Cover

CARL SAFINA

Die Kultur der wilden Tiere

Wie Wale Familien gründen,
Papageien Schönsein lernen und
Schimpansen Frieden schließen

Aus dem Englischen von Sigrid Schmid
und Gabriele Würdinger

C.H.BECK

Zum Buch

Carl Safina, Biologe und Autor des internationalen Bestsellers «Die Intelligenz der Tiere», nimmt seine Leserinnen und Leser in die Lebenswelten von Tieren mit, die an den wenigen noch verbliebenen wilden Orte der Erde zu Hause sind. In ergreifenden Geschichten erfahren wir, was Tiere tun, warum sie es tun und wie sich das Leben für sie anfühlt.

«Safina gibt dem Leser das Gefühl, den Tieren ganz nahe zu sein, und lässt ihn einige der verführerischsten Gegenden der Erde erleben.» – The Wall Street Journal

«Carl Safina ist ein großartiger Autor, so grandios wie verschmitzt … Eindrucksvoll zeigt er Parallelen zwischen dem Leben der Tiere und unserem eigenen auf.» – The New York Times

«Safinas Staunen ist ansteckend.» – ELLE

Über den Autor

Carl Safina ist Meeresbiologe und einer der renommiertesten Naturschriftsteller weltweit. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Mit seiner Familie und seinen Tieren lebt er auf Long Island, New York. Im Verlag C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Die Intelligenz der Tiere. Wie Tiere fühlen und denken (2020).

Inhalt

Bildteil

Prolog

KULTUR EINS: Familien – Pottwale

Familien – 1

Familien – 2

Familien – 3

Familien – 4

Familien – 5

Familien – 6

Familien – 7

Familien – 8

Familien – 9

Familien – 10

Familien – 11

KULTUR ZWEI: Schönheit – Hellrote Aras

Schönheit – 1

Schönheit – 2

Schönheit – 3

Schönheit – 4

Schönheit – 5

Schönheit – 6

Schönheit – 7

KULTUR DREI: Frieden – Schimpansen

Frieden – 1

Frieden – 2

Frieden – 3

Frieden – 4

Frieden – 5

Frieden – 6

Frieden – 7

Frieden – 8

Frieden – 9

Frieden – 10

Frieden – 11

Epilog

Dank

Anmerkungen

Teil I: Familien – Pottwale

Familien 1

Familien 2

Familien 3

Familien 4

Familien 5

Familien 6

Familien 7

Familien 8

Familien 9

Familien 10

Familien 10

Teil II: Schönheit – Hellrote Aras

Schönheit 1

Schönheit 2

Schönheit 3

Schönheit 4

Schönheit 5

Schönheit 6

Schönheit 7

Teil III: Frieden – Schimpansen

Frieden 1

Frieden 2

Frieden 3

Frieden 4

Frieden 5

Frieden 6

Frieden 7

Frieden 8

Frieden 9

Frieden 10

Frieden 11

Auswahlbibliographie

Es ist eine bezeichnende Tatsache, dass, je mehr die Lebensweise
irgendeines besonderen Tieres von einem Naturforscher beobachtet
wird, dieser ihm desto mehr Verstand zuschreibt und desto weniger
die Handlungen nicht gelernten Instinkten beilegt.

Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen, 1871

Bildteil

Die Karibikinsel Dominica taucht aus einem tiefblauen Meer auf, der Heimat der Pottwale

Jocasta zeigt, dass sie da ist

Shane Gero lauscht auf die Klicks der Pottwale

Datenlogger mit Saugnäpfen

Eine ordentliche Bissnarbe

Shane bewegt den Datenlogger an einer langen Stange

Die Fluken von Pottwalen unterscheiden sich voneinander

… ein Sprung wie eine plötzliche Explosion und ein phänomenaler Aufprall

Der Río Tambopata entspringt in den Hochebenen des westlichen Amazonasgebiets von Peru

Aras schlüpfen blind und hilflos

«Wie fliegende Flammen in Rot, Gelb und Blau»

Aras am Río Tambopata in Peru

Drei Arten von Aras bei der Ankunft an einer Lehmklippe

Im salzarmen westlichen Amazonasgebiet bauen Aras den natriumreichen Lehm eines ehemaligen Meeresbodens ab

Gaby Vigo

Don Brightsmith

Ben

Alf

Cat Hobaiter bei der Beobachtung freilebender Schimpansen im Budongo-Wald, Uganda

Von links: Hawa, Musa, Simon

Ein Schimpansenweibchen auf dem Höhepunkt ihrer Östrusschwellung

Lotty

Cat Hobaiter

Masariki

Monika

In höchster Anspannung und schweigsam: auf Feindespatrouille

Mora und die kleine Nalala

Talisker, der erfahrene Staatsmann

Pascal trinkt mit einem Blätterschwamm

Prolog

Ein Schwarm Hellroter Aras steigt flammenden Kometen gleich aus dem tiefen Regenwald empor, mehrere Dutzend große, leuchtende, grellbunte Vögel mit wippenden Schwanzfedern. Mit großem Trara lassen sie sich in hohen Bäumen an einem steilen Flussufer nieder. Sie sind laut und verspielt. Selbst wenn dies der Ernst ihres Lebens sein sollte, wirken sie, als hätten sie Freude an sich selbst und aneinander. Auch im Schwarm lässt sich leicht erkennen, dass viele der Vögel als Paare, die dicht beisammenbleiben, unterwegs sind. Einem dieser Paare folgt ein dritter Ara, ein kräftiger Jungvogel, der in der letzten Brutzeit auf die Welt kam und seinen Eltern mit seiner ständigen Bettelei auf die Nerven geht. Die anderen einjährigen Aras haben bereits ihren Weg in eine würdigere Unabhängigkeit gefunden – sofern man Kopfüberhängen, Herumblödeln und Flirten als «würdig» bezeichnen möchte – und begonnen, sich in ihrem eigenen jungen Leben zurechtzufinden.

Ein kleiner Schimpanse lässt sich, rittlings auf dem Rücken seiner Mutter sitzend, zu einem Wasserloch tragen. Jetzt in der Trockenzeit sind nur noch vereinzelte, seichte Pfützen übrig. Es ist heiß. Am Vormittag haben alle in einem entfernten Obstbaum gesessen, und nach der Wanderung durch den dicht bewachsenen Wald hat die ganze Gruppe riesigen Durst. Die Schimpansenmutter sammelt etwas Moos, knüllt es zu einer Art Schwamm zusammen, taucht ihn in die winzige Pfütze und presst ihn aus, um zu trinken. Ihr kleiner Prinz springt von ihrem Rücken, tippt sie so lange an, bis sie ihm den Schwamm überlässt, und macht es ihr nach. Nach dieser wichtigen Lektion, wie man in der Trockenzeit seinen Durst löscht, können sich der Kleine und seine Mutter unbeschwert anderen Schimpansen widmen und Spielkameraden treffen.

Unterdessen wartet im 3000 Meter tiefen Karibischen Meer ein wehrloses Pottwalmädchen an der warmen, sonnendurchfluteten Wasseroberfläche auf seine Mutter, die in zig hundert Metern Tiefe im pechschwarzen, eiskalten Wasser nach Tintenfisch jagt. Wie ein Luftballon an einer Schnur folgt die Kleine ihrer unsichtbaren Mutter. Sie hört die Klicklaute von Mamas Sonar. Ganz in der Nähe hält die Tante der Kleinen Wache und wartet, bis sie an der Reihe ist, um zu tauchen und zu jagen. Beim ersten Anzeichen von Gefahr für das Baby reagiert die gesamte Familie und eilt aus den Tiefen des indigoblauen Meers herbei.

Die Geschichten in diesem Buch handeln von Kulturen in der Tierwelt. Natürliches liegt nicht immer im Blut. Viele Tiere müssen von ihren Eltern lernen, wie sie die werden, zu denen sie geboren sind. Sie müssen sich mit den Eigenarten ihrer Sippe vertraut machen, lernen, wie sie ihr Leben bestreiten und an einem bestimmten Ort innerhalb einer bestimmten Gruppe effektiv kommunizieren. Kulturelles Lernen bedeutet die Weitergabe von Fähigkeiten (etwa Essbares zu identifizieren und zu beschaffen), stiftet Identität und das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb einer Gruppe (und definiert Unterschiede zu anderen Gruppen) und ermöglicht die Weitergabe von Traditionen, die entscheidende Aspekte der Existenz darstellen (etwa wie in einer bestimmten Gegend erfolgreiche Brautwerbung funktioniert).

Wenn irgendjemand in der Gemeinschaft herausgefunden hat, was sicher und was zu meiden ist, zahlt es sich aus, «bereits Getanes zu tun». Wenn man es auf eigene Faust versucht, kann es passieren, dass man – auf die harte Tour – lernt, was giftig oder wo es gefährlich ist. Für Artgenossen ist es überaus praktisch, sich durch soziales Lernen Altbewährtes anzueignen.

Bisher war Kultur in der Tierwelt ein weitgehend verborgener, unbeachteter Teilaspekt. Dabei ist Kultur für viele Arten gleichermaßen so entscheidend wie zerbrechlich. Lange bevor eine Population zahlenmäßig so stark schrumpft, dass sie vom Aussterben bedroht scheint, ist ihr spezielles, über viele Generationen hinweg gewonnenes und weitergereichtes kulturelles Wissen bereits im Begriff zu verschwinden.

Dieses Buch handelt auch davon, wohin Kultur das Leben auf Erden im Lauf der Zeit gebracht hat. Die leuchtend bunten Körper der Hellroten Aras bieten dafür ein großartiges Beispiel: Warum empfinden wir die farbigen Federn der Vögel als ebenso schön wie diese selbst? Lange vor dem Menschen entwickelte das Leben auf Erden die Fähigkeit, sogenannte Schönheit nicht nur zu erkennen, sondern auch zu erschaffen – und anzustreben. Warum existiert die Wahrnehmung von Schönheit auf Erden? Dieser Aspekt unserer derzeitigen Fragestellung führt zu einer überraschenden Erkenntnis über die Rolle von Schönheit in der Evolution. Wir werden uns im Lauf unserer Erkundung die erstaunlichen Details genauer ansehen. Einstweilen möchte ich lediglich erwähnen, dass sich die Härchen meiner Unterarme aufstellten, als ich eines Sonntagabends während des Schreibens realisierte, dass Schönheit bei der Entstehung neuer Arten eine Rolle spielte, die bisher übersehen wurde.

Nicht nur unsere Gene bestimmen darüber, wer wir werden. Auch Kultur wird auf gewisse Weise vererbt. Kultur speichert wichtige Informationen, nicht in Genpools, sondern in Gedächtnissen. Wissenspools – Fähigkeiten, Vorlieben, Lieder, der Gebrauch von Werkzeugen und Dialekte – werden über Generationen hinweg wie eine Fackel weitergegeben. Kultur selbst verändert sich, entwickelt sich weiter und verleiht häufig eine flexiblere und schnellere Anpassungsfähigkeit als genetische Evolution. Gene erhält ein Individuum ausschließlich von seinen Eltern, Kultur aber von jedem x-beliebigen Mitglied seiner sozialen Gruppe. Mit Kultur wird man nicht geboren; das ist der Unterschied. Da aber Kultur Überlebenschancen verbessert, kann diese den Weg vorgeben, dem die Gene folgen und dem sie sich anpassen.

Bei allem tierischen Leben auf der Erde wird die Komplexität der Gene in weitaus höherem Maße als bisher vom Menschen angenommen von erlerntem Wissen überlagert. Überall um uns herum vollzieht sich soziales Lernen. Aber es geschieht kaum merklich. Man muss sehr aufmerksam über einen langen Zeitraum hinweg beobachten. Dieses Buch bietet einen tiefen und klaren Einblick in eine Welt, die nicht leicht zu sehen ist.

Wir werden erfahren, wie man als Pottwal Pinchy, als Ara Tabasco oder als Schimpanse Musa sein Leben als Wildtier in dem Verständnis lebt, ein Individuum in einer bestimmten Gemeinschaft zu sein, in der Dinge auf eine bestimmte Art und Weise gemacht werden. Wir werden erfahren, dass Kulturen in einer sich ändernden und komplexen Welt Antworten auf die Frage bieten, wie man an dem Ort, an dem man lebt, leben soll.

Von anderen zu lernen, «wie wir leben», ist Wesensmerkmal des Menschen. Aber von anderen zu lernen ist auch Wesensmerkmal des Raben. Des Affen und des Wals. Des Papageis. Selbst der Honigbiene. Anzunehmen, andere Tiere hätten keine Kultur, weil sie keine menschliche Kultur haben, ist vergleichbar mit der These, andere Wesen kommunizierten nicht, weil sie keine menschliche Kommunikation haben. Sie habe ihre Kommunikation. Und sie haben ihre Kultur. Ich behaupte nicht, dass sich das Leben für sie genauso anfühlt wie für Sie; niemandes Leben tut das. Ich behaupte, Instinkt hat seine Grenzen; viele Tiere müssen fast alles erlernen, was sie später einmal ausmacht.

Die Wale, Papageien und Schimpansen, die wir besuchen werden, repräsentieren die drei großen Aspekte von Kultur: Identität und Familie, die Implikationen von Schönheit und wie soziales Leben Spannungen erzeugt, die Kultur lösen muss. Diese Arten und viele andere werden auf den folgenden Seiten unsere Lehrer sein. Von jeder werden wir etwas lernen und es noch mehr schätzen, auf diesem Wunder, das wir leichthin als Erde bezeichnen, leben zu dürfen.

Wir werden tief in die Natur eintauchen, einzelne Lebewesen in ihren freilebenden Gemeinschaften beobachten und einen sehr intimen Blick hinter den Vorhang des Lebens auf Erden werfen. Zu sehen, wie Wissen, Fähigkeiten und Bräuche innerhalb anderer Arten zirkulieren, schafft ein neues Verständnis für etwas, das wir konsequent übersehen, etwas, das jenseits unseres Menschseins vonstattengeht. Es wird dazu beitragen, die Antwort auf die drängendste aller Frage zu durchdringen: Wer sind unsere Reisegefährten auf diesem Planeten – mit wem sind wir hier?

Das soll das Ziel unserer Expedition sein. Bereit?

KULTUR EINS

Familien

Pottwale

Man sagt, die See sei kalt, doch ihre Tiefen beherbergen das heißeste Blut, das wildeste, das drängendste.

D. H. Lawrence

Sylvia war die ganze Zeit still gewesen.

Dann, in einem vertraulichen Moment, wandte sie sich an Shane und sagte: «Auf deinen Schultern ruht eine große Last, weil diese Wale ihr Vertrauen in dich setzen.»

Dieses Gefühl war sein ständiger Begleiter gewesen, doch hatte er es nie auf den Punkt bringen, nie aussprechen können. Mit diesem einen Satz umriss Sylvia, warum er hier war.

Am Strand rief er seine Frau an. Sie nahm ab und konnte an seiner Stimme hören, dass er geweint hatte.

Er sagte: «Jetzt verstehe ich endlich.»

Und sie antwortete: «Erzähle mir, was passiert ist.»