Pandemien

Philipp Kohlhöfer

Pandemien

Wie Viren die Welt verändern

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Philipp Kohlhöfer

Philipp Kohlhöfer arbeitet u.a. für das Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Er ist Autor und Kolumnist unter anderem für GEO. Für eine Geschichte im Pazifik wurde er beschossen, für eine andere wohnte er monatelang bei Straßengangs. Bereits 2003 schrieb er eine Reportage über Coronaviren. Protagonist damals: Christian Drosten.  

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Wir leben in einer Welt der Viren. Ein einziger erfolgreicher Übersprung irgendwo auf der Welt genügt, um eine neue Pandemie auszulösen. Vor dem Hintergrund des neuartigen Coronavirus erzählt dieses Buch davon, wie Pandemien entstehen und wieso sogenannte Zoonosen immer öfter auftauchen: neue Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen und extrem gefährlich werden können. Philipp Kohlhöfer legt ein beunruhigendes, gleichzeitig aber auch hoffnungsvolles Buch vor. Er begleitet führende Wissenschaftler wie Christian Drosten bei der Suche nach dem Ursprung von Pandemien, beobachtet sie bei ihrer Arbeit an Viren wie MERS und Ebola und dem Versuch, die nächste Seuche zu entdecken, bevor sie ausbricht. Dabei erzählt das Buch von der größten Waffe, die die Menschheit im Kampf gegen neuartige Erreger hat: der Wissenschaft.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,

D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung und -abbildung: KOSMOS - Visuelle Kommunikation, Münster

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491411-4

Es beginnt überraschend, und zuerst ist es nur eine Störung im Alltag, nichts Besonderes, kann man kurz erledigen, ist weit weg. Niemand rechnet mit etwas Größerem, und vielleicht ist das nicht besonders schlau, schließlich ist das Gebiet groß und gewaltig und abgelegen, und passieren kann ohnehin immer alles. Außergewöhnlich ist das nicht, im Gegenteil: Es ist vorher passiert, und es wird wieder passieren. Irgendjemand hat sich irgendwann Gedanken darüber gemacht, und so gibt es Quarantänevorschriften und einen Plan, was zu tun ist, wenn dieser Fall eintritt, aber der beste Plan nutzt nichts, wenn ihn niemand beachtet. Und so verändert sich der Parasit im Laufe der Zeit. Er mutiert und wird dabei gefährlicher.

Es hätte bekannt sein können. Es kommt unvorbereitet.

»Ich bewundere die konzeptionelle Reinheit«, sagt Ash, der Androide. Sein Kopf liegt abgetrennt neben seinem Körper, bedeckt mit weißem Schleim. »Geschaffen, um zu überleben. Kein Gewissen beeinflusst es. Es kennt keine Schuld oder Wahnvorstellungen ethischer Art.« Er grinst dabei, er fühlt nichts, er sagt: »Ihr könnt es nicht besiegen.«

Und dann steht Ripley auf, und sie wird das Alien töten. Für dieses Mal.

Popliteratur über Pandemie-Themen? Man mag sich wundern, warum ich als Wissenschaftler, der zuvor stets um differenzierte Nüchternheit bemüht war, nun ein Vorwort zu einem Buch beitrage, das eine so ganz andere Sprache benutzt, als man es beispielsweise aus Werken der Populärwissenschaft kennt. 

Die einfache Antwort lautet: Ich kenne den Autor seit langem. Philipp Kohlhöfer und ich wohnten jahrelang in der gleichen Nachbarschaft in Hamburg und wurden Kiezfreunde. Gleichzeitig war Philipp immer schon von Wissenschaftsthemen fasziniert und schrieb darüber auf seine ganz eigene Weise – in der direkten Sprache des norddeutschen Hipsters, aus der beobachtenden Distanz eines Gebildeten, aber eben nicht Ausgebildeten. Zu SARS-Zeiten interviewte er mich dann einmal für den »Stern«. Lang ist es her. Ich ging meinen Weg weiter nach Bonn und Berlin. Die Kontakte wurden zwar seltener, rissen aber auch nie vollkommen ab. Bei Fragen rund um wissenschaftliche Themen rief er immer mal an. Über die Zeit entwickelten wir ein gutes Gefühl für die Sicht- und Sprechweise des anderen. 

Sein nun vorliegendes Projekt berührt das wahrscheinlich größte Wissenschaftsthema dieses Jahrzehnts. Das Buch handelt nicht nur allein von der Covid-19-Pandemie, sondern auch von deren biologischen Hintergründen und jenen Personen, die als Wissenschaftler aktuell an einigen der relevantesten Themen für die Menschheit arbeiten. Wie auch mit den anderen Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Buch vorkommen, hat Philipp daher auch mit mir längere Gespräche geführt und diese dann in seine Erzählung eingearbeitet. Immer in seinem ganz eigenen Stil, aber stets wahrheitsgemäß, vollständig und wissenschaftlich.

Muss der dabei oft etwas ungewohnte Ton sein? Ich denke, es gibt durchaus eine Berechtigung dafür. Vor allem sehe ich eine wichtige Lücke, die bisher noch von kaum einem deutschsprachigen Beitrag besetzt ist. Während ganze Schülerjahrgänge nun anscheinend Virologen werden wollen, ist der Zugang zu einer wissenschaftlichen Vorstellungswelt mühsam, wenn nicht sogar ganz verschlossen. Das gilt insbesondere für die Jüngeren und diejenigen, deren Alltagserfahrung sich vielleicht in ganz anderen Lebenswelten abspielt. Zugang zu vermeintlich sperrigen Themen erhält man mitunter über Personen. Genau darin liegt neben der wissenschaftlichen Beratung mein bescheidener Beitrag zu diesem Buch. Wissenschaft ist auch nichts kalt Technisches, sondern wird von Menschen betrieben. Eine Konzentration auf die menschlichen Aspekte führt zwar nicht in die Tiefe der Forschungsstrategie und vermittelt auch keine Einblicke in die Zelle. Aber sie spannt eine wichtige Verbindung vom Alltag in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm.

Hoffentlich entsteht dabei der Eindruck, dass dieser Turm so hoch und unerreichbar nun auch wieder nicht ist. Und hoffentlich entsteht durch die vorliegende Lektüre Neugier und Mut, sich der Wissenschaft zu nähern. Das ist mir ein persönliches Anliegen, denn auch ich habe die wissenschaftliche Karriere nicht mit der Muttermilch eingesogen. Auch ein Zugang zur Universität ist noch längst nicht ausreichend für die Ausübung eines Berufs oder auch die Verwirklichung eines Traums. Das nötige Selbstbewusstsein und eine gewisse Vorstellungskraft, die auch mit Emotionen einhergehen, gehören dazu. Dieses Buch leistet einen Beitrag zur Ausprägung einer solchen Vorstellungswelt.

Eine andere Funktion von Popliteratur möchte ich noch ansprechen. Man hat in diesen Tagen das Gefühl, dass die Töne in den Medien zwar schärfer werden, die Sachthemen dahinter aber immer mehr verschwimmen. Die Komplexität der Sachfragen geht im Markt der

Dem steht das Erleben eines Wissenschaftlers vollkommen entgegen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben nicht das Ziel, eine bestimmte Meinung zu untermauern oder eine andere zu diskreditieren. Wenn sich Erkenntnisse ändern, können Wissenschaftler ihre Aussagen anpassen, ohne dass Kollegen einem das nachtragen oder dies gar als Gesichtsverlust empfinden. Nur im Zerrspiegel der Medien entstehen diese Vorstellungen.

Für Wissenschaftler ist die Kommunikation mit Öffentlichkeit und Medien ohnehin alles andere als attraktiv. Schon rein aus Gründen der Zeitökonomie können sie es sich gar nicht leisten, die Öffentlichkeit dauernd am eigenen Erleben teilhaben zu lassen. Hinzu kommt: Sie haben aus der ständigen Präsenz in der Öffentlichkeit keinen Vorteil, da über wissenschaftliche Erkenntnisse eben nicht in der öffentlichen Debatte entschieden wird.

Das vorliegende Buch verschafft vielleicht gerade durch seinen Blick auf Akzente eine Vorstellung davon, wie sich das Leben als Wissenschaftler anfühlt und dass dies ganz anders ist, als es Ihnen vielleicht einige Medien glauben machen wollen. Begeisterung für Inhalte ist eine der ganz starken Triebfedern dafür, dass man gern Wissenschaftler ist und in dieser Rolle auch bleibt. Ich hoffe sehr, dass der vorliegende Text diese Akzente transportiert, ohne eine Erfassung des abstrakten Ganzen oder ein Vordringen in die Tiefe der Details voraussetzen zu müssen. 

 

Christian Drosten

Berlin, im Mai 2021

Wir kommen in Frankfurt an, und das Land macht zu.

Wir sind in Paris in der Woche zuvor, Hamburg hat Schulferien, und ich habe meiner Tochter versprochen, zum Eiffelturm zu fahren. In Italien gibt es bereits einen Ausbruch, und ich bin unsicher, ob wir wirklich fahren sollten. Einerseits: Wenn man etwas verspricht, hält man sich gefälligst daran. Andererseits gibt es längst überall erste Fälle, in Frankreich auch, Desinfektionsmittel wird geklaut und Klopapier gebunkert. Alles fühlt sich nach Endzeit an. Ist es nicht besser, ein Versprechen zu brechen, wenn man weiß, dass das Kind dann in Sicherheit ist?

Ich überlege, wäge ab, bin in der einen Minute dieser Meinung und in der anderen jener. Und dann mache ich das, was das ganze Land tut: Ich frage jemanden, der sich auskennt.

Ich rufe Christian an.

Und dann fahren wir.

Als wir wiederkommen, ist der Plan: nochmal kurz Opa und Oma »Hallo« sagen, ein Wochenende bleiben und dann zurück in den Norden. Aber an dem Wochenende wird das ganze Land heruntergefahren. Und drei Tage später transportiert die Armee in Bergamo Särge ab. Eine der besten Freundinnen meiner Tochter wohnt im Ort, in Hamburg vermisst mich keiner, ich habe nichts vor: Wir bleiben.

Und man merkt gar nichts.

Es fühlt sich bedrückend an, weil Ungewissheit immer bedrückend ist, aber es ist alles wie immer. Was nicht heißt, dass außerhalb meiner Dorfblase nichts ist: Menschen beginnen zu sterben, Grenzen werden geschlossen, Veranstaltungen verboten. Aber Landleben hat Vorteile. Man merkt so wenig, dass ich mich irgendwann frage, ob das wohl immer so ist, und als ich im örtlichen Kirchenbuch nachsehe, das seit ein

Weil ich Zeit habe und außerdem relativ regelmäßig mit Christian telefoniere, lese ich mich ein, man will ja mitreden können. Und dann kommen ein paar Dinge zusammen: Irgendwann im April erzählt er mir von den Mails, die er mittlerweile bekommt, der Lack der Zivilisation ist dünn und blättert schnell ab, wenn die Witterung umschlägt. Das Nichtstun wird außerdem langsam langweilig, und ich treffe beim Spazierengehen einen Bekannten von früher, es gibt noch keine Idee davon, dass es kein Jahr später eine Impfung geben könnte, aber dennoch kommt das Gespräch darauf.

WALD. SONNIG. AUSSEN.

 

ER

»Ob Impfungen wirklich nützlich sind, weiß man ja auch nicht.«

 

ICH

»Na ja, du hast als Kind weder Polio noch Diphterie bekommen, bist später nicht an Tetanus gestorben und bei bester Gesundheit – und auch schon über 40

 

ER

»Aber was ist denn mit den Langzeitfolgen?«

 

ICH

»Jahrzehnte glücklich und gesund zu leben scheint mir eine akzeptable Langzeitfolge zu sein.«

 

ER

»Du nimmst mich nicht ernst, du Depp.«

 

ABGANG. MECKERND.

Was ich auch tue: Ich vertreibe mir die Zeit mit Tinder. Mittlerweile habe ich seit Wochen nichts anderes gemacht als Paper gelesen, die Titel haben wie »Longitudinal surveillance of SAR-like coronaviruses in bats by quantitative real-time PCR«. Ich habe mich mit Büchern beschäftigt über Pockenausbrüche in Westafrika in den 1960ern. Und dann matcht es. Mittdreißigerin, engagiert sich gegen alles, was mit -ismus endet: Rassismus, Faschismus, Sexismus, und findet Angela Davies gut, die amerikanische Bürgerrechtlerin. Wir machen smallen Smalltalk, und recht flott kommt die Sprache auf die Pandemie.

»Findest du nicht die ganze Sache etwas merkwürdig?«

Ich verneine. Kommt mir nicht merkwürdig vor. Sollte es? Und was genau? Die Antwort kommt sofort: Da gibt es ja diesen Virologen in Berlin. Sie macht drei Punkte in ihre Textnachricht … und das sieht so aus, als hätte sie sich schon sehr beherrscht, weil sie auch ein Emoji mitschickt, das die Augen verdreht. Der sei sehr panikorientiert. »Ach«, sage ich. »Warum denn das?« Ich bin sehr gespannt. Ich tue zumindest so, denn leider kann ich mir denken, was kommt. Und es kommt auch genau das.

Die Schweinegrippe war doch gar nicht gefährlich, blabla, man darf seine Meinung nicht sagen, sonst gilt man gleich als Verschwörungstheoretiker, blabla, das sieht alles gesteuert aus, blabla. Vor allem: Das Virus wurde nicht ganzheitlich betrachtet. Das sagt sie wirklich: Man könne ein Virus nicht abstrakt behandeln, sondern müsse ja immer seine Wirkung auf den menschlichen Körper mit einbeziehen. Ach was.

Sie sagt, dass sie Gesundheitswesen studiert, auf Erfahrungen und Gefühle hört und sich deswegen auskennt, und bei dieser Begründung kann ich dann auch nichts sagen. Ich versuche es trotzdem kurz, werde aber sofort ausgebremst mit einem forschen »Hey, kein Ding, du kommst auch noch dahinter.« Mit Ausrufezeichen, damit ich das auch wirklich mal verstehe. Sie sagt, ich muss aufwachen, aber sie will mich auch nicht zum offenen Denken motivieren. Und dann sagt die Kämpferin gegen den Faschismus zum Abschied leider das, was, nun ja,

Ich finde das nicht, woraufhin sie findet, dass ich dann eben weg muss, und dann löscht sie mich – was so übersichtlich schlimm ist.

Ich glaube an die Aufklärung. Ich glaube, dass Information gut ist und helfen kann. Ich weiß aber, dass »Glauben« wissenschaftlich betrachtet keine besonders tragfähige Kategorie ist. Denn würden das alle so sehen, gäbe es keinen Grund, Wissenschaft abzuwerten. Letztlich zeigt sich in den Angriffen auf Wissenschaftler, wie ernst man Wissenschaft nimmt. Sonst wären die Angriffe nicht nötig.

Und weil das alles zusammenkommt und Christian sich in seinem Podcast ums Erklären bemüht, sprechen wir in einem unserer nächsten Telefonate, Frühsommer 2020, darüber, ein Buch zusammen zu schreiben. Mal alles in einen größeren Bezug setzen. Aus einer Reihe von Gründen wird daraus nichts, vor allem dem: Seriosität ist zeitaufwendig, und Zeit ist das, was in den Pandemiejahren 2020 und 2021 einer von uns beiden nicht hat. Spoiler: Ich bin es nicht.

Und dann mache ich es alleine. Er würde es bestimmt anders machen. Was nicht besser ist oder schlechter, sondern einfach anders. Er ist Wissenschaftler, und zwar ein sehr guter, ich nicht.

Dieses Buch ist daher Pop-Wissenschaft und kein Paper. Es zeichnet sprachliche Bilder, um Wissenschaft zu erklären und zu vereinfachen. Wenn die versehentlich etwas schiefer sind als beabsichtigt: Ich war’s. Eventuelle Verkürzungen: Von mir. Alle möglichen Songzitate und Filmanspielungen sind auf meinem Mist gewachsen, und wenn der Text manchmal eine Cowboyattitüde hat, die breitbeinig durch die Gegend latscht, big gun, AC/DC, der ganze Kram: Das ist Absicht.

Christian hat ein Vorwort geschrieben, in der Tat. Das macht es allerdings nicht zu seinem Buch, und er bürgt auch nicht dafür, er weiß das, ich weiß es, und eigentlich weiß das jeder, denn das ist normaler Standard. Aber die Zeiten sind politisiert, weswegen ich das ausdrücklich erwähne. Und noch was: Ja, ich bin voreingenommen. Ich bin pro Wissenschaft. Dazu noch mal im ganzen Satz: Christian Drosten ist ein sehr netter und sehr angenehmer Typ. Das war vor zwanzig Jahren schon so, und das hat sich nie geändert.

Er bekommt kein Geld für den PCR-Test, ist an keinem Labor beteiligt, verdient nirgends mit, macht seinen Podcast for free, und für das Vorwort habe ich ihm nichts bezahlt und der Verlag auch nicht.

Die PCR wird dennoch erklärt. Erklärt wird auch Superspreading und Impfen, Evolution von Viren und der Reproduktionsfaktor, Herdenimmunität und Mutationen. Zur Sprache kommt das alles, weil es kein SARS-CoV-2-spezifisches Phänomen ist. In diesem Buch geht es nicht um eine Pandemie, sondern um viele (potenzielle). Das ist schlicht bei anderen Pandemien auch alles wichtig. Bei denen, die waren, und bei denen, die noch kommen, denn das wird wieder passieren – wenn wir unsere Art zu leben nicht ändern und Natur weiter so betrachten wie einen Joghurt mit Himbeergeschmack oder ein paar neue Sneakers: als Konsumprodukt.

Vor dem Hintergrund von SARS-CoV-2 soll das Buch erklären, warum und wie Pandemien entstehen. Und wieso Zoonosen immer öfter auftauchen. Denn seit Menschen jeden erdenklichen Winkel der Erde erschließen, steigt die Gefahr, dass Viren von Tieren überspringen. Einerseits. Andererseits sind Viren schon immer da. Wir sind von ihnen umgeben. Als vor etwa 700 bis 800 Millionen Jahren tierisches Leben entsteht, haben sie schon mindestens drei Milliarden Jahre der Evolution hinter sich – zusammen mit den Bakterien. Sie sind überall,

Unser Planet besteht aus schätzungsweise 1033 Viren. Eine völlig unvorstellbare Zahl. Ständig werden neue Arten entdeckt oder bekannte verändern sich. Ihr Generationszyklus ist so schnell, dass Viren Evolution zum Zusehen sind. Und weil wir uns nicht getrennt von ihnen entwickelt haben, führt ihre Erforschung nicht nur zu einem besseren Verständnis von Naturgeschichte, sondern zu einem besseren Verständnis unserer selbst – denn rund neun Prozent unserer Erbsubstanz stammt direkt von Viren ab.

Darunter sind Hunderte Genschnipsel, die irgendwann eingebaut wurden, ursprünglich eine andere Funktion hatten, aber jetzt friedlich mit uns koexistieren. Weil zudem jede Zelle Abschnitte des Erbgutes enthält, die keine erkennbare Funktion besitzen, und weil davon wiederum ein großer Teil von Viren stammt, gehen rund vierzig Prozent des menschlichen Erbguts auf Viren zurück. Was nichts anderes heißt als: Wir haben nur ganz knapp die Mehrheit in unserem eigenen Körper. Viren leben auf uns und in uns, und vermutlich kontrollieren sie das Mikrobiom in unserem Darm. Und wenn wir auf die Toilette gehen, werden wir nicht nur Lebensmittelreste von vor ein paar Tagen los, sondern auch bis zu einer Milliarde Viren und hundert Millionen Bakterien, in einem Gramm wohlgemerkt. Letztlich sind wir Holobionten, so nennt sich das, mehrteilige ökologische Einheiten, die in einer Symbiose mit ihren Bakterien und Viren zusammenleben. Auch wenn wir Viren meist nur bei Ausbrüchen einer Krankheit wahrnehmen: Ein »Wir« gegen »Die« gab es noch nie. Sie sind ein Teil von uns. Und wir streng genommen nur Gäste in ihrer Welt.

Obwohl es vor allem am Anfang so aussehen wird, ist dieses Buch keine Chronik des SARS-CoV-2 Ausbruchs, das ist schon gemacht worden, und alles noch mal zu wiederholen, ist nur mittelspannend.

Dieses Buch handelt vielmehr vom Fahrradfahren zum Kanzleramt, Modern Talking in Rumänien und von Darth Vader. Es geht um Ebola und Aerosole, die Avengers und Tony Stark, den Unterschied zwischen DNA und RNA, um die Masern, Mike Tyson und HIV, die Foo Fighters und die Schweinegrippe, und es geht irgendwie auch darum, was eine Schlupfwespe mit Alien zu tun hat und welche Rolle Viren dabei

Weil aber Pandemien nicht nur ein medizinisches Problem sind, sondern Erreger immer auf eine Gesellschaft treffen, die sich darüber dann selber sehr erregt, wird es auch darum gehen. Vielleicht ist die Pandemie vorbei, wenn dieses Buch erscheint, das kann sein (ist aber unwahrscheinlich), aber zu spät ist es dann trotzdem nicht, weil es nie ein Buch werden sollte, das sich um Tagespolitik dreht, sondern um Muster, die immer wieder auftreten. Seuchen sind keine Naturkatastrophen wie ein Erdbeben. Sie fallen nicht vom Himmel, sondern folgen auf Entscheidungen – und das muss auch keiner erfinden. Zoonosen tauchen aus dem Nichts auf, weil sie in ihren tierischen Wirten überleben können. Mindestens vierzig Viren haben Pandemie-Potenzial, zumindest sind das diejenigen, von denen das bekannt ist. Wie viele unbekannte Viren es darüber hinaus gibt, die dazu imstande sind, die ganze Welt zu infizieren, weiß niemand.

Die Geschichte von Seuchen ist immer groß und immer gleichzeitig auch persönlich, denn selbst die größte Krankheitswelle fängt klein an: mit dem Übersprung des Erregers vom Tier auf einen Menschen. Und auch wenn sich fast alle dieser Infektionen totlaufen, denn das tun sie in der Regel, dann passiert das eben doch nicht immer. Ein einziger erfolgreicher Übersprung zur richtigen Zeit genügt. Irgendwer ist immer Patient 0.

Dieses Buch erzählt von der größten Waffe, die die Menschheit im Kampf gegen Seuchen hat: Es ist eine Geschichte über Wissenschaft.

 

Philipp Kohlhöfer, Hamburg

April 2020 – Mai 2021

SARS-CoV-2. PCR. Schweinegrippe. Kreuzimmunität. Spanische Grippe.