Die Autorin

Melanie Vogltanz hat Deutsche Philologie, Anglistik und LehrerInnenbildung an der Universität Wien studiert. Sie wurde 1992 in Wien geboren und hat den berühmt-berüchtigten Wiener Galgenhumor praktisch mit der Muttermilch aufgesogen. Dem klassischen Happy End sagt sie im Großteil ihrer Geschichten den Kampf an, denn auch das Leben endet selten gut.

2007 veröffentlichte sie ihr Romandebüt; weitere Veröffentlichungen im Bereich der Dunklen Phantastik folgten. 2016 wurde sie mit dem »Encouragement Award« der European Science Fiction Society ausgezeichnet.

Wenn sie nicht gerade eigene Geschichten zusammenspinnt, korrigiert, lektoriert und übersetzt sie für Verlage und Kollegen oder hält ihre Frettchenmusen bei Laune.

Mehr Informationen auf: http://www.melanie-vogltanz.net

Der Ausschnitt aus »Krabat« stammt aus Otfried Preußler: »Krabat«
(Deutscher Taschenbuch Verlag München, 1980)
Alle weiteren Auszüge in diesem Roman stammen aus urheberrechtsfreien
Ausgaben des Projekts Gutenberg
(https://www.gutenberg.org | https://gutenberg.spiegel.de/)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die
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Copyright © 2019 Melanie Vogltanz

A-1130 Wien, www.melanie-vogltanz.net

1. Auflage 11/2019 Der Inhalt dieses Buches ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk
darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Satz & Coverdesign: Grit Richter | Art Skript Phantastik Design
Coverillustration: Shutterstock (www.shutterstock.com) | KHIUS
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN-13: 9783750454316

Dieses Buch ist eine neue Version der Geschichte, die
vormals als »Luna Atra« bekannt war. Wer »Luna Atra«
bereits gelesen hat, wird hier dennoch viel Neues entdecken.
Charaktere erzählen selten zweimal dieselbe Geschichte.

Für Michael, der das Manuskript von den Toten zurückgeholt
hat. Ich schulde dir noch zehn Jungfrauen.

Inhaltsverzeichnis

GEDANKEN EINER MONDSÜCHTIGEN

Ein Vorwort

Als ich ein Kind war, nannte meine große Schwester mich im Scherz »mondsüchtig«. Das hat sich später auf eine Art bewahrheitet, die wohl keine von uns vorhergesehen hat. Ich möchte hier ein paar einleitende Worte über den schwarzen Mond sagen, der nun schon sehr lange über mir schwebt – und natürlich ein paar Worte über dieses Buch, das mein Schreiben so stark geprägt hat wie kaum ein anderes.

Wenn ihr nur wegen der Geschichte hier seid – blättert einfach weiter. Los, keine falsche Scheu. Ich nehme es ganz sicher nicht persönlich. Dafür sind wir schließlich hier.

So. Nun, da wir unter uns sind – wir, die Mondsüchtigen –, kann ich ganz aufrichtig sein. Die Grundidee um den Schwarzmond sowie die Figuren, die unter seinem Einfluss stehen, waren mitunter der Auslöser dafür, dass ich überhaupt mit dem Schreiben begonnen habe. Eloin, Laura und Hansen habe ich zu verdanken, dass ich mein erstes Buch sehr früh abgeschlossen habe (im Jahr 2006). Schon damals haben sie mir ihre Geschichte ins Ohr geflüstert – leise noch und teilweise unverständlich, aber sehr eindringlich. Ich war begierig darauf, jedes Detail aufzuschreiben, hatte damals aber einfach noch nicht das handwerkliche Können und die nötige Erfahrung, um ihrer Geschichte gerecht zu werden. Seitdem ist viel Zeit vergangen. Ich habe zahlreiche weitere Bücher und Kurzgeschichten geschrieben und veröffentlicht, bin stilistisch und als Mensch gewachsen. Als sich der Abschluss meines ersten Romans zum zehnten Mal jährte, setzte sich die fixe Idee in mir fest, Laura und den anderen noch einmal zuzuhören. Ich hatte das Gefühl, dass ich es ihnen und meinen Leser*innen schuldig wäre, erneut von ihnen zu erzählen, und diesmal hoffte ich, ihnen gerecht werden zu können. Ich war überrascht darüber, wie viel sie mir noch zu sagen hatten – und wie viel ich beim ersten Mal falsch verstanden hatte.

Der folgende Roman ist nicht »Luna Atra«. Es ist die aktuell bestmögliche Version des fixen Gedankens, der mich seit dem Beginn meiner Schreibkarriere verfolgt. Es ist der Versuch einer Mondsüchtigen, endlich die Augen vom verlockenden Schimmer zwischen den Wolken abzuwenden, in der Hoffnung, dass es dabei auf ein paar neue Gesichter strahlt und für kurze Zeit ihren Blick einfängt. Oder vielleicht sogar ein wenig länger. Es ist nicht nur ein Buch im neuen Gewand, sondern auch eine neue, vollkommenere Geschichte.

Und nun genug der langen Vorrede.

Beginnen wir da, wo es stets beginnt: am Anfang.

PROLOG: DER VERRAT

Im Heiligsten der Stürme falle

Zusammen meine Kerkerwand,

Und herrlicher und freier walle

Mein Geist ins unbekannte Land!

Hier blutet oft der Adler Schwinge;

Auch drüben warte Kampf und Schmerz!

Bis an der Sonnen letzte ringe,

Genährt vom Siege, dieses Herz.

»Das Schicksal«, Friedrich Hölderlin

1

Als die Eingangstür aus den Angeln barst, erwartete Eloin die ungebetenen Gäste bereits im Flur. Aufrecht und ohne das geringste Anzeichen von Furcht empfing sie die vier uniformierten Männer, die die Villa stürmten. Sie wich auch dann nicht zurück, als einer von ihnen eine Waffe zog.

Verwirrung, Nervosität, Angst – all das zuckte über die Gesichter der Vertreter der Staatsgewalt, als sie der barfüßigen Frau mit dem hüftlangen Kastanienhaar gegenüberstanden. Es war ein geradezu groteskes Bild. Aber Eloin war das Lachen schon vor langer Zeit vergangen.

»Wo ist er?«, richtete der offensichtliche Einsatzleiter das Wort an sie. Er schrie nicht, trug die Maske der ruhigen Bestimmtheit besser als seine Untergebenen. Eloin ließ sich nicht davon täuschen. Sie konnte die Unruhe in seiner fleckigen Aura sehen. »Wo ist Andreas Kaltendorff?«

»Fort«, sagte Eloin. »Und er kommt nicht zurück.«

»Verlogenes Sektenpack!« Der Uniformierte, der seine Dienstwaffe gezogen hatte, spuckte ihr die Worte förmlich vor die Füße.

»Schalt einen Gang zurück, Novak. Und halt die Knarre ruhig, sonst schießt du dir noch ins Knie.« Der Einsatzleiter wandte sich seinen restlichen Leuten zu. »Worauf wartet ihr noch? Durchsucht das Haus!«

Die Männer teilten sich auf. Der Einsatzleiter blieb im Flur zurück, den Blick auf Eloin geheftet, die ihn ungerührt erwiderte.

»Es muss nicht so schwer sein, Frau Kaltendorff«, sagte er. »Wenn Sie mit uns kooperieren, kommt niemand zu Schaden. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

Eloin wies ihn nicht darauf hin, dass sie Andreas’ Nachnamen nie angenommen hatte. Sie schwieg eisern.

»Sie haben ein Kind, nicht wahr?«, fuhr der Beamte fort. »Das ist jetzt – wie alt? Drei Monate?«

»Zwei«, verbesserte sie reflexartig.

Der Beamte lächelte – eine weitere Maske, in der keine Wärme lag. »Meine Tochter ist drei. Alles, was ich will, ist, rechtzeitig wieder zu Hause zu sein, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben, bevor sie eingeschlafen ist. Wollen Sie mir dabei helfen, Frau Kaltendorff? Für meine Tochter? Sie sind doch selbst Mutter.« Salbungsvolle Worte, die sie vielleicht besänftigt hätten. Wären da nicht die grünen Flecken gewesen, die seine Aura überzogen wie Schimmel.

»Warum hasst ihr uns so sehr?«, fragte Eloin tonlos.

Der Einsatzleiter wirkte überrascht. Er öffnete den Mund, um zu antworten, da wurde er von einem seiner Männer unterbrochen.

»Kommissar, keine Spur von Kaltendorff, nirgends!«

Der Blick des Einsatzleiters schwenkte herum, fixierte erneut Eloin. Keinerlei falsche Freundlichkeit lag mehr in seinen Augen. Seine Stimme war gefährlich leise, als er sagte: »Das hier ist kein Spiel mehr. Sie werden uns jetzt sagen, wohin Ihr Mann gegangen ist. Andernfalls«, er legte seine Marke auf eine verstaubte Mahagonikommode neben sich, »vergesse ich für die nächsten zehn Minuten, dass ich im Dienst bin.«

Mittlerweile waren auch die übrigen Polizisten von ihrer Suche zurückgekehrt. Einer von ihnen räusperte sich unbehaglich. »Laurenz, hältst du das für eine gute Idee?«

Der Kommissar ignorierte ihn. Er beugte sich vor, bis Eloin seinen Atem riechen konnte – Automatenkaffee und Pfefferminz. Seine Aura war nicht mehr fleckig. Sie war tiefrot. Seine Hände arbeiteten, seine Knöchel knackten wie brechende Zweige. »Verstehen wir uns?«

Eloin betrachtete die abgelegte Marke mit mildem Interesse. Sie hatte erwartet, dass sie glänzen würde, aber das tat sie nicht. Das Metall war fahl und stumpf. »Ich verstehe dich sehr gut. Ich verstehe, dass du von deinem Weg abgekommen bist. Und ich verstehe, dass ich dir nicht dabei helfen werde, dich noch weiter zu verirren.«

Bevor der Einsatzleiter reagieren konnte, schlug Eloin die Hände zusammen. Ein gleißender Lichtblitz flammte auf, der alle Anwesenden mit einem überraschten Keuchen zurücktaumeln ließ. Eloin nutzte den Augenblick, wirbelte herum und stürmte auf die aufgebrochene Tür zu.

Ein Schuss krachte.

Sengend heißer Schmerz zuckte durch ihr Bein. Eloin strauchelte. Sie spürte die warme Nässe, die wie Teer an ihrem Schenkel hinablief. Verbissen lief sie weiter, ignorierte das Feuer in ihrem Fleisch, so gut es ging.

»Bleiben Sie stehen! Sie machen alles nur noch schlimmer!«, hörte sie die gehetzte Stimme des Einsatzleiters hinter sich. Doch sie hatte das pulsierende Rot in seiner Aura gesehen, als er die Marke beiseitegelegt hatte. Mordrot. Vielleicht war er ein guter Mann, ein guter Vater, ein guter Polizist. Nichts davon spielte mehr eine Rolle. Er hatte die Jagd eröffnet, und die Jagd machte aus Menschen Bestien.

Die Sonne begann am Horizont zu versinken. Für Eloin wurde es zunehmend schwerer, ihren Weg durch das Gewirr von Herrschaftshäusern ringsum zu finden. Sie konnte nur hoffen, dass es ihren Verfolgern ähnlich erging.

Da stieß ihr Fuß gegen ein unsichtbares Hindernis.

Eloin strauchelte und fiel hart zu Boden. Sie wollte sich aufrappeln, brach aber mit einem Schrei sofort wieder zusammen. Der Saum ihres Kleides war von Blut getränkt. Der Schmerz in ihrem verletzten Schenkel war überwältigend. Übelkeit und Schwindel tanzten einen wahnwitzigen Reigen in ihrem Kopf.

Sie konnte unmöglich weiterlaufen.

Hinter ihr näherten sich trampelnde Schritte.

2

»Scheiße, du hast auf sie geschossen! Auf eine flüchtende Zivilistin! Bist du noch zu retten, Mann?«

»Sie … sie hat eine Blendgranate oder sowas nach uns geworfen. Ihr habt es doch auch gesehen! Ich musste feuern!« Die Hände des Neuen zitterten, als er seine Pistole wieder sicherte. Sein Gesicht war aschfahl. Er wirkte, als wäre er gerade aus einem bösen Traum erwacht.

Laurenz hatte gewusst, dass es ein Fehler gewesen war, Novak auf diesen Einsatz mitzunehmen. Er war immer noch grün hinter den Ohren, ein Frischling. Laurenz hätte die Warnzeichen sehen müssen. Seit sie sich der Villa genähert hatten, hielt Novak sich an seiner Dienstwaffe fest wie an einem Talisman.

»Was, wenn sie tot ist?«, herrschte Laurenz ihn an. Er hatte gut Lust, ein wenig Verstand in seinen Untergebenen zu schütteln. »Dann haben wir nichts!«

»Sie ist nicht tot, bestimmt nicht!«, stammelte er. »So hoch hab ich nicht gezielt!«

Der Drang, dem Idioten jeden Zahn einzeln aus der Fresse zu prügeln, kochte siedend heiß in Laurenz empor. Er hielt sich zurück, versuchte sich stattdessen auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Sie kann nicht weit gekommen sein. Na los, worauf wartet ihr, holt sie zurück!«

Es war so rasch dunkel geworden, dass er seine Taschenlampe einschalten musste, um überhaupt etwas zu sehen. Der Strahl tastete über den von Unkraut gesprengten Asphalt und fand Blut – eine ziemliche Menge sogar. Eine Spur aus roten Tropfen zog sich die Straße hinunter. Widerwillig musste Laurenz sich eingestehen, dass diese Kaltendorff ein verdammt zähes Biest war. Nicht jeder Zivilist würde mit einer Schusswunde einfach weiterlaufen. Vermutlich nicht einmal die meisten Polizisten – und ganz sicher nicht dieser inkompetente Haufen, der ihm für diesen Einsatz zugeteilt worden war.

Der blutigen Fährte durch die Finsternis zu folgen, hatte etwas Aufregendes. Laurenz fühlte ein flaues Prickeln in seiner Magengegend, wie er es das letzte Mal gespürt hatte, als er als Vierzehnjähriger die Erwachsenenmagazine seines Vaters in der Garage gefunden hatte. So verboten und falsch, aber auch so süß …

»Wo steckst du, kleines Luder?«, gurrte er. Hätte seine Frau ihn so gesehen, hätte sie weder seine Stimme noch sein Gesicht wiedererkannt. »Komm schon raus! Wir werden dich … verarzten.«

Er folgte der Spur um eine Biegung – und hielt urplötzlich an. Verständnislos starrte er auf den Asphalt vor sich, ließ den Lichtkegel der Taschenlampe hin- und herzucken. Die Spur brach einfach ab, als hätte das elende Biest sich einfach in Luft aufgelöst!

»Kommissar …«, setzte der Frischling nervös an. »Ich glaube, wir sollten zurück zur Villa. Geiers hält dort ganz allein die Stellung. Was, wenn dieser Kaltendorff zurückkommt und er ihm ohne jede Deckung gegenübersteht? Das hier hat doch keinen Sinn, die Frau hätte sowieso nicht geredet. An der hätten wir uns die Zähne ausgebissen.«

»Glaubst du das, ja?«, knurrte Laurenz.

»Um die Wahrheit zu sagen«, meldete sich Panmeier zu Wort, »ich finde, das klingt nach einer vernünftigen Idee. Drehen wir um.« Er zog die Schultern hoch, als würde er frieren. »Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich finde es hier bei Nacht scheißunheimlich«, fügte er halblaut hinzu.

Laurenz setzte dazu an, ihn anzufahren, dass dieser Einsatz schließlich kein verdammter Kindergeburtstag sei – und ließ es bleiben. Wenn er ehrlich zu sich war, fühlte er sich in diesem Viertel auch nicht sonderlich wohl. Vielleicht war es nur der Schlafmangel, oder die Niedergeschlagenheit, weil wochenlange Planung und Vorbereitung im Sand verlaufen waren, aber etwas machte ihn ungewöhnlich reizbar. Das gefiel ihm nicht. Aggressivität hatte noch nie Ergebnisse gebracht. Er musste kühl bleiben. Berechnend. Präzise wie ein Uhrwerk.

Er raffte die Schultern, schlug seinen Mantelkragen hoch. »Von mir aus. Abgang, Leute. Und bis wir wissen, was aus der Schlampe geworden ist, bleibt die Sache unter uns, ist das klar?«

3

Eloin hörte, wie sich die Schritte der Polizisten über ihr entfernten, und sackte erschöpft zusammen. Sie saß in einem feuchten Keller, den Rücken an die unverputzte Wand gepresst. Die Kellerklappe, über die sie buchstäblich gestolpert war, hatte sie gerettet. Sie war mit einem rostigen Vorhängeschloss verriegelt gewesen, doch das hatte Eloin nur für wenige Sekunden aufgehalten. Schlösserknacken hatte ihre Mutter ihr schon als Kind beigebracht, denn Besitz, so pflegte sie zu sagen, war nur etwas für selbstsüchtige Kapitalisten – und außerdem würden kleine Mädchen nicht ins Gefängnis gesteckt, wenn man sie beim Stehlen erwischte. Mit einer Haarnadel hatte Eloin das Vorhängeschloss geknackt und sich mit letzter Kraft die ersten Treppenstufen hinuntergezogen, bevor sie das angebrachte Seil an der Klappe benutzte, um sie hinter sich zu schließen. Nun saß sie in völliger Dunkelheit.

Ihr Unterschenkel, in dem immer noch die Pistolenkugel steckte, pulsierte im Takt ihres viel zu schnell schlagenden Herzens. Schmerz empfand sie fast gar keinen mehr. Sie fragte sich, ob das am Adrenalin lag oder daran, dass ihr Körper keinen Sinn mehr in Warnsignalen sah. So oder so, sie verlor zu viel Blut. Ihr Kopf schwamm, und die Kälte, die über die Betonstufen in ihren Körper kroch, wirkte allumfassend und bedrohlich.

Heilerin, heile dich selbst, zuckte es durch ihren Kopf, und beinahe wäre ihr ein hysterisches Lachen entschlüpft.

Manche Dinge kann ich nicht heilen, hallte ihre eigene Stimme hinter ihrer Stirn wider. Es kam ihr vor, als läge es ein halbes Leben zurück, dass sie diese Worte gesprochen hatte. Dabei waren es erst wenige Wochen.

Alles war so furchtbar schnell so furchtbar schief gegangen …

Konzentriere dich, ermahnte sie sich. Die Kugel scheint keine Arterie verletzt zu haben, andernfalls wärst du längst tot. Du hast noch eine Chance, also reiß dich zusammen.

Es dauerte ungewöhnlich lange, doch schließlich ließ sanft glühendes Licht ihre Finger erstrahlen – nicht weiß wie jenes, mit dem sie die Polizisten geblendet hatte, sondern so hellblau wie ein klarer Sommerhimmel. Sie hielt die Hand über das pochende Fleisch in ihrem Schenkel und biss die Zähne zusammen, als sich die Kugel, wie von einer magnetischen Kraft angezogen, aus dem Muskel löste. Etwas Kleines landete mit einem trügerisch harmlosen Klirren auf dem Beton.

Das blaue Licht um Eloins Finger erlosch. Ihr Kopf sackte gegen die Wand, sie atmete schwer. Für einen Moment fürchtete sie, sich übergeben zu müssen. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass Schwindel und Übelkeit vergingen.

Sie musste eingenickt sein, denn als sie die Augen wieder öffnete, fiel das erste Licht des Tages durch die Ritzen in der Klappe über ihrem Kopf. Ihre Glieder waren steif vom Sitzen auf dem harten Beton, aber das Blut an ihrem Unterschenkel war geronnen. Zumindest fürs Erste. Eloin machte sich nichts vor. Selbstheilung war unmöglich. Sie konnte nur die Leben anderer retten. Und selbst diese glitten ihr immer öfter durch die Finger.

Vielleicht war das hier ihre gerechte Strafe. Vielleicht hatte sie nichts anderes verdient.

Was war nur passiert? Erst vor wenigen Monaten hatte sie sich gefühlt wie der glücklichste Mensch auf Erden. Jetzt war ihr Mann fort, und ob sie ihr Kind jemals wiedersehen würde, wusste sie nicht.

Es war die Schuld der Lunagasse – dieser Moloch von einem Ort, in dessen Schoß sie sich geflüchtet hatten. Bereits, als Andreas ihr diesen Unterschlupf vorgeschlagen hatte, hatte Eloin geahnt, dass er ihnen nichts als Unglück bringen würde. Doch sie war machtlos gegenüber dem nahenden Unheil gewesen. Es hatte einfach keinen anderen Ort mehr gegeben, an den sie hätten gehen können.

Als Eloin vier Jahre alt war, erzählte ihre Mutter ihr von Kraftorten. Manche Orte, so meinte sie, trügen eine besondere Magie in sich. Sie könnten heilen oder Kraft spenden, könnten Leeren füllen oder Seelen neu ausrichten. In der Naivität sehr junger Kinder, die glauben, dass ihre Eltern auf alles eine Antwort wissen, hatte Eloin gefragt: Warum? Ihre Mutter hatte gelächelt, ihr über das Haar gestrichen und geantwortet, dass niemand es wisse. Es sei eines der großen Geheimnisse dieser Welt, und man dürfe sich gegenüber den Geschenken der Erde nicht undankbar zeigen, indem man sie infrage stellte. Eloin hatte getan, als würde sie verstehen, obwohl sie in Wahrheit gar nichts verstand.

Zwanzig Jahre später, als Eloin zum ersten, aber nicht zum letzten Mal die Lunagasse betrat, dachte sie an dieses lange vergessene Gespräch zurück. Niemand konnte bezweifeln, dass die Lunagasse eine Form der Magie in sich trug. Doch sie war nicht heilend, nicht wohltuend oder kraftspendend. Sie war schmutzig, krank und giftig.

Obwohl die Straße nur von verlassenen Häusern gesäumt wurde, die Stadtstreichern und Obdachlosen hervorragend Unterschlupf geboten hätten, waren die herrschaftlichen Villen zu jeder Tages- und Nachtzeit menschenleer. Selbst die Ratten mieden die Behausungen, als wären sie mit Giftgas gefüllt. Die imponierenden Eisenzäune und die mit Zierrat überladenen Rokoko-Villen, über die Steinengel mit abgewitterten Gesichtern wachten, legten Zeugnis von lange vergangenen Reichtümern ab. Auf Eloin, die im rostenden VW-Bus ihrer Mutter aufgewachsen war, wirkte alles obszön pompös, mehr für Riesen gemacht denn für Menschen.

Die Größe hatte die Zeit überdauert, aber von der einstigen Pracht war nicht einmal mehr ein Schatten geblieben. Eines Tages mussten die Bewohner der Lunagasse ihr Zuhause fluchtartig verlassen haben. Eingangstüren waren unverschlossen, durch offenstehende oder zerbrochene Fenster bliesen die Gezeiten Laub und Unrat.

Warum?

Wie schon damals blieb Eloins Frage unbeantwortet. Ihre Mutter war schon seit vielen Jahren tot, und so konnte Eloin sie nicht mehr fragen, was sie über Orte wie diese wusste – Orte, die Kraft nahmen statt gaben, die ihre Besucher mit bösen Gedanken und schlechten Absichten fütterten. Sie wusste nicht, was die Lunagasse zu dem gemacht hatte, was sie nun war. Sie wusste nur, dass nicht einmal die Stadtverwaltung dieses Viertel haben wollte, dass kein Bauunternehmer einen Fuß auf die von Unkraut gesprengten Straßen setzte. Und dass sie gut daran taten.

Nie hätte Eloin gedacht, dass sie sich dieser vergifteten Umgebung je freiwillig aussetzen würde. Allerdings hätte sie auch nie für möglich gehalten, dass sie und ihre Familie eines Tages zu Geächteten werden würden.

Aber warum?

Zwei Wochen lang verbarg sich Eloin mit Andreas und dem Kind in diesem Schattenwinkel der Stadt. Sie hatten eine der saubersten Villen ausgewählt und versucht, sie irgendwie bewohnbar zu machen, doch ihre Bemühungen blieben fruchtlos. Die verstaubten Betten in den zahlreichen Zimmern mieden sie, stattdessen schliefen sie auf dem Boden in Schlafsäcken. Strom gab es nicht, und da die Sonne in der Lunagasse schneller zu sinken und später aufzugehen schien als überall sonst in der Stadt, lebten sie fast ununterbrochen im Zwielicht. Zuckender Kerzenschein wurde zu ihrer einzigen Lichtquelle.

Das Leben auf der Flucht hatte sie beide verändert, doch Andreas ganz besonders. Er sprach kaum mehr mit ihr, hatte auch keine Augen mehr für das Kind. Oft verließ er das Haus und kam erst weit nach Mitternacht zurück. Sie wagte es nicht, ihn zu fragen, wo er gewesen war. An anderen Tagen zog er sich in eines der zahlreichen leeren Zimmer der Villa zurück, wo er wie ein Besessener in dem alten Folianten las, den sie mittlerweile zu hassen gelernt hatte. »Dieses Buch ist die Antwort auf all unsere Probleme!«, behauptete er steif, wenn sie seine Besessenheit kommentierte. »Gib mir nur noch ein paar Tage Zeit, dann bin ich bereit! Dann werde ich alles bereinigen!«

Warum nur hatte Andreas nicht auf sie hören wollen? Hätte er ihre Warnung vor dem unseligen Buch ernstgenommen, wäre sie nicht gezwungen gewesen, ihn zu verraten. Und nun war er fort und sie konnte nicht zurücknehmen, was sie getan hatte.

Wie hatte es soweit kommen können? Wegen der Lunagasse? Dem Buch? Oder war es am Ende doch gänzlich ihre eigene Schuld? Hätte sie ihn festhalten müssen, als er sich von ihr entfernt hatte? Hätte sie ihn noch stärker von sich stoßen müssen? Hatten sie den Kampf gegen das Unvermeidliche zu lange gekämpft? Oder vielleicht nicht lange genug?

Heiß pulsierte die Wunde in ihrem Bein. Das Rot eines neuen Tages quoll durch die Ritzen der Kellerklappe, füllte den Keller bis an den Rand. Eloin hatte das Gefühl, als müsse sie darin ertrinken.

Die Erkenntnis packte sie wie starke Hände, die sie unter Wasser drückten: Andreas ist tot. Ich werde ihm bald folgen. Und unsere Welt zerbricht …

TEIL 1: NIE WIEDER

»Feind, du lügst, heb’ dich von hinnen«, schrie ich auf,

beinah von Sinnen,

»Dorthin zieh, wo Schatten wallen

unter Winseln und Gewimmer,

Kehr’ zurück zum dunklen Strande,

laß kein Federchen zum Pfande

Dessen, was du prophezeitest,

daß du diesen Ort entweihtest,

Nimm aus meiner Brust die Kralle,

hebe dich von hinnen!« – »Nimmer!«,

Krächzte da der Rabe, »nimmer!«

»Der Rabe«, Edgar Allan Poe

KAPITEL I
1

»Don’t worry about a thing, ‘cause every little thing is gonna be alright. « Bob Marleys markante Stimme weckte Laura Seibach aus einem unruhigen Schlaf. Sie brauchte eine Weile, um sich aus dem Sumpf verwirrender Traumbilder zu lösen. Im Traum hatte sie auf einem weiten, leeren Platz im Freien gestanden, und über ihrem Kopf hatte sich der Himmel verdunkelt. Ein ohrenbetäubendes Rauschen und Tosen wie von stürzenden Wassermassen hatte in der Luft gelegen. Sie hatte es als sachtes Vibrieren in ihrem Magen und dem Boden unter ihren Füßen gespürt. Als sie den Kopf in den Nacken legte, erkannte sie, dass das Geräusch aus dem Himmel kam. Hunderte, nein, Tausende schwarze Rabenvögel verdeckten mit ihren knatternden Schwingen die Sonne und verschluckten die Welt.

»Three little birds sit by my doorstep.«

Laura tastete nach ihrem Handy auf der Kommode und schaltete den Wecker ab, der sanft plätschernde Reggae-Beat verstummte. Im Halbdunkeln ging sie zum Fenster, öffnete die Rollos und ließ etwas von der orangen Morgensonne herein. Das Licht vertrieb die Schatten des Schlafs fast augenblicklich. Als sie sich in der Küche ein Frühstück aus einem Croissant vom Vortag und einem Glas Orangensaft zusammensuchte, hatte sie den Traum bereits wieder vergessen.

»Warum bist du denn schon wach?« Lauras Vater streckte den Kopf in die Küche und blinzelte ins Licht. Er war noch im Schlafanzug und unrasiert, sein Haar stand in alle Richtungen ab.

»Warum bist du denn noch nicht wach?«, gab Laura mit vollem Mund zurück, während sie weiter an ihrem Croissant kaute. »Es ist nach sieben.«

»Aber du hast doch Ferien, Kind.« Ihr Vater schlurfte zur Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Das Gurgeln des erwachenden Vollautomaten war unangenehm laut.

Laura unterdrückte ein Seufzen. »Aber ich jobbe doch diesen Sommer, Papa. Schon die zweite Woche übrigens.« Sie trank ihren Orangensaft in einem langen Zug leer.

»Hmmm.« Ihr Vater rieb sich das stoppelige Kinn. »Ja, doch, da klingelt was bei mir. So eine Bürosache, richtig? Akten ablegen und Briefmarken lecken.« Er setzte sich zu ihr an den Küchentisch und umfasste die Kaffeetasse mit beiden Händen wie eine lange vermisste Geliebte. Versunken rührte er darin, sodass die Milch einen weißen Wirbel ins Schwarz des Kaffees zeichnete.

»Das war leider die falsche Antwort, aber danke fürs Mitspielen.« Laura räumte ihr Geschirr in die Spülmaschine.

»Tut mir leid, Schatz ich bin noch nicht ganz wach. Ist gestern wieder verdammt spät geworden.« Jan Seibach war Limofahrer und machte daher oft Spätschichten. Zwar versuchte er, gemeinsam mit seiner Tochter aufzustehen, damit sie morgens etwas Gesellschaft hatte, aber er gab dabei selten einen brauchbaren Gesprächspartner ab. Laura hegte insgeheim den Verdacht, dass er mit offenen Augen weiterschlief, sobald er sich an den Küchentisch gesetzt hatte, und sie mit einem Schlafwandler redete.

Sie knuffte ihren Vater spielerisch gegen den Oberarm. »Mach dir keinen Kopf, Papa. Bin selbst schuld, wenn ich glaube, dir vor deinem ersten Kaffee ein sinnvolles Gespräch abringen zu können. Wie sag ich immer?«

»Morgenzombie«, brummte ihr Vater.

»Morgenzombie«, bestätigte Laura und stellte ein Croissant vor ihm ab. »Hier, vielleicht bringt das deinen Blutzucker etwas auf Touren. Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die kratzige Wange. Ihr Vater knurrte nonverbale Zustimmung und liebkoste weiter seine Kaffeetasse.

Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe und schnappte ihre Umhängetasche von der Kommode im Flur. »Bis heute Abend, Papa!«

Bevor sie die Wohnungstür ins Schloss warf, rief Jan ihr noch ein »Schönen Schultag, Schätzchen!« zu. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob er wirklich so zerstreut war, wie er tat, oder sie einfach gerne verkohlte.

Seit fast zehn Jahren waren es nur noch sie beide. Lauras Eltern hatten sich einvernehmlich getrennt, als sie neun gewesen war. Soweit Laura das beurteilen konnte, herrschte zwischen den beiden kein böses Blut, allerdings zog Jan es vor, weder über Lauras Mutter zu sprechen noch sie zu sehen. Laura glaubte nicht, dass das daran lag, dass er wütend oder verbittert war. Er war einfach der Ansicht, dass dieser Abschnitt seines Lebens abgehakt war. Laura sah das ziemlich ähnlich. Jedem, den sie danach fragte – und ärgerlicherweise taten das viele, weil alles, was nicht gänzlich der Norm entsprach, den Menschen querlag wie ein Stück zu schnell geschlucktes Brot –, konnte sie aus voller Überzeugung sagen, dass ihr Vater die Elternrolle sehr viel besser erfüllte, als ihre Mutter es jemals hätte tun können. Wenn er Nachtschichten übernahm, dann nur deshalb, weil er da sein wollte, wenn sie aufstand oder von der Schule kam. Wenn er Fremde durch die Gegend kutschierte, dann nur aus dem Grund, weil es einer der bestbezahltesten Jobs war, die er mit seinem Abschluss bekommen konnte, und er nicht wollte, dass seine Tochter auf irgendetwas verzichten musste. Ihre Mutter hatte sie in den letzten fünf Jahren genau dreimal gesehen. Seit sie nach Griechenland abgehauen war, um dort mit irgendeinem Sonnyboy zusammenzuleben, den sie übers Internet kennengelernt hatte und der kaum älter war als Laura selbst, schrieb sie ihr nicht einmal mehr eine Karte zum Geburtstag.

Nein, ihr Vater war nicht verbittert. Aber je älter Laura wurde, desto öfter ertappte sie sich dabei, dass ihre eigenen Gedanken über ihre Mutter zunehmend zynischer wurden. Vielleicht gehörte das zum Erwachsenwerden dazu. Falls das stimmte, war sie sich nicht sicher, ob es ihr gefiel.

Als Laura den Coffeeshop erreichte, in dem sie ihr Sommerpraktikum machte, war der Laden noch so gut wie ausgestorben. Nur ihre Teamleiterin und direkte Vorgesetzte Gina, nur ein paar Jahre älter als Laura selbst, war bereits vor Ort und reinigte wenig motiviert die Espressomaschine.

»Wir brauchen noch Becherdeckel aus dem Lager«, empfing sie Laura anstelle eines Grußes. Sie legte das Schwammtuch beiseite und zückte ihr Handy.

»Die sind sowieso mies für die Umwelt.«

Gina beäugte sie misstrauisch. Wahrscheinlich überlegte sie fieberhaft, ob Laura einen Scherz machte oder ihre Autorität untergrub.

Laura unterdrückte ein Seufzen. »Soll ich sonst noch was holen?«

»Einen Fünfkilosack der Hausmarke«, erwiderte Gina und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Handy. »Und dich selbst, und zwar flott. In ein paar Minuten geht der große Ansturm los, und dann will ich hier nicht in Bestellungen untergehen.«

Da Gina bei großen Anstürmen meist wie durch Zauberhand im Büro verschwand, um »dringende administrative Dinge« zu erledigen, hatte der Vorwurf für Laura wenig Gewicht. Dennoch nickte sie ergeben und ging zu ihrem Spind, um sich die Schürze mit dem Firmenlogo umzubinden.

Irgendwie hatte sie sich diesen Job ganz anders vorgestellt. Nicht die Kunden – die entsprachen so ziemlich dem, was sie erwartet hatte. Aber die innerbetriebliche Hackordnung. In zwölf Jahren Schulkarriere hatte man ihr beigebracht, dass derjenige, der Fleiß und Kompetenz zeigte, wertgeschätzt wurde. Diesen Zahn hatte ihr erster richtiger Job ihr gezogen. Nicht die eigenen Fähigkeiten zählten, auch nicht das Engagement, sondern einzig und allein der Berufsrang und die Bereitschaft, blind jede Anordnung zu befolgen, egal, wie unsinnig sie erscheinen mochte. Als sie im Frühjahr für die Matura gelernt hatte, hatte sie lange überlegt, ob sie lieber studieren gehen oder gleich ins Berufsleben einsteigen sollte. Nun war sie froh, dass sie sich für eine Unilaufbahn entschieden hatte. Bestimmt wurde man mit einem Masterabschluss nicht behandelt wie ein Mensch unterster Klasse.

Zumindest hoffte sie das.

»Nein, nein, bemüh dich nicht, ich komm schon zurecht«, murmelte Laura, als sie den Fünfkilosack Kaffeebohnen und den Karton mit den Deckeln für die To Go-Becher balancierte, während Gina mit ihrer Handyinnenkamera ihren Lidstrich kontrollierte. Laura konnte sich nicht erinnern, ihre Kollegin jemals etwas Schwereres als einen gefüllten Large-Kaffeebecher heben gesehen zu haben.

Hinter dem Tresen stellte sie ihre Last so ungeschickt ab, dass der Bohnensack ihr auf die Zehen fiel. Laura fluchte vor sich hin.

»Pass ein bisschen besser auf, ja?«, sagte Gina, ohne hochzusehen. »Was kaputtgeht, musst du bezahlen.«

Die Frage, ob das auch für Ginas wasserstoffgefärbte Birne galt, lag Laura bereits auf der Zunge, aber sie verkniff sich die Bemerkung. Nur noch drei Wochen, sagte sie sich ihr inneres Mantra vor. Dann hatte sie erst einmal zwei Monate richtige Ferien vor sich, bevor die Uni losging. Sie konnte ihren ersten Studientag kaum erwarten. Bestimmt würde es völlig anders sein, wenn man mit Kommilitonen zu tun hatte, die sich tatsächlich für das interessierten, was gelehrt wurde. Das ganze kindische Drumherum, das ihren Schulalltag immer so schwierig gestaltet hatte – die Clickenbildung, das Mobbing –, all das würde auf der Uni keine Rolle mehr spielen. Dort saßen sie alle im selben Boot und verfolgten alle dasselbe Ziel.

Das Studium würde die glücklichste Zeit ihres Lebens sein, sie wusste es einfach.

»Schlaf nicht ein, Laura«, riss Gina sie aus ihren Gedanken. »Die Deckel stapeln sich nicht von selbst auf der Theke auf.«

2

Es war fast Mittag, als Laura ihn wie einen verirrten Hund in den Laden stolpern sah. Sein Blick ging hin und her, durchmaß das Café auf der Suche nach … Ja, nach was? Seinem Herrchen? Oder vielmehr nach einem Beutetier, das ihm entwischt war?

»Kann ich dir helfen?«

Der Junge schrak zusammen. »Ähm, nein, eigentlich …« Er räusperte sich, kam zu ihr an den Tresen und stützte die Hände darauf ab. »Ist hier gerade jemand reingekommen? Etwas älter als ich, schwarze Haare, Lederjacke?«

Laura musterte den Fremden mit einer Mischung aus Amüsement und Verwunderung. Er musste knappe zwanzig sein und hatte kinnlanges blondes Haar, das im Licht der LED-Lampen des Cafés fast weiß wirkte.

»Wieso? Bist du ein Spion auf einer Observation?«

Das Erschrecken des Jungen wirkte beinahe komisch. »Ein was? Nein! Was? Wie kommst du darauf? Ich …«

»Das war ein Scherz.« Laura gab sich die größte Mühe, ernst zu bleiben. »Und nein, hier ist niemand mit Lederjacke reingekommen.«

»Oh.« Die Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen. »Ich hätte schwören können …« Seine Finger trommelten auf dem Tresen.

»Wenn du keinen Kaffee bestellen willst, kann ich dir leider nicht helfen.«

Sein Blick, der in Richtung Ausgang gewandert war, zuckte zu ihr zurück. Laura bemerkte, dass er ausgesprochen seltsame Augen hatte. Sie waren sehr dunkel, beinahe schwarz, und standen dadurch im starken Kontrast zu seinem hellen Haar. »Na gut, wenn ich schon mal hier bin, dann nehme ich einen.« Er lächelte gezwungen. »Kaffee meine ich.«

»Schwarz, Cappuccino, Latte? Kuhmilch, laktosefreie Milch, Sojamilch? Klein, mittel, groß? Haselnussshot, Karamellshot, Vanilleshot?«, leierte Laura herunter. »Du musst schon etwas präziser sein.«

»Dann …« Das Trommeln seiner Finger setzte wieder ein. »Dann nehme ich wohl einen Cappuccino? Normalgroß, mit normaler Milch. Keine Schüsse.«

»Ausgezeichnete Wahl. Für hier oder zum Mitnehmen?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ach, was soll’s, jetzt ist es auch schon egal. Ich trink ihn hier.«

Während Laura die Milch aus dem Kühlschrank holte, sagte sie: »Ganz so schlimm ist das Ambiente hier auch wieder nicht, weißt du?«

»So hab ich das nicht gemeint. Ich wollte nur sagen …«

»Dass du den Typen, den du suchst, verloren hast«, vermutete sie. Es zischte, als der Dampf der Espressomaschine die Milch im Kännchen schäumte. »Also kannst du dir jetzt genauso gut eine kleine Kaffeepause gönnen. Meiner Meinung nach eine sehr vernünftige Entscheidung.«

Der Junge antwortete, aber das Knurren und Surren der Espressomaschine verschluckte seine Worte. Gekonnt türmte Laura ein Milchschaumkrönchen auf die breite Cappuccinotasse. Sorgfältig formte sie die letzten Schaummengen zu einem kleinen Herz, wie man es ihr bei der Einschulung beigebracht hatte. Sie legte einen Karamellkeks auf den Unterteller, stellte alles auf ein Tablett und schob es dem Jungen hinüber.

»Macht drei Euro zwanzig.« Sie lächelte. »Wohl bekomm’s, Herr Spion.«

3

Am nächsten Tag kam er wieder. Diesmal war es Nachmittag, und seine Schritte waren zielgerichteter als bei seinem ersten Besuch. Er sah sich nur kurz um, ehe er zum Tresen ging und sich in der Schlange einreihte.

Laura musste lächeln.

»Guten Tag, Herr Spion«, begrüßte sie ihn gut gelaunt, als er an der Reihe war.

Er wirkte überrascht. »Du erinnerst dich noch an mich?«

»Normaler Kaffee für einen ganz normalen Typen auf einer ganz normalen verdeckten Ermittlungsmission. Wie könnte ich das vergessen?« Sie griff nach dem Milchkännchen. »Cappuccino?«

»Bitte.« Seine Finger trommelten, trommelten, trommelten. Doch auf seinen Lippen lag ein vorsichtiges Grinsen.

»Ich heiße übrigens Kiro«, platzte er heraus, als sie ihm das Tablett reichte.

»Kiro«, wiederholte sie nachdenklich. »Das ist … irgendwie schräg, oder? Haben Decknamen nicht den Zweck, unauffällig zu sein? So zum Beispiel.« Sie deutete auf ihr Namensschild. »Völlig gewöhnlich. Da schöpft niemand Verdacht.«

»Ich finde Laura sehr schön«, murmelte er und starrte auf den Tresen, als hätte er in der Holzmaserung ein unheimlich interessantes Muster entdeckt.

Laura wollte etwas darauf erwidern, doch der Kunde in der Schlange hinter dem Jungen wurde ungeduldig, also kassierte sie und nahm die nächste Bestellung auf. Als sie dem Kunden danach sein Wechselgeld herausgab, musste sie dreimal nachzählen. Aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht vernünftig konzentrieren, und sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick wiederholt zu dem Sitzplatz in der hinteren Ecke glitt, in der der blonde Junge mit dem ungewöhnlichen Namen saß und angestrengt nicht in ihre Richtung sah.

4

Von da an entspann sich zwischen ihnen eine Art Ritual. Jeden Nachmittag kam der blonde Junge ins Café, und jeden Nachmittag empfing Laura ihn mit einem Cappuccino und einem Lächeln. Wenn er das kleine Herz sah, das sie aus dem Milchschaum formte, wurde sein Blick warm, als handele es sich um ein Geschenk, das nur für ihn allein bestimmt war. Da er immer zur Hauptbetriebszeit eintraf, hatten sie nur wenig Gelegenheit, sich zu unterhalten, aber das war auch gar nicht nötig. Es reichte Laura schon, ihn durch die Tür kommen zu sehen – dann fühlte sie ein wohliges flaues Kribbeln in ihrer Magengrube, wie am höchsten Punkt einer Achterbahnfahrt, und ihre Handflächen wurden schweißnass.

Obwohl schon achtzehn, war Laura noch nie in einer richtigen Beziehung gewesen. Mit dreizehn hatte sie einen Internetfreund gehabt, den sie in einem Fanforum für Animes kennengelernt hatte. Mit ihm teilte sie all ihre Gedanken und Gefühle, erzählte ihm von ihrem Tag, ihren Ängsten und Hoffnungen. Er sorgte dafür, dass sie sich reif und wertgeschätzt fühlte, nicht mehr wie die sozial hilflose Außenseiterin, die sie unter Gleichaltrigen war.

Ihre Freundschaft endete abrupt, als Laura einmal vergaß, sich am Familienrechner aus ihrem E-Mail-Konto auszuloggen. Ihr Vater stieß zufällig auf den Mailverlauf und verbot Laura, ihrem Freund jemals wieder zu schreiben. Der hatte nie ein Geheimnis darum gemacht, dass er über dreißig war, und so verstand Laura die Aufregung ihres Vaters nicht. Natürlich, es gab viele böse Menschen im Internet, das wusste sie, aber doch nicht ihr Freund, der immer so einfühlsame Dinge schrieb und sie wie eine Erwachsene behandelte, nicht wie das Kind, als das alle anderen sie immer noch sahen. Niemals zuvor und niemals danach war sie so wütend auf Jan gewesen. Erst Jahre später wurde ihr klar, dass er recht gehabt hatte und sie einem Groomer aus dem Bilderbuch auf den Leim gegangen war. Noch heute fragte sie sich manchmal, wie weit sie wohl gegangen wäre, um ihm zu gefallen. Die mögliche Antwort beunruhigte sie.

Seither war sie sehr vorsichtig, wenn es darum ging, einer freundlichen Fassade zu vertrauen.

Kiro dagegen … Er verlangte gar nicht, dass sie sich auf ihn einließ. Er verlangte nichts von ihr, kam einfach nur jeden Tag, um seinen Cappuccino von ihr in Empfang zu nehmen und sah sie dabei an, als würde sie ihn zum glücklichsten Kaffeetrinker der Welt machen.

Das Ganze ging etwa eine Woche lang. Mittlerweile fiel selbst der sonst nicht gerade aufmerksamen Gina auf, dass da etwas zwischen ihnen vorging, und natürlich konnte sie das nicht einfach hinnehmen.

Es begann mit harmlosen Sticheleien. »Dieser blonde Bursche gefällt dir, hm? Ich wusste gar nicht, dass du auf Kerle stehst.«

Laura, die gerade frisch aufgetaute Brownies in die Vitrine füllte, blickte nicht einmal zurück. »Verstehe, ich bin also lesbisch.«

»Quatsch, doch nicht lesbisch. Ich dachte immer, du wärst ein Kerl!« Gina kicherte dümmlich.

Da man Laura in ihrer Schulzeit schon ganz andere Dinge genannt hatte, berührte sie das herzlich wenig. »Ha ha«, machte sie nur. »Der war echt gut, Gina.«

Als Laura auf ihre Sticheleien nicht mit der gewünschten Empörung reagierte, griff Gina zu anderen Maßnahmen. Laura vermutete, dass Gina mit ihrem wasserstoffblonden Haar, ihrem gertenschlanken Körper und ihren Markenklamotten gewöhnt war, die männliche Aufmerksamkeit ganz für sich allein gepachtet zu haben, und was Laura und Kiro hatten, so wenig und unbedeutend es auch sein mochte, schmeckte ihr nicht. Also hielt sie Ausschau nach Kiro, und als sie ihm das nächste Mal das Café betreten sah, schickte sie Laura in den Lagerraum, um irgendeine unbedeutende Kleinigkeit zu holen. Laura durchschaute ihre Taktik, vermutete aber, dass sie Gina nur einen Gefallen tun würde, wenn sie eine Szene machte, also ging sie einfach. Als sie zurückkam, lehnte Gina halb über der Theke und flirtete ungeniert mit dem blonden Jungen. Dieser wirkte peinlich berührt und schien nicht genau zu wissen wohin mit seinem Blick.

»Ich habe um sieben Feierabend, falls du also heute Abend noch nichts vorhast …«, gurrte sie gerade, als Laura dazukam.

»Tut mir leid, ich …«, stotterte er. So energisch hatte sie seine Finger noch nie trommeln hören. Das Geräusch erinnerte sie an das Hufgetrappel flüchtender Pferde. Da fiel sein Blick auf Laura, und seine Miene hellte sich sofort auf.

»Cappuccino, Herr Spion?«, fragte Laura, denn offenbar hatte Gina noch nicht einmal seine Bestellung aufgenommen, sondern war vollauf damit beschäftigt gewesen, ihn mit ihren klimpernden Wimpern zu erschlagen.

»Pass auf, was du sagst, es sind Zivilisten anwesend«, scherzte er.

Sie lachten. Gina murmelte irgendetwas von wegen administrativen Tätigkeiten und dampfte schnaubend ab.

»Deine Kollegin ist ganz schön gruselig«, sagte er, als Laura den Milchschaum in die Tasse goss.

»Zum einen ist sie nicht meine Kollegin – sie ist meine Vorgesetzte. Und zum anderen bin ich mir ziemlich sicher, dass sie kleine Jungs in ihrem Keller für den Ofen mästet.«

Er schmunzelte. »Dann hast du mich wohl vor einem grausamen Schicksal bewahrt und ich sollte dir auf ewig dankbar sein.«

Als sie ihm das Tablett über den Tresen reichte, berührten sich ihre Finger zufällig. Eine angenehme Gänsehaut lief über Lauras Rücken. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da hatte Kiro sich schon umgedreht. Er lief so schnell in Richtung seines Stammplatzes davon, dass er stolperte und einen Großteil seines Kaffees auf seinem Tablett verteilte. Auch wenn sie es nicht sehen konnte, wusste Laura einfach, dass das Schaumherz dabei über den Rand der Tasse geschwappt war.

5

In dieser Nacht entschied Laura, dass sie einen Schritt weitergehen wollte. Lange lag sie wach und überlegte, wie sie es am besten anstellen könnte. Ihr Handy zeigte bereits zwei Uhr morgens, als ihr die Lösung einfiel: Sie würde ihre Telefonnummer auf die einlagige Serviette schreiben, die sie immer auf die Untertasse legte. So würde er sich nicht unter Druck gesetzt fühlen – er wirkte, als wäre er leicht zu verschrecken –, gleichzeitig konnte sie ihm zu verstehen geben, dass sie an mehr Kontakt interessiert war als dem täglichen Ritual-Cappuccino.

Bereits zu Beginn ihrer Schicht am nächsten Tag bereitete sie die Notiz vor und verwahrte sie in der Tasche ihrer Schürze. Jedes Mal, wenn sie danach griff, spürte sie ihren Puls bis in die Fingerspitzen.

Ungeduldig beobachtete sie die Uhr. Die Zeit schien an diesem Tag quälend langsam zu vergehen.

Endlich wurde es zwei.

Und Kiro kam nicht.

Das musste natürlich nichts bedeuten. An manchen Tagen kam er später als an anderen, aber er kam immer. Früher oder später kam er immer.

Die Zeit kroch dahin.

Drei Uhr. Noch immer keine Spur von ihm. Laura zerknüllte die Notiz in ihrer Schürzentasche, bemerkte kaum, wie der Schweiß von ihren Händen sie feucht machte und die Schrift verschmierte.

Vier Uhr. Kein Kiro.

Vielleicht hatte er heute keine Zeit für den Ritualcappuccino gehabt. Aber warum von allen möglichen Tagen ausgerechnet heute? Obwohl sie wusste, dass das Unsinn war, fühlte Laura sich auf irrationale Weise im Stich gelassen.

»Laura, kommst du bitte mal kurz?«

Lauras schlechte Laune bekam neue Nahrung, als Gina sie mit ihrer Jetzt-reden-wir-mal-von-Boss-zu-Angestellter-Stimme zu sich rief. Sie überließ die Kunden ihrem Kollegen, einem sechzehnjährigen Spargeltarzan namens Oliver, der ebenso wie Laura ein Ferialpraktikum machte, und folgte Gina in den Aufenthaltsraum, den Gina manchmal als ihr »Büro« bezeichnete.

Sie setzte sich hinter den Schreibtisch, auf dem sich Werbeprospekte und Bestellformulare häuften, und deutete auf den Klappstuhl davor. »Setz dich, Laura.«

Laura unterdrückte ein Augenverdrehen. Ihr war klar, dass Gina die gestrige Niederlange noch immer nicht völlig verdaut hatte und dass sie sie nun dafür büßen lassen würde, aber sie hätte nicht erwartet, dass sie die volle Chefnummer abziehen würde. Mit ihrem besten Pokerface ließ Laura sich auf den angebotenen Stuhl fallen. »Gibt es ein Problem, Gina?«

»Da du es schon ansprichst … Ja. Ja, es gibt ein Problem.« Ginas Smartphone war nirgendwo in Sichtweite, das hatte echten Seltenheitswert. Dieses Gespräch versprach unangenehm zu werden.

»Beim Kassasturz der letzten Tage gab es ein paar Unregelmäßigkeiten. Ich weiß, dass deine Konzentration … naja … anderen Dingen galt, und glaub mir, ich verstehe das auch. Ja, ich verstehe das total! Die erste Schwärmerei, das ist superaufregend, oder? Auch wenn sie bei den meisten viel früher kommt, aber manche von uns sind eben Spätentwickler.« Sie ließ ihre weißen Zähne blitzen.

Laura ging nicht darauf ein. »Ich zähle das Wechselgeld immer genau nach«, sagte sie. »Mehrmals, wenn ich mir nicht sicher bin.«

»Oh, das glaube ich dir!«, beteuerte Gina. »Und wir sind alle nur Menschen, richtig? Und Menschen machen eben Fehler. Trotzdem musste ich mit dem Filialleiter über diese Unregelmäßigkeiten sprechen.«

Lauras Magen verknotete sich. Herr Fein, der Filialleiter, den sie das erste und letzte Mal bei ihrem Vorstellungsgespräch gesehen hatte, hielt sich für gewöhnlich aus den Angelegenheiten minderer Baristas heraus. Ihm gehörten mehrere Zweigstellen im Bezirk, deshalb war er für sie nur die graue, drohende Eminenz im Hintergrund, die erst dann eingeschaltet wurde, wenn etwas bereits grob im Argen lag.

Würde Gina wirklich so weit gehen, nur um sich an ihr zu rächen?

»Ich hab Fein natürlich gesagt, wie fleißig du bist und wie klaglos du jede Arbeit übernimmst«, fuhr Gina ungerührt fort. Das dünne Lächeln, das auf ihren Lippen lag, verlieh ihr das Aussehen einer Schlange, die ein Kaninchen in einer Grube erspäht. »Und Ferialpraktikanten haben hier für gewöhnlich sowieso Narrenfreiheit, denn was sie auch anstellen, in wenigen Wochen sind sie ja sowieso weg vom Fenster, richtig? Gar nicht die Mühe wert, denen allzu genau auf die Finger zu schauen. Aber Fein meinte, dass die Differenz in der Kasse zu groß ist und man das nicht so stehenlassen kann. Er war gewillt, mir zu glauben, dass du bestimmt kein Geld aus böser Absicht unterschlagen hast, aber … Naja, wie soll ich sagen …« Ihr Grinsen wurde breiter.

»Was?«, hakte Laura nach. »Was willst du damit sagen? Er feuert mich?«

»Er nannte es freistellen, aber … Ja, er feuert dich.«

Laura wurde schlecht. »Aber …«

»Den Lohn für deine bisherigen Arbeitstage kriegst du natürlich ausgezahlt«, fuhr Gina fröhlich fort. »Und du musst das fehlende Geld auch nicht ersetzen. Aber du bist mit sofortiger Wirkung freigestellt und darfst hier nicht mehr kassieren. Das ist das übliche Prozedere beim Verdacht auf, du weißt schon … Diebstahl.«

»Das ist doch Bullshit!« Laura sprang auf.

»Ich weiß!«, rief Gina aus und warf die Arme in die Luft. »Ich habe auch zu Fein gesagt, dass ich mir unmöglich vorstellen kann, dass die stille, clevere Laura so etwas abziehen würde! Dieselbe Laura, die hier mit einem Maturazeugnis voller Einsen und Zweien zur Bewerbung angetanzt ist! So jemand würde sich doch niemals an der Kasse vergreifen! Aber er hat sich leider nicht von seiner Entscheidung abbringen lassen. Ach ja, und noch etwas: Du bist hier auch nicht mehr als Kundin erwünscht. Solltest du dich hier verdächtig oft rumtreiben, könnte es sein, dass Fein in der Sache doch noch rechtliche Schritte einleitet, und das wollen wir natürlich alle nicht. Am besten wird also sein, wenn du das hier unterschreibst«, sie schob Laura ein Dokument zu, »deinen Spind ausräumst und deinen Kaffee von jetzt an daheim trinkst.«

Tränen der Wut und der Fassungslosigkeit brannten in Lauras Augen. Mehrmals öffnete sie den Mund, aber zu ihrer eigenen Frustration kam kein Wort heraus.