dem scheinbar Üblichen, Alltäglichen, allzu Vergänglichen seine Geschichten (meine Geschichten) abforderte und dem zunächst Freischwebenden einen Platz zuwies? Zaghaft. Anfänglich. Noch unausgegoren.

Später erst in ihrer schriftlichen Befestigung.

Fragen über Fragen 

Eines ist gewiss: Nur der Fensterblick, der als Bild im Augenblick seiner Erkennbarkeit aufblitzte und sich zu formen begann, konnte mir das Vergangene zu späterem Nutzen festhalten und vergrößerte sich um das, was die Zeit ausgespuckt.

Schau doch! Schau!

Peter Handke

Und wenn man schaut, wie recht hatte der Jaunfelder, schaut man ja noch nicht, man kommt ins Schauen. Das war es. Das Städtchen hatte dann kein anderes Zentrum als mich selbst. Es war das Gesicht meiner Kindheit. Ich war das Maß.

Immer wenn sich ein Fenster öffnete, war mir, als würde sich eine Lücke in meiner kleinen Welt schließen, die ich vorher nicht geahnt hatte. Ein zauberischer Lückenschluss der großen in der kleinen Welt.

Otto Gericke (damals noch nicht nobilitiert) schloss die große klaffende, brennende, blutende Lücke seines Lebens, verloren, vertrieben, verdammt, in einer Nacht, aus der Kammer heraus, in der er gefänglich gehalten, mit vielen Gesichtern und Gesichten, die gegen die Enge anstürmten und sich der Ferne offenbarten.

Auch dies gehört zu den Bilder(n) einer langen Reise, die, auch für mich immer wieder überraschend, aus Würzelchen meiner Kindheit trieb.

Hätten sich auch später – mühelos und gleichermaßen nachhaltig – die gleichen Fenster geöffnet? Oder wären einige Welten für dich (für uns) für immer fensterlos geblieben? WAS WÄRE WENN – hätte sich dieses oder jenes Fenster nicht geöffnet, hättest dich lediglich in den blanken Scheiben gespiegelt?

Sie hatten sich geöffnet, mein lieber Freund, als ich noch kurze Hosen, am liebsten Lederhosen, trug, und stehen noch immer weit offen, und ich, grauhaarig nun, mit morschen Knochen und von tausend Teufelchen geplagt.

Und Hand aufs Herz, waren deine Fensterblicke immer ein Gewinn?

Ja, wenn nicht immer ein Fullhouse wie auch im Würfelspiel der alten Zecher. Sich in diesem Glück zu sonnen ist dem Alter vorbehalten. Etwas Gutes muss es doch haben, wenn auch eine gestundete Zeit.

Also 

Ich brauche keine sagenhafte Wünsch-dir-was-Box samt märchenhafter Dunkelkammer dafür, um die gewonnenen Welten abzulichten. Auch nicht den Kasten des Lenz’ (nicht im Lenz, sondern des Lenz’ als seinen Besitzer und ihren Meister): Der konnte mehr und zauberte eine Photographie zum Lesen, zum Suchen und Wiederfinden jedenfalls, denn so ein Weitwinkel … macht dem Auge redselige Angebote  Die des Kaschuben war hintersinnig, die Lenz’sche angebotsorientiert. Mir genügt der jeweilige Fensterblick ohne jeden Firlefanz.

So sind meine Fenster Guckfenster und die Welt ein Guckkasten und meine Erinnerungen Guckkastenbildchen. Und ich? Ein GUCKINDIEWELT, nicht wie Hanns-Guck-in-die-Luft, der die Welt in den Wolken suchte, sondern ein Weltsucher mit sieben Lasten.

Das schmiss mir keine Fenster ein. Ich musste nicht beim mittleren Fenster stehen bleiben. Hier aber irrt der Volksmund:

Mach’s Fenster auf, Eichenlaub stinkt.

So war die kindliche Welt zur SCHAU-BÜHNE geworden. Mit literarischem Zugang ein Spiel, das endlich und später, viel später eine endgültige Form erhalten sollte.

Endlich? Endgültig? Wer weiß. Alles ein Spiel.

Vielen möchte ich danken. Den meisten postum. Aber ich lebe noch immer mit ihnen, zumindest jetzt, oder lebte mit ihnen hier und da in meinen Büchern. Manche sind einfach da, und ich weiß erst jetzt, woher sie kamen. Es soll kein Totenbuch werden, sondern ein Lebensbuch, ein Stück weit in Echtzeit geschrieben.

Nehme ich mich zu ernst? Seht es meinem Alter nach. ABER ES WAR SO. So meine ich.

2

Kindheit. Eine Ortsbeschreibung

So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde.

Walter Benjamin

: Sie sitzen an einem blankgescheuerten Tisch, drei Alte auf Tuchfühlung, hinter ihnen ein Kiebitz, und würfeln. Die Kopfbedeckungen, die Wämser, die großen Münzen, die Tonpfeifen, der Tabaksbeutel und die Bierhumpen lassen auf ein holländisches Genrebild schließen. Der Glaskrug mit der Jahreszahl 1724 verrät die dargestellte Zeit.

Es ist schummrig im Raum. Aus den großen bleiverglasten Fenstern schaut der anbrechende Abend herein. Sie sind eingezwängt in einer kleinen Schankstube, wenn da nicht ein im Oberlicht geöffneter Fensterflügel wäre, der einen Treppengiebel mit kleinen Essen und zur Linken den Schatten eines weiteren Hauses zeigt und in einem winzigen Stück milchig weißen Himmels die große Welt erahnen lässt.

Der unsignierte Öldruck mit den würfelnden Alten, meisterhaft von meinem Vater mit einer breiten, schwarz schatttierten Goldleiste gerahmt, hing über dem Zweier-Sofa in unserer kleinen Stube und hängt heute in unserer Diele vis-à-vis eines Bildes, das lediglich mit schwarzen Farbtupfern eine Kindheitslandschaft hervorzaubert, die eigentlich zum sechsten, dem grünen Fenster, gehört.

Der Fensterblick, nicht die imponierenden Gestalten, die gebannt den rollenden Würfeln nachsehen, hatte mich schon früh angesprochen.

: Auch unsere Stube war klein. Ein Puppenstübchen, wie sie der Jünger des Frischgezapften nannte, durch ein Berliner Fenster trotz Nordseite tagsüber ausreichend erhellt. Es ging auf den Hof hinaus: auf den Flickenteppich des Stall- und des Trockendaches und in den Garten. Hinter sieben Pflaumenbäumen schloss eine mannshohe Planke meine kleine häusliche Welt ab. In der robusten Tür sah ich, als ich klein war, den Eingang in die große weite Welt. Lange blieb sie mir verschlossen. Eine Zaubertür. Was für die Mami-Mutter das komische Ding war, an das man nur zu klopfen brauchte und es dann, ganz leise, vom Wetter von heute und morgen erzählte –, das war die Gartenpforte für den Mami-Vater. War der Himmel hoch und weit, war sie in die Ferne gerückt, drohten dunkle Wolken, war sie zum Greifen nahe. Neben dem Barometer ein weiteres brauchbares Vehikel der Wetterdeutung wie die (zweite) Spruchweisheit der Mami-Mutter: Abendrot – Schönwetterbot’, wenn es sich auf dem Stallgiebel des Nachbargrundstückes in seinen warmen, weichen Farben zeigte und die Sperlinge zum Schwätzchen anlockte.

: Wie schön wäre es gewesen, würde das Stubenfenster auf die Straße, wenn auch nur eine Sackstraße, hinausgehen: auf die große Schucke, auf die Rotdornbäume –, auch die Schulzenhofbäuerin liebte sie:

Rotdorn meiner Kinderjahre.

Unterm roten Rotdorndach

Bin ich ein und aus gegangen.

Und der Rotdorn ging mir nach.

Roter Rotdorn meiner Kindheit.

Straßenbaum der kleinen Stadt,

Die ich liebte, die mich liebte,

Die mich aufgezogen hat.

Und weiter der Blick aus diesem Fenster auf den Eingang zur Bäckerei mit Tante-Emma-Laden und, wenn man Glück hatte, auf den Bierwagen, gezogen von schweren Kaltblütern, gut im Futter und immer ordentlich gestriegelt, geschmückt mit blinkendem Geschirr, oder auf den Lanz-Bulldog, der im Vorbeifahren alles andere übertönte, oder auf einen LKW, einen sogenannten Holzkocher, dem durch den Holzvergaser nicht viel Platz auf der Ladefläche blieb. Ich vergaß das Pferdefuhrwerk mit einer zeltartigen Plane, die die Mehlsäcke vor Wettern schützte, und den Kohlenwagen, von dem ein zwergwüchsiger Knecht die Fracht herunterschaufelte, und Hühnchens Pony, der Stolz des mehligen Meisters, ungebärdig, wenn es raus auf die Straße ging, und dann wieder lahm wie sein Herrchen, und Zicke Hinz, der stolz und steif seine Rappen zügelte, als kutschiere er Hochwohlgeborene und nicht Lumpen, Knochen und altes Eisen:

Lumpen, Knochen, Eisen und Papier,

Ausgeschlagene Zähne sammeln wir …,

sang Onkel Kuhni. Das war der ganze Fuhrpark der Straße, soweit von unserem Hause aus einsehbar, wenn sich nicht ein Russenlaster verfahren hatte, denn am Eingang zur Straße war kurzzeitig ihre Kommandantur. Unter lautem Fluchen und wildem Gestikulieren, als würde hier eine Schlacht entschieden, konnte oftmals erst nach Stunden gewendet werden. An ihre raue Sprache, die uns anfangs erschreckte, hatten wir uns mit der Zeit gewöhnt. Unsere Gartennachbarin, die alte Frau Dobert, verstand sogar ein paar Brocken. Kein Wunder, die komme auch aus der kalten Heimat.

Eigentlich gehörte auch die letzte Botenfrau des Städtchens zum Fuhrpark meiner Straße. Ihre Ladefläche war die Kiepe, wie der Sack des Weihnachtsmannes voller nützlicher Kleinigkeiten, die sie auf Wunsch ihrer Kunden in der großen Stadt besorgte. Sie hätte durchaus, durch die Last weit vorgebeugt und schweren Schritts, eine Weihnachtsfrau abgeben können. Aber war der Alte nicht ein Junggeselle, und die Engelchen in seinem Hause sorgten sich doch nur für sein leibliches Wohl, kraulten ihm den Bart und …? Was noch, wer wusste das schon.

: Hier das Berliner Fenster.

Meine Mami putzte nicht ihr Stubenfenster, sondern das Berliner, weil neu, modern, nach der Reichshauptstadt benannt. Als sie geteilt wurde, blieb es dabei. Nobel, Robert: Berlin bleibt doch Berlin! Vor allem aber: Es war das einzige dieser lichtfreundlichen Fensterart in unserer Straße. Eigentlich war unser Küchenfenster auch so ein hauptstädtisches, etwas kleiner zwar, mehr Köpenick und Steglitz als Alex und Ku’damm.

Man sah es dem Fenster nicht an, was es alles konnte. Eigentlich ein stinknormales Fenster. Saubere Tischlerarbeit, selbst den heulenden Nordwind ließ es draußen. Die Verglasung hätte ein Gesellen- und die Malerarbeit ein Meisterstück sein können: keine Nasen, nicht dick die Farbe draufgeschmiert und nur ein Millimeter auf die Scheibe gestrichen, der Lack (Friedensware!) noch gut im Glanz. So sollte jedes sein.

Nichts von einem Zauberfenster. Und doch: Es war ein Schlüssel zu meinen Welten, Guckkasten, Box, Fernrohr, Startplatz für Träume, Erinnerungsort und Eingang zur SCHAU-BÜHNE, egal ob Haupt- oder Bühneneingang. Mehr ging nun wirklich nicht. Aber alles das war es, mein Fenster.

Was war eigentlich aus ihm geworden? War es der Abrisswut zum Opfer gefallen? Oder war es irgendwo eingebaut worden (noch Friedensware!)? Oder hatte es ein Kleingärtner für sein Gewächshaus verwendet?

Ich weiß es nicht, aber so ähnlich war das erste Glashäuschen in meinem Schrebergarten, aus Abrissfenstern montiert. Und der Blick dann von draußen auf die Tomaten oder Gurken und von innen auf die bunte Gartenwelt.

Solch ein Fenster gehörte nicht auf die Halde. Es hatte doch seine Verdienste.

Die auf unserem Bild sehen nur die Würfel, rechnen Soll und Haben auf, trinken auf Sieg oder Verlust – und sehen niemals zum geöffneten Fenster auf wie ich.

Die Lust, jemandem davon zu erzählen, heiterte mich richtig auf.

Peter Handke

ICH will mich erinnern.

Der Vorspann zu meiner Lesung im Städtchen hat(te) mir ein Maß gesetzt und die Lust geschenkt: MICH zu erinnern.

: Es war wiederum der Blick aus einem Fenster, aus dem Fenster des eingeschossigen Bibliotheksgebäudes, früher ein Pferdestall (Pegasus läßt grüßen!): auf den zur Tausendjahrfeier des Städtchens aufpolierten Hof der einstigen Schlossdomäne mit den Westgiebeln des Pallas und der Schlosskapelle, die lange Zeit für alle verschlossen und für nichts zu gebrauchen war und in der meine Mami als Kind, so erzählte sie gern, mit einer Freundin auf der Empore herumgetollt war. Den Schlüssel für die große Eingangspforte hatte sie ihrem Vater stibitzt. Ein Großer, so dachte ich, ein Schlüsselgewaltiger. Historisch war das nicht so ganz falsch gedacht.

Als ich später einmal gebeten wurde, einen litauischen Schriftsteller durch Magdeburg zu führen, fand ich kein offenes Ohr, mit ihm außerhalb der Öffnungs- und Führungszeiten den Dom besuchen zu können. Erst nach einem sagenhaften Tauschhandel mit dem Küster: meinen Personalausweis für den Domschlüssel, konnte ich den sehnlichsten Wunsch meines Gastes erfüllen.

Darf ich einmal den Schlüssel in die Hand nehmen?, fragte er, und stolz dann mit einem verlegenen Lächeln: Ich bin ein Domherr! Und noch einmal, als ich die Tür, wie gefordert, von innen verschloss.

ERINNERUNGSBILD(ER). Eins führte zum anderen. Sie fügten sich schließlich zu einem großen, nie vollendeten Bild, wurzelnd in meiner Kindheit. Sonst hätte es hier keinen Platz finden dürfen, hätte sich also nur hineingeschummelt, weil es bisher unbedacht geblieben war.

Wie wir nun allein im Dom, so wurde Gertrud von le Fort einst abends versehentlich eingeschlossen. Eine Perle der Literatur, die Erzählung Der Dom, entstand.

Ob das seltsame Schlüsselerlebnis deinem Gast in die Feder floss?

Eigentlich zu poetisch für diesen profanen Tauschakt, aber allein im alten, ehrwürdigen Gotteshaus zu weilen? Es ist durchaus denkbar, auch wegen seiner Manie, alles dank einer Laika mit nach Haus zu nehmen.

Bei mir schlummerte dieser Dombesuch lange, ehe er auf seinen Wiedergang pochte. Zuerst als SCHAU-BILD in meinem Sagenbuch, das dann sogar im Schatten des Doms, in der einstigen Domkurie, seine Premiere feierte, und dann mehrfach noch und letztlich, als meine Sophie ihre Magdeburg-Visite Revue passieren ließ: Ein erfüllter Tag. Sie sieht noch einmal in der Ferne den Dom, sieht sich im lichten Inneren, allein und bangen Herzens ob seiner Größe, in der sie ganz klein, nur ein Stäubchen im Lichtstrahl und glücklich in seinem Schutz und Trutz vor der vergänglichen Welt.

Hatte mein Gast es auch so empfunden?

Hatte mir bis dahin nicht die Kirche meiner Kindheit mit dem Aufstieg zum Glockenstuhl als krönenden Abschluss des Konfirmandenunterrichts genügt – und der freie Blick auf mein Städtchen, auf meine Straße, auf das Flüsschen und in mein grünes Revier?

Und nicht die noch weitgehend intakte Kirche unweit des Breiten Weges, die kommunistischer Ignoranz schließlich geopfert wurde und nun auf eine Wiedergeburt hofft? Sie, die Familienkirche der Gerickes, im Feuersturm der Magdeburgischen Hochzeit … Rechter Hand St. Ulrich und Levin. Am Dachstuhl fraßen die Flammen und nagten an den Türmen. Vater! Vater! hörte ich ihn schreien. Und wieder 1956: Ich hörte die Kirche aufschreien und sah viele Magdeburger weinen, als sie gesprengt wurde.

Den Küstern sei postum für ihre Kulturtaten wider Willen gedankt. Vom Schlüssel der Schlosskapelle zum Domschlüssel und zurück ins Städtchen, denn sonst wäre eine falsche Überschrift gewählt worden und nicht: KINDHEIT. EINE ORTSBESCHREIBUNG.

Des Städtchens schon. Aber zu eng sollte man den Ort nicht fassen. Er war kein Einzelgänger. Sein Lebensnerv hing an der großen Stadt am Strom. Wie meiner auch.

Jetzt schaue ich nicht hinaus, weit hinaus, nach vorn, sondern zuück und vergewissere mich meines Platzes. Meines Standpunktes zunächst.

Tränkt mich eine Weile noch, Flüsse 

Georg Maurer

Die ELBE.

Mein Traumfluss, dem das Flüsschen Vorm Tore zuläuft. So nah und doch so weit, dass sie in meine Träume floss. Kein fauliges Binnengewässer, sogar mit Wassern anderer Länder gespeist, und Grenzstrom. Ich musste nicht den Fluss meiner Kindheit verlassen, denn er war es nur im Traum, zu ihm wollte ich ziehen. Jeder Besuch bei Onkel und Tante im Nachbardorf hinterm Elbdeich war ein Stück des Wegs dahin –, bis es sich später so fügte. Meiner Sophie habe ich meine Liebe zum Strom geschenkt: Jeden Tag zieht es Mme. zur Elbe, wo „der Elb- oder Schiffahrts Canal“ in den „Neue(n) Haupt Elbstrom“ mündet und die kleinen Inselchen, dem „Salzwerck“ und dem „alte(n) Canal Werder“ vorgelagert, das Wassergeflügel magisch anziehen. Jeden Tag zeigt ihr der Strom ein anderes Gesicht.

Nun die OHRE.