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Der Schatz von Ihrland

Ein Abenteuerroman

Jörg Bothe

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020– Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

Illustrationen: © Jann Bergner

ISBN: 978-3-86196-965-5 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-86196-966-2 – E-Book

*

Inhalt

Vorwort

Langeweile

Die Clique

Der Keller

Schwarz

Der Schlüssel

Verwirrung

Tollini

Die Treppe

Muttersorgen

Schwarz’ Traum

Das Floß

Die Grotte

Reisefieber

Ede und Kurt

Die Unterwelt

Einbrecher

Auftrag erledigt

Zwei Tunnel

Ihrland

Klaus der Große

Der Auftrag

Purple 1

Zwen

Fenya

Der Weg nach Ihrland

Revolution

Der Geist

Purple 2

Stunde der Wahrheit

Widerstand

Der Schatz von Ihrland

Abschied

Aufbruch

Purple 3

Zu Hause

Auch das noch ...

*

Für alle Menschen, die in Frieden

und Freiheit leben wollen, gründe

ich hier einen neuen Lebensraum.

Dies ist ihr Land.

Und so will ich es auch nennen.

Ihrland

Klaus zum Wetterfest, im Februar 1874

(Spruch auf einer Gedenktafel in Ihrland)

*

Vorwort

Ich muss es einfach erzählen. Mir wird wohl wieder mal keiner glauben, aber ich erzähle es jetzt trotzdem. Zuerst stelle ich euch mal meine Clique und mich vor.

Mein Name ist Thorsten Schmidt, meine Freunde nennen mich Torte – ihr dürft das natürlich auch. Ich bin gerade fünfzehn geworden, spiele gerne Darts und höre mit Begeisterung irische Musik. Außerdem spiele ich leidenschaftlich gerne Fußball. Na ja, so gut wie es geht, aber es hält mich wenigstens fit. Die blonden Haare und blauen Augen soll ich von meiner Mutter geerbt haben, was man auch nicht verleugnen kann. Ich wohne mit meinen Eltern und Geschwistern in einem alten Arbeiterviertel am Stadtrand. Das kleine rote Backsteinhaus ist typisch für die Gegend, die in den Fünfzigerjahren aus den Trümmern der alten Gebäude wieder aufgebaut wurden. „Klein aber fein“, sage ich immer. Was soll’s, wir fühlen uns hier wohl.

Nun zu den anderen.

Da wäre als Erstes meine Schwester Martha. Sie ist vierzehn und wird bei uns Lady genannt, weil sie immer nur in den neuesten Klamotten auf die Straße geht. Eine Jeans mit Löchern, wie ich sie meistens trage, würde sie nicht einmal anfassen, obwohl die gar nicht so schlecht aussieht. Eine schwarze Lockenmähne, ihre schlanke Figur und die übliche Kriegsbemalung im Gesicht runden das Klischee eines Amateur-Models voll ab.

Dann hab ich da noch einen Bruder, der aber nicht zählt.

Na gut, der Gerechtigkeit wegen. Er heißt Max. Wir nennen ihn Snoopy. Warum, weiß niemand. Wahrscheinlich, weil er genauso vertrottelt ist wie der Hund aus dem Comic. Wir haben öfter mal leichte Meinungsverschiedenheiten, wie das so ist bei Brüdern.

Dass ich aber immer recht habe, muss ich ihm dann mit etwas Nachdruck in Form von körperlichen Erziehungsmaßnahmen beibringen. Er ist acht Jahre alt und ganz stolz, dass er in die Schule geht. Das wird sich wohl noch ändern ...

Nun zum Rest der Clique.

Patrizia Thormann, genannt Patsy. Sie ist ein Jahr jünger als ich und mein heimlicher Schwarm. Sie hat so schöne, grüne Augen und lange blonde Haare. Eine Traumfrau, ein Engel, ein ... hach ... äh, wo war ich gleich? Ach ja! Sie wohnt gleich neben uns bei ihren Eltern in einem fast baugleichen Haus.

Eine Straße weiter im gleichen Wohnviertel lebt Gregor Steinberg, auch fünfzehn Jahre alt wie ich. Das Interessante dabei: Ich bin drei Tage älter als er, was ihn tierisch nervt. Damit kann man ihn richtig gut aufziehen, wie ihr euch bestimmt vorstellen könnt. Wir nennen ihn Greg – hört sich cooler an.

Seine Schwester heißt Melissa, in unserer Runde natürlich nicht Melissa, wie ihr euch sicher schon gedacht habt, sondern Baby. Aus einem einfachen Grund. Wir erwischen sie öfter beim Nuckeln. Und das macht man doch als Vierzehnjährige nicht mehr, oder? Sie wirkt immer ziemlich gedankenverloren und dabei ängstlich und zurückhaltend. In allen Dingen sehr vorsichtig und abwartend. Mit ihren langen rötlichen Haaren und den kleinen Sommersprossen auf der Nase kann der Eindruck aber auch täuschen. Sie kann auch schon mal sehr direkt werden. Ihre Familie ist eine der wenigen in unserer Stadt, die noch mit ihren Kuttern rausfahren und den frischen Fang dann im Hafen verkaufen.

Dann kommen wir mal zu Mark Wetterfest. Er ist mein Blutsbruder, seit wir uns damals mit acht Jahren in die Handflächen geschnitten und mit einem Handschlag unsere Brüderschaft besiegelt haben. Er ist ein Kumpeltyp, wie er im Buche steht. Immer da, wenn man ihn braucht, und immer weg, wenn es brenzlig wird (kleiner Scherz). Sein rundes Gesicht und die kurzen braunen Haare – kombiniert mit seiner kompakten kräftigen Figur – passen zu seinem gesamten Auftreten. Ein quirliger aufgeweckter Kerl. Sein Nachname schreit geradezu nach einer Verarschung. So sind wir zu einem super genialen Namen für ihn gekommen. Was bietet sich mehr an als Schlecht-Wetter? Er lässt es sich ja auch gefallen. Selbst wenn er es sich nicht gefallen lassen würde, könnte er uns nicht davon abhalten. Also, weiter geht’s. Er ist fünfzehn Jahre alt und von Beruf Witze-Erzähler. Ich kenne niemanden außer ihm, der es schafft, einer Gruppe von dreißig Leuten innerhalb von fünfzehn Minuten über einhundert Witze zu erzählen und diese dazu zu bringen, ihren Stuhl zu verlassen, sich auf den Boden zu legen und dort vor Lachen herumzurobben wie die Schlammcatcher in Aktion. Er hat einen Papagei, der einige dreckige Witze kennt, natürlich von Mark beigebracht. Sein Name ist Purple. Ich habe Mark einmal gefragt, warum der Vogel Purple heißt. Er meinte, wegen der Farbe natürlich. Ich fragte weiter nach dem Warum, weil ich keine Farbe erkennen konnte, die an violett oder lila erinnerte. „Eben darum“, antwortete Mark grinsend. Na ja, nicht meine Sache. Sein Vater hat schon vor fünfzehn Jahren das Zeitliche gesegnet. Er sagt immer, sein Pa wäre gestorben, als er seinen Sohn das erste Mal gesehen hat. Natürlich stimmt das nicht. Er ist auf dem Weg zum Krankenhaus in einen Autounfall verwickelt und tödlich verletzt worden. Marks Mutter Peggy hatte seitdem keinen anderen Mann. In letzter Zeit kommt allerdings öfters jemand zu Besuch, der sich ganz schön an sie ranmacht. Mark gefällt das natürlich überhaupt nicht. Er versucht dann, diesen Schleimbolzen, wie er ihn nennt, aus dem Haus zu ekeln. Aber dazu später mehr ... Die beiden wohnen direkt neben den Steinbergs, allerdings in einem der ältesten Häuser der Gegend, das ziemlich unbeschadet die Kriegswirren überstanden hat.

Unsere kleine Stadt liegt im Norden in einer Küstenregion, wo es gefühlt öfter regnet, als dass einmal die Sonne scheint. Egal, es zählt, was man daraus macht. Eigentlich fehlt es hier an nichts. Wir haben hier ein Kino, kleine Bistros, Kneipen und einen Irish-Pub, wo wir uns ab und zu treffen – der Wirt drückt dann mal ein Auge zu, er kennt unsere Familien schon sehr lange. Ein kleiner Fischereihafen wird hauptsächlich nur noch für den Tourismus betrieben. Unglaublich, wie viele Leute aus den unterschiedlichsten Ländern deswegen hierherkommen.

Wir haben uns gesucht und gefunden, glaube ich. Nachdem einige von uns Probleme durch das Internet in den sogenannten sozialen Netzwerken gehabt hatten, beschlossen wir eines Tages, weitestgehend auf Mobiltelefone zu verzichten. Zuerst war es echt schwierig, da uns die Teile vorher doch schon sehr viel Zeit unseres Tages geklaut haben. Dadurch wurden viele andere Sachen vernachlässigt, die man dann aber erst recht wieder zu schätzen gelernt hat. Besonders schwer fiel es vor allem unseren Mädels, Lady ganz besonders. Sie verpasst dann ja die letzten Meldungen über irgendwelche Neuigkeiten aus der Modewelt, meinte sie. Aber nach kurzer Zeit war auch sie darüber hinweg. Baby und Patsy waren genauso schnell überzeugt. Wir Jungs sowieso, weil es genügend andere Dinge zu erleben gibt. Wenn man miteinander redet und sich dabei in die Augen sehen kann, anstatt anonym zu schreiben, ist es eine Unterhaltung auf einer ganz anderen Ebene. Dazu kommt noch, dass man glaubt, die vielen Unwahrheiten kommentieren zu müssen, die über diese asozialen Netzwerke verbreitet werden. Die Leute, die so viel Langeweile haben, sollen sich da gerne mit beschäftigen und sich ihre persönlichen Daten aus der Tasche ziehen lassen, um sich anschließend mit Werbung zuballern zu lassen. Ihr Problem, nicht mehr unseres.

Tja, das also ist unsere Clique. Ein ganz lustiger Haufen. Aber genug vorgestellt! Auf geht’s in eine Geschichte, die euch hoffentlich so schnell nicht wieder loslässt ...

*

Langeweile

An einem wunderschönen Sommertag ging ich gerade durch unser Haus und war total vertieft in meinen MP3-Player, der meine Lieblingsmusik abspielte: irische Rock-Songs. Richtig coole Musik von Flogging Molly, Dropkick Murphys oder The Dubliners. Total entspannend. Opa regte sich mal wieder darüber auf, obwohl er nichts mehr hört und die Batterien seines Hörgerätes in meinem Player steckten. Ich wollte gerade meinem Bruder mal wieder ordentlich die Meinung geigen, als es an der Wohnungstür klingelte. „Moin! Schlecht-Wetter! Und das im Sommer!“, begrüßte ich Mark grinsend.

„Moin, Torte! Heute schon deinen Bruder verprügelt?“, antwortete er wie jedes Mal, wenn er mich begrüßte, und gab mir einen Klaps auf die Schulter. Er ging direkt an mir vorbei und die Treppe hoch bis auf den Dachboden, wo ich mein Zimmer hatte. Die Einrichtung bestand aus einem Poster, einem Bett, einem CD-Radio und einigen Holzkisten als Sitzgelegenheiten. Der allerletzte Schrei.

„Hast ja immer noch die gleiche Ätzbude. Du musst mal meine neue Zimmereinrichtung sehen, da klappen dir die Fußnägel hoch, sag ich dir. Der reinste Luxus!“, gab Mark von sich.

Ich hörte da gar nicht mehr hin, denn sein Luxus war eine Holzkiste mehr, auf der man sitzen konnte. Also lächelte ich ihn nur mit einem übertriebenen Gesichtsausdruck an und legte eine CD ein. Mark hat das gleiche Faible wie ich für irischen Folk-Rock, also fiel die Auswahl nicht schwer. Unser Gespräch kam ziemlich schnell auf den Mann, der in letzter Zeit häufiger bei seiner Mutter auftauchte.

„Gestern war Herr Schleimbolzen wieder bei meiner Ma. Ich sag es dir, der Mann kommt nicht ganz klar! Zufällig habe ich an der Wohnzimmertür gelauscht, ganz zufällig versteht sich. Also, wenn du das gehört hättest, wäre dir was hochgekommen! Und zwar das Frühstück von gestern!“ Er umschrieb es mit Blümchen und Herzchen: „Meine Liebste hier und Meine Liebste da! Zum Abkacken, sag ich dir!“

„Was sagt denn deine Ma dazu?“, fragte ich einfach in seinen Wasserfall von Wörtern.

„Was sie dazu sagt? Was sie dazu sagt?“ Er war inzwischen auf zweihundertsiebzig und begann, meine Holzkisten zu zerbrechen, fing sich dann aber wieder und redete weiter. „Nichts! Gar nichts! Noch weniger als gar nichts! Das ist es ja, was mich daran so aufregt. Sie wird schon genauso wie er. Wenn ich von der Schule komme, rennt sie auf mich zu und begrüßt mich mit: Na, mein Liebster, wie war es in der Schule?, und dann umarmt sie mich so ...“ Er legte seine Arme um mich und begann, mich zu würgen und zu quetschen.

Als ich ihn durchs halbe Zimmer geschleudert hatte, war seine Vorführung endlich beendet und er setzte sich wieder ruhig hin. „Über was reden die beiden denn immer?“, fragte ich Mark nach einer Weile.

„Ich weiß auch nicht. Manchmal sitzen sie stundenlang zusammen und reden über nichts anderes als über unser Haus, die alte Bruchbude.“

Ich glaube, damit hatte er nicht ganz unrecht, ich meine, das mit der Bruchbude. Das Haus wurde irgendwann um 1860 gebaut und sieht eigentlich ziemlich unbewohnbar aus, aber Peggy würde es nie aufgeben, sagt sie jedenfalls immer. Das Haus war schon seit Baubeginn in Familienbesitz. Dort am Stadtrand in fast schon ländlicher Gegend war es nicht weit zum Badesee, wo wir immer den halben Sommer verbrachten. Am See gibt es einen kleinen Wasserfall, einen schönen Sandstrand und ein paar höhere Felsen, von denen die ganz Mutigen auch schon mal runter in den See springen, um ihre Freundinnen zu beeindrucken. Hab ich natürlich noch nicht nötig gehabt, außer vielleicht zwei, drei Mal. Höchstens aber fünf oder sechs Mal ... Ich meine, ich hab irgendwann aufgehört, zu zählen. Außerdem hat es nichts gebracht. Egal ... Jedenfalls war es von hier aus auch nicht weit zum kleinen Hafen und zum Meer. Vielleicht war die Lage der Grund für den Schleimbolzen, immer wieder über das Haus zu sprechen. Es wurde spekuliert, dass dort in dem Viertel ein großes Einkaufszentrum oder irgendwas mit Hotels oder Tourismus gebaut werden sollte. Einige Bewohner haben wohl schon unterschrieben, andere wehren sich noch und wieder andere wollen nicht verkaufen. Wie zum Beispiel die Mutter von Mark. Noch nicht, wie er immer wieder betont. Er muss es ihr wohl immer wieder ausreden.

„Er redet immer über eure Supervilla? Wieso das denn? Will er sie jetzt etwa doch kaufen?“, fragte ich ihn und räumte die Überreste meiner Holzkiste in eine Ecke.

„Keine Ahnung. Soll er doch. Das Haus ist so feucht, dass du mit den Mausefallen Fische fangen kannst. Und wenn tatsächlich mal eine Maus in der Falle sitzt, hat diese auf jeden Fall Schwimmhäute zwischen den Krallen. Wenn draußen die Sonne scheint, kannst du in der Küche einen Regenbogen bestaunen. Andererseits könnten wir von dem Geld für die Hütte vielleicht eine neue Wohnung mieten oder sogar kaufen!“

Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile über die Vor- und Nachteile eines Verkaufs und kamen doch immer wieder zu dem Schluss, dass auf jeden Fall nicht verkauft wird. Schließlich machte sich Mark auf den Weg nach Hause.

Ich dachte noch ein wenig darüber nach, was den Herrn Schleimbolzen antrieb, um sich so nach dem Haus zu erkundigen. Na ja, er würde schon seinen Grund haben. Ich ging runter ins Wohnzimmer, um dort zu telefonieren.

Mir war langweilig und ich wollte mal bei Steinbergs anrufen, um mit Greg zu sprechen. Es meldete sich – wie immer – Melissa, weil sie praktisch mit dem Telefonhörer in der Hand geboren worden war. Sie hoffte doch tatsächlich jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, dass ihr Lieblingsstar Robbie Williams sie einlud, um mit ihr ein Eis zu essen.

Also sprach ich: „Guten Tag, Sie sprechen mit dem Privatsekretär der Manager der Produktionsgemeinschaft aller Länder zur Organisation Rettet die Schallplatten zugunsten der Mutter von Robbie Williams. Hätten Sie morgen Abend um 20.00 Uhr Zeit für einen kleinen Plausch mit Herrn Williams?“

Kurze Zeit war nichts zu hören, doch dann: „Thorsten! Du Arschloch!“ Das sagte sie immer so geschwollen, wenn sie ein wenig aufgeregt war. Dann knallte es einmal kräftig am anderen Ende der Leitung und unser Telefon gab nur noch ein monotones Piepen von sich. Ich wählte noch einmal die Nummer und diesmal meldete sich Greg sofort. Ich fragte ihn, was er heute noch so vorhabe.

„Och, nix eigentlich“, war seine gelangweilte Antwort.

„Aha“, entgegnete ich und fuhr geheimnisvoll fort. „Wollen wir uns an unserem geheimen Treffpunkt versammeln?“

„Ja klar!“ Das klang schon ein wenig spontaner.

„Sagen wir, in einer halben Stunde? Ich sage den anderen gleich Bescheid.“

Er war sofort hellwach.

*

Die Clique

Ich machte mich bereit, das heißt, ich zog mir unsere Klubjacke an – eine schwarze Baseballjacke mit weißen Ärmeln und dem Anfangsbuchstaben des jeweiligen Trägers auf der Brust –, schnappte mein Mountainbike und wollte gerade losfahren, als sich plötzlich meine Schwester meldete.

„Torte! Warte auf mich! Ich weiß genau, wohin du willst und ich komme mit!“

Sie wusste, wohin ich wollte, weil ich meine Jacke angezogen hatte. Mein Fehler. „Ach, ich hatte ganz vergessen, dass du auch zu Hause bist“, entgegnete ich scheinheilig. Sie grinste nur, streckte mir ihren Mittelfinger entgegen und zog sich um.

Wir machten uns also auf den Weg zu unserem geheimen Platz. Es handelt sich hierbei um den Brunnen im Stadtgarten. Unheimlich geheim, nicht wahr?

Hier in der Innenstadt herrschte reges Treiben. Die Urlaubszeit zog viele Besucher von außerhalb an. Man konnte sie sofort erkennen. Die einen an den auseinandergefalteten Stadtplänen, die planlos in die Weite blickten. Die anderen, die sich ein Stück weiter am alten Hafenbecken vor den Fischerbooten positionieren und sich fotografieren ließen. Eindeutig wurde es aber bei den Leuten, die sich am Hafen Fischbrötchen kauften, die dann kurze Zeit später von den Möwen direkt aus ihren Händen geklaut wurden. Wieder andere blieben mitten auf der Straße stehen und starrten hoch zum Rathausturm, wo ein Glockenspiel sie andächtig erstarren ließ. Der Verkehr rund um den Stadtgarten nahm Jahr für Jahr zu und es wurde irgendwie immer ungemütlicher und lauter an diesem eigentlich zum Verweilen einladenden Platz. Die Touristen fanden es trotzdem schön hier, was ich auch irgendwie nachvollziehen konnte.

Als wir am Brunnen ankamen, war der Rest der Gruppe bereits da. Patsy, Greg, Baby und natürlich auch Mark, der sich angeregt mit einem älteren Herrn unterhielt. Ich setzte mich neben ihn, nachdem ich alle begrüßt hatte.

Dann lauschte ich dem Gespräch zwischen Mark und dem Fremden.

„... ehrlich, ich sag’s Ihnen! Unser Englischlehrer ging zu unserer Sportlehrerin in die Dusche! Ich konnte es genau durch ein Fenster sehen. Aus Versehen natürlich, war also keine Absicht, da reinzugucken, meine ich ... Und was soll ich sagen, der Mann war nackig. Ehrlich! Und dann hat er sie so umarmt. Ungelogen!“ Er umschlang den Fremden mit beiden Armen und drückte ihn fest an sich.

Ich versuchte, mir vorzustellen, was der gute Mann wohl von ihm dachte, gab den Gedanken aber gleich wieder auf.

„Aber so richtig!“, bekräftigte Mark noch einmal.

Dann stand der Mann schließlich kopfschüttelnd auf und ging, ohne ein Wort zu sagen. Mark drehte sich zu mir um und zuckte nur mit den Schultern. „Das ist heute schon der vierte Typ, der mir nicht glaubt. Verstehst du das?“

„Mit mir sind’s dann wohl fünf“, antwortete ich und klopfte ihm mitleidig auf die Schulter. „Was wollen wir machen?“, fragte ich in die Runde, doch keiner meldete sich. Dann sah ich von Weitem das Unheil in Gestalt meines Bruders Max auf einem BMX-Rad herannahen. Beiläufig bemerkte ich: „Ich weiß schon, was ich jetzt mache, aber dabei könnt ihr mir nicht helfen. Alleine macht das mehr Spaß.“

„Wenn du mal für einen Tag deinen Bruder in Ruhe lassen würdest, könnte das nicht nur eurem, sondern auch unserem Verhältnis guttun!“, sagte Patsy.

Ich dachte noch kurz über das Wort Verhältnis nach, dann begrüßte ich Max. „Na, kleiner lieber Bruder?“, schleimte ich geschwollen, stand auf und nahm ihn übertrieben liebevoll in den Arm.

„Verarschen kann ich mich auch alleine, du Blödmann!“, sagte er und trat mir vor mein Schienbein.

„Jetzt pass mal genau auf, Snoopy“, wollte ich eine handfeste Unterhaltung beginnen, überlegte es mir dann aber doch mit einem Blick auf Patsy und setzte mich humpelnd wieder hin. Max streckte mir noch die Zunge raus und fuhr dann davon. „Bis später“, rief ich ihm mit zusammengebissenen Zähnen hinterher.

„Wie wäre es denn, wenn wir zu mir nach Hause fahren?“, fragte Mark, „Ich hab die neue CD von Flogging Molly, die könnten wir uns gemütlich reinziehen.“

„Muss das sein? Wir könnten doch auch zu uns fahren und eine CD von Robbie ...“

„Alles klar, fahren wir zu Mark!“, unterbrachen wir Jungs einstimmig Melissas Vorschlag. Ohne ihr Gemecker weiter zu beachten, stiegen wir auf unsere Räder und fuhren los.

Als wir am Haus der Wetterfests ankamen, sahen wir einen großen, blank polierten schwarzen Mercedes in der Einfahrt stehen. „Ach nee“, gab Mark von sich, „Herr Schleimbolzen ist wieder über unsere Türschwelle gerutscht. Wir brauchen nur der Schleimspur zu folgen.“

Alle grinsten sich belustigt an, da wir Marks Witze ja kannten und jedes Mal nicht ernst nahmen. Als wir dann ins Wohnzimmer kamen, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Denn das, was wir dort auf dem Sofa neben Peggy sitzen sahen, war nichts anderes, als ein schleimiger Bolzen, ein Schleimbolzen eben. Ein Typ im schlecht sitzendem weißen Mafiaanzug mit rotem Einstecktuch in der Brusttasche. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Die schwarzen Haare waren mit Gel so eng an den Kopf geklebt, dass man meinen konnte, er wäre gerade aus einem Ölbad gestiegen. Die Stirn war feucht vom Schweiß, den er sich alle zehn Sekunden mit einem Taschentuch abtupfte. Auf mich wirkte er irgendwie nervös.

„Hey Kids!“, grinste der Mann uns an, hob übertrieben den Arm und machte das Victory-Zeichen. Wir nickten ihm nur zu.

Mark gab seiner Mutter einen übertrieben großen Schmatzer auf die Wange und ignorierte die erhobene Hand des Gastes, die bereit war, mit ihm abzuklatschen. „Wir gehen in mein Zimmer, Ma“, sagte er zu ihr und drehte sich wieder zu uns um. „Lasst uns!“

„Hey Kids!“, rief der Schleimbolzen hinter uns her. „Ihr müsst wohl noch Hausaufgaben machen, wie? Macht sie bloß ordentlich, ich werde sie nachher korrigieren, hahaha.“

Purple saß in seinem Käfig und beobachtete stumm das Geschehen. „Hahaha!“, machte er dann den Schleimbolzen nach. Wir grinsten uns an und gingen weiter.

„Das heißt doch inhalieren, oder nicht?“, fragte Mark mich.

„Oder ignorieren?“, blickte ich ihn fragend an. „Vielleicht weiß er ja wirklich nicht, das gerade Ferien sind. Er sollte jemanden fragen, der sich mit so etwas auskennt!“

„Diese Antwort ist korrekt, Herr Schmidt!“, sagte Mark und ging in den Keller, wo er sein Zimmer hatte. Wir folgten ihm durch den Flur, an dessen Wänden sich bereits einige Tapeten lösten. Die alten Bretter des Holzfußbodens knarrten unter unseren Schritten.

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Der Keller