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Sonar 12




Roman Simić ist Autor und Herausgeber sowie Organisator und Programmdirektor des renommierten Festival of the European Short Story. Zweimal erhielt er den Goran-Preis für junge Dichter, er war Stipendiat des Literarischen Colloquium Berlin und der Stadt Graz. Seine Erzählungen wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, 2007 erschien sein Erzählband »In was wir uns verlieben« (Voland & Quist) auf Deutsch. »Von all den unglaublichen Dingen« wurde von der kroatischen Tageszeitung Jutarnji list als das beste kroatische Prosawerk 2012 ausgezeichnet.

Roman Simić

VON ALL DEN UNGLAUBLICHEN DINGEN

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Die Herausgabe dieses Werkes wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, KulturKontakt Austria, das Goethe-Institut, die Slowenische Buchagentur JAK, das Ministerium für Kultur der Republik Kroatien, das Ressort Kultur der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, die Kulturstiftung Liechtenstein und die S. Fischer Stiftung angehören.

Sonar 12

Originaltitel: Roman Simić Bodrožić, »Nahrani me«, erschienen bei Profil Knjiga, Zagreb 2012

»Füchse« und »Deserteure« erschienen auf Deutsch erstmals in »Kein Gott in Susedgrad. Neue Literatur aus Kroatien«, Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2008.

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2013
© der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR

Korrektorat: Annegret Schenkel, Leipzig
Umschlaggestaltung: HawaiiF3, Leipzig
Satz: Fred Uhde, Leipzig
ISBN: 978-3-86391-062-4

www.voland-quist.de

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Füchse




Von all den unglaublichen Geschichten habe ich mir ausgerechnet die mit dem Hund gemerkt. Du hast sie mir ganz am Anfang erzählt, als wir uns noch kennenlernten, uns beschnupperten, vielleicht ist die Geschichte mit dem Hund deshalb hängen geblieben. Jedenfalls gab es vor langer Zeit in deiner Straße einen herrenlosen Hund, ein Kind hatte »Hrvatska« auf ihn gesprayt, ein anderes hatte ihn deswegen aufgehängt, und dann brach der Krieg aus, wegen dem Hund und dem Kind, das hast du damals nicht gesagt, das habe ich selbst dazugeschrieben, weil ich nicht verstehe, was eigentlich geschehen ist, und weil ich den Eindruck habe, dass ich es nie verstehen werde.

Im Herbst 1991 verließ ich eine Kaserne der jugoslawischen Volksarmee in Südserbien, du hast die Sommerferien auf irgendeiner Adria-Insel zwangsweise verlängert, und in Vukovar verschwand dein Vater. Du sagst verschwand, als hätte es länger gedauert, und erklärst, er sei damals gewissermaßen noch da gewesen, deine Mutter hätte ihn zumindest durch das Wunder der Telefonmuschel hören können, ein Wunder, weil es klang, als wäre er im Nachbarhaus, und weil man sich für das bisschen Stimme anstrengen musste wie für nichts im bisherigen Leben.

Bisheriges Leben klingt blöd, aber es trifft die Sache.

Im Herbst 1991 war ich neunzehn Jahre alt, du warst zehn und dein Vater sechsunddreißig Jahre, ich kehrte in die Stadt an der Küste zurück, und der Bombenangriff begann, eine Granate explodierte im Hof, ich weiß nicht mehr, wie viel Angst ich hatte, ich weiß nur noch, dass ich meine Schwester aus dem Haus trug und in das Betonloch schob, dass sie steif wie eine Leiche war, aber lebte, dass wir die Nacht in diesem alten italienischen Bunker verbrachten und dort auf den Morgen warteten, Mama war noch im Dienst, Papa lebte nicht bei uns, wir wachten von selbst auf und gingen zum Meer, das war ruhig, gleichmütig wie das Loch im Haus, in dem wir zur Untermiete wohnten, und ich hielt es damals sogar für einen Sieg, dass wir nichts Eigenes verloren hatten.

Dann zog ich nach Zagreb, damit hatte sich der Krieg für mich, für euch war es anders. Für jeden war es anders, sagst du, aber dass dein Vater verschwunden ist, macht dich trotz der neun Jahre Altersunterschied erfahrener, älter.

Ich hatte Angst, dich nach diesem Verschwinden zu fragen, ich weiß nicht, ob ich dir das je gesagt habe. Als wir zum ersten Mal auf dem Ovčara waren, wagte ich kaum zu atmen: diese Fläche, dieser Himmel, und alles leer, kein Leben, nur du und deine Mutter und der Bruder und die Leute, die Vučedoler Tontäubchen verkauften, Souvenirs aus dem Neolithikum, der unvermeidliche Tourismus, Deckchen auf dreckigen Motorhauben, und der Gedanke, dass es diesen ganzen Kleinsthandel ohne das ganze Unglück nicht gäbe, das Schreckliche, in dem die Häuser verschwinden und Marktstände zurückbleiben, mit Zeltplanen überdachte Tische, Märkte, von denen niemand reich wird.

Als wir in jener Nacht bis an die Nasenspitze zugedeckt im Bett lagen, hast du mir von dir aus erzählt, dass sie die Verwundeten und die Männer, denen die Flucht ins Krankenhaus gelungen war, herausholten und in einem der umliegenden landwirtschaftlichen Betriebe einsperrten, dass sie sie die ganze Nacht in einer Halle schlugen, am Morgen in Busse verfrachteten und zu umgepflügten Äckern brachten. Es waren fünf volle Busse, die Leichen aus vier Bussen wurden gefunden, dein Vater war im fünften, jenem, von dem die serbischen Nachbarn schweigen. Auch wir schweigen, im Zimmer ist es dunkel, an der Decke sind keine Sterne, ich presse mich an dich, ich habe Angst auszuatmen. Ich erinnere mich an dieses Feld, deine Mutter ist eine kleine Frau mit dunklem Teint und dunklen Haaren, du bist schlank und groß, ihr ähnelt euch überhaupt nicht, und ich denke: Deine Gesichtszüge hat jemand in diesem fünften Bus weggefahren, deine schmalen Hände, dein Lächeln, deine grünen Augen, die unter diesem Himmel gelb und braun werden, denn es ist Herbst und alles ruht, alles außer dem Herzen, wirklich, ich spreche es nicht aus, dies ist wirklich der traurigste Ort auf Erden.

Wann immer ich an diesen Nachmittag denke, erinnere ich mich an jede Einzelheit: deine Kleidung, die Handtasche deiner Mutter, die Musik, die dein Bruder im Auto laufen ließ, die Holzkreuze und Rosenkränze, die die Trauernden für die Opfer vor dem Denkmal ablegten, ein ganzer Berg von Holz und Metall, der immer größer wurde, bis ihn jemand abräumte, den Bericht sahen wir im Fernsehen, du hast Abendessen gekocht, ich wartete auf die Sportschau, und sie kam, die Nachricht, die du regungslos hingenommen hast, du hast dich eher noch tiefer in den Topf verkrochen, auf dem Bildschirm bat eine alte Frau, ihnen wenigstens das zurückzugeben, aber du hast nichts gesagt, und ich dachte, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist, dass ich dich aus ihm herausholen müsste, wenigstens für kurze Zeit, wie damals die Schwester, und ich trug dich hinaus, aber wir wussten nicht, wohin, gegen solche Nachrichten kann sich der Mensch nicht wehren, sie erreichen dich irgendwo und irgendwie, und sei es als Brief, auf dem dein Name steht, aber die Adresse fehlt, oder wie damals, als ich kurz nach dem Krieg mit meiner damaligen Freundin nach Belgrad fuhr und wir uns am Bahnhof ein Taxi nahmen und der Taxifahrer wissen wollte, woher wir kämen, und wir sagten es ihm, und da sagte er, er sei während des Krieges in Vukovar gewesen und wenn wir ihn jetzt nach dem Grund fragten, könnte er es uns nicht sagen, aber damals hätte es Sinn gehabt – er erwähnte die Verwandtschaft seiner Frau in Vinkovci, die Amerikaner, die uns aufeinandergehetzt hätten, und er klang wie jemand, dem nicht zu helfen ist. An sein Gesicht erinnere ich mich nicht, nur an die Stimme; wir haben bezahlt und sind gegangen, das Mädchen und ich, mit einem Kloß im Hals, voller Scham, ich spreche es nach so vielen Jahren aus, denn vielleicht hat genau dieser Mann den fünften Bus gefahren, den, von dem die Nachbarn schweigen, vielleicht hat er einen Mann weggefahren, den ich nie kennengelernt habe, deinen Vater, jenen Mann, der bis heute, nach so vielen Jahren, am Esszimmertisch deiner Mutter und unter unserer sternenlosen Decke als verschwunden geführt wird.

Aber ich will dir von uns, die wir hier sind, erzählen. Ich beispielsweise sitze auf einer Bank im Zoologischen Garten und schreibe dir einen Brief. Du sitzt zu Hause am Schreibtisch und glaubst, ich wäre mit meinen Kumpels in der Kneipe. Ab und zu komme ich hierher, setze mich jedes Mal vor einen anderen Käfig und verschanze mich hinter meiner kleinen Lüge, ich bezahle Eintritt für diese kleine Einsamkeit, eine Einsamkeit für dich. Einmal waren wir gemeinsam in diesem Zoo, nur so lange, um uns zu vergewissern, dass es uns nicht gefällt, und jetzt könnte ich stundenlang darüber schreiben. Wer ihn gegründet hat, wann, warum, auf wie viel Hektar und dass die ersten Bewohner zwei Füchse und drei Eulen waren, keine sonderlich aufregende Besetzung, ungefähr so exotisch wie Geflügel, keiner spricht über sie, sie sind Vergangenheit, und alles andere sind Tafeln mit komplizierten lateinischen Namen darauf und den zugehörigen Körpern, die sich zu Tode langweilen. Ich langweile mich nicht. Ich sitze vor dem Becken mit den Zwergottern, schreibe, denke über den Hund nach, der sich in die Erinnerung drängt. Manchmal ähneln alle deine Geschichten der von dem Hund. Zum Beispiel dass ihr, als eure Mutter aus Vukovar kam, alle drei zunächst bei Verwandten in Zagreb gewohnt habt, und als die Gastfreundschaft aufgebraucht war, haben die Verwandten deiner Mutter eine heruntergekommene Wohnung im obersten Stock eines Hochhauses gezeigt, eine leere Wohnung mit Tauben und Blick auf die Vororte, die bei Starkwind schwankte, ihr habt euch mithilfe einer Brechstange und der Nachbarn, Unbekannten, die helfen wollten, Zutritt verschafft. Der Besitzer hat nie darin gewohnt, aber als ihr kamt, erinnerte er sich an sein Eigentum, und so haben sie euch bald vertrieben, ihr seid in einem Bus gelandet, mit anderen wie euch, auf dem Weg zu einer Unterkunft, wo ihr niemandem im Weg wart.

Irgendjemand hat mal gesagt, das Problem mit Zoologischen Gärten sei, dass Tiere im Käfig aufhörten, Tiere zu sein, und augenblicklich eine Seele bekämen. Und mit der Seele hat man es schwer, nicht wahr? Als sie euch im Zimmerchen einer ehemaligen Kaderschule unterbrachten, in einem Dorf, in das man vor dem Krieg an hohen Feiertagen pilgerte, dem Geburtsort des ehemaligen Präsidenten auf Lebenszeit, war deine Mutter siebenunddreißig, du zwölf und ich einundzwanzig Jahre alt, ich studierte Philosophie und fand, dass mich all das, was um mich herum geschah, nichts anging. Meine Mutter war kaum älter als deine, sie arbeitete als Ärztin an der Front und sagte einmal, sie sehe jeden Tag junge Männer in meinem Alter sterben, während ich in Zagreb philosophierte, und dass sie es gut fände, wenn ich mal dort wäre, bei ihnen, unter ihnen, sagte ich, und das war unser letztes Gespräch dieser Art – danach beschränkten wir uns auf trockene Umarmungen im Sommer oder an Weihnachten, Tage, an denen wir uns hauptsächlich mieden und wie auf höheren Befehl hin Waffenstillstand herrschte, ein langes, ungemütliches Schweigen.

Während du in eurem Zimmerchen in Kumrovec erwachsen wurdest, bin ich unter anderem gereist. Ich weiß nicht, ob ich dir schon davon erzählt habe, aber einen Sommer lang habe ich in Spanien gearbeitet, und ein paar Bekannte nahmen mich in ein Städtchen mit, das für ein kleines, etwas vernachlässigtes Museum berühmt ist. Es war die Hinterlassenschaft eines Naturkundlers aus der Stadt, eines Weltreisenden, der Ende des 19. Jahrhunderts eine Sammlung aus allen Gegenden der Erdkugel zusammentrug. Räume voller archäologischer Funde, Pflanzen- und Tierfossilien, Herbarien und Terrarien, da sind wir schnell durchgegangen, es gab dort nichts Besonderes, nichts, wofür es sich gelohnt hätte, den Genuss einer Tasse Kaffee am Flussufer zu unterbrechen. Meine Begleiter fingen an zu grinsen, als wir in die Räume mit den ausgestopften Tieren kamen. Nach Vögeln und wilden Tieren, darunter sogar einem staubigen Löwen, stand im letzten Raum das, wofür die Sammlung wahrscheinlich berühmt war: Aus einem Glasschrank starrte uns ein kleiner, schwarzer Mann mit Kraushaar an, bekleidet mit ein paar farblosen Fetzen, bewaffnet mit einem Köcher, Pfeilen und einem Speer, mit Murmeln statt Augen und einem Kragen, der vergeblich eine hässliche, breite Narbe am Hals verdecken sollte. Auf dem Schrankboden lagen Äste und eine dünne Schicht roter Erde, die seine natürliche Umgebung andeuten sollten, dort lag auch eine Tafel mit Angaben, die wir studierten, bis einer meiner Begleiter mit den Achseln zuckte und sagte: »Also so etwas kriegst du bei dir zu Hause sicher nicht zu sehen«, und dann verstummte er, wahrscheinlich weil er an alle möglichen Fernseh-, Radio- und Satellitenprogramme dachte, die mir das sehr wohl ermöglichten. Dem Mann war es unangenehm, das Museum wurde später geschlossen, und ich reiste ab, aber die Geschichte blieb. Die Geschichte von der Seele und dem Käfig: Tiere hinter Gittern bekommen sie, Menschen hinter Gittern verlieren sie, aber ich bin nicht hier, um dir davon zu erzählen, die Sonne steht noch hoch, die Zwergottern wenden sich ihr zu, tauchen, schwimmen an mir vorbei, sehen mich an, und ich erwidere den Blick, wir leben, man muss von uns erzählen.

Ich denke: So selten sie an die Oberfläche dringen mag, unser ganzes Leben ist von ihr bestimmt – unserer Vergangenheit. Deine und meine Geschichten, verflochten, abends auf der Couch, nach der Arbeit, wenn wir ins Kino gehen, vorm Fernseher, nach dem Liebemachen – es wäre schön, sie loszuwerden, wenigstens für kurze Zeit, aber wie? Manchmal erzählst du mir zum Beispiel von deinen Großmüttern. Von der Mutter deiner Mutter, die erst Mitte ’92 aus Vukovar herauskam, die nach dem Fall der Stadt bei dem Großvater geblieben war, bis man sie zwang, das Haus zu überschreiben und zu gehen; der Großmutter haben sie den Arm gebrochen, der Großvater war inzwischen Alkoholiker, aber vielleicht kam das auch nicht vom Krieg, ebenso wenig wie die gebrochenen Knochen, sagst du, so was passiert, Knochenbrüche kommen auch im Frieden vor. Aber wegen des Krieges musste euch das Rote Kreuz zusammenführen, im Geburtsort des ehemaligen Präsidenten trafen sie zur selben Zeit ein wie ihr, der Großvater ist bald gestorben, und die Großmutter blieb bei euch, diese Geschichte scheint dich zu amüsieren, in deinen Berichten gehört die Großmutter zum Inventar der Wohnung deiner Mutter, sie betet neben dem Radio und hat kaum noch Zähne, die Mutter verdreht wegen ihr oft die Augen, und obwohl sie euch nicht hören kann, lacht ihr nur leise über sie, aber dieses Lachen hat offenbar etwas zu verstecken, aber dieses Lachen ist offenbar nicht echt, will es aber sein, immer irgendein Aber. Die andere Großmutter hat eure Adresse etwas früher herausgefunden, sie starb nicht bei euch, sondern in Split. Ins Heimatdorf des ehemaligen Präsidenten wolle sie nicht, eher würde sie sterben, hat sie gesagt, und wie immer bekam sie am Ende ihren Willen. Sie war eine zähe Herzegowinerin, sie wollte baba gerufen werden, ihr habt euch nie nahegestanden, sie vergötterte deinen Bruder, den neuen Mann im Haus, einmal hat sie dich verdroschen, sagst du, du hattest tagelang überall blaue Flecken, und du erzählst, wie sie über die Vojvodina und Ungarn nach Zagreb gekommen war und euch erzählte, dass sie den Großvater im Hof umgebracht und die Greisin vergewaltigt haben, die sich mit ihr im Keller versteckt hatte, du erzählst, dass du sie nach dem Krieg in dieser kleinen Wohnung besucht hast, die sie zur Verfügung gestellt bekam, weil ihr Mann und ihr Sohn gefallen waren, wie du sie zu bewundern gelernt hast und dass sie dir kurz vor ihrem Tod gesagt hat, du könntest mit deinem Leben machen, was du wolltest, nur solltest du nie einen Serben heiraten – worüber wir besonders laut lachen müssen, mehr als über die Geschichten von deiner anderen Großmutter, mehr als über irgendeine andere Geschichte bisher, denn eine Geschichte habe ich dir schon erzählt, die von meiner Großmutter, die am Anfang des Krieges mit dem Großvater nach Serbien floh, sich bei meinem Vater erst vom Flughafen aus meldete und dann mehrere Jahre lang gar nicht, und wenn er sich bei ihnen meldete, verschwieg er die Bomben und die Toten, mit ihnen kann man nicht reden, sagte er mir, ihnen kann man nur zuhören – er war vierzig Jahre alt und hatte Angst wie im Märchen: Mama und Papa sind fortgegangen und kommen nie mehr zurück. Ich sah ihn an und dachte, du kannst tausend Jahre alt werden, aber gegen deine Eltern hast du keine Chance, genau wie ich, genau wie alle außer dir, ihr, die ihr keine Eltern habt.

Jedem fehlt etwas, dem einen der Vater, dem anderen die Stadt, sagst du manchmal, als wolltest du dich rechtfertigen, und mir fehlen immer die Worte oder der Mut, etwas zu erwidern. Deswegen gehe ich in den Zoo. Deswegen sitze ich vor dem Becken der Zwergotter und fühle mich unbehaglich wie immer in solchen Situationen, ich will nur an das Hier und Jetzt denken, an verkümmerte Muskeln und stumpfe Blicke, an nassen Pelz im Regen, an den Wahnsinn auf kleinem Raum, will darüber einen Brief schreiben und nicht über das Verschwinden und die Seele, nicht über Menschen in und außerhalb von Vitrinen, über das, was uns trennt, und über das, was uns Tag für Tag trotz allem zusammenhält.

All unsere Geschichten bringe ich in diesen Zoo, damit sie an die frische Luft kommen, denn die verschwindet manchmal zwischen uns, schreibe ich. Ich schreibe: Ich würde dir gern etwas sagen, was du noch nie gehört hast und was dich von all diesem Verschwinden heilt, von all dem Unausgesprochenen, aber es gibt dafür keine Worte. Du sitzt zu Hause und lernst, und ich schreibe dir bereits seit Wochen einen Brief, und bereits seit Wochen vergesse ich, ihn dir auszuhändigen. Stattdessen denke ich an die beiden, an die zwei Füchse, die anfänglichen Bewohner. Allein auf den ersten paar Quadratmetern Erde, Adam und Eva ohne Schlange, aber umgeben von Menschen, gebunden an die Erde, den Himmel den Eulen überlassend, ich male mir aus, wie sie leben und sterben, und von ihnen bleibt nichts außer dem nüchternen Text auf der Tafel am Eingang des Zoologischen Gartens. Der Hund aus deiner Straße ist noch bei uns, aber wo sind die Füchse? Ich schreibe: Dieser Haufen Käfige, dieser Haufen Seelen, ganz leicht könnten sie eine Stadt sein, aber dafür fehlt den einen die Vergangenheit und den anderen die Kinder.

Ich höre auf zu schreiben und schließe die Augen. Jedes Mal, wenn ich von hier nach Hause komme, drückst du deine Nase in meinen Kragen, schnupperst, sagst aber nichts. Der Abend vergeht still, stiller als sonst, und wenn wir gemeinsam schlafen gehen, schmiege ich mich an dein warmes Schweigen und höre, wie du nicht schläfst. Wo sind die Füchse?, ich spreche es nicht aus. Keine einzige Straße, kein einziger Platz ist nach ihnen benannt. Wo ist der Ort, an dem sie geboren wurden, wo ist der Ort, an dem sie gestorben sind, wo sind ihre Erzählungen, die Mühsal, die sie hinter sich gelassen haben? Wo sind ihre Kinder? Ich umarme dich, drehe dich zu mir und sehe, wie unsere roten Ohren und die buschigen Schwänze über dem Schnee zittern, wie aus unseren feuchten Schnauzen Dampf aufsteigt, wie das Eis glitzert und die Sonne auf unserem Fell glänzt, wir dürfen nicht allein sein, flüstere ich in die Wärme deines Pelzes, deines Halses, während wir die Welt jenseits des Bettes einatmen, den Käfig und den Wald, wiederhole ich: Ohne das verschwinden wir, ohne das gibt es uns nicht.

Die Vögel des Diomedes