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JÖRG AHLBRECHT

Fitness für
die Seele

WIE WIR INNERE
STÄRKE FINDEN

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SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22984-4 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2020 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

Mehr als alles hüte dein Herz,
denn aus ihm strömt das Leben.

Sprüche 4,23

Inhalt

Über den Autor

Vorwort von Arne Kopfermann

Einleitung

Warum die Seele das Wichtigste am Menschen ist

Was den Menschen fit macht

Was die Seele nährt

Die Hygiene- und Pflegeserie für die Seele

Charakter – Work-out für die Seele

Endlich Urlaub – Ruhe für die Seele

Das unglaubliche Potenzial unserer Seele

Dank

Anmerkungen

Über den Autor

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Jörg Ahlbrecht ist Referent, Pastor und Autor mit den Schwerpunkten geistliches Leben und geistliches Wachstum. Seit 2004 arbeitet er für Willow Creek Deutschland. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Marburg.

Vorwort von Arne Kopfermann

Der Sinn eines Vorwortes besteht üblicherweise darin, als langjähriger Freund und Wegbegleiter, fachkundiger Kollege oder werbewirksamer Promi an einem Buch Interesse zu wecken, das ich nicht selbst geschrieben habe – für das ich im besten Falle aber gern als Autor stehen würde.

Im genannten Sinne qualifiziere ich mich nur unzureichend als Vorwortschreiber für dieses Buch, denn Jörg Ahlbrecht und ich haben uns erst im zurückliegenden Jahr näher kennengelernt. Und auch wenn ich mich mit einem Bereich der Seelenarbeit, der Trauer nämlich, gezwungenermaßen in den letzten Jahren stärker auseinandersetzen musste, so würde ich mich schwerlich als Fachmann für Seelenangelegenheiten bezeichnen. Bliebe noch der Promi, doch auch da bin ich leider nicht sonderlich geeignet, durch meinen »guten Namen« das Buch auf die Spiegel-Bestsellerlisten zu hieven, wo ich es zweifelsohne gern sehen würde.

Wenn ich Jörgs Bitte trotzdem von Herzen gerne nachkomme, dann, weil ich seit unserem Zusammentreffen letzten Sommer eine Art Seelenverwandtschaft zwischen uns empfinde. Aus Bewunderung für einen begnadeten Geschichtenerzähler, der auch komplexe Inhalte unterhaltsam und mit scheinbarer Mühelosigkeit kommunizieren kann. Der Schubladendenken scheut. Der tief schürft, ohne in Fachjargon abzudriften oder selbstverliebt seinen eigenen Wortwitz zu feiern. Und der uns auf bemerkenswerte Weise die Welt unserer eigenen Seele eröffnet und greifbar macht.

Man spricht im Volksmund von den geheimnisumwitterten unergründlichen Tiefen der Seele und meint damit meist ihre dunklen Abgründe, wie sie so trefflich in der Novelle des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson beschrieben werden. Dr. Henry Jekyll ist als angesehener Mitbürger eine der Stützen der Gesellschaft: im Beruf äußerst erfolgreich, in seiner Tugendhaftigkeit nach außen hin vorbildlich und in seinen fortschrittlichen Bestrebungen ein Muster christlicher Nächstenliebe. Allerdings unterdrückt er seine Neigung zur unkontrollierten Lebenslust, was zu der Gestalt des Mr Edward Hyde führt, einer abgespaltenen Persönlichkeit von Dr. Jekyll. Sie ermöglicht es ihm, seinen verbotenen Trieben freien Lauf zu lassen, sie auszuleben und zu genießen.

Gleichzeitig verdrängt der Wissenschaftler seine Untaten, indem er als Jekyll gelegentlich die Verbrechen des Mr Hyde wiedergutzumachen versucht. Er verteidigt sich mit dem Gedanken, dass Jekylls Wesensart durch Hydes Taten ja nicht beschmutzt werden kann. Geschichten wie diese, ob real in der Zeitung oder fiktiv in Romanen und Filmen, üben auf uns oft eine große Anziehungskraft aus, weil sie überspitzt die Zerrissenheit unserer eigenen Seele spiegeln und uns das Gefühl geben, diese sei ganz normal.

Jörg Ahlbrechts Buch ist wie ein fachmännisch geeichter Kompass, mit dem man sich gut gewappnet auf eine Seelenreise begeben kann. Immer wieder von packenden Geschichten eingeleitet, lädt er ohne erhobenen Zeigefinger dazu ein, sich dem Aufruhr der eigenen Seele zu stellen. Mehr noch, ihn als wichtiges Warnsignal dafür zu begreifen, dass unsere Seele kein Dschungel sein darf, der undurchdringlich vor sich hin wuchert, auch wenn sie immer ein wilder Garten bleiben kann und kein Ziergarten zum Vorzeigen werden muss.

Der Autor zeigt, dass es erstrebenswert ist, mehr und mehr zu einem Menschen zu werden, der im Einklang mit seiner Seele lebt; der Sinn, Schönheit, Freude, Verbindung zu Mensch und Gott und damit seinen Seelenfrieden finden kann.

Arne Kopfermann
Dezember 2019

Einleitung

Wer würde sich nicht wünschen, sein Leben aus einem inneren, starken Zentrum heraus zu führen. Ein Leben, das inneren Frieden hat, das nicht von Ängsten oder Sorgen dominiert wird, das mit Gelassenheit und innerer Stärke den Anforderungen entgegentritt, denen wir Tag für Tag begegnen. Wer hätte nicht gerne die Ausdauer und die Fähigkeit durchzuhalten, gerade dann, wenn es mal eine Durststrecke gibt? Wer wünscht sich nicht den Mut, die Dinge anzupacken, vor denen man sich so gerne drückt?

Die Sehnsucht nach innerer Stärke ist weitverbreitet und nahezu jeder Mensch empfindet sie, bewusst oder unbewusst. Ich lade Sie in diesem Buch ein, mit mir der Frage nachzugehen, wie wir diese innere Stärke finden und ausbauen können. Ich lade Sie ein, mit mir zusammen den Blick nach innen zu werfen und die Frage zu stellen, wie es Ihrer Seele geht.

Unser Leben ereignet sich an der Schnittstelle zwischen der inneren und der äußeren Welt. In unserem Bewusstsein begegnen die sinnlichen Eindrücke des äußeren Lebens den Gedanken, Gefühlen und Entscheidungen des inneren Menschen. Dabei würden vermutlich die meisten Menschen dazu tendieren, die Ereignisse in der äußeren Welt als ihr Leben zu betrachten.

In der äußeren Welt passieren die echten Dinge, hier geht es nicht nur um Gedanken. In der äußeren Welt werden wir geboren, wir lernen laufen und sprechen, wir gehen in den Kindergarten und in die Schule. In der äußeren Welt bauen wir Freundschaften auf, wir suchen uns einen Partner, wir gründen eine Familie, wir starten eine berufliche Laufbahn und gehen am Ende dieser Laufbahn in Rente. In der äußeren Welt fahren wir in Urlaub, geben Geld aus, engagieren uns ehrenamtlich oder sitzen vor dem Fernseher. In der äußeren Welt suchen wir unseren Platz in der Gesellschaft, wir streben nach Anerkennung und Absicherung, wir sammeln Besitz und suchen Glück und Zufriedenheit. Die äußere Welt ist eine Welt der Sinne. Hier sehen wir, hören wir, riechen, schmecken und fühlen wir. Und ein gutes Leben besteht für viele Menschen darin, diesen Sinnen immer wieder neue Reize zu bieten, immer wieder neue sinnliche Erfahrungen zu machen. Unser Leben ist eine Aneinanderreihung von Erlebnissen und Erfahrungen in der äußeren Welt.

Um in der äußeren Welt erfolgreich zu sein – und die Leistungsgesellschaft erwartet genau das von uns –, kümmern wir uns darum, wie wir auf andere wirken, wie wir den Ansprüchen und Erwartungen an uns gerecht werden und wie wir unseren Platz in der Gesellschaft einnehmen können. Wir kümmern uns um Aussehen, Schönheit, Fitness und Gesundheit. Biologen und Mediziner haben lange davon geträumt, einen der wesentlichen Baustoffe der äußeren Welt, die menschliche DNA, zu verändern, zum Beispiel, um Erbkrankheiten zu überwinden. Diese Möglichkeit scheint nun zum Greifen nah.

Allerdings stellt sich mit diesem Fortschritt automatisch die Frage, ob man die DNA des Menschen nicht auch an anderer Stelle »optimieren« sollte. Wenn unser Fokus auf der äußeren Welt liegt, dann ist das nur logisch. Sobald man beginnt, die DNA des Menschen zu verändern, ist der Schritt zum Designerbaby nicht mehr weit. Eltern werden sich dann entscheiden müssen, ob sie ein herkömmliches oder ein optimiertes Kind haben wollen. Eines mit besseren sportlichen Voraussetzungen, mit höherer Intelligenz, mit schöneren Gesichtszügen. Und irgendwann werden sie sich fragen, ob sie wollen, dass ihr Kind zu den wenigen Kindern in der Klasse gehören soll, die nicht optimiert sind.

Unsere Konzentration auf die äußere Welt hat fatale Folgen, denn was für eine Seele in so einem optimierten Menschen wohnt, spielt in den Überlegungen kaum eine Rolle, was zugleich symptomatisch für unsere Gesellschaft ist. Erfolg ist wichtiger als Charakter, Leistung zählt mehr als gute Werte. Die äußere Welt ist eine materielle Welt, in der die Sinne befriedigt werden wollen.

Nun lebt der Mensch an der Schnittstelle zwischen der äußeren und der inneren Welt. In unserem Leben trifft das, was wir an Erlebnissen in der äußeren Welt machen, auf das, was ich die innere Welt des Menschen oder auch die Seele nennen möchte.

Unser Leben passiert nicht nur dort draußen – alles, was dort draußen geschieht, hat ein Echo in unserem Inneren. Unser inneres Leben besteht aus unseren Gedanken, unseren Gefühlen, unseren Überzeugungen und Werten. Zu unserem inneren Leben gehören unser Charakter und unsere Persönlichkeit. In unserem Inneren laufen Denkprozesse ab, wir beurteilen Situationen, wir wägen ab, wir treffen Entscheidungen, wir speichern Erlebnisse und Daten, Erinnerungen und Geschichten. Wir haben ein Bewusstsein, mit dem wir all unsere Erfahrungen und Erlebnisse einschätzen und bewerten. Und wir haben ein Unterbewusstsein, das noch viel mehr Daten speichert, auf die wir aber meist keinen Zugriff haben.

Häufig wird übersehen, dass unser inneres Leben nicht nur die Erfahrungen und Erlebnisse, die wir in der äußeren Welt machen, speichert, sondern immer zugleich auch bewertet. Wir haben eine innere Instanz, die alle unsere Erlebnisse einordnet, die unsere Erfahrungen einsortiert in gut oder schlecht, in angenehm oder unangenehm, in sinnvoll oder sinnlos. Und es gibt noch viele andere Bewertungskategorien in unserem Inneren. Diese Bewertung allerdings ist entscheidend dafür, wie wir unser Leben empfinden. Der Zustand unserer inneren Welt, der Zustand unserer Seele spielt eine zentrale Rolle dabei, wie wir unser Leben beurteilen – in den einzelnen Teilen und als Ganzes.

Und hier ist das Paradox unserer Zeit: Die meisten Menschen versuchen, ein gelingendes Leben zu erreichen, indem sie sich auf die äußere Welt konzentrieren. Sie streben nach Karriere, nach finanzieller Absicherung, nach Komfort und Unterhaltung. Das Leben zu verbessern bedeutet konkret bessere Verhältnisse in der äußeren Welt: bessere Ernährung, bessere Gesundheitsvorsorge, bessere finanzielle Ausstattung, mehr Wohlstand, leistungsfähigere Körper. All das sind gute Dinge, keine Frage, aber sie helfen wenig, wenn der innere Mensch unterversorgt ist. Sie nützen nichts, wenn unsere Seele nicht ebenfalls Aufmerksamkeit bekommt, denn die Seele bewertet alle Erfahrungen in der äußeren Welt.

Jesus hat es einmal folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine Seele verliert?« (Markus 8,36).

Innere Stärke finden wir nur, wenn wir uns den Bedürfnissen unserer Seele zuwenden. Doch das ist heute ein Problem. Gerade weil wir in einer Leistungsgesellschaft leben, gerade weil die Menschen so sehr gefordert sind, sich in der äußeren Welt zu beweisen, ihre Frau oder ihren Mann zu stehen, gerade deshalb fehlen oft die Zeit und die Energie, die nötig sind, um sich mit der inneren Welt zu beschäftigen. Verkürzt könnte man sagen: Die äußere Welt hält uns so beschäftigt und in Atem, dass wir für die innere Welt oft weder Zeit noch Kapazität noch Motivation übrig haben – ein Umstand, der häufig tragische Konsequenzen mit sich bringt. Wir verlieren immer mehr den Kontakt zu unserer Seele, zu dem, was unseren inneren Menschen ausmacht. Wir verlieren die Kontrolle und werden mehr und mehr zu Getriebenen! Wir verlieren unser inneres Zentrum, von dem aus wir gute Entscheidungen treffen können. Ganz schlicht ausgedrückt: Wir verlieren das gute Leben.

Der innere Mensch hat eine Schlüsselrolle, wenn es um die Beurteilung unseres Lebens geht, denn er entscheidet, wie wir unser Leben empfinden. Ist die innere Welt geordnet und gut versorgt, vermag unsere Seele selbst in widrigen Umständen Sinn und Freude zu entwickeln. Ist die innere Welt in Unordnung, helfen uns dagegen alle Erfolge in der äußeren Welt nicht weiter – wir führen ein rastloses, getriebenes und unzufriedenes Leben.

Was also können wir tun? Wie gehen wir mit diesem Problem um?

Stellen wir uns einmal für einen Moment vor, wir würden das, was wir für unseren Körper tun, ganz selbstverständlich auch für unsere Seele tun. In der Regel sorgen wir gut für unseren Körper. Wir ernähren ihn drei- bis fünfmal am Tag. Wir halten ihn sauber und gepflegt. Wir treiben Sport und bewegen ihn regelmäßig (zumindest wächst das Bewusstsein dafür immer mehr) und wir geben ihm Ruhe, Schlaf und Erholung.

Was würde es für unsere Seele bedeuten, in dem gleichen Maße versorgt zu werden? Wie wäre es, wenn wir ihr ebenso viel Aufmerksamkeit schenken würden wie unserem Körper? Wenn wir sie gut ernähren, sie sorgfältig pflegen, sie ausdauernd trainieren und ihr bewusst Erholung gönnen würden – wie würde sich unser Leben verändern?

Die Antwort liegt auf der Hand: Wir würden innere Stärke aufbauen. Wir hätten eine gut ernährte und versorgte Seele, wir würden mehr in uns ruhen. Wir würden klarer sehen, wo wir mit unserem Leben hinwollen, und wir hätten mehr Durchhaltevermögen, auch durch Krisen hindurch.

Eine gut versorgte Seele ist der Schlüssel zu einem gelingenden Leben. Oder wie John Ortberg es ausgedrückt hat: »Wenn meine Seele gesund ist, können äußere Umstände mein Leben niemals zerstören. Und wenn meine Seele nicht gesund ist, können mich äußere Umstände meines Lebens niemals retten.«1

Dieses Buch handelt davon, wie wir uns um unsere Seele kümmern können. Dabei schreibe ich als einer, der unterwegs ist, nicht als einer, der schon angekommen ist. Vieles habe ich ausprobiert, neu entdeckt, wieder verworfen, anders probiert. Ich hoffe, dass mein Weg das eine oder andere Goldnugget für Sie bereithält und Ihnen auf Ihrem eigenen Weg zu innerer Stärke weiterhilft.

Jörg Ahlbrecht
Oberweimar, im Dezember 2019

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Warum die Seele das Wichtigste am Menschen ist

Es war die Kunstsensation des Jahres 2017. Das Gemälde mit dem Titel »Salvator mundi«, zu Deutsch »Erlöser der Welt«, kam bei dem renommierten Auktionshaus Christie’s unter den Hammer – und erzielte die in der Kunstwelt bisher einzigartige Rekordsumme von 450 Millionen US-Dollar.

Das Bild zeigt einen langhaarigen, gelockten Christus, in der einen Hand eine Kristallkugel, die andere zum segnenden Gruß erhoben. Das Gemälde, das um 1500 entstanden sein soll, galt lange Zeit als wertlos. Man hielt es für die billige Kopie einer Kopie. Noch vor sechzig Jahren kaufte jemand das Bild zum Preis von 45 Britischen Pfund, das waren damals etwa 500 D-Mark, ein durchschnittliches Monatsgehalt. Der Besitzer hängte sich das Bild – vermutlich aus religiösen Gründen – ins Treppenhaus, wo es bis zum Ende seines Lebens hing. Seine Kinder gaben das Gemälde später weg, warum, wissen wir nicht. Im Jahr 2005 tauchte es dann bei einem Kunsthändler wieder auf – und weckte hier das Interesse eines Kunstexperten. Dieser kaufte das Bild, er investierte in seine Restaurierung und förderte zusammen mit einem Gremium weiterer Experten eine Sensation zutage: »Salvator mundi« stammt, so die Beurteilung, aus dem Pinsel von niemand Geringerem als Leonardo da Vinci. Es ist ein verloren geglaubtes Original des Meisters, dem wir unter anderem die Mona Lisa verdanken – das Gemälde mit der höchsten Besucherzahl pro Jahr, das im Pariser Louvre ausgestellt wird. Schlagartig stieg der Wert des Bildes auf 60 bis 100 Millionen Dollar. Doch niemand sah kommen, was bei der Auktion Ende 2017 geschehen würde. Der Hammer des Auktionators fiel erst bei 450 Millionen US-Dollar – das war mehr als das Vierfache des veranschlagten Wertes.

Können Sie sich vorstellen, wie die Kinder des ursprünglichen Besitzers beim Geburtstagskaffee zusammensitzen und einer sagt: »Erinnert ihr euch noch an den alten Schinken von Paps, der im Treppenhaus hing? Der hat bei Christie’s gerade 450 Millionen gebracht!« So was kann die Stimmung an der Kaffeetafel echt ruinieren! Und ich vermute einmal, dass ab jetzt einige Leute mit anderen Augen durch das Treppenhaus ihrer Eltern gehen werden.

Was macht das Gemälde so wertvoll? Was bringt einen Menschen dazu, so viel Geld für ein Bild auszugeben? Ist es das Motiv? Ist dieses etwas ganz Besonderes und Einzigartiges? Eher nicht, denn Christus-Darstellungen gibt es sehr, sehr viele. Vermutlich ist Christus neben seiner Mutter Maria das meistgemalte Motiv in der Kunst (dicht gefolgt von »Brüllender Hirsch vor Sonnenuntergang«). Und ob der »Salvator mundi« nun das Schönste dieser Gemälde ist, darüber kann man sicherlich streiten.

Warum ist das Bild dann so teuer? Ist es der Künstler? Okay, wer würde nicht gern einen echten Leonardo da Vinci besitzen – obwohl die Aufbewahrung und die damit verbundenen Sicherheitsmaßnahmen schon ein echter Albtraum sein könnten. Aber rechtfertigt der Urheber diesen astronomisch hohen Preis? 450 Millionen! Ich bin Pastor – für so eine Summe müsste ich lange predigen … sehr lange!

Die Geschichte dahinter

Die Antwort auf die Frage, warum für das Gemälde eine solche Rekordsumme gezahlt wurde, hat ganz viel mit unserem Thema »Seelenfitness« zu tun. Es stellte sich nämlich heraus, dass vor allem die innere Welt des Käufers dafür verantwortlich war und ganz wenig das Bild als solches.

Kaum war der Hammer gefallen, wurde überall darüber spekuliert und gerätselt, wer denn nun der Käufer sei. Und schrittweise offenbarte sich durch die Medien eine Geschichte, die eine enorme Komik beinhaltet, aber zugleich ein Lehrstück über die Seele ist:2

Der zunächst anonym gehaltene Käufer des Bildes war der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman. Wir kennen diesen Namen aus der Tagesschau – vor allem in Verbindung mit der Ermordung des Journalisten Khashoggi im Herbst des Jahres 2018.

Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman wollte den »Salvator mundi« zwar unbedingt ersteigern, aber dabei ging es ihm nicht um das christliche Motiv oder den berühmten Künstler. Weder fand er den dargestellten Christus hinreißend, noch war er ein ausgemachter Leonardo-da-Vinci-Fan. Der Grund für sein Interesse war viel profaner. Der Kronprinz hatte nämlich gehört, dass der Erzfeind der Saudis, das Königshaus aus Katar, großes Interesse an dem Gemälde hatte. Hier bot sich ihm also eine Chance, den Erzfeinden seiner Familie eins auszuwischen, und diese wurde von ihm offensichtlich freudig ergriffen.

Als die Auktion begann, kristallisierte sich recht schnell ein weiterer Mitbieter für das Gemälde heraus, der ebenfalls starkes Interesse zu haben schien. Für Mohammed bin Salman war klar, dass es sich dabei nur um den Erzfeind, das Königshaus aus Katar, handeln konnte. Also wollte er seinen Feinden mal so richtig zeigen, was eine Harke ist. Es entwickelte sich eine Bieterschlacht epischen Ausmaßes. Siebzehn Minuten lang schraubten sich die Gebote immer höher und höher, bis der Hammer schließlich bei 400 Millionen US-Dollar fiel, inklusive Aufgeld betrug der Kaufpreis dann 450,3 Millionen US-Dollar – der saudische Prinz hatte den Sieg errungen. Nicht das Bild an sich war ihm all das Geld wert – sondern der Sieg über Katar!

Was Prinz Mohammed bin Salman allerdings nicht wusste, war, dass es sich bei dem Mitbieter gar nicht um das Königshaus Katar handelte. Dieses hatte tatsächlich recht wenig Interesse an dem Bild, denn es hätte das Gemälde schon Jahre zuvor bei einem Privatverkauf für 80 Millionen US-Dollar haben können. Stattdessen war der andere Bieter sein eigener Cousin, Prinz Mohammed bin Zayed aus Abu Dhabi. Dieser wollte den »Salvator mundi« für seinen Louvre in Abu Dhabi ersteigern. Er hatte für eine knappe Milliarde Euro die Berechtigung erworben, sein Museum Louvre zu nennen, und nun sollte auch dort ein Leonardo da Vinci hängen.

Hier boten also zwei saudische Prinzen gegeneinander, um einen Erzfeind zu schlagen, der gar nicht da war, und machten auf diese Weise den »Erlöser der Welt« zum am teuersten verkauften Gemälde aller Zeiten. Ich weiß nicht, ob es im Himmel eine Abteilung für Humor gibt, aber wenn, dann dürfte diese Geschichte ein klarer Hinweis darauf sein, dass der 2011 verstorbene Loriot mittlerweile die Leitung übernommen hat.

Als das peinliche Missverständnis ans Licht kam, zeigte sich Mohammed bin Salman überaus großzügig. Er überließ den Salvator selbstverständlich seinem Cousin – im Tausch gegen dessen Megaluxusjacht Topaz. Dabei handelt es sich um die achtgrößte private Luxusjacht der Welt mit zwei Helikopter-Landeplätzen, sechsundzwanzig Schlafzimmern, Kino, Sporthalle, Konferenzräumen – kurz: mit allem, was das Prinzenherz begehrt.

Und der »Salvator mundi«? Das Gemälde sollte eigentlich seit Ende 2018 im Louvre Abu Dhabi ausgestellt werden – wird es aber nicht. Die Ausstellung wurde ohne jeden Kommentar abgesagt. Niemand weiß derzeit, wo sich das Gemälde befindet – dafür überschlagen sich aber die Gerüchte. Immer häufiger tauchen Zweifel an der Echtheit des Bildes auf. Es könnte sein, dass es sich bei dem Gemälde doch nicht um einen Leonardo da Vinci handelt. Womöglich hat der Meister selbst nur Teile des Bildes gemalt oder es stammt sogar komplett von einem seiner Schüler.

Die Bedeutung des inneren Lebens

So witzig diese Geschichte klingt, sie macht eines sehr deutlich: Die entscheidenden Dinge passieren nicht zuerst in der äußeren, sondern in der inneren Welt des Menschen. Die Tatsache, dass hier so viel Geld geflossen ist, hat ganz viel mit der inneren Welt von Mohammed bin Salman und seinem Cousin zu tun und wenig mit dem Gemälde an sich. Für die Rekordsumme waren die Werte und Ziele des Prinzen verantwortlich, seine Einschätzung der Situation und seine Beziehung zum Königshaus von Katar.

Daraus ergibt sich eine bedeutsame Erkenntnis: Die Seele ist das Wichtigste am Menschen. Nicht nur, weil sie ewig ist, sondern auch, weil in ihr die Beurteilung und Bewertung unseres Lebens stattfindet.

Nun ist Seele ein sehr schillernder Begriff und es gibt unzählige Versuche, sie zu definieren. Über Jahrtausende hinweg haben Menschen versucht, die Seele zu fassen – von Aristoteles, der von inneren Bewegungen sprach, über Theresa von Ávila, die die Seele als eine Art innere Burg betrachtete, bis hin zur modernen Hirnforschung, die der Grundidee einer Seele oft eher skeptisch gegenübersteht. Während die einen die Existenz einer menschlichen Seele völlig leugnen, mühen sich die anderen um eine Trennschärfe zwischen Begriffen wie Geist, Herz, Verstand, Wille und Persönlichkeit.

Wie auch immer wir es nennen wollen, ich glaube, dass jeder Mensch in den stillen Momenten seines Lebens spürt, dass er eine Seele hat. John Ortberg schreibt dazu in seinem wunderbaren Buch »Hüter meiner Seele«: »Die meisten Menschen an den meisten Orten in den meisten Epochen glauben und haben geglaubt, dass der Mensch in irgendeiner Form eine Seele besitzt.«3

Dabei ist hier Seele im Sinne eines Zentrums gemeint, einer Mitte unseres inneren Lebens, das alles andere verbindet. Umgangssprachlich bezeichnen wir zum Beispiel einen Menschen als die »gute Seele des Büros« und meinen damit die treibende Kraft, das Zentrum, das, was all das andere koordiniert und mit Herz dabei ist. Ich persönlich glaube, dass sich die Seele unserem vollen Verständnis entzieht. Sie hat eine Tiefe, die wir nicht vollständig ergründen können und die uns bis zu einem gewissen Maße verborgen bleibt. Der Mensch wird eine lebende Seele durch den Atem Gottes – so beschreibt es die Bibel (mehr dazu in Kapitel 3). Das bedeutet, dass die Seele weit über uns hinausweist und unser eigenes Verständnis übersteigt. So wie Gott viel größer als unsere Vorstellungskraft und für unseren kleinen Verstand nicht fassbar ist, so ist auch unsere Seele für unseren Verstand nicht fassbar.

Wenn ich in diesem Buch über die Seele schreibe, dann beschränke ich mich auf das, was für uns fassbar ist. Ich empfinde hier die Definition von John Ortberg als hilfreich, der mit »Seele« das bezeichnet, was unseren Willen (unsere Absichten), unseren Verstand (unsere Gedanken und Gefühle) und unseren Körper (unser Gesicht, unsere Körpersprache, unser Handeln) zu einem Ganzen vereint. »Sie ist dann gesund und ›geordnet‹, wenn diese drei Bereiche mit dem im Einklang sind, was Gott mit der ganzen Schöpfung im Sinn hat.«4