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Magnus Malm

I N
F R E I H E I T
D I E N E N

Leiten auf den
Spuren Jesu

Aus dem Schwedischen von Constanze Budde

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SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22983-7 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2020

Originally published in Swedish under the title: Fri att tjäna

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Inhalt

Über den Autor

Geleitwort von Thomas Härry

Vorwort

1. Führung übernehmen – Warum es bei der inneren Freiheit beginnen muss

2. Was uns wirklich antreibt – Zwischen Begabung, Berufung und dem Drang nach Anerkennung

3. Frei, arm und dienstbereit – Das Wie geistlicher Führung

4. Das Problem mit dem blinden Augenarzt – Über geistliches Urteilsvermögen

5. Zwischen Engeln und Dämonen – Die eigene Position finden

6. Hier geht’s lang – Die Frage von Macht und Autorität

7. Klare Worte finden – Die Predigt als deutliche Form von christlicher Führung

8. Die Kirche – Mutter, Leib oder Projekt?

9. Was eine Führungsperson formt – Zwischen dem Ich, Gott und der geistlichen Ausbildung

10. Nicht zum Erfolg berufen, sondern um Früchte zu tragen – Orientierung zwischen Burn-out und Vision

Zum Abschluss
Im Schnittpunkt leben

Anmerkungen

Über den Autor

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Magnus Malm (Jg. 1951) ist christlicher Redakteur, Publizist und Leiter von Einkehrzeiten in Schweden. Seine Bücher zum Thema Leiterschaft haben auch in Deutschland einen großen Einfluss. Er lebt bei Göteborg.

Geleitwort von Thomas Härry

»Das ist Unsinn! Und theologisch falsch«, schoss es mir durch den Kopf, als ich vor vielen Jahren die Zeitschrift AUFATMEN durchblätterte und die Überschrift eines Artikels las: »Gott braucht keine Helden«. Wer konnte so etwas schreiben? Die Bibel ist doch voller Geschichten von Menschen, die für Gott Großes wagten: Mose, David, Gideon, Petrus, Paulus. Wenn das keine Helden Gottes sind! Ich las den Artikel schließlich doch. Der Autor: Magnus Malm. Noch nie gehört. Zeile um Zeile wich mein Widerstand einer tiefen Betroffenheit. »Es gefällt mir zwar nicht, aber der Mann hat recht!«, dachte ich.

Als fast zeitgleich ein Buch mit demselben Titel auf Deutsch erschien, ließ ich mich erneut auf diesen knorrigen Schweden ein, der mein Gottes- und Selbstbild zerpflückte. Die Botschaft dieses Buchs traf mich in einer der verletzlichsten Phasen meines Lebens. Eine Mischung aus unreflektierter Ambition und Überforderung inmitten der »Zuvielfalt« meines Alltags (Familie, Lebensgemeinschaft, theologisches Aufbaustudium, Dozententätigkeit und Gemeindereferent) trieb mich über den Rand meiner Kräfte hinaus. Ich stemmte mich verzweifelt gegen das Eingeständnis, meine Misere selbst produziert zu haben. Und ich las bei Magnus Malm, dass eines meiner Probleme darin bestehen würde, dass ich zwei Dinge miteinander verwechselte: meine Berufung und meine Sendung. Dass meine Berufung nicht darin bestehen würde, etwas für Jesus zu tun, sondern der Beziehung zu ihm den ersten Platz einzuräumen. Ein für mich neues Verständnis, denn meine Berufung hatte ich bisher mit dem mir aufgetragenen Dienst gleichgesetzt. Dienst aber ist nicht Berufung, sondern Sendung: das Tun und Gestalten auf der Grundlage einer vitalen Christusbeziehung und Spiritualität. Malm argumentierte biblisch, mit theologischer Tiefe und Sorgfalt und ich konnte nicht anders, als ihm recht zu geben. Es war Zeit für eine Kurskorrektur …

Dieses Buch hatte damals eine ebenso wichtige Bedeutung wie die darauf folgenden gesundheitlichen Maßnahmen, die nötig wurden. Und so wurde dieser unbekannte schwedische Autor für mich zu einem Seelsorger, Ermahner und Ermutiger. Er gehört zum Kreis einiger weniger Autoren, denen ich Entscheidendes verdanke.

Nicht alle seiner später erschienenen Bücher hatten dieselbe Wirkung auf mich. Nun aber legt der mittlerweile älter und reifer gewordene Schwede mit In Freiheit dienen noch einmal ein Buch vor, das mich in seinen Bann zieht. Schon nach wenigen Seiten packt mich die Lektüre. Ich werde in tiefen Seelenschichten angesprochen; werde aufgerüttelt, ermutigt und erneut gehörig gegen den Strich gebürstet. Malm beschreibt das Wesen guter christlicher Leitung und er beginnt wieder dort, wo es beginnen muss: in der Tiefe der Seele. Er benennt die vielleicht größte Not heutiger Führung: unreflektierte innere Mankos, Lebenswunden, die unser Tun vergiften. Größenwahn, Geltungsbedürfnis. Und Angst. Angst vor Versagen, Angst, es nicht zu schaffen. Doch Malm deckt nicht bloß auf – er gibt uns Balsam. Er schöpft aus dem Reichtum biblischer Texte und aus der reichen Tradition der Kirche, besonders der ignatianischen Spiritualität. Geschickt verbindet er erneut nahrhafte Theologie mit handfester Alltagsrealität.

Man muss und kann auch als Leseratte nicht jedes Buch lesen. Dies aber ist eines, das alle, die Verantwortung tragen, unbedingt lesen sollten. Allen voran Leitungspersonen, Verantwortungsträger, Macher und Gestalter. Es gibt nur wenig Literatur, welch die innere Seite des Leitens so mutig und kristallklar beleuchtet. Die so pointiert benennt, was wir am meisten brauchen, um als reife, gefestigte Persönlichkeiten unser Bestes für Gott und die Welt zu geben.

Malm ist nicht einfach ein begabter Autor. Er ist ein Mann, der durch Tiefen ging und geht. Ein Gebeutelter, ein Ringender, einer, der die Tiefen von Schmerz und Gebrochenheit durchschritten hat. Deshalb hat er uns so viel zu geben. Denn früher oder später stehen wir alle an diesem Punkt, auch die großen und erfolgreichen Führungspersonen unter uns: an dem Punkt, an dem uns unsere Sicherheiten geraubt werden. An dem uns ungeahnte Verunsicherungen den Boden unter den Füßen wegziehen und unsere Erfolge zerrinnen. Dann sind wir dort, wo Gott sein vielleicht schönstes Werk an uns tut: Dort, in der Tiefe, umfasst er uns mit unendlicher Liebe und Gnade und steigt heilend in unsere Wunden hinab. Ich kann mir für diese Sternstunden der Erneuerung keinen besseren literarischen Begleiter vorstellen als Magnus Malms neuestes Buch.

Thomas Härry
Rombach, Ende Januar 2020

Vorwort

1990 veröffentlichte ich ein Buch zum Thema Führung mit dem Titel Gott braucht keine Helden. Seitdem wurde es immer wieder aufgelegt und von vielen Christen mit Führungsverantwortung gelesen.

Auch auf mich selbst hatte das Buch großen Einfluss, weil es zur Grundlage der ABC-Einkehrtage für Gemeindemitarbeiter wurde. Die Leitung dieser Einkehrtage ist seit etlichen Jahren meine Hauptaufgabe. Davon ausgehend habe ich meine Schulungsarbeit zum Thema geistliche Führung für Gemeindemitarbeiter entwickelt.

Nun besteht diese Arbeit seit fast 30 Jahren. Durch die Leitung Hunderter Einkehrtage und Gespräche mit Tausenden Priestern, Pastoren, Diakonen und anderen Gemeindemitarbeitern aus den verschiedensten Kirchen und Gemeinden aus ganz Skandinavien habe ich eine Menge gelernt.

Mit diesem Buch versuche ich nun, etwas von dem zusammenzufassen, was ich aus dieser Zeit mitgenommen habe – in der Hoffnung, dass ich damit meinen heldenhaften Brüdern und Schwestern, die in unterschiedlichen christlichen Bereichen arbeiten, etwas von dem Reichtum zurückgeben kann, den ich selbst empfangen durfte. Dieses Buch ist für euch!

Neben meiner eigenen Lebenserfahrung und den Begegnungen mit all diesen wunderbaren Menschen ist vor allem die Bibel meine Quelle. Warum erst den Fluss überqueren, wenn wir Wasser holen wollen? Wenn wir uns mit unseren Fragen an die Bibel wenden, merken wir schnell, wie erstaunlich relevant sie in allem Wesentlichen ist, was mit dem Thema Führung zu tun hat – nicht zuletzt durch ihre unsentimentale Sachlichkeit.

Außerdem schöpfe ich mit Freude aus dem ungeteilten Quellstrom der Kirche. Ich schreibe bewusst »ungeteilt«, denn so sehe ich die geistlichen Wegbegleiter, die die Kirche im Lauf der Geschichte geprägt haben. Einer von ihnen ist der freikirchliche Prediger Frank Mangs, der am Ende seines Lebens in seiner Autobiografie schreibt: »Die Gemeinde des lebendigen Gottes wird weder in der Zeit noch in der Ewigkeit mehr als eine sein.«1

Der gleichen Perspektive begegnen wir bei einem anderen meiner ständigen Begleiter, dem katholischen Mönch Thomas Merton. In einem Brief an den protestantischen Theologen Paul Tillich schreibt er 1959:

Seit geraumer Zeit ist in mir der Gedanke immer stärker geworden; da das Christentum ein einfaches Leben in Christus ist, ein Leben, das wir alle teilen, so folgt, dass, je bewusster wir uns dessen sind und uns darüber freuen, desto mehr werden wir Christen eins in Ihm. Und ich fühle, dass alles, was wir gemeinsam haben, so viel größer und wichtiger ist als all das, wir nicht gemeinsam haben, zumindest in der Lehre und juristisch. Es gibt einen Christus auf der Welt, wenn die Christen wirklich ein Herz und eine Seele in Ihm sein wollen. Die institutionellen Unterschiede sind da, leider, aber sie sind nicht stärker als die Liebe. Dies ist die beste Formel für die Einheit der Christen, die ich mir vorstellen kann, und ich habe den starken Verdacht, dass dies etwas mit den Evangelien zu tun hat.2

Mein Prinzip, in all meinen Büchern immer von »der Kirche« zu schreiben, ohne mich an eine Konfession zu binden, und darüber hinaus oft katholische Autoren zu zitieren, hat zwei unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. In den Freikirchen kam der Verdacht auf, dass ich heimlich katholisch missionieren und eigentlich konvertieren wolle. Aus der katholischen Richtung wurde Irritation darüber laut, dass ich nicht klar aussprach, welche Kirche ich genau meine. Lassen Sie mich deutlich sagen:

Nach dieser Logik sollte der, der Martin Luther King zitiert, eigentlich Baptist werden, wer Bachs Musik spielt, sich den lutherischen Christen anschließen, und wer sich die Dreifaltigkeitsikone von Rubljow über den Schreibtisch hängt, müsste orthodox werden. Wer C. S. Lewis mag, sollte seine anglikanischen Neigungen erkennen – und so weiter. Diese Art Schubladendenken ist weltlich und in Gottes Reich fremd. Das schreibt auch Paulus der notorisch zersplitterten Gemeinde in Korinth:

Deshalb bildet euch auf einen anderen Menschen nichts ein. Denn alles gehört euch: Paulus und Apollos und Petrus; die ganze Welt und Leben und Tod; die Gegenwart wie die Zukunft. Alles gehört euch, und ihr gehört Christus, und Christus gehört Gott.

1. Korinther 3,21-23

Ich zähle es zu den größten Segnungen meines Lebens, dass ich die ignatianische Spiritualität kennenlernen durfte. Die Jesuiten, vor allem jene aus Irland und England, die mich in meinen Exerzitien angeleitet haben, und die Literatur, die mit Ignatius von Loyolas eigenen Schriften beginnt und sich durch die Jahrhunderte fortsetzt, hat mich tief geprägt – sowohl persönlich als auch in meiner Art und Weise, zu denken und zu arbeiten. Aber ich habe deshalb keinen Moment lang daraus geschlussfolgert, dass ich zur katholischen Kirche konvertieren müsste.

Ich respektiere jeden, der dies tut, aber meiner Meinung nach ist eine Konversion keine Lösung, weder für mich persönlich noch für die gespaltene Kirche. Manchmal wird die Frage aber doch gestellt. Dann gestaltet sich das Gespräch ungefähr so:

»Nein, ich möchte nicht konvertieren, wegen der Heiligen.«

»Dann glaubst du nicht an die Heiligen?«

»Doch, das tue ich. Sie lehren mich, dass man seine Kirche nicht im Stich lässt, wenn sie in der tiefsten Krise steckt.«

Ich bin unendlich dankbar für meine katholischen Brüder und Schwestern, aber ich glaube aufrichtig, dass ich ihnen und der ganzen Kirche am besten diene, wenn ich dortbleibe, wo ich bin, und dort grabe, wo ich stehe. Der Glaube der Heiligen ist wie Grundwasser, das unter all unseren Grenzmarkierungen verläuft. Nicht zuletzt für Führungspersonen ist das, was ich in diesem Buch schreibe, überlebenswichtig: Wir müssen unser Wurzelsystem in der ganzen christlichen Kirche gründen und erweitern.

Zum Schluss ein ganz besonderer Dank an meine geliebte Lisa, mit der ich nun 44 Jahre verheiratet bin. All die Krisen und Freuden, die wir durchgemacht haben – wo wäre ich ohne dich? Danke, dass du es in all diesen Jahren mit mir ausgehalten hast, mir so unendlich viel beigebracht hast und meine ständige Gesprächspartnerin in allem warst, worüber ich schreibe. Durch deine Arbeit als Psychotherapeutin sind sogar unsere Berufsleben mehr und mehr zusammengewachsen, nicht zuletzt in unserem Einsatz für junge christliche Leiter. It’s such a privilege, wie man in dem Land sagt, in dem wir uns verlobt haben.

Magnus Malm
Asklanda, Schweden – an einem Frühsommerabend 2018,
während die Mönchsgrasmücke vor meinem Fenster singt

Gebet eines Jüngers

Herr Jesus Christus

Du bist die Ausstrahlung der Herrlichkeit des Vaters. Lass

Dein Angesicht leuchten über mir

Dein Wort mich tragen

Deinen Namen mich schützen

Deinen Körper mich sättigen

Dein Blut mich reinigen

Deinen Geist mich leiten

Dein Wesen sich spiegeln in allem, was ich bin und tue.

image1 FÜHRUNG ÜBERNEHMEN - Warum es bei der inneren Freiheit beginnen muss

»Was eine christliche Gemeinschaft am dringendsten braucht, sind Menschen, die wissen, dass sie von Gott geliebt sind.«

Dieser Satz ist die zusammenfassende Erkenntnis aus acht Jahren Kommunenleben zu Beginn unserer Ehe. Es waren fantastische, aufwühlende, lustige, anstrengende und lehrreiche Jahre. Mit einer wechselnden Schar aus Singles und verheirateten Paaren wohnten Lisa und ich mit unseren beiden ältesten Kindern in einem großen dreistöckigen Haus in Mölndal. »Das Haus«, wie wir es originellerweise nannten, war Dreh- und Angelpunkt einer christlichen Gemeinschaft, die sich in der ganzen Gegend ausgebreitet hatte. Außerdem befand sich dort auch die Redaktion der Zeitschrift »Nytt Liv« (Neues Leben), für die ich arbeitete und deren monatliche Ausgaben das intensive Hausleben noch etwas spannender machten.

Ich könnte tausend Geschichten davon erzählen, was wir im »Haus« gelernt haben. Natürlich hat diese Zeit uns für unser gesamtes Leben geprägt und uns einen Schatz an gemeinsamen Erfahrungen geschenkt, für die wir sehr dankbar sind. Sie hat tiefe Spuren in unserer Sicht auf Gott und die christliche Gemeinde hinterlassen. Und sie hat uns ganz praktisch gezeigt, was es bedeutet, Jesus in alle Bereiche des Alltagslebens hineinzulassen. Wie oft mussten wir unser eigenes Selbstbild revidieren! Wenn man so nah beieinanderlebt, lösen sich nach und nach bestimmte Vorstellungen in Luft auf; all diese Bilder, die wir so selbstverständlich von uns und anderen haben – bis eben jemand dagegenstößt und sie zerplatzen.

»Was eine christliche Gemeinschaft am dringendsten braucht, sind Menschen, die wissen, dass sie von Gott geliebt sind.« Irgendwo in diesem Zusammenhang nahm der Satz Gestalt an. Über andere bilden wir uns immer schneller eine Meinung als über uns selbst. Das war auch bei uns »Haus«-Bewohnern so. Es waren natürlich die Defizite anderer, die die Probleme in der Gemeinschaft verursachten. Dass ich selbst ähnliche Defizite haben könnte, erkannte ich erst viel später. Nämlich dann, als Gott sich auch in mir eine Werkstatt einrichtete und mich durch Ehekrisen, Seelsorge und stille Rückzugszeiten formte.

Während der Jahre in der Lebensgemeinschaft habe ich beobachtet, wie Menschen, die nicht die Erfahrung gemacht haben, von Gott geliebt zu sein, dazu neigen, sich auf unterschiedlichste Weise an ihrer Umwelt zu reiben: mal beanspruchen sie zu viel Platz, mal zu wenig. Sie verlangen ständig nach Aufmerksamkeit. Sie verstummen immer in gewissen Situationen. Sie lassen sich von jeder Form von Autorität provozieren. Sie suchen unterwürfig die Nähe von Autoritäten. Solchen völlig gegensätzlichen Verhaltensweisen kann oft das gleiche Grundproblem zugrunde liegen. Und sie zeigen sich nicht selten in ein und derselben Person.

Im Gegensatz dazu sind Menschen, die sich sicher sind, geliebt zu sein, immer ein Glück für ihre Umgebung. Nicht unbedingt durch das, was sie tun, sondern vor allem durch ihre bloße Anwesenheit. Wo sie sind, können andere zur Ruhe kommen und sie selbst sein. Wo sie sind, können Masken fallen und tiefste Wahrheiten ausgesprochen werden. Gedanken können formuliert und Entscheidungen getroffen werden, ohne dass sich diese in Prestige, Projekten oder Protesten niederschlagen müssen.

Je mehr Führungsverantwortung ein Mensch hat, desto deutlicher wird dieses Prinzip. Nicht etwa deshalb, weil Führungskräfte größere Defizite in ihrem Selbstwertgefühl hätten oder weniger Erfahrungen mit der bedingungslosen Liebe Gottes. Sondern deshalb, weil die Defizite eines Leiters größere Auswirkungen auf andere haben. Ein verblüffender, aber nicht unterzukriegender Mythos in der Leiterausbildung lautet, dass wir ein schwaches Selbstwertgefühl durch die Ausbildung von Kompetenzen ausgleichen und dadurch stabile Führungskräfte hervorbringen könnten. Haben wir Erfahrungswerte, die das bestätigen?

Natürlich ist es möglich, dass eine Führungspersönlichkeit ihre Position trotz eines schwachen Selbstwertgefühls gut erfüllt und wichtige Aufgaben für andere übernimmt. Aber das Risiko zu scheitern wächst, wenn zwischen professionellem Selbstbewusstsein und persönlichem Selbstwert eine Lücke klafft.

Die entscheidende Frage ist, was Führung bedeutet. Man kann ein guter Chef werden, selbst wenn man ein geringes Selbstwertgefühl hat, weil man sein Handwerk gelernt hat und in den meisten Situationen angemessen handelt. Aber es ist sehr schwer, Vorbild und Richtungsweiser zu sein, wenn einem die sichere Verankerung in dem fehlt, was man ist.

Das Ende der Flucht vor sich selbst

Benedikt begründete im 6. Jahrhundert das westliche Klosterwesen. Als ein Ziel des klösterlichen Lebens beschrieb er, dass die Mönche sich im habitare secum, dem Wohnen bei sich selbst, üben sollten. Zur Hochzeit der großen durch die Völkerwanderung verursachten Umwälzungen in Europa bildeten die Klöster Inseln der Stabilität. So lautete auch das erste Versprechen eines jeden Mönchs: »Ich bleibe hier.«

Im Lauf der Zeit lernten die Brüder, auch innerlich anzukommen. Das gemeinsame Leben in Gebet und Arbeit verschaffte ihnen Zugang zu ihrem innersten Ich – dort, wo Gott nur darauf wartete, sie zu umarmen.

Aus ebendiesem Milieu kamen einige der wichtigsten Kirchenväter des Mittelalters. In vielen Erzählungen wird davon berichtet, wie die Mönche sich versteckten, wenn man sie zu Bischöfen machen wollte. Manchmal durften sie für eine gewisse Zeit ins Kloster zurückkehren, um sich von Machtrausch und falscher Prioritätensetzung zu erholen und zu sich selbst zurückzufinden.

Heute haben Exerzitien die gleiche Funktion für Gemeindemitarbeiter. Eine jährliche Woche der Stille, weitab von allen Aufgaben, wird für immer mehr Menschen eine unentbehrliche Gelegenheit zu Gebet und Reflexion. Dort kann man geborgen und ohne erhobenen Zeigefinger anderer einen Blick auf sich selbst und die eigenen Beziehungen werfen: zu Gott, zur Arbeit, zu anderen Menschen. Die Geborgenheit ist ausschlaggebend, damit man sich den eigenen Schwachpunkten und Verletzungen nähern kann. Mitten unter Menschen, die voller Kritik sind und einen mit ihren Anforderungen bedrängen, wird oft Verteidigung zur Überlebensstrategie: »Ich leugne und fliehe vor Problemen, die ich vielleicht ahne und auf die die Umgebung reagiert.«

In unserer Gesellschaft ist diese unentbehrliche Zurückgezogenheit von allen Seiten bedroht. Es geht hier nicht um aufgezwungene Einsamkeit und Mangel an engen Beziehungen, sondern um die Abgeschiedenheit, die notwendig ist, um überhaupt in guten Beziehungen leben zu können. Wenn Rückzug also eine Überlebensvoraussetzung für alle Menschen ist, gilt dies erst recht für diejenigen, die als Führungspersonen agieren sollen. Thomas Merton schrieb schon 1957:

Nicht alle sind zum Eremiten berufen, aber alle Menschen brauchen ausreichend Stille und Einsamkeit in ihrem Leben, damit sie wenigstens manchmal die tiefe innere Stimme ihres eigenen Ichs hören können. Wenn die innere Stimme nicht vernommen wird, wenn der Mensch nicht den geistlichen Frieden erreichen kann, den die vollständige Vereinigung mit dem inneren Selbst mit sich bringt, wird sein Leben immer unglücklich und erschöpfend sein. Niemand kann lange harmonisch leben, wenn er keinen Kontakt zu den Quellen des geistlichen Lebens am Grund der eigenen Seele hat.

Wenn der Mensch ständig aus seinem eigenen Zuhause ins Exil vertrieben wird, ausgeschlossen von seiner eigenen geistlichen Einsamkeit, hört er auf, wahrer Mensch zu sein. Er lebt nicht länger wie ein Mensch. Er ist nicht einmal ein gesundes Tier. Er wird zu einer Art Maschine ohne Freude, da er alle Spontaneität verloren hat. Er wird nicht länger von innen, sondern von außen gelenkt. Er fasst keine eigenen Beschlüsse mehr, sondern lässt für sich bestimmen. Er bewältigt nicht mehr seine Umgebung, sondern lässt sich von ihr bewältigen. Er wird von Kollisionen mit Kräften der Umgebung durchs Leben getrieben. Sein Leben ist dann kein menschliches Leben mehr, sondern wie eine Billardkugel, ein Wesen ohne Ziel und ohne tiefere sinnhafte Reaktion auf die Wirklichkeit.3

In unserer Flucht vor uns selbst ähneln wir in gewisser Weise politischen Flüchtlingen. Man spricht im Fluchtkontext von Push- und Pull-Faktoren. Push-Faktoren sind die Umstände in der Heimat, die einen Menschen zur Flucht treiben, Pull-Faktoren diejenigen, die ihn in ein anderes Land locken. Ich kann vor mir selbst fliehen, weil ich es aus irgendeinem Grund (der mir manchmal mehr, manchmal weniger bewusst ist) mit mir selbst nicht mehr aushalte. Das können zum Beispiel Schamgefühle und Verletzungen unterschiedlicher Art sein. Zu diesem inneren Chaos gesellen sich die ständigen Verlockungen der Umgebung, die mich zu Spannenderem oder Wichtigerem als der Beschäftigung mit mir selbst ziehen wollen.

So überlasse ich mein eigenes Haus dem Verfall. Vielleicht sogar im Namen Gottes: Ich wende mich von meinen eigenen Problemen ab, um stattdessen »Gott zu suchen«. Als ob ich ihn irgendwo anders finden könnte als dort, wo ich selbst bin. Augustinus sagte nach bitterer Erfahrung im Gebet: »Du warst im Inneren, und ich war draußen und suchte dich dort.«

Die Flucht vor unserem Inneren ist die Ursache für eine Reihe verschiedener Führungsprobleme. Natürlich spielen immer mehrere Gründe zusammen, aber ich wage dennoch zu behaupten: Eine tief greifende Erfahrung von Gottes Liebe würde einen großen Unterschied machen. Wenn sich ein Mensch nicht länger vor den eigenen inneren Abgründen in die Führungsetage flüchtet, dann findet eine tief greifende Heilung der ganzen Art und Weise statt, wie er andere führt. In der ältesten Biografie über Benedikt heißt es, er habe bei sich selbst wohnen können, da er »nur unter Gottes Augen lebte«.4

Vielleicht hilft es, ein paar der Probleme aufzulisten, denen wir gegenüberstehen, wenn wir vor uns selbst flüchten. Hinter vielen Problemen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, versteckt sich ein Mangel, dem in der Tiefe nur mit Quellen jenseits unserer menschlichen Ressourcen begegnet werden kann. Es kann hier um eine Führungsperson gehen, die:

• dominant ist – weil sie auf Grund ihrer Unsicherheit vorsichtshalber zu groß macht und damit alle anderen unterdrückt;

• kontrollierend ist – weil ihr die sichere Erfahrung fehlt, dass jemand anderes die Kontrolle hat, und deshalb alle Fäden selbst in der Hand hält;

• schwach und konfliktscheu ist und abweisend wird, sobald sie auf Widerstand stößt;

• ständig auf der Jagd nach Bestätigung ist, indem sie sich »interessant« macht;

• ergebnisfixiert ist und die ganze Zeit Belege darüber sammelt, dass »ich ein guter Leiter bin«;

• einsam und isoliert ist, gefangen in der Lüge, dass »ich nicht wert bin, in Gemeinschaft zu sein«;

• anhänglich und aufdringlich ist – weil sie Angst hat, mit ihrem schwarzen Loch aus Selbstverachtung allein zu sein;

• wie ein Fähnchen im Wind ist – weil sie ihren Mangel an Selbstwertgefühl mit den »richtigen« Ansichten und politisch korrekten Referenzen kompensiert;

• rigide ist – weil bei ihr das schwache Selbstwertgefühl ins Gegenteil umschlägt und in einem festen System aus Ansichten und Verhaltensmustern Schutz sucht;

• eifersüchtig ist und sich von der Stärke und dem Erfolg anderer bedroht fühlt (»Er hat alles, was mir fehlt«);

• arbeitssüchtig ist – weil sie durch ihre Arbeit ihr Selbstwertgefühl hochzuhalten versucht und es sich »nicht leisten kann«, Nein zu sagen;

• im Team und in der Führung cholerisch ist und Widerstand und Hinterfragen sofort als Angriff auf die eigene Person wertet (und damit die Sachfrage verdeckt);

• abhängig von einem Fanklub ist, Bewunderer und Ja-Sager sammelt, die sie bestätigen, während sie sich gleichzeitig von anderen distanziert;

• Kompetenzen hinterherjagt – weil sie das mangelnde Selbstwertgefühl und Vertrauen in die eigenen Erfahrungen mit der ständigen Teilnahme an neuen Kursen und Zeugnissen kompensiert;

• zu religiös ist – weil ihr brüchiger Selbstwert sich ständig nach einem Gott ausstreckt, vor dem man nie religiös genug ist;

• nicht religiös genug ist, denn jeder Schritt zu einem deutlicheren Bekenntnis würde zu viel Bestätigungsverlust von der Umwelt bedeuten;

• fordernd ist – weil das geringe Selbstwertgefühl von Gottesbildern und Theologien angezogen wird, die immer mehr fordern und damit die eigene Armseligkeit bestätigen.

Und so weiter. Der gleiche grundlegende Mangel an Liebe kann sich also in ganz gegensätzlichem Verhalten ausdrücken und in allen Biotopen der christlichen Landschaft auftauchen. Hier erweisen sich Stempel wie »konservativ« und »liberal« einmal mehr als unzureichend und irreführend. Wenn das Ich friert, zeigt sich, wie dünn das Feigenblatt ist, hinter dem wir uns als Führungspersonen so gern verstecken: die prestigevolle Ausbildung. Die Position, um die sich so viele beworben haben. Das Netzwerk mit all den »wichtigen« Führungskräften. Die neuste geistliche Bewegung. Die Statistik, die man lässig und diskret vor den Kollegen in einem Nebensatz erwähnen kann. Die richtigen Bücher, aus denen man bei passenden Situationen zitiert.

Der Hunger des inneren Menschen

Nichts davon kann den inneren Hunger stillen. Wie können Sie als Führungsperson also mit Ihrem Ich umgehen? Folgende drei häufige Irrwege sollten Sie vermeiden:

Der erste und vielleicht üblichste ist, den Schrei des inneren Menschen ganz einfach zu ignorieren und so weiterzumachen wie bisher. Das erlaubt dem Ich, sich ungehemmt und unreflektiert in Arbeit und Führungsposition auszubreiten. Es gibt viele und deutliche Beispiele für diese Art von Führung, sowohl in der Politik als auch in der Kirche. Das unstillbare Bedürfnis des Ichs nach Trost und Bestätigung ist Antrieb und Agenda bei dieser Art von Führung, die sich selten oder nie mit den Bedürfnissen anderer Menschen deckt.

Der zweite Irrweg stellt sich deutlich geistlicher dar. Hier ist der Mensch so erschrocken über die eigenen Neigungen zu Macht, Ehrgeiz und Bestätigung, dass er ganz einfach die Flucht ergreift. Er wagt es nicht, sich oder andere diesen gefährlichen Tendenzen auszusetzen, und sucht sich deshalb eine andere Arbeit als die in der Kirche. Er entscheidet sich für eine Umgebung, in der er hofft, andere weniger zu gefährden.

Ignatius von Loyola greift dieses heimtückische Gedankenmuster am Schluss seiner Geistlichen Übungen auf. Er rät dem, der sich in solchen Gedanken wiederfindet, »den Verstand zu seinem Schöpfer und Herrn zu erheben.« Von diesem beständigen Ausgangspunkt her solle die Person »im diametralen Gegensatz zu dieser Versuchung handeln«.5

Des Weiteren zitiert Ignatius den Mönch Bernhard von Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert. Dieser begnadete Prediger, der die Massen wirklich entflammen konnte, hörte während einer seiner Predigten, wie der Teufel ihm zuflüsterte: »Du bist wirklich ein großer Prediger«, um ihn dadurch mit seinem eigenen Ehrgeiz zu erschrecken. Bernhard durchschaute den Trick, unterbrach seine Predigt und sagte zum Teufel: »Ich habe nicht deinetwegen angefangen zu predigen und ich werde auch nicht deinetwegen aufhören.«

Eine dritte falsche Methode, den Anforderungen des hungrigen und unzufriedenen Ichs zu begegnen, ist, ihm den Krieg zu erklären. Durch die Kirchengeschichte hinweg sind zu diesem Thema Unmengen an sogenannter »asketischer Literatur« verfasst worden. Natürlich findet man dort viele gute Ratschläge und Erfahrungen, die helfen können. Gleichzeitig birgt dieser Ansatz jedoch das Risiko, dass sich der Fokus verschiebt: weg von Christus und der eigenen Reaktion auf ihn hin zur Bekämpfung des eigenen Ichs als Feind. Das Ich behindert dann eher in der Nachfolge, als dass man aus seinem tiefsten Wesen heraus Ja zu Christus sagt.

Das, was nicht sein darf, neigt dazu, alles auszufüllen. Das gilt für fast alles, dem wir in unserem Leben den Krieg erklären. Eine Person, die nie ihre Sexualität akzeptiert hat, wird vermutlich umso mehr davon geplagt werden. Wer die Wut nicht als natürlichen Teil des Lebens angenommen hat, der wird (ebenso wie seine Umgebung) von unkontrollierten Wutausbrüchen überrascht werden oder mit der Zeit von Depressionen (als Folge von unterdrückter Wut) betroffen sein. Wer keine Art gefunden hat, den Tod zuzulassen und als Teil des Lebens zu akzeptieren, wird vermutlich größere Probleme mit Todesangst bekommen.

So wird das Ich, das Sie ständig als Feind bekämpfen, massenweise Energie schlucken und Sie von der Liebe zu Gott entfernen. Tausende freudsche Versprecher zeigen, dass man all das keinesfalls »hinter sich gelassen« oder »unter das Kreuz gelegt« hat oder wie man es auch ausdrücken möchte. Dieses Ich wird auf tausendfache Weise seine Existenz durchzusetzen versuchen – bis Sie es in Ihre Arme nehmen und dem Vater übergeben. Erst wenn Sie sich mit dem eigenen Ich versöhnt haben und auf das hören, wonach es ruft, kann es seinen harten Griff lösen, und Sie können sich der Quelle zuwenden. Schon C. G. Jung ahnte diesen Zusammenhang, als er sagte: »Man kann nichts ändern, das man nicht annimmt.«

Die Grundlage guter Führung

Wie kommen Sie als Führungspersönlichkeit zu Gott? Was ist Ihr persönlicher Zugang zu ihm? Drei übliche Zugänge sind das theologische Interesse, die eigene Religiosität und der Wille, etwas für andere zu tun – in unterschiedlichen Ausprägungen. Allerdings berührt keiner dieser Zugänge unser tiefstes Ich, das Herz, das mehr als alles andere unsere Führungsrolle formt. Oftmals helfen uns Krisen, unser Feigenblatt der Verteidigung fallen zu lassen und die innerste Nacktheit offenzulegen, die in die Unendlichkeit des Alls hinausruft:

»Ist da jemand, der mich sieht? Ist da jemand, der meine Geschichte hören will, ohne zu unterbrechen, zu belehren oder Druck zu machen? Ist da jemand, der Interesse an mir als Mensch hat und nicht nur an Einsatz und Ergebnis? Ist da jemand, der mich versteht, ohne dass ich mich die ganze Zeit erklären oder verteidigen muss? Ist da jemand, der mich annimmt?«

Solange dieser Ruf unbeantwortet bleibt, neigen wir dazu, den Halt für unsere Existenz eher in dem zu suchen, was wir tun, als in dem, was wir sind. Wenn wir auf der Beziehungsebene Ablehnung erfahren, bleibt die Leistung. Und wenn die Arbeit auf diese Weise existenziell bedeutsam für die ganze Identität wird, dann setzt sie Kräfte frei, die keine Verhandlungen über das Bedürfnis nach Grenzen, Ruhe und einem tieferen Zuhören zulassen. Das alles schmeckt dann nach Leere; eine Erinnerung an eine Richtung, die man eingeschlagen hat, die sich aber als stumm und abgewandt herausgestellt hat.

Erst wenn wir uns den innersten Nerven unseres Ichs annähern, können wir etwas von der immensen Bedeutung der beiden Begebenheiten ahnen, die den Beginn von Jesu öffentlichem Wirken markieren. Die theologischen Deutungen seiner Taufe und Wüstenzeit übertönen mitunter die psychologische Relevanz dieser beiden Erfahrungen. Doch untrennbar und gleichzeitig unvermischt bilden sie die Grundlage für jedwede christliche Führung – für Jesus und für uns. Markus berichtet:

Eines Tages kam Jesus aus Nazareth in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen. Als er aus dem Wasser stieg, sah er, wie der Himmel sich öffnete und der Heilige Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und aus dem Himmel sprach eine Stimme: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich große Freude.« Gleich darauf drängte der Heilige Geist Jesus, in die Wüste zu gehen. Vierzig Tage lang wurde er dort vom Satan versucht. Er lebte mitten unter den wilden Tieren, und Engel sorgten für ihn.

Markus 1,9-13

Der Heilige Geist macht zwei Dinge mit Jesus. Zuerst bestätigt er Jesu Identität als geliebter Sohn des Vaters. Dann bedrängt er Jesus, um seine Identität in der Konfrontation mit seinem Gegenspieler auf die Probe zu stellen. Zuerst wird Jesus in seinem Innersten verankert. Dann werden seine Grenzen befestigt. Zuerst alles, wozu Jesus Ja sagt. Dann alles, wozu er Nein sagt. Grenzen sind die Konturen des Ichs. In der Begegnung mit Satan wird deutlich, wer Jesus ist – und wer er nicht ist. Diese beiden Erfahrungen sind unerlässlich für seine folgende Führungsrolle.

Es beginnt damit, dass er der geliebte Sohn des Vaters ist. Alles, was Jesus ist und tut, ist Frucht dieser Beziehung. Jesus ist bereits alles, was er in seiner Beziehung zum Vater werden kann. Aus dieser Quelle schöpft Jesus seine Existenz, in diesem Angesicht spiegelt sich sein Wesen. Das heißt, dass Jesus nicht seine eigenen Bedürfnisse in die Begegnungen mit uns Menschen bringt. Er begegnet uns nicht mit einem Bedürfnis nach Bestätigung, das ständig unsere Reaktionen abliest, und muss deshalb nichts vermeiden, was von uns keine Bestätigung erfahren würde.

Wenn Jesus etwas tut, womit er die Aufmerksamkeit der Massen erregt, dann bereichert es nicht sein Prestige oder seinen Wert. Wenn er etwas tut, das unseren Widerstand weckt, so beraubt es ihn keines Teils seiner Identität oder seines Werts. Daher ist er frei, sich voll und ganz unseren Bedürfnissen zu widmen und entsprechend zu handeln.

Das lässt uns etwas ahnen von dem Geheimnis hinter seiner Integrität und seiner prophetischen Führung. Die Versuchung, mit den einzigartigen Gaben Karriere zu machen, sich strategisch massentauglichen Ansichten anzupassen, Konflikte, Leid und Tod zu vermeiden – nichts davon findet Halt in einem Menschen, der weiß, wer er ist und vor wem er verantwortlich ist.

Wie sieht es mit uns aus? Paulus sagt, wir sind »auf Christus getauft« und »gehören nun zu Christus«. Unsere Identifikation mit Christus ist so tief, dass der Vater uns »den Geist seines Sohnes« ins Herz gegeben hat, dass wir zu Gott nun »Abba, lieber Vater« sagen können (vgl. Galater 3,27–4,7).

Es ist das gleiche Gebet, das Jesus in Gethsemane betet. In der bittersten Einsamkeit und Verletzlichkeit, als die Freunde ihn im Stich lassen und der Vater schweigt, da ruft Jesus in seinem intimsten und vertrauensvollsten Gebet: »Papa!«

So tief begibt sich der Geist in unsere innerste Dunkelheit, um uns an den Vater zu heften.

Worte versus Erfahrungen

Was eine christliche Gemeinschaft am dringendsten braucht, sind Menschen, die wissen, dass sie von Gott geliebt sind. Nur: Wie kommt man zu diesem Wissen?

In der westlichen Welt leben wir in einem Spannungsfeld zwischen zwei Magneten. Der eine ist eine starke kognitive Tradition. Hier kommt besonders der akademische Einfluss zum Tragen, der über Jahrhunderte die Vorstellung genährt hat, dass wir uns Wissen und Verhalten antrainieren, indem uns Gedanken aus Büchern, Vorlesungen und durch andere verbale Botschaften vermittelt werden. Wir glauben, eine Botschaft müsse nur oft genug wiederholt werden, damit wir sie uns zu Herzen nehmen und in unser Alltagsleben integrieren.

Stimmt das? Wenn dem so wäre, müsste ein Großteil der westlichen Christen mittlerweile der tiefen Überzeugung sein, dass sie von Gott geliebt sind, und aus dieser Überzeugung heraus leben. Das dürfte jedenfalls in diesem Teil der Welt die am häufigsten verkündete Botschaft in den Predigten und Liedern der letzten fünfzig Jahre sein. »Gott liebt uns, in seinen Augen ist jeder Mensch wertvoll.« Das Problem mit dieser Botschaft ist nicht, dass sie nicht wahr ist. Das Problem ist vielmehr, dass wir sie nicht in dieser Form annehmen können.

Wenn ein Kind im Kindergarten unruhig ist, andere Kinder angreift und nicht auf die Erzieher hört, liegt das nicht daran, dass dieses Kind ausgerechnet an dem Tag nicht da war, als besprochen wurde, wie man Konflikte im Kindergarten löst, und deshalb nicht weiß, wie es sich verhalten soll. Es liegt eher daran, dass im Leben dieses Kindes Dinge vorgefallen sind, die eine innere Unsicherheit geschaffen haben, die nun dafür sorgt, dass es ständig sein Umfeld testet und herausfordert: »Erträgst du mich? Ist hier jemand, der mich versteht?« Dem Verhalten liegt eine Erfahrung zugrunde, durch die alle Beziehungen gefiltert und interpretiert werden.

Erfahrungen werden nur sehr geringfügig von Gedanken und Worten beeinflusst. Das Naivste und Wirkungsloseste, was ein Prediger sagen kann, ist ein Satz wie: »Es ist so einfach mit Gottes Liebe. Sie ist ein Geschenk an uns und jeder von uns kann sie annehmen.«

Viel einfacher wäre es, wenn der Prediger stattdessen sagen würde: »So, nun ziehen wir Schuhe und Strümpfe aus und gehen barfuß durch den Schnee zehn Runden um die Kirche.« Jeder wüsste direkt, was zu tun ist. Aber wie nimmt man Liebe an, die man vielleicht noch nie erfahren hat? Besonders dann, wenn man während der gesamten Kindheit auf die harte Tour lernen musste, dass es einen eigentlich gar nicht hätte geben sollen, man immer im Weg ist, ein seltsamer Außenseiter, den niemand versteht. Das Wort stößt auf jahrzehntelange Erfahrung, die unendlich viel schwerer wiegt.

Der andere Magnet in unserer Gesellschaft ist die Jagd nach dem gefühlsmäßigen Kick. Konsum, Medien, Vergnügen, Werbung, Zusammenleben, Restaurants und immer mehr auch die Politik werden von emotionalen Reiz-Reaktionen getrieben. In dieser Strömung wird die Botschaft von Gottes Liebe eher zu einer Einladung oder eher noch einer Bedingung: Öffne dein Inneres und fühle mit deinem ganzen Wesen, wie Gott dich liebt. Lobpreis und andere Musik sind zusammen mit visuellen Effekten und Stimmlagen genau darauf ausgerichtet, dass wir spüren können, wie sehr wir heute Abend geliebt werden.

Dies hat zwei mögliche Folgen:

1. Sie kommen für einen Moment in eine Wohlfühl-Stimmung, die am nächsten Morgen im Büro wie weggeblasen ist.

2. Das Gefühl will sich einfach nicht einstellen. Stattdessen werden Sie (in unterschiedlichem Ausmaß) von Frust gegenüber Gott, der Situation und sich selbst erfüllt.

Wie gesagt: Eine tief gehende Erfahrung kann nicht nur von Worten und Gedanken hervorgerufen werde. Auch nicht von einem zeitweiligen Gefühl. Das Einzige, das eine nachhaltige Wirkung haben kann, ist eine Erfahrung. Dabei ist es wichtig, den Unterschied zwischen Erlebnis und Erfahrung zu kennen. Ein Erlebnis ist kurzfristig, wird meist positiv gesehen und berührt nur die Gefühlswelt. Eine Erfahrung berührt den ganzen Menschen und erstreckt sich über die ganze Bandbreite zwischen Schmerz und Freude und hat eine langfristige Wirkung.

In seinen Geistlichen Übungen führt Ignatius von Loyola uns in Meditationen über Gottes Liebe ein und agiert dabei ganz anders, als wir von anderen Meditationen über Bibelstellen gewohnt sind. Würde Glaube kognitiv funktionieren, wäre es denkbar einfach; man liest ein paar Bibelstellen, in denen steht, dass Gott uns liebt, und dann setzt sich diese Erkenntnis fest. Ignatius beginnt hingegen mit einer Reflexion, die bei näherer Betrachtung jeder selbstverständlich aus seiner eigenen Erfahrung kennt: »Die Liebe muss mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden.«6

Von diesem Ausgangspunkt her sind wir aufgefordert, darüber nachzudenken, wie Gott ganz praktisch seine Liebe gezeigt hat. In den Wundern der Schöpfung, in der Geschichte, in Jesus Christus, im eigenen Leben. Ignatius von Loyola folgt hier der gleichen Pädagogik, die auch Paulus in seiner kurzen und improvisierten Predigt in der griechischen Stadt Lystra verfolgte. Dort hatte niemand einen anderen Anhaltspunkt für Gottes Liebe als seine eigenen alltäglichen Erfahrungen: »Doch nie hat es eine Zeit gegeben, in der keine Zeugen für ihn lebten. Immer gab es etwas, das an ihn erinnern sollte; so schenkte er euch Regen und gute Ernten, Nahrung und fröhliche Herzen« (Apostelgeschichte 14,17). Also: Lasst uns den Spuren von Gottes Güte zurück zur Quelle folgen.

Ein irischer Jesuit, Brendan Comerforth, erzählte einmal, wie er einen Mann durch diese Art von Meditation geführt hat. Dieser Mann war unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen, bekam aber dennoch die gleiche Aufgabe wie alle anderen: Geh in deiner Geschichte zurück und versuche, Hinweise darauf zu finden, dass Gott sich zu erkennen gegeben und gezeigt hat, dass er dich liebt.

Am Tag darauf kam der Mann zurück und erklärte ziemlich mürrisch, dass er nie auch nur die kleinste Spur von Gottes Liebe während seiner Jugend entdeckt hatte. Ein unsicherer Mentor hätte vielleicht die Spur gewechselt und dem Mann in dieser Situation eine andere Übung aufgegeben. Aber Brendan wusste, was er tat, und gab dem Mann am nächsten Tag die gleiche Aufgabe.

Da kam der Mann mit Tränen in den Augen zurück und erklärte, er habe es ehrlich versucht, aber in seiner Vergangenheit nichts anderes als Dunkelheit und Beklommenheit sehen können. Nur äußerst widerwillig ließ er sich auf Brendans geduldige Aufforderung ein, die Übung nicht aufzugeben und sie noch einmal zu wiederholen.

Als er am nächsten Tag zurückkehrte, hatte der Mann wieder Tränen in den Augen, diesmal jedoch aus einem anderen Grund. Er erzählte, dass er etwas gesehen habe, was er nie zuvor gesehen hatte. Über die Details schweigt sich die Geschichte aus, aber der Mann hatte gesehen, wie Gott ein ums andere Mal sein Leben berührt hatte, wenn es ihm am dunkelsten erschien. Das hatte er nie zuvor bemerkt.

Und er hätte es auch nie sehen können, wäre er nicht mit offenen Augen zielgerichtet in seine schwärzesten Dunkelheiten gegangen. Nur in der Wahrheit können wir Gott begegnen. Wie bei den Einwohnern von Lystra wartete Gottes Liebe in den persönlichen Erfahrungen des Mannes.

Ein Ja zum Genug finden

Es ist ein großes Wunder, wenn sich das Gottesbild eines Menschen verändert. Ein noch größeres Wunder ist es, wenn sich das Selbstbild eines Menschen verändert. Das Selbstbild ist das Persönlichste, was ein Mensch hat. Es gleicht einem Filter, durch den alles gesiebt und interpretiert wird. Erst durch eigene solide Gottesbegegnungen sickert eine stärkere Kraft in dieses Selbstbild ein und verändert es von Grund auf. Und so gewinnt in der Konfrontation mit all den bekannten und als selbstverständlich vorausgesetzten Mantras darüber, wie einsam, unverstanden und ungeliebt man ist, langsam eine größere Kraft an Boden.

Diese Art, hinter und in das Selbstbild hineinzuschauen, hat eine zutiefst heilende Wirkung. Jesus sah Zachäus, als alle anderen nur einen Ausbeuter und römischen Kollaborateur sahen. Kein Wort darüber, wie er so reich geworden war, kein Wort darüber, wie er sein Leben verändern sollte. Einzig, dass Jesus freiwillig zu ihm nach Hause kam und mit ihm aß, löste eine Lawine in seiner mühsam aufgebauten Egozentrik aus. So öffnete er sein Herz und sein Portemonnaie für Gott und andere Menschen (Lukas 19,1-10).

Der Großkonzern Tetra Pak produziert Verpackungen auf der ganzen Welt und wirbt mit einem einfachen Slogan: Schützt, was gut ist. Und so ist es. Erst, wenn etwas wertvoll ist, schützen wir es. Ein Mensch mit geringem Selbstwert hat eine geringere Hemmschwelle, sich für das zu entscheiden, wovon er weiß, dass es schlecht ist. »Schließlich bin ich ja sowieso so schlecht, dann spielt das keine Rolle.« Vielmehr bestätigen seine Entscheidungen sein niedriges Selbstbild noch.

Wenn die eigene innere Wertschätzung niedrig ist, ist es auch schwierig, der Arbeit Grenzen zu setzen. Jeder Extraauftrag wird unwiderstehlich, denn dadurch bekommt der Selbstwert die Chance, ein bisschen zu wachsen. In einem solchen Fall kämpfen Ehefrau, Mann, Kind und andere vergeblich darum, das Tempo eines Menschen zu bremsen. Eigentlich ist es nicht der Job, den man vor dem Hinterfragen der anderen verteidigt, sondern die eigene Existenz. Und diese ist nun einmal nicht verhandelbar. Einmal mehr prallen alle Worte darüber, wie wichtig man als Person ist, an der viel schwerwiegenderen Erfahrung ab, dass man überhaupt nicht wichtig ist.

Nötig ist eine Erfahrung aus einem anderen Lebensbereich als der Arbeit, um den krampfartigen Griff um diese lösen zu können. Die Jagd nach mehr Kompetenz und mehr geistlichen Gaben hört erst auf, wenn Sie sich ernsthaft dafür entscheiden, die erste und entscheidende Gabe aus Gottes Hand entgegenzunehmen: sich selbst. Das kann mit einem ganz hypothetischen Gedanken, noch weit weg von einer wirklichen Überzeugung, beginnen:

»Angenommen, ich bin kein misslungenes halb fertiges Wesen, das erst durch eine lange Ausbildung und ein erfolgreiches Berufsleben einen Wert erhält. Angenommen, Gott hat mich genau als die Person geschaffen, die er sich gedacht hat. Angenommen, ich bin ein Abbild Gottes, das Gott widerspiegelt, indem ich bin, nicht indem ich etwas tue.« Dann können Sie sich direkt an Gott wenden und sagen:

»Vater, ich nehme mich selbst als Gabe aus deiner Hand an. Ab jetzt werde ich nicht mehr schlecht über das reden, was du geschaffen hast. Ab jetzt werde ich dein Abbild mit größerem Respekt behandeln und meine Grenzen schützen.«

Wenn Sie das einige Wochen oder einige Monate lang durchziehen, können Sie eines Tages vielleicht nackt vor dem Spiegel stehen und ehrlich zu Gott und sich selbst sagen: »Völlig okay. Völlig okay.« Dann ist etwas sehr Wichtiges passiert. Dann müssen nicht länger Ausbildung, Geistlichkeit, Amtskleidung oder Erfolge wie ein Feigenblatt Ihr dürftiges Selbstbild bedecken. Dann muss die glitzernde Weihnachtsdekoration keinen grauen und struppigen Baum mehr verdecken. Dann kann man von innen heraus wachsen, wie Früchte aus einem Weinstock.

Wie weit können wir auf diesem Weg kommen? Manche Menschen haben schließlich so tiefe Wunden, dass sie das ganze Leben damit kämpfen, den Kopf über Wasser zu halten und nicht in Selbstverachtung zu versinken. Man kann einen Schimmer von Gottes Güte und Barmherzigkeit ahnen, nur um am nächsten Tag wieder von Dunkelheit und Zweifel überwältigt zu werden. Ist es für solche Menschen zu spät? Ist ihnen der Weg zu christlicher Führung versperrt?

Es gibt ein segensreiches unscheinbares Wort, das heutzutage äußerst selten gebraucht wird: genug. Die ganze Marktwirtschaft fußt darauf, dass dieses Wort nie genannt wird. Der wirkliche oder eingebildete Mangel fördert das Wachstum, das unnachgiebig und immer stärker den weltlichen Ressourcen und uns selbst die Luft abschnürt. Eine ähnliche Fixierung auf eigene Unzulänglichkeiten kann uns auch auf tieferer Ebene lähmen. Wir kommen nie vorwärts. Wir sind nie zufrieden. Wir haben nie genug.

Genug geheilt sein – diese Erfahrung bleibt dem verwehrt, der vor seinem Leben davonläuft. Aber sie ist allen zugänglich, die sich ernsthaft ihrem eigenen Leben zuwenden, um dort Christus zu treffen. Selbst wenn dieses Leben zerrissen ist von schwierigen Erfahrungen, die einen womöglich niemals völlig loslassen werden.