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Edel Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

 

Copyright © 2020 Edel Germany GmbH,

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Projektkoordination und Lektorat: Dr. Marten Brandt

Covergestaltung und Satz: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

ePub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

eISBN 978-3-8419-0717-2

INHALT

VORWORT

PROLOG

KAPITEL 1:Ein Saisonstart zum Vergessen

KAPITEL 2:„Das wäre doch was für dich!“ – Anfänge in Mümmelmannsberg

KAPITEL 3:Erfolgserlebnisse – meine Hochgefühle

KAPITEL 4:Zwei Welten zwischen Job und Profifußball

KAPITEL 5:Fitness – Leistungssportler Schiedsrichter

KAPITEL 6:Spielleitung – Antizipation und Ermessensspielraum

KAPITEL 7:Die Fußballregeln – Halbwissen, Anwendung und Auslegung

KAPITEL 8:Teamwork – das Schiedsrichtergespann

KAPITEL 9:Organisation – Tasche packen und los

KAPITEL 10:„Bundesliga für 72 Mark“ – Aron Schmidhuber erzählt

KAPITEL 11:Fußballersprache – Kommunikation auf dem Platz

KAPITEL 12:Bewertung – Umgang mit Kritik

KAPITEL 13:Drei Anrufe – Auf- und Abstieg

KAPITEL 14:Emotionen oder Fehlverhalten? Gespräch mit Dieter Hecking

KAPITEL 15:Fit im Kopf – mein Weg zur Sportpsychologie

KAPITEL 16:Revolution – der Video-Assistent

KAPITEL 17:Ein Hobby mit Chancen

KAPITEL 18:Noch etwas vergessen? Zehn Fragen, die ich immer wieder höre

KAPITEL 19:Test bestanden? Auflösung der Regelfragen

VORWORT

Eine Podiumsdiskussion in den Hamburger Messehallen. Hockeyolympiasieger Moritz Fürste hatte verschiedene Sportler eingeladen, aus ihren Disziplinen zu berichten. Ich sollte Fragen zum Thema Schiedsrichter beantworten. Das mache ich gern, meinen Schiri-Job erklären, der Öffentlichkeit vermitteln, was wir Schiris so tun.

Wie bist du Schiedsrichter geworden? Warum tust du dir das an, merkst du nichts mehr? (Moritz halt, wir kennen uns schon lange, solche Fragen stellt er eben.) Wann reist du zu den Spielen an? Wie lange kann man das machen? Wie trainierst du? Wie gehst du mit Druck und Fehlern um, vor einem Millionenpublikum? Wie ist das so mit den Profis? Wie vereinbarst du Beruf und Sport? Wie ist das mit dem Video-Assistenten? Und so weiter und so weiter, unendlich viele Fragen, die ich immer wieder beantworte. Immer gern.

Ich bin Schiedsrichter geworden, weil ich hineingeworfen wurde. Jetzt bin ich in der Bundesliga angekommen. Ein Privileg. Schon kurz nach meinem ersten Spiel als Schiri habe ich gemerkt, welche Freude mir der Umgang mit Menschen macht, mit ihnen zu kommunizieren, sie zu führen. Das Entscheiden!

Nachdem Moritz mich genug gelöchert hatte, nahm ich im Publikum Platz, um dem Manager der Basketballmannschaft der Hamburg Towers zuzuhören.

Nach der Veranstaltung näherte sich mir eine mir unbekannte Person: „Hallo, ich bin Stefan Weikert von Edel.“

Ich dachte zunächst an eine Boutique, bis er mir erklärte, dass Edel ein Buchverlag sei. Moritz Fürste hätte ihm gesagt, ich hätte was zu erzählen, über die Schiedsrichterei. Ob ich, Patrick Ittrich, mir vorstellen könne, ein Buch zu schreiben … Ja, ne, is’ klar!

Stefan meinte, ich könnte ja mal in den Verlag kommen und mit ihm darüber sprechen. Die Perspektive des Schiedsrichters interessiere die Menschen und sei noch nicht wirklich bekannt. Er gab mir seine Visitenkarte. Ich fühlte mich geehrt und hörte dem nächsten Gast von Moritz zu.

Ein paar Wochen später saß ich bei Edel Books im Büro und erzählte, warum ich Schiedsrichter geworden bin. Nachdem wir drei Stunden lang geredet hatten, war eigentlich klar, ich würde das Buch schreiben.

Natürlich holte ich die Meinung von Schiedsrichterkollegen, Freunden und Bekannten ein: Kann ich das machen? Kann ich als aktiver Schiedsrichter in der Bundesliga über meinen Beruf schreiben? Fast alle sagten, auf jeden Fall, du musst es sogar machen. Einige hatten Bedenken. Am Ende ist es meine Entscheidung.

Ich nutze die Möglichkeit gern, euch meine große Leidenschaft näherzubringen. Die Möglichkeit besteht, dass durch das Buch viele Menschen Schiedsrichter werden und am besten alle Schiedsrichter bleiben. Egal in welcher Sportart.

Den Schiedsrichtern wird vielfach vorgeworfen, sich nicht zu öffnen. Von einem Geheimbund ist mitunter die Rede. Die Schiedsrichter seien komische Gesellen: Wir werden mit dem Ufo ins Stadion gebracht, dann steigen die Aliens aus und werden am Ende wieder zu ihrem Heimatplaneten zurückgeflogen. Den vielen Vorurteilen uns und unserem Job gegenüber möchte ich entgegentreten. Jeder Schiedsrichter, egal in welcher Klasse, ist auf seine Art einzigartig. Mit verschiedenen Charaktereigenschaften und individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, die sich im Laufe des Schiedsrichterlebens entwickeln und ausprägen, ausgestattet. Das macht den Schiedsrichter aus.

Ich beschreibe mich im Folgenden in meiner Art als Mensch und Schiedsrichter. Ich möchte euch teilhaben lassen an meinem Weg von der F-Jugend bis zur Bundesliga, an dem Druck, dem wir Schiedsrichter ausgesetzt sind, dem Ehrgeiz, der uns antreibt, der Freude, die wir an unserem Job haben, dem Spaß, den die Sache macht, dem Reiz, entscheiden zu können, und der Befriedigung, die richtige Entscheidung zu treffen. An den Höhen und Tiefen im Leben eines Schiedsrichterlebens, das ich liebe, wie es ist.

Eines kann ich wirklich sagen: Eine der wichtigsten und am Ende für mein Leben richtige Entscheidung habe ich vor 26 Jahren getroffen – Schiedsrichter zu werden.

Übrigens: Nach jedem Kapitel folgt eine Fußballregelfrage. Die Antworten gibt es ganz hinten im Buch. Viel Spaß!

PROLOG

„HALLO? HAALLOOOO?“

Wie klingt eigentlich ein riesiges, leeres Fußballstadion? Kommt da ein Echo von den Tribünen?

Fragen, über die ich mir natürlich nie Gedanken gemacht hatte. Im Mai 2020 stand ich ganz allein auf dem Rasen des menschenleeren Hamburger Volksparkstadions und schrie die Tribünen an. Der Termin für den Neustart der Bundesliga stand fest, die Vorfreude stieg. Endlich wieder raus auf den Platz. Gleichzeitig war da dieses mulmige Gefühl. Wie wird das bloß laufen mit diesen „Geisterspielen“? Im Volksparkstadion versuchte ich ein Gefühl dafür zu bekommen.

Als ich einige Wochen später samstags im Auto nach Kiel saß, hatte ich fast drei Monate lang kein Fußballspiel gepfiffen. Meine beiden Coronatests in den Tagen zuvor waren negativ ausgefallen, nun stand meinem Comeback nichts mehr im Wege. Der sonst so belebte Vorplatz des Kieler Holsteinstadions war menschenleer. Ein Ordner mit Maske blickte auf das Kennzeichen meines Autos, glich es mit der Info auf seinem Zettel ab und ließ mich passieren. Ich fühlte mich wie in einem Sciencefictionfilm. Aber das hier war kein Film, sondern ein Punktspiel der zweiten Liga, Holstein Kiel gegen Arminia Bielefeld. Ein wichtiges Spiel für beide Teams.

Bloß nicht in der Stille des Stadions in Lethargie verfallen! Habe ich alle Regeln des gemeinsamen Hygienekonzepts des DFB und der DFL beachtet?, fragte ich mich, als ich mit Maske den Rasen zur ersten Platzbegehung betrat. Normalerweise würde sich das Stadion zu diesem Zeitpunkt langsam füllen, die Spannung steigen. Abklatschen zur Begrüßung und Smalltalk mit Trainern und Spielern – all das fiel nun aus. Der Blick auf die leeren Tribünen, wissend, dass es genau so bleibt und niemand mehr kommt, abgesehen von ein paar Journalisten. Ein seltsames Gefühl. Die Emotionen im Stadion fehlten, die bei mir einen positiven Druck auslösen. Aber ich gebe zu, dass die Situation auch Vorteile mit sich brachte. In der Schiedsrichterkabine gehen an einem normalen Bundesligaspieltag viele Menschen ein und aus (dazu später mehr), jetzt kamen nur die beiden Zeugwarte, um die Trikots ihrer Mannschaften zu präsentieren. Meine Assistenten und ich hatten die Kabine praktisch für uns. Eine ganz ungewohnte Ruhe. Ich ließ ein altes Ritual wiederaufleben. Früher hatte ich kurz vor dem Verlassen der Kabine immer den Spielball aufgenommen und ihn sechs, sieben Mal auf den Boden prallen lassen. Das war wie ein Startschuss und hatte mir Sicherheit gegeben. Irgendwann wurde jedoch das Protokoll geändert. Der Spielball lag nun nicht mehr in der Schiedsrichterkabine, sondern auf einer Stehle draußen auf dem Platz. Von dort nahm ihn eines der Einlaufkinder herunter, um ihn zum Mittelkreis zu tragen, was zusammen mit dem Einlauf des Teams schöne Kamerabilder gab. Bei Geisterspielen gibt es aber keine Einlaufkinder und ich pushte mich mit dem alten Tick. Konzentration. Raus aufs Feld, Anpfiff!

Während des Spiels verschwendete ich keine Gedanken an die ungewohnte Atmosphäre, sondern war auf die Partie konzentriert. Alles lief gut, generell hatte ich den Eindruck, dass weniger
Emotionen nach normalen, kleineren Fouls hochkochten. Fouls gibt es in jeder Partie, die Spieler merken aber, wann ein Foul aus der Situation heraus geschieht oder ob es „dreckig“, also hinterlistig ist. Diskussionen nach den normalen Fouls blieben weitgehend aus (ich bin gespannt, ob die Spieler dieses Verhalten
beibehalten, wenn wieder Zuschauer im Stadion sind). Die Gefahr ist, dass man als Schiedsrichter in Spielen ohne Fans zu großzügig ist. Ein gelbwürdiges Foul bleibt ein gelbwürdiges Foul, ob nun tausende Menschen die Karte fordern oder nicht. Mein erstes Bundesligaspiel vor leeren Rängen leitete ich in Bremen, Eintracht Frankfurt war der Gegner, es war eine hart umkämpfte Partie mit vielen Fouls, vor allem in der ersten Halbzeit. Hinterher habe ich mich gefragt, ob ich in zwei, drei Szenen eine Karte im voll besetzten Stadion möglicherweise gezeigt hätte. Die Fouls lagen im so genannten Ermessensbereich, die Karten wären gerechtfertigt gewesen. Ich habe den Ermessensbereich an diesem Tag maximal ausgereizt – lag das an den fehlenden Fans im Stadion?

Eine Frage, auf die es keine Antwort gibt. Ich werde nie wissen, ob ich in denselben Szenen vor vollen Rängen anders entschieden hätte.

Während auf den Tribünen Stille herrschte, ging es auf den Trainerbänken natürlich trotzdem emotional zur Sache, zum Beispiel im Spiel zwischen Kiel und Bielefeld in der letzten Minute. Ich versuchte den Druck mit einem Spruch ein bisschen rauszunehmen, als ich die Nachspielzeit ankündigte: „Wir spielen noch drei Minuten, damit wir uns alle noch ein bisschen aufregen können“ – meine Ansage landete im Spielbericht des Kicker. Im Normalfall ist es völlig unmöglich für Reporter, auf der Pressetribüne eines vollbesetzten Stadions Unterhaltungen auf dem Platz mitzuhören. Meine Art der Kommunikation habe ich nicht verändert. Sie gehört nun mal zu meiner Spielleitung.

Nach dem Abpfiff in Kiel war ich glücklich – trotz der besonderen Umstände fühlt es sich einfach gut an, wieder auf dem Platz zu stehen.

Zumal mein Neustart sich zusätzlich verzögert hatte. Im Hamburger Volksparkstadion hatte ich mich verletzt – immerhin nicht beim Versuch, das Echo des leeren Stadions zu testen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich fast zwei Monate lang keine Fußballschuhe mehr getragen, keinen Platz betreten, mich vor allem mit Laufeinheiten im Freien und Krafttraining fit gehalten. Allein im Volksparkstadion simulierte ich für mich nun die Belastung eines Fußballspiels, absolvierte Dauerläufe, Sprints, Richtungswechsel nach Ballverlusten der imaginären Mannschaften um mich herum. Dabei verhärtete meine Wade, ich erlitt einen Faszienriss im Unterschenkel – nochmal drei Wochen Pause. Was für eine Saison … Letztendlich bin ich einfach froh und dankbar, dass sie im Mai überhaupt fortgesetzt werden konnte. Das war schließlich alles andere als selbstverständlich.

Die Coronakrise hat viele Sportler hart getroffen. Deswegen werde ich die Hälfte meiner Einnahmen für dieses Buchprojekt der „Sepp-Herberger-Stiftung“ des DFB zukommen lassen. Die älteste deutsche Fußballstiftung kümmert sich unter anderem um Sportler, die durch die Coronakrise unverschuldet in Not geraten sind.

KAPITEL 1

EIN SAISONSTART ZUM VERGESSEN

Ich war total enttäuscht, und zwar von mir selbst. Ich saß in der Wolfsburger Schiedsrichterkabine, starrte vor mich hin und fragte mich: Wie hatte mir das nur passieren können?

Das Spiel war gerade wenige Minuten vorbei, ich war völlig platt, körperlich und mental. In der Kabine herrschte gespenstische Stille, während auf meinem Handy eine Nachricht nach der anderen aufploppte. Uwe Kemmling, der Schiedsrichterbeobachter, schaute kurz herein. „Wir reden später“, sagt er nur. Er erkannte, dass ich kurz Ruhe brauchte. Ihm, meinen Assistenten, den Millionen Fußballfans da draußen, mir selbst – allen war klar: Ich hatte es verbockt, und zwar gründlich. Mein 27. Bundesligaspiel, am ersten Spieltag der Saison 2018/2019, war voll in die Hose gegangen.

Irgendwann steckte der Aufnahmeleiter den Kopf durch die Tür: „Patrick, die Journalisten warten auf dich.“

Spätestens, wenn das der Fall ist, dann weißt du, dass du als Schiedsrichter wirklich ein Problem hast.

Aber natürlich hatten sie Fragen. Aus einer gelben Karte hatte ich eine rote gemacht, später aus einer roten eine gelbe; dann hatte ich mich mit einem Trainer angelegt und am Ende auch noch Gelb und Rot vertauscht – zum ersten Mal in meiner Karriere! Kurz: ich hatte für ein heilloses Durcheinander auf dem Platz gesorgt.

Diese Partie zwischen dem VfL Wolfsburg und Schalke 04 war das schwerste Spiel meiner Karriere.

Aber, und das ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen: Die Entscheidungen auf dem Platz habe ich getroffen, niemand sonst! Ich suche keine Entschuldigungen und will mich nicht herausreden. Als Schiedsrichter ist es meine Aufgabe, Ruhe zu bewahren und alles im Griff zu haben, egal, wie hektisch es wird.

Der Arbeitstag hatte schon nicht gut begonnen. Es gab technische Probleme mit den Headsets. Ein Techniker sollte meine neuen Ohrstücke, vor der Saison individuell angepasst, vor dem Spiel einsetzen. Klappte aber nicht. Sascha Thielert, mein Assistent, meinte cool: „Zur Not pfeifen wir halt ohne. Haben wir früher ja auch hinbekommen.“ Recht hatte er. Aber ich war trotzdem genervt. Wochenlang hatten TV-Trailer die Vorfreude auf die neue Saison geschürt: „Die Bundesliga ist zurück!“ Als einer von neun Schiedsrichtern, die ein Spiel zum Bundesliga-Auftakt pfeifen durften, fühlte ich mich topfit und war hoch motiviert. Und dann stellte mir ein technisches Problem gleich ein Bein.

Endlich waren die Headsets zusammengebaut, aber wir gingen mit Verspätung raus auf den Platz zum Warmmachen. Das mag wie eine Lappalie klingen. Aber wenn man bedenkt, unter welch enormem Druck wir ohnehin schon standen … Das Spiel lief lange relativ ruhig, keine besonderen Vorkommnisse. Und dann kam die 55. Minute. Der Schalker Nastasic ging mit gestrecktem Bein in den Zweikampf gegen Weghorst. Norbert hob die Fahne
und rief „Gelb!“ ins Headset. Gelb war auch mein erster Gedanke, aber ich hatte keine optimale Position gehabt. Daher bat ich, während ich die Karte zog, den Video-Assistenten, die Szene zu überprüfen. Ich wollte mich absichern – und das war Quatsch! Denn ich hatte auf dem Platz auf Gelb entschieden, fertig, weiter. Komplett falsch war die Karte in keinem Fall.

Aber so schickte mich der Video-Assistent raus an den Spielfeldrand. Für ihn ging die Tendenz eher zu Rot. Ich fühlte die Blicke der 26 621 Fans im Stadion und der Spieler beider Teams auf mir lasten.

Mit jeder Zeitlupe, die ich mir auf dem Monitor wieder und wieder anschaute, wurde die Karte auch für mich roter: Nastasic war mit offener Sohle in den Zweikampf gegangen, das war nicht zu übersehen. Und so änderte ich meine Entscheidung und zeigte Rot.

Natürlich beschwerten sich die Schalker vehement. Ab jetzt war ordentlich Dampf im Spiel. In der 70. Minute gerieten Weghorst und Burgstaller aneinander. Der Schalker provozierte, der Wolfsburger verpasste ihm einen Kopfstoß vor die Brust – so sah es zumindest für mich aus. Meine spontane Reaktion: Gelbe Karte für beide. Das rief ich auch in mein Headset. Meine Assistenten indes plädierten für einen Platzverweis für Weghorst. Ich hörte auf sie – es gab keinen Grund, dies nicht zu tun – und zog Rot. Wieder war es eine klassische 50:50-Situation, falsch war die Entscheidung erneut nicht. Also kein Fall für den Video-Assistenten.

Weghorst war nach den üblichen Diskussionen schon auf dem Weg in die Kabine, da meldete sich der Video-Assistent. Er hatte anscheinend bemerkt, dass ich zweifelte, und riet mir erneut, zum Monitor zu gehen. Nach meiner nächsten Videosession fand ich
meinen ersten Eindruck bestätigt: So schlimm war die Aktion eigentlich nicht … Also nahm ich die Karte zurück, Weghorst durfte weiterspielen.

An dieser Stelle vielleicht ein Wort zum Vorwurf „Konzessionsentscheidung“, die gegen uns Schiedsrichtern gern mal erhoben wird. Spieltaktisch wäre es natürlich besser gewesen, bei Rot zu bleiben. Auf jeder Seite wäre einer runtergeflogen, ausgleichende Gerechtigkeit und weiter geht’s mit weniger Emotionen. Aber so läuft das nicht als Schiedsrichter. Jede einzelne Situation muss für sich bewertet werden.

Nach dieser zweiten Korrektur war das Spiel für mich gelaufen. Ich war nicht mehr der Spielleiter, der leitet, sondern der sich leiten ließ. Egal, was in den letzten 20 Minuten noch passieren würde, ich war nicht gut an diesem Tag. Jeder konnte das sehen.

Dann kam die 85. Minute. Die Mehrheit der Fans und selbst der betroffene Spieler hatten das Foul gar nicht wahrgenommen, ich schon. Wolfsburgs Brooks traf seinen Gegenspieler im Strafraum mit dem Fuß am Kopf, kurz vor der Torlinie. Die Sache war klar, in jedem Fall Strafstoß für Schalke. Während ich auf den Punkt zeigte, ratterte es in meinem Kopf: „Der Schalker kann einköpfen und der Wolfsburger tritt dem fast die Rübe ab, das ist dann Rot …“

Und dann tat ich etwas, das nicht dem 58-seitigen Protokoll des Video-Assistenten-Handbuchs entsprach. Ich entschied nicht selbst, sondern fragte in Köln nach: „Ist das Gelb oder Rot?“ Ich wollte keinen Fehler mehr machen und auf gar keinen Fall noch einmal raus zum Monitor.

Die Antwort aus Köln war Gelb. Und dann kam der Tiefpunkt. Noch nie zuvor hatte ich die Karten vertauscht. Aber jetzt, in Wolfsburg. Das Vertauschen der Karten ist natürlich eine Schmach für den Schiedsrichter. Jetzt musste dem Letzten klar sein, wie durcheinander ich war. Anstatt Brooks die Gelbe Karte zu zeigen, griff ich zu Rot. Zwar korrigierte ich mich sofort, nahm die falsche Karte weg und hielt ihm die richtige unter die Nase. Aber alle hatten den Fauxpas mitbekommen. Das war der ultimative Nackenschlag. Ich wollte nur noch, dass es vorbei ist.

Es war aber noch nicht vorbei. An der Seitenlinie regte sich Schalkes Trainer Domenico Tedesco mächtig auf. Normalerweise kriege ich das nicht mit, der Vierte Offizielle kümmert sich draußen um so etwas. Er hat einen „Push-to-talk-Button“ am Headset. Nur wenn er den Knopf drückt, höre ich etwas. Womit wir wieder bei der Technik wären. Der Knopf funktionierte nicht, ich bekam das Gezeter am Spielfeldrand in voller Länge mit, und irgendwann platzte mir der Kragen. Ich ging raus zur Trainerbank und sagte Tedesco, dass ich sein Verhalten inakzeptabel fände. Ein Wort gab das andere, wir schrien uns an, gestikulierten wild durch die Gegend. Schließlich legte ich Tedesco meine Hände auf die Oberarme, um ihn zu beruhigen. Das war keine gute Idee. In jedem Kommunikationsseminar lernt man, dass man sein Gegenüber im Streit auf keinen Fall anfassen soll. Tedesco zog seine Arme weg, und jeder im Stadion und am TV konnte sehen, welchen Stress wir miteinander hatten.

Und noch immer war es nicht vorbei. Es stand 1:1, und in der Nachspielzeit erzielte Wolfsburg noch den Siegtreffer. Das Tor war unstrittig, das schon. Aber es sorgte für erneute Unruhe und brachte zusätzliche mediale Aufmerksamkeit. Nach dem Abpfiff stürmten die Schalker, Spieler wie Verantwortliche, auf mich zu. Das Spiel war vorbei, aber jetzt ging die Reise erst richtig los. „Lasst uns das drinnen klären“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich weiß doch, was hier heute los war.“ Auch mit Trainer Tedesco sprach ich, nicht mehr ganz so emotional wie noch wenige Minuten zuvor, aber klar: Die große Versöhnung auf dem Platz blieb aus.

Da saß ich nun in der Kabine. Keiner sagte ein Wort. Stille. Innere Leere. Tiefe Enttäuschung. Und dazu die Nachrichten auf meinem Handy, zum Teil von Leuten, zu denen ich ewig keinen Kontakt gehabt hatte:

„Geiles Spiel!“

„Hast ja ordentlich Theater gehabt!“

„Da hast du ja mal richtig aufgeräumt …“

Mir war klar, ich musste mit den Reportern sprechen. Nicht, um mich zu rechtfertigen, erst recht nicht, um mich zu entschuldigen. Sondern um aufzuklären. Ich hatte mitbekommen, dass Domenico Tedesco auf der Pressekonferenz gesagt hatte, er sei von mir „durchbeleidigt“ worden. Ich musste klarstellen, dass ich ihn nicht beleidigt hatte. (Das sage ich auch heute noch. Ich war emotional und deutlich in meiner Wortwahl – beleidigt habe ich den damaligen Schalke-Trainer aber nicht.) Außerdem wollte ich die beiden Situationen, in denen der Video-Assistent eingegriffen hatte, erläutern. Von den technischen Defekten, dem ganzen Druck zu Saisonbeginn erzählte ich nichts. Ich sprach „von einem der schwersten Spiele meiner Schiedsrichterkarriere“ und ließ so einen kleinen Einblick in mein Seelenleben zu.

REGELFRAGEN

1

Nach einem Tor für sein Team jubelt der Torwart ausgiebig mit seinen Mitspielern auf Höhe des eigenen Strafraums. Ein Gegenspieler, der den Anstoß ausführt, erkennt dies und schießt den Ball nach Freigabe durch den Schiedsrichter direkt und ohne weitere Berührung ins gegnerische Tor. Zählt der Treffer? (Gerne mit Begründung!)