Der Autor

Erri De Luca – Foto © Paola Porrini Bisson

ERRI DE LUCA, geboren 1950 in Neapel, hat mehr als 30 Romane, Essays und Übersetzungen veröffentlicht. Er gehört zu den meistgelesenen, auflagenstärksten Autoren Italiens. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und zu internationalen Bestsellern. Erri De Luca wurde 2010 mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet und 2013 mit dem Prix Européen de Littérature.


Von Erri de Luca sind in unserem Hause außerdem erschienen:

Das Gewicht des Schmetterlings · Das Licht der frühen Jahre · Das Meer der Erinnerung · Den Himmel finden · Der Himmel im Süden · Der Tag vor dem Glück · Fische schließen nie die Augen · Mein Wort dagegen · Montedidio

Erri De Luca

Die Asche des Lebens

Roman

Aus dem Italienischen
von Anette Künzler

Ullstein

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www.ullstein.de

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juli 2022
Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Annette Künzler
© Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
© 1992 by Erri de Luca
Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel Aceto, Arcobaleno bei Giangiacomo Feltrinelli Editors, Mailand
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Titelabbildung: © Elise Ortiou Campion / plainpicture
Autorenfoto: © Paola Porrini Bisson
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Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-8437-2679-5

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Widmung

Meine Zeit, mein Raubtier, deinem
Aug – hält ihm ein Auge stand?
Wer, Jahrhunderte zu einen,
knüpft mit seinem Blut das Band?

Ossip Mandelstam

 

Es war wohl der Blitz, der mich geweckt hat. Wie an einer Zündschnur ist das Licht durch meine geschlossenen Lider bis in die Nervenbahnen gekrochen und hat sie wie einen Stromkreis durchlaufen. Ich strenge die geblendeten Augen an und sehe das Zimmer unter einem neuen Schmerz. Blitze zucken durch die regenlose Nacht, es riecht nach verbrannter Luft.

Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze, aber ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich habe aufgehört zu essen. Nach den ersten durchwachten Nächten bin ich in den bleiernen Schlaf des Hungers gesunken. Es war wohl auch der Blitz, der die Tür aufgestoßen hat. Heftige Böen ergreifen meinen Schaukelstuhl, halb wiegen sie mich, und halb schütteln sie mich. Der Wind spielt mühelos mit meinem Gewicht, der ausgemergelte Körper leistet keinen Widerstand. Ich habe aufgehört zu essen. Ich werde nichts essen, solange ich noch Feuer machen kann, denn ich möchte nicht erleben, wie das Holz zu Ende geht. Lieber sterbe ich vor Hunger als vor Kälte. Die Tage und die Nächte haben mich ausgesaugt, mich ganz schwerelos gemacht. Bei jedem Atemzug treten die Rippen hervor. Das Skelett kommt an die Oberfläche, es spürt das Licht hinter der allerletzten Hülle und vermittelt mir so die bange Sehnsucht eines Bergmanns, der nach seiner Schicht im Stollen wieder ins Freie tritt.

Um mich herum erkenne ich die Reste eines stürmischen Erwachens: Zerbrochenes Fensterglas liegt auf dem Boden, wie ein Wolf heult der Wind durchs Haus, und die Wände sind mit frischen Rissen übersät. Ich werde nicht mehr schlafen. Die Müdigkeit, die bisher wie ein Korken mein Innerstes verschlossen hat, ist nun verflogen. Meine Augen sind weit offen. Ich bin ungeschützt, nun können die Freunde herein, sie kamen mich immer in unregelmäßigen Abständen besuchen, erzählten mir von ihrem abenteuerlichen Leben. Ihre Geschichten ergriffen mich, doch sie glichen mehr dem Wind in den Baumwipfeln als wirklichen Stimmen im Ohr: Zuerst erschütterten sie mich, dann vergaß ich sie wieder. Die Freunde traten in dieses Haus, in dem es keine Treppen gibt und dessen Eingang ebenerdig ist; sie setzten sich an den Tisch, der für sie immer ein Etappenziel, eine Ruhepause bedeutete. Sie waren alles, was ich von der Welt wusste. Schon sehr lange lebe ich in diesem weit abgelegenen Haus.


Ich komme aus einer Stadt im Süden, wo man die letzte Nacht des Jahres immer mit einem Feuerwerk beendet. Von meinem Balkon aus blickte ich auf eine Piazza, Palmen am Meer und eine Insel mitten im Horizont. Ich spielte mit Zinnsoldaten und hatte oftmals Fieberkrämpfe. Ein besonders heftiger Anfall betäubte für immer meine Wünsche, meine Träume. Danach war ich besänftigt, hatte aber die Wörter vergessen. Eine ganze Sprache verbrannte in der Fieberglut. Zurück blieb ein salziger Nachgeschmack, der mir die Kehle austrocknete. Wenn die Schmerzen in meinen Schläfen pochten, wiegte mich der Singsang meiner Mutter in den Schlaf: »Tut es dir weh? Tut es dir sehr weh?« Schließlich löste sich die Benommenheit, wunderbar war das Erwachen, die Genesung. Die Wörter kehrten allmählich zurück, wie ein paar Regentropfen auf einem ausgedorrten Feld. Die Wünsche aber kamen nicht wieder. Das Fieber war überwunden, ich wurde gesund und trug wieder die Schuluniform, die ehrenvolle Auszeichnung dafür, wieder unter den anderen leben zu dürfen, wenn auch ein wenig abseits. Und so konnte ich Menschen kennenlernen und Freundschaft mit ihnen schließen, und das bedeutet fast mein ganzes Glück.


Die Besuche der Freunde habe ich immer schnell wieder vergessen; nach ihrer Abreise verschwand die Unordnung ebenso schnell wie die Erinnerung. Aber jetzt zieht der Hauch jener Begegnungen durch das sturmgebeutelte Haus, und in all dem Getöse erheben sich wieder die vertrauten Stimmen.

Ein Leben: So kann ich mein Dasein nicht bezeichnen, so kann ich meine Zeit auf Erden wirklich nicht nennen. Ein richtiges Leben – das hatten nur die Freunde, und manchmal ließen sie mich an seiner wilden Fahrt teilhaben, wobei ich wie geblendet Sorge, Erstaunen und Qual empfand. Mir blieb nur, einer Welt zu lauschen, die ich versäumt hatte. Ich war erst zwanzig Jahre alt, als ich in dieses Haus kam. Meine schon betagten Eltern waren aus der Stadt gezogen, als ich das Gymnasium beendet hatte. Aber sie konnten die Freuden des neuen Zuhauses – auf das sie so lange gespart hatten – nicht mehr genießen. Innerhalb eines Jahres starben sie beide, folgten sich in großer Eile. Einander verlassen bedeutete für sie ein Unrecht, das nicht hinzunehmen, sondern sofort wieder gutzumachen war. Ich war der Nachkömmling an ihrem wohlbestellten Tisch, wie auch der Apfel ein Nachkömmling ist, die Eltern hingegen waren gleichsam der ganze Baum. Sie hinterließen mir eine Rente, die bis heute für das Nötigste gereicht hat. Die Arbeit auf dem Feld war für mich aber keineswegs ein notwendiges Übel, sondern eine schöne Beschäftigung, eine gute Art, die Tage zu nutzen und zu respektieren.


Ich habe viel gesprochen, wenn ich allein war. Oft entfuhr mir ganz unvermittelt ein Satz. Ich sagte ihn zu dem Haus, das bereits auf meine Stimme wartete. So lange lebe ich nun schon darin, dass zwischen seinen Steinen und mir ein Austausch stattfindet. Ich habe das Gefühl, Teil einer mineralischen Gemeinschaft zu sein. Die Stille des Hauses gleicht meiner eigenen, sie ist inwendig. Die Stille draußen, in der Landschaft, die an manchen nebligen Abenden vollkommen ist, kann man damit nicht vergleichen. Unsere Stille kann alle Geräusche in sich aufnehmen, von ihr werden selbst mein Atem und mein Herzschlag geschluckt, sodass ich sie nicht mehr bemerke. Das Haus antwortet mir. Seine Stimme ist nicht menschlicher Natur: Sie entspringt dem vulkanischen Gestein der Mauern, sie stammt aus der Zeit, in der die Erdkruste brodelte und die Materie die Mutter allen Lebens war. Es ist eine Stimme, die in Feuerströmen aus den Kratern gurgelte. Wenn der Wind über diese Steine streicht und sie mit graublauen Tropfen besprenkelt, murmeln sie Litaneien. Manchmal sind es dunkle Klänge, aus denen ich vereinzelte Silben heraushöre, und manchmal verstehe ich ganze Sätze. Mein Ohr ist mittlerweile darin geübt, den Steinen zu lauschen. Ich habe sie aus dem Acker gegraben und sie mit dem Messer geteilt, als wären es Nüsse. Mit einem Knacken und einem Zischen öffneten sie sich, und der Wind strich zum ersten Mal über die Poren ihres Inneren. Für den, der sie zu berühren versteht, sind die Steine wie Austern. Ich habe sie behauen und Wege, Mauern und Bänke aus ihnen gemacht, habe ihre unebenen Formen zusammengefügt. Einer Geometrie folgend, die sie selbst vorgaben, legte ich die Steine zusammen, und jeder einzelne passte ganz genau zu einem anderen, wie vom Schicksal vorbestimmt. Ich hatte mir ihre Unregelmäßigkeiten gemerkt und zog aus dem Haufen den richtigen Stein, der sich wie von selbst in das Muster einfügte. Der undurchsichtige schwarze Stein funkelte in meiner Hand: massiv, schwer, mit einem rauen Relief, aber dennoch geschmeidig und fügsam, wenn man sich darauf versteht.


Es gab eine Zeit, da sah ich Buchstaben in den Ästen der Bäume oder auf den beschlagenen Fensterscheiben, wo die Insekten ihre Spuren hinterlassen hatten. Ich studierte die Alphabete des gesamten Mittelmeerraumes, um meine Zeichensammlung zu erweitern und um diese ausgesäte Schrift endlich ganz verstehen zu können. Unsere Vorfahren sahen in den Sternenpunkten des Universums Figuren, Tiere und Wagen, und ich erkannte darin die Linien eines Alphabets. Die Welt war schon geschrieben. Der erste Mensch hat die Bezeichnungen nicht erfunden, er brauchte sie nur zu lesen. An der Materie haften immer noch Spuren dieser Inschriften – es sind Namenszeichen, die einer allgemeinen Auslöschung widerstanden haben. Die raue Stimme des Hauses sprach mit diesen Buchstaben, mit diesen gleichmäßigen Silben. In den Sturmnächten, als ich die Gewalt des Himmels gegen die Tiere und Bäume fürchtete, murmelten die Mauern ein beruhigendes Wiegenlied für mich.


Ich kenne die Freunde noch aus der Schule, dem einzigen Ort, wo ich mich unter vielen anderen Menschen aufgehalten habe. In enge Schulbänke gezwängt, hörten wir den Lehrern zu, diesen gelehrten Despoten. Wir waren Teil einer abgegrenzten Welt, wo man sich stets unterzuordnen hatte und wo in der Stille das Papier raschelte. In dieser Welt kannten wir uns aus. Wie aus einer Quelle entsprangen jener geschlossenen Gesellschaft die einzelnen Charaktere, aus der Not geboren, formten und vertieften sie sich. Bei meinen Mitschülern beobachtete ich Gefühle, die ich selbst nicht kannte: Liebe, Neid, Bewunderung, Eifersucht. Einer war gut im Sport, ein zweiter beantwortete geschickt die Fragen der Lehrer, ein dritter war geistreich und gefiel den Mädchen. Um sie herum bewegten sich sehnsüchtig die anderen Schüler. Sie wollten auch so sein, versuchten, an jene Fixsterne heranzukommen, die für sie die Vorbilder einer bestimmen Lebensart darstellten. Wir waren Menschen, die ständig bewegt, aufgewühlt waren; jede scheinbare Vollkommenheit faszinierte uns. Ich betrachtete diese Welt und hielt mich dennoch von ihr fern, denn sie war zu intensiv für mich.


Wenn ich nicht fünf Jahre lang am Gymnasium mit den gleichen Menschen zusammen gewesen wäre, hätte mich vermutlich niemand bemerkt. Aber fünf Jahre, zwischen dreizehn und achtzehn, sind in diesem Alter eine unvorstellbar lange Zeit, und schließlich akzeptierte mich der eine oder andere so, wie ich eben war: immer der Letzte, der hinausging, immer schweigsam. Und ich war anders: mager, knochig, mit hervortretendem Adamsapfel, einem langen Gesicht und runden Augen, die ich kaum schließen konnte. Ein dichter Haarschopf war das einzig Wilde an meinem Äußeren.

Weil ich mich von keinerlei Enthusiasmus anstecken ließ und mich auf keine Seite schlug, begannen einige, mir zu vertrauen. Wir waren in einem Alter, in dem man mit Freundschaften experimentierte und seine Gedanken zuweilen mit jemandem teilte, der sie nicht zu bewahren verstand. Wir waren in dem Alter der leichtfertigen Untreue. Auf mich traf das nicht zu: All diese Vertraulichkeiten waren sicher bei mir aufgehoben, denn kaum hatte ich sie vernommen, waren sie auch schon wieder vergessen. Von dieser bedeutungslosen Vertrauenswürdigkeit fühlten sich damals einige angezogen.

Nach der Schule beobachtete ich, wie die Wutanfälle und Streitigkeiten meiner Kameraden schnell in heftigen Raufereien endeten. Ich versuchte, ihre Wut nachzuempfinden, aber der einzige Gefühlsausdruck, zu dem ich fähig war, bestand darin, die Augen weit aufzureißen und die Lippen zusammenzupressen. In mir drin jedoch fühlte ich überhaupt nichts. Auf eine Hänselei wusste ich keine Antwort, bei einer Provokation gab ich sofort nach. Einmal übernahm mein Banknachbar die Verteidigung, als es um ein paar kleine Schikanen ging, die ich zerstreut über mich ergehen ließ. Zwischen dem, der mich attackierte, und meinem Kameraden entbrannte ein heftiger Streit. Dafür empfand ich aber keine Dankbarkeit, mir war das eher peinlich. Denn mich beschämte weder die Niedertracht des einen, noch tröstete mich die Empörung des anderen. Ich wurde für sie zu einem Fall, einem Streitgegenstand. Am Ende hatte ich eigentlich gar nichts mehr damit zu tun, denn mittlerweile hatten sich auch die anderen eingemischt, und sie prügelten sich nun allesamt.


Der Rädelsführer erwartete mich nach dem Unterricht am Schultor und schlug mir ins Gesicht. Ich legte meine Hand auf die getroffene Stelle und begegnete seinem verblüfften Blick. Er konnte nicht begreifen, dass ich mich nicht zur Wehr setzte. Ich weinte nicht einmal, weil ich körperlichen Schmerz kaum spüre, ihn nicht sonderlich ernst nehme. Er schlug mich nicht wieder. Ein anderer wollte mich trösten und sagte, dass ich recht daran getan hätte, auch die andere Wange hinzuhalten. Das hatte ich aber gar nicht, denn eine derartige Kaltblütigkeit war mir fremd. Ich hatte einfach nicht reagiert, das war alles. Mit mir konnte man keinen Streit anfangen. Man konnte mich nicht ärgern, und man konnte mir nicht einmal beistehen.


Ich erlebte die Gefühlsstürme, die wechselhaften Wünsche meiner Mitschüler. Ihre Träume waren von solch einer Intensität, dass sie in meinen Augen bereits zu vollendeten Tatsachen wurden. Wenn mich ein Mitschüler ins Vertrauen zog, nahm ich seine Äußerungen immer wörtlich; das wirkte wohl beruhigend, und so musste niemand übertreiben, damit ich ihm auch glaubte. Der eine erzählte mir, er wolle Arzt werden und den Ärmsten der Welt helfen. Allein die Absicht genügte mir, um ihn schon als Missionar zu sehen. Wenn derselbe mir jedoch nach ein paar Monaten erklärte, dass er sich bis über beide Ohren in die Rothaarige aus der Parallelklasse verliebt habe und sie heiraten wolle, glaubte ich ihm das ebenso, als wäre er ein völlig neuer Mensch. Ganz unbewusst akzeptierte ich die Vorstellung, dass man ein anderes Leben führen würde, wenn man sich das nur sehnlichst genug wünschte. Wir waren in einem Alter, in dem meine Mitschüler oft jemand ganz anderes sein wollten, ohne jedoch lange bei einem Wunsch zu bleiben. Sie brannten darauf, erwachsen zu werden, und schlüpften deshalb in viele verschiedene Rollen. Aber ihre Worte, die sie mit großer Ernsthaftigkeit sprachen, hatten für mich eine solche Kraft, dass sie mir ebenso viel wert waren wie vollendete Tatsachen. Es war gar nicht notwendig, diese ernst gemeinten Absichten zu beweisen, denn ihre Träume reichten mir völlig aus.


Meine Freunde dachten und empfanden ganz anders. Sie glaubten, dass ihre Worte mehr als nur eine Überschrift, eine Absichtserklärung sein sollten; vielmehr galt es nun, sie auch umzusetzen. Sie lebten danach, beließen es nicht nur bei den Worten, und so wurde ihre Lebensgeschichte daraus.

Das Haus antwortete auf ihre Erzählungen mit einem Luftzug zwischen seinen Steinen. Ich hörte nur Konsonanten, denn die Stimme der Materie benutzt keine Vokale, aber diese konnte ich mir dazudenken. Ich vernahm: »Auf dem Meer gibt es keine Tavernen.« Dies war ein Ratschlag für den, der eine Reise machen musste, ein Ratschlag für die Freunde: Sie sollten unterwegs keinen Schutz, keinen Unterschlupf erwarten. Es war ein Wiegenlied, ein Urteil. Ich hörte es, während die Freunde ihre Besuche bei mir mit ihren Erzählungen anreicherten.


Ich würde gerne einmal wieder meine Finger über die Gitarre gleiten lassen. Sobald der Akkord in D-Dur gefunden wäre, würden die Finger ganz von alleine weiterspielen. Mit heißen, trockenen Händen zupfte ich früher immer die dünnsten Saiten zuerst und spielte eine einstimmige Melodie. Dann erst berührte der Daumen die tiefen Saiten. Schon lange kann ich die Gitarre nicht mehr auf den Knien halten. Urplötzlich überkommen mich Zuckungen, und dann muss ich alles loslassen, was ich in Händen halte. Nun hängt sie an der Wand, und die Spinnweben hängen ihren sechs Saiten noch weitere hinzu. Nur der Donner hat es vermocht, ihrem Resonanzkörper noch einen Ton zu entlocken und sich so gewissermaßen ein Echo zu verschaffen. Die Gitarre antwortete auf das Grollen mit einer gedehnten Silbe, die länger nachhallte als der Donner selbst.

Nach dem Abendessen improvisierte ich Melodien, die Stimme erwärmte sich, und wir bildeten ein Paar, die Gitarre und ich. Mein Gesang lief zunächst über die Gitarrenstimme hinweg, an einem gewissen Punkt trafen wir dann zusammen und klangen einstimmig. Die Musik wanderte durchs ganze Haus und tanzte wild in der Küche umher, dass einem davon ein bisschen schwindelig wurde. Die Lieder waren nicht viel wert, nur Geklimper, aber beim Unisono tönten auch die Steine des Hauses. Meine Mutter hatte mir die Lieder beigebracht, es waren alte Melodien, die stets in Moll begannen und beim Refrain in einen Dur-Akkord mündeten. Für sie waren es wichtige Erinnerungen, Augenblicke einer Jugend, die in ihrer Generation sehr schnell erwachsen geworden war, orientierungslos geworden in den schlaflosen Nächten der Bombenangriffe. Für mich waren es Melodien aus der Kindheit, und auch in den leidenschaftlichsten Liedern gab es noch Worte für die Kinder. Diese Musik war wie eine sanfte Brise.

Ich betrachte den massiven Tisch, den ich aus Pinien- und Kastanienholz gezimmert habe. In vielen Nächten breitete ich meine Decke darüber und schlief in der angenehmen Restwärme des Ofens ein. An den Wänden in der Küche hängen die Etiketten der geleerten Weinflaschen, die ich für die Freunde bereithielt oder die sie mir als Gastgeschenk mitbrachten. Nach den Abschiedsworten löste ich die bunten Etiketten mit den sonderbaren Namen von den leeren Flaschen ab und klebte sie an die Wand, halb Familienalbum, halb Schmetterlingssammlung. Jetzt, da das Zimmer dem Wind offen steht, lösen sich die Etiketten langsam von den Wänden, flügelschlagend umkreisen sie den Schaukelstuhl, der in den Windböen hin- und herschwankt. Bei dem Geräusch, das die eisernen Kufen auf dem Boden machen, und bei dem Rascheln der bunten Papierehen erheben die Gäste von einst wieder ihre Stimmen.