Aus dem Amerikanischen von

Clauria Rapp

Grimma

Buchheim Verlag

2020

Deutsche Erstausgabe

ISBN: 978-3-946330-15-8

ISBN E-Book: 978-3-946330-19-6

© 2020 Buchheim Verlag, Olaf Buchheim, Grimma

Alle Rechte vorbehalten

Covermotiv: benSwerk

Lektorat: Claudia Pietschmann

Satz im Verlag

www.buchheim-verlag.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Westlake Soul

Copyright © 2012 by Rio Youers

published in agreement with the author,

c/o BAROR INTERNATIONAL, INC.,

Armonk, New York, U.S.A.

Für Emily

Zehntausend Fahrenheit

Teil 1 – Fauler Apfel

1

Keinen Mucks

Irgendwo schreibt irgendwer dies auf. So viel weiß ich; ich bin ein (quasi) lebendiges, atmendes Genie. Ich strecke die Hand aus und lasse es geschehen – direkt hier, vom Gemüsebeet aus. Das konnte nicht einmal Albert Einstein. Der Typ war krass mit seinen Atombomben und der Relativitätstheorie, aber konnte er etwa mit Hunden sprechen? Und Goethe … Niemand nutzte seine zehn Prozent des Eisbergs erfolgreicher als er, aber wenn es darum ging, das Ego und die Identität anzuzapfen, war er wie jeder andere von euch.

Mein Name ist Westlake Soul. Ich weiß, was ihr jetzt denkt … Mit einem solchen Namen könnte ich auch zu den Backgroundsängern von Gladys Knight gehören. Einer ihrer Pips. Aber ich bin kein Pip. Ich bin ein dreiundzwanzigjähriger ehemaliger Surfchampion (Billabong Classic 2007, Ride the Barrel 2008). Ich wohne in Hallow Falls, Ontario, mit meinen Eltern, meiner kleinen Schwester und unserem Hund, Hub. Ihr wollt eine Personenbeschreibung? Stellt euch Stephen Hawking vor. Jetzt denkt euch die Brille weg und verpasst ihm einen Haarschnitt, der an Kurt Cobain erinnert. Das ist ziemlich nah dran.

Ich bin allerdings schlauer als Hawking. Viel schlauer. Er hat Schiss, einen IQ-Test zu machen, aber ich kann euch verraten, dass er irgendwo um hundertsechzig liegen würde. Ich? Mann, ich würde das Messgerät zum Explodieren bringen. Die Wechsler-Skala, mit der die Intelligenz eines Erwachsenen gemessen wird, ist für einen Verstand wie meinen nicht gemacht. Sie würde hochgehen wie ein Wetterhahn in einem Tornado. Wie ein Thermometer auf der Sonne.

Alle Superhelden bekommen ihre Superkräfte irgendwoher. Der Biss einer radioaktiv verseuchten Spinne. Ein misslungenes Experiment. Ich habe meine von einem Surfunfall in Tofino. Der ultimative Wipeout. Aufgewacht bin ich mit dem mächtigsten Verstand auf dem Planeten, aber einem Körper wie ein nasser Sack. Der Tausch gefällt mir gar nicht, doch so ist das Leben. Ich gebe mich allerdings nicht damit zufrieden … Durch einen Schlauch ernährt zu werden, mit dauerhaft hängender Unterlippe – ich sabbere, verflucht noch mal. Ich werde mein Superhirn benutzen, um mich aus diesem Zustand zu befreien.

Das mit der Rettung der Welt könnt ihr vergessen.

Ich will bloß wieder surfen.

2

Loslassen

Der Ozean ist 621,2 Kilometer weit entfernt, aber ich kann ihn sehen, wann immer ich will. Ich muss lediglich meine Seele nach außen projizieren, was ohne die Ablenkungen des bewussten Verstandes ganz einfach ist. Stell dir vor, du hältst eine Feder vor einen elektrischen Ventilator und lässt sie dann los. Wenn du dich auf die Feder konzentrierst, oder auf den Luftstrom des Ventilators, dann wird das nichts. Wenn du dich auf das Loslassen konzentrierst – auf den exakten Moment des Ausklinkens –, dann schaffst du es.

Ich werde dir eine ganze Menge cooler Sachen zeigen.

Komm mit mir …

Das aufgewirbelte blaue Meer und Gischt, die wie ein Lächeln flimmert. Der Ozeangeruch, der dich einhüllt, der wiederkehrende Refrain sich brechender Wellen, und Möwen, die sich mit ihren Flügeln in die Thermik legen. Ein Katamaran gleitet über das Blau, die Segel voller Leben, und weiter draußen – meilenweit draußen, denn ich kann meine Seele so weit ausstrecken, wie ich will – taucht ein Buckelwal auf. Sein narbiger, muskulöser Leib dreht sich in der Luft. Umschlinge die Finnen auf seinem Rücken und reite mit mir. Spüre es, sei es. Das bist du. Kein Mensch, kein Gas, kein Licht. Du bist dieser Moment des Loslassens, verbunden mit dem Leben. Das Wasser rauscht durch dich hindurch und der Körper des Wals singt. Du drehst dich in einer Spirale abwärts und tauchst. Sein Herzschlag bringt dich zum Leuchten.

Was sollte ich sonst machen? Die verfluchte Decke über mir anstarren? Den Kopf zur Seite rollen und die verfluchte Wand anstarren?

Also bitte.

Okay, das ist nicht ganz fair. Meine Eltern haben ihr Bestes getan, mein Zimmer cool und gemütlich zu machen. Richtig groovy, meinte meine Mom, als sie mit der Umgestaltung fertig waren. So weit würde ich nicht gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Earth, Wind & Fire hier lange würden abhängen wollen. Das Dekor soll anregend wirken. Es gibt eine Menge fröhlicher Farben. Ein Gelbton von Benjamin Moore, der »Little Angels« heißt. Die Decke ist in »Surf City«-Blau gestrichen. In der Ecke steht ein eiförmiger Sessel, der an den erinnert, in dem Mork immer saß, wenn er Orson anrief. Ein paar Sitzsäcke. Bilder von mir an den Wänden, beim Surfen, beim Eishockeyspielen und als ich Patrick Swayze traf. Ein Fenster mit Blick auf den rückwärtigen Garten. Regalbretter, auf denen all meine Surftrophäen stehen. Eine Yuccapalme in der anderen Ecke, die mich mit ihren saftigen, gesunden Blättern verhöhnt.

Ich will gar nicht zynisch klingen. Ich bin aufrichtig dankbar für die Liebe und Fürsorge, die mir zuteilwird, aber ich weiß eben auch, dass diese groovy Rundumerneuerung weit mehr für meine Eltern gedacht war als für mich. Sie redeten sich ein, dass die Farben und Trophäen dabei helfen könnten, mich aufzuwecken, dabei glaubten sie selbst keine Sekunde daran. Sie haben diese verrückte Vorstellung – und verdammt, die haben alle außer Hub –, dass ich weder Schmerzen noch Gefühle habe, weil ich nicht auf Stimulationen reagiere. Warum sich also die Mühe machen, die Decke blau zu streichen oder Bilder von mir aufzuhängen, auf denen ich durch Wellentunnel gleite? Scheiße, man braucht kein Superhirn, um diese Frage zu beantworten. Das haben sie gemacht, weil es deprimierend ist, mit mir zusammenzuleben. Geradezu herzzerreißend. Es macht keine Freude, mir den Sabber vom Kinn zu wischen und mich grunzen zu hören. Die Farben heben die Stimmung. So einfach ist das.

Ich habe auch einen Rollstuhl. Der ist mit Polstern ausgestattet, die dafür sorgen, dass mein Kopf nicht allzu sehr herumwackelt. Dass er nicht in die Rinne rollt, nennt mein Dad das. Wie beim Bowling, wenn die Kugel von der Bahn abkommt. In der Regel werde ich einmal am Tag ins Wohnzimmer geschoben. Nur für eine Stunde oder so, dann geht es zurück in meine groovige Buchte. Wenn das Wetter schön ist, bringen sie mich raus auf die hintere Terrasse. Ich weiß nicht genau, wieso, wo sie mich doch für empfindungslos halten. Eigentlich weiß ich genau, wieso. Es soll helfen, ihre Schuldgefühle zu lindern. Sie schämen sich nicht ganz so sehr, sich zu amüsieren, wenn ich mit zu viel Sonnencreme auf meinen Armen draußen an der frischen Luft sitze. Ich weiß, auch das klingt zynisch, aber so ist es einfach.

Im letzten Sommer hatten sie sich an einem Tag sogar so sehr amüsiert, dass sie mich vollkommen vergessen haben – mich fast die ganze Nacht auf der verdammten Terrasse stehen ließen. Dad hat sich mit billigem Bier betrunken, Mom war auf Crown Royal. Sie saßen im Wohnzimmer und schauten sich Müll im Fernsehen an, während meine Schwester in ihrem Zimmer war und jemandem über Skype ihre Möpse zeigte. Ich wartete … und wartete. Meine Schwester schaltete ihre Webcam ab und ging ins Bett mit ihrem iPod, aus dem Lil Wayne dröhnte. Mom bekam Frühlingsgefühle und zerrte Dad mit sich ins Schlafzimmer. Jetzt stand ich vor einem Dilemma: Sollte ich warten, ob ihnen irgendwann wieder einfiel, dass sie mich auf der Terrasse gelassen haben, oder sollte ich lieber versuchen, ihnen ein telepathisches Memorandum zu senden? In beide Möglichkeiten setzte ich nicht allzu viel Hoffnung; ich bin nicht gerade ein Ass in diesem Professor-X-Ding – also Gedankenkontrolle (gehört nicht zu meinen Superkräften) –, und obwohl ich in ihre Köpfe springen kann, wann immer ich will, tue ich das überhaupt nicht gern. Ihre Gedanken sind mir zu nah, zu persönlich. Haben deine Mom oder dein Dad je mit dir über Sex geredet? Ihren Sex, meine ich. Dein Vater hatte diesen Pontiac Catalina und wir mussten es damals immer auf dem Rücksitz des Wagens treiben. Oder: Deine Mutter war früher ein richtiges kleines Luder, weißt du das? Igitt, richtig? Das willst du nicht hören, richtig? Tja, ungefähr so ist das, nur tausendmal schlimmer.

Also habe ich Hub aufgeweckt. Ich sagte ihm, er solle bellen wie Lassie oder so was. Das hat er gemacht. Er kratzte sogar an der Schlafzimmertür meiner Eltern. Aber der Lohn für seine Mühe war ein Arschtritt meines alten Herrn.

Das lief nicht wie geplant, sagte Hub zu mir.

Die Mücken waren inzwischen in Heerscharen unterwegs. Ich hatte sogar einige von ihnen in meinem Mund. Also streckte ich die Hand aus und klopfte bei Dads Verstand an. Nur ganz kurz, dann rannte ich davon, bevor ich sehen konnte, woran er dachte. Dad war zu diesem Zeitpunkt dabei, es Mom zu besorgen. Ein dümmlicher Ausdruck auf seinem Gesicht, Schweißtropfen im Bart. Dann hörte er praktisch mitten im Stoß auf.

»Was ist los?«, fragte Mom.

»Ich bin nicht sicher«, keuchte Dad mit glasigem Blick.

»Bist du schon gekommen?«

»Nein … Hast du den Herd ausgeschaltet?«

»Was?«

»Vergiss es«, beruhigte Dad sie und fuhr mit der Rammelei fort.

Ich war ziemlich angepisst, wie du dir vorstellen kannst. Nicht weil ich draußen gelassen worden war und die Mücken feierten, als wären sie mitten im verdammten Karneval, sondern weil sie mich vergessen hatten. Und mit einem Mal wollte ich gar nicht mehr, dass ich ihnen wieder einfiel. Ich wollte, dass sie am kommenden Morgen aufwachten und mich mit Tau auf den Lidern und einer Raupe im Mund fanden – dass die Schuldgefühle wie ein Tsunami über sie hereinbrechen, sie erdrücken und in die Tiefe hinabzerren würden und sie sich noch wochenlang richtig beschissen fühlten. Nicht weniger, als sie verdienten.

Hub fragte, ob er es noch einmal mit Bellen versuchen sollte. Nein, wehrte ich ab. Scheiß auf sie. Und dann ließ ich los … Ich flog davon. Ich flog zum Ozean und schwamm im Mondlicht mit Delfinen.

Jedenfalls fing Hub doch wieder an zu bellen. Mir sagte er, dass er einfach noch mal zum Pinkeln rausmüsse, aber das kaufte ich ihm nicht ab. Der Junge passte auf mich auf. Dad fluchte und stand auf, ließ den Hund raus und bemerkte endlich, dass ich auf der Terrasse saß.

»O Gott Scheiße«, stieß er hervor. »Scheiße, Gott.« Er schob mich zurück nach drinnen. »Es tut mir leid, Wes. Wir haben einfach …«

Ja. Ihr habt mich vergessen. Ich weiß. Arschloch.

Sie haben mich nur ein einziges Mal vergessen, aber es gab noch einen anderen peinlichen Moment dort draußen. Auch da saß ich auf der Terrasse und dachte über die Schlichtheit der Riemann-Hypothese nach (was man eben so macht), als ein Vogel auf meinem Kopf landete. Es war zu allem Überfluss ein Goldzeisig. Das sind die arrogantesten Vögel von allen.

Was zur Hölle soll das?, fragte ich. Entschuldigung … Vogel … würdest du wieder verschwinden?

Der Zeisig plusterte die gelben Federn auf. Entspann dich, Alter, sagte er. Ich muss nur kurz verschnaufen. Bin den ganzen Tag geflogen, kein Grund, rot anzulaufen.

Äußerlich zeigte ich keinerlei Reaktion, aber innerlich blieb mir der Mund offen stehen.

Entschuldige mal, erwiderte ich. Hast du mir wirklich gerade einen Reim um die Ohren gehauen?

Ein himmelweiter Unterschied zwischen Reimen und Gesang. Ich dachte, du wärst klug, aber das war wohl mein voreiliger Überschwang.

Ich diskutiere jetzt sicher nicht die Grundlagen der Lyrik mit dir, empörte ich mich. Verpiss dich einfach von meinem Kopf.

In diesem Moment kam meine Schwester Niki (die Kurzform von Phereniki – meinen Eltern haben sie ins Gehirn geschissen) aus dem Haus. Sie laberte ins Handy und versuchte, amerikanisch zu klingen, obwohl sie aus einer Kleinstadt in Ontario stammt.

»Und ich so: echt jetzt?«, ereiferte sie sich und verdrehte dabei die Augen. »Und er so: echt jetzt?« Sie warf mir einen Blick zu und stockte wie die Figuren in einem Comic, wenn sie zweimal hinsehen müssen.

»Omeingott«, hauchte sie. Es war ein Wort. In der Denkblase über ihrem Kopf stand OMG. Im nächsten Bild stand dort LMFAO, denn sie fing an, brüllend zu lachen. »Westlake hat wirklich, also in echt einen Vogel auf dem Kopf.«

Und ich so: echt jetzt?

»Kein Witz, ich schwöre«, sagte sie. »Ich mache ein Foto und schicke es dir in echt gleich per E-Mail.«

Sie machte in echt ein Foto und schickte es ihrer Freundin per E-Mail. Dann machte sie noch eins und postete es in echt auf ihrem Facebook-Profil.

»Mom … Dad«, kreischte sie. »Kommt schnell. Westlake hat einen Vogel auf dem Kopf.«

Also kamen Mom und Dad aus dem Haus und fingen ebenfalls zu lachen an.

Bist du jetzt zufrieden?, fragte ich den Zeisig.

Sei nicht so ein Spießer, erwiderte der Vogel. Das hat doch gepasst. Ist schon lange her, dass du sie zum Lachen gebracht hast.

»Kann man mit dem Ding Videos aufnehmen?«, wollte Dad wissen und zeigte auf Nikis Handy.

»Aber klar doch«, erwiderte sie und begann zu filmen.

»Unbezahlbar«, fand Dad.

Mom schlug Dad spielerisch tadelnd auf die Schulter, wischte sich die Lachtränen aus den Augen und tat dann endlich das, was anständige Menschen tun würden. Sie scheuchte den Vogel weg.

Verschwinde, du kleiner Zwitscherarsch, sagte ich. Verpiss dich endlich.

Er flog als gelbes Flattern davon und schimpfte mich in Reimen aus wie eine Vogelversion von Dr. Seuss.

Ist doch kein Wunder, dass ich loslasse. In meinem Körper bin ich gefangen, nicht aber in meinem Geist. Das fühlt sich an wie ein Rennpferd hinter einem Starttor, schnaubend und tänzelnd, und ich muss lediglich das Gatter öffnen. Dann stürmt das Pferd davon. Nichts kann es aufhalten. Zum Meer. In die Berge. Wohin auch immer. Es ist wild, stark und schnell.

Wenn ich loslasse, begebe ich mich nicht immer an exotische Orte. Manchmal hänge ich mit meinen alten Kumpels ab, die durch Hallow Falls cruisen oder in Klubs gehen. Allerdings macht mich das traurig, weil ich nicht körperlich bei ihnen bin. Und obwohl meine Familie ein Haufen liebenswerter Nervensägen ist, gehe ich auch häufig ins Zimmer nebenan … sitze neben Dad, wenn er sich illegal Musik runterlädt oder World of Warcraft spielt. Oder ich sehe Mom dabei zu, wie sie liest oder die Pflanzen gießt. Sie singt für sie, ganz leise, und das gefällt mir.

Aber was mir noch mehr gefällt, ist die Tatsache, dass sie sich natürlich verhalten. Es gibt keine falschen Hoffnungen. Sie sind an Orten, an denen sie nicht über mich nachdenken, weil sie nicht über mich nachdenken müssen. Genau so sehe ich sie am liebsten. Das wärmt mir das Herz. Das ist so wunderschön.

Und dann der Ozean. Die Emotionen der Welt. Manchmal ruhig. Manchmal wütend. Immer tief. Wo es begann – das Leben auf der Erde. Wo es enden wird. Dort gehe ich hin, wenn mein Zimmer einfach nicht groovy genug ist. Ich stürze mich in seine trüben Tiefen und erinnere mich daran, wie es sich angefühlt hat, ihn zu reiten. Das Leben unter meinem Board zu spüren. Aquamarinblau in meiner Lunge. Salz in meinen Haaren. Der Wellenkamm, der über mir einen perfekten Bogen beschreibt, mich umfängt wie der Flügel Gottes.

3

Wie man einen Superhelden erschafft

Ich habe eine klare Vorstellung von Vollkommenheit. Das vogelartige Gewicht ihrer Hand in meiner. Ihr Atem so süß, beinahe Karamell. Die Art, wie ihre Lippen über meine Haut tanzten, und die Wünsche in ihren Augen – meine Wünsche, die mir noch gewährt werden sollten.

Nadia Charles. Ein Name wie der eines Bond-Girls. Sie sah aus wie ein Bond-Girl, mit einem Wirbel aus schwarzen Haaren und einem Körper, der so ebenmäßig war, dass man denken könnte, sie wäre in den Händen eines Bildhauers entstanden. Verdächtige Schönheit. Ich besitze all meine Erinnerungen an sie, lebhaft genug, um sie jederzeit heraufbeschwören zu können (einer der Vorteile, wenn man sich in das zurückgezogen hat, was Jung das persönliche Unbewusste nannte und was ich als Secondhand-Realität bezeichne). Meine liebste Erinnerung ist gleichzeitig die, die am meisten schmerzt. Unser letzter gemeinsamer Morgen. Das letzte Mal, dass wir miteinander geschlafen haben. Das letzte Mal, dass ich ihre Lippen spürte.

Ich lasse das oft wieder aufleben; der Schmerz hilft mir dabei, mich normal zu fühlen.

»Baby«, hatte sie mich gebeten, »öffne doch die Jalousien ein Stück. Ich liebe es, wenn die Sonnenstrahlen alles rosa färben.«

Wir hatten Urlaub in Tofino gemacht, in British Columbia. Drei Wochen Strandleben. Ich, mein bester Freund Darryl und unsere Mädchen. Den ganzen Tag auf dem Board, abends richtig geile Partys. Das Donnern und Rauschen des Pazifik. Das Ploppen von Bierflaschen. Die Art Musik, bei der man nicht still sitzen kann, sondern tanzen muss. Es sollte der beste Sommer aller Zeiten werden, an den wir uns so lange zurückerinnern würden, bis uns unser Erinnerungsvermögen im Stich ließ.

Früher Morgen, Dämmerung. Nadia war gerade aufgewacht. Ihre dunklen Augen hatten diesen zerknitterten, verschlafenen Ausdruck. Bezaubernd. Ich öffnete die Jalousien nur einen Spalt weit und schräge Streifen rosafarbenen Lichts flossen in unser Zimmer, berührten ihren Körper wie die Linien auf einem Notenblatt. Ich küsste sie. Willkürlich aufeinanderfolgende Töne, einer Katze ähnlich, die über die Tasten eines Klaviers läuft.

»Hier«, sagte sie und öffnete sich mir.

Unzählige Klischees. Bei ihr fühlte ich mich lebendig. Sie war der Ozean. Die Zeit stand still. Alles, was ich mir je gewünscht hatte. Die Wahrheit ist, dass all diese Klischees zutrafen. Aber es gab noch viel mehr, all die kleinen Dinge, die man nicht in Worte fassen kann. Die Art, wie unsere Zähne manchmal gegeneinanderstießen, wenn wir uns küssten. Unser ähnlich klingendes Lachen. Dass wir immer die Ersten auf der Tanzfläche waren. Wie sie darauf bestand, mir den Reißverschluss meines Neoprenanzugs runterzuziehen, weil sie es gern sah, wenn das eng anliegende Material aufklaffte und meine trainierten Nacken- und Schultermuskeln enthüllt wurden. Und so weiter und so weiter … All die Dinge, die uns definierten.

»Ich will deine Seele sein«, sagte sie, nachdem wir uns zum letzten Mal geliebt hatten.

»Nadia Soul?«, fragte ich.

»Mir gefällt, wie das klingt«, erwiderte sie.

Ich lächelte und ließ meinen Finger nach unten gleiten; von der Kuhle an ihrer Kehle bis hinunter zu der Stelle, an der das Schamhaar zu wachsen begann. Ich hinterließ einen Pfad in unserem Schweiß, der das rosige Licht einfing wie ein Streifen aus Chrom.

»Mir gefällt auch, wie das klingt«, stimmte ich zu.

Sie war neunzehn, ich einundzwanzig. Wir hatten uns im Sommer zuvor beim Skate-Krazy-Turnier in Toronto kennengelernt. Ich würde es zwar nicht Liebe auf den ersten Blick nennen, aber Nadia war definitiv cool auf den ersten Blick. Eines der Mädchen, die dein Ego zum Schnurren bringen. Sie war die DJane für den Vorentscheid der Männer. Den Kopfhörer von Allen & Heath hatte sie lässig auf einem Ohr geparkt, während sie mit irren Effekten und Backspins auf den Jubel der Menge reagierte. Sie trug ein weißes Bikini-Oberteil und einen Jeansrock, Sonnenbrille von Donna Karan. Das Rip Curl-Logo als Arschgeweih. Ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack.

Ich sprach sie auf der Party an. Sie war mit einem Schlägertypen namens Farley zusammen. Stell dir einen Kerl in deinem Fitnessstudio vor, der gerade einmal dreißig Sekunden mit Schwergewichten und ein paar Wiederholungen verbringt und danach zehn Minuten lang vor jedem verfügbaren Spiegel posiert, stolziert, die Muskeln spielen lässt. Genau so einer ist Farley. Ich musste mich nicht vorstellen; Nadia wusste, wer ich war. Anscheinend waren wir Freunde auf Facebook. Farley schüttelte meine Hand und drückte viel zu fest zu. Ich lächelte ihn an, um ihm klarzumachen, dass alles easy war, obwohl ich natürlich die feste Absicht hatte, seine Freundin mit der SuperPoke!-App auf Facebook anzustupsen.

Ich tat es und warf ein Schaf nach ihr. Sie warf ein Huhn zurück. Ich legte einen Chest Bump nach, den sie mit einem High Five beantwortete. Dann kitzelte ich sie und sie warf mir einen Luftkuss zu.

Farley sah, was wir taten. Natürlich. Er reagierte mit seinem eigenen SuperPoke, verpasste mir einen Roundhouse-Kick, woraufhin ich seinen BH-Träger schnappen ließ. Er antwortete mit einem Dropkick, ich warf ein ShamWow auf ihn.

Daraufhin bekam ich eine Privatnachricht von Farley. Ohne Betreff, nur eine Warnung voller Rechtschreibfehler: Pass beser auf was du als nächtes tust du aroganter Witzbolt.

Ich entfreundete und blockierte ihn, warf aber vorher noch einen Ninja-Wurfstern nach ihm. Dann schrieb ich Nadia eine Privatnachricht: Dein Freund scheint wütend auf mich zu sein. Schätze, er mag es nicht, wenn ich dich anstupse. Sie schrieb zurück: Er ist nicht wirklich mein Freund. Nur ein Kerl, der gern mein Freund wäre. Und ich mag es, wenn du mich anstupst. Nicht aufhören.

Der Rest geschah schnell und mühelos. Dreizehn Monate Liebe, die mit einem virtuell geworfenen Schaf begann und mit rosafarbener Morgensonne endete. Natürlich hatte ich keinen Schimmer, dass es das Ende war. Ich glaubte, wir wären immer noch ganz am Anfang.

Während unserer letzten gemeinsamen Momente zeichnete ich mit meinem Finger Sterne um Nadias Brustwarzen und dachte darüber nach, wie unglaublich gut ihre Haut roch, wie perfekt die Sonne sie gebräunt hatte. Sie stellte sich währenddessen (damals ahnte ich es nicht einmal, aber jetzt weiß ich es) unsere Hochzeit vor. Irgendwo, wo es heiß war. Am Strand. Sie trug einen weißen Sarong, eine Orchidee im Haar. Ich hatte eine gehäkelte Rastafari-Mütze auf, Bermudashorts und Espadrilles an. Unser Page hatte kaffeebraune Haut und Dreadlocks. Die Zeremonie leitete Reverend Al Green.

»Willst du los?«, fragte sie.

Ich hörte, wie der Ozean nach mir rief.

»Ja.«

»Es ist noch früh«, sagte sie.

»Das ist die beste Zeit. Keine Anfänger im Weg. Da lassen sich sicher ein paar gute Roller erwischen.«

Sie berührte meine Brust. »Du kannst auch hierbleiben und dich mit mir herumrollen.«

Das war der Moment. Wenn ich alles, was passiert ist, in der Erinnerung noch einmal erlebe, dann lastet dieser Moment am schwersten auf meiner Seele. Er hat die Form eines Ypsilons, einer Weggabelung, ist in Ketten gelegt, die mit beinahe menschlicher Stimme zu rasseln scheinen: Hätte ich doch nur … Wäre ich doch nur …

Wie anders wäre mein Leben verlaufen, wenn ich bei Nadia geblieben wäre und die Wellen allein hätte rollen lassen? Ich will hier keine Quantenmechanik diskutieren, aber betrachte doch mal eine Sekunde lang die Formulierung relativer Zustände – eine allgemeingültige Wellenfunktion, die nicht an jedem Verzweigungspunkt zusammenbricht und die Existenz paralleler Welten impliziert. Nach dieser Theorie gibt es da draußen unendlich viele Westlake Souls, die in unendlich vielen Dimensionen leben. Und jede spaltet sich in die nächste auf. In einer dieser Welten blieb ich bei Nadia im rosa Sonnenlicht. Wir liebten uns wieder und wieder. Ich bin nicht surfen gegangen und im Anschluss auch nicht im Meer ertrunken. Da draußen gibt es tatsächlich einen Westlake Soul, der Nadia an einem Strand in der Karibik geheiratet hat … In der Realität jedoch bricht die Wellenfunktion zusammen.

Ich küsste Nadia zum letzten Mal und ging surfen.

Wäre ich doch nur …

Übrigens habe ich immer wieder nach diesen Parallelwelten gesucht, bis zu dem Punkt, an dem mein brillanter Verstand vor Anstrengung schmerzte. Wenn ich Zugang zu diesem alles verändernden Verzweigungspunkt hätte, könnte ich ein alternatives Leben führen und wüsste nichts von demjenigen, das ich gegenwärtig habe. Ich hätte meinen Körper wieder. Mein Mädchen. Die Tatsache, dass es mir nicht gelungen ist, mich dieser Stelle zu nähern, stellt das von Hugh Everett III. postulierte Konzept relativer Zustände infrage. Entweder ist die Theorie schlichter Blödsinn oder man kann auf psychischer Ebene nicht zur universellen Wellenfunktion gelangen, was den Beweis unmöglich macht.

Mit anderen Worten … Ich stecke in diesem Leben fest.

Mit dem letzten Kuss auf den Lippen schlenderte ich zum Strand hinunter, mein Board unter dem einen Arm, meine Tasche über der anderen Schulter. Die Wellen waren erstklassig, sie türmten sich hoch auf und brachen mit voller Kraft. Am Wasser war nur ein Typ, der eine Frisbeescheibe für seinen Hund warf, ansonsten gehörte der Strand mir allein. Ich legte mein Brett in den Sand und brachte eine Schicht Wachs auf, behielt dabei das Meer die ganze Zeit im Blick. Eine flatternde, blau-weiße Flagge, und ich konnte es nicht erwarten, sie zu hissen. Ich schätzte die Wellen ab und entschied mich, auf eine Zehn-Millimeter-Leash umzusteigen. Mehr Zugkraft, weniger Risiko, dass sie im schweren Wellengang riss. Ein weiterer, alles entscheidender Verzweigungspunkt. Wäre ich bei den fünf Millimetern geblieben, wäre die Leash vielleicht gerissen und das Board wäre von mir weggeschwommen, statt wie ein Bumerang zurückzukommen und mir den Schädel einzuschlagen. Hätte, hätte, Fahrradkette.

Ich ging raus und lebte die letzten zweiunddreißig Minuten des Lebens, wie ich es bis dahin kannte. Ich erinnere mich, wie der Sand zwischen meinen Zehen drückte und die Brandung um meine Knöchel zischte. Empfindungen, die ich immer geliebt habe. Der Hund bellte fröhlich, während ich immer tiefer ins Wasser watete und dann hinauspaddelte. Die erste Welle, die ich erwischte, überraschte mich. Sie war schnell und rau, aber ich zähmte sie mit meiner Balance, attackierte den Kamm und stieß wieder hinein, um ihr zu zeigen, wer hier der Boss war. Ich ritt sie mit der Rückhand, bis sie sich erschöpft hatte. Die zweite Welle war ein Cruncher und warf mich vom Brett, sobald ich auf die Füße kam. Der Ozean lachte und zerrte an mir, aber ich packte die Seiten meines Boards und kam mit einem Ruck wieder hoch. Mit dem nächsten Set zeigte ich ihm, was ich draufhatte, zog s-förmige Cutback-Schleifen und hob gekonnt in die Luft ab, bevor ich direkt durch die Krümmung der Welle schoss und vor Begeisterung heulte. Nichts kommt an dieses Gefühl heran. Zumindest nicht für mich. Vielleicht Snowboarden auf einer Lawine oder Skaten bei einem Erdbeben. Ich weine innerlich. Jubelnd, triumphierende Tränen. Ich reite buchstäblich die Welt, und genau so fühlt es sich auch an. Wenn Sex mit einem schönen Menschen der Himmel ist, dann ist das Surfen Gott selbst.

Ich lachte – es war das allerletzte Mal, dass ich lachte – und paddelte erneut zu den schweren Wellen hinaus. Und dann sah ich sie. Eine Wand aus Wasser, die sich vor mir auftürmte, heranbrandete und den Horizont ausfüllte. Ein freakiger Motherfucker von einer Welle, die nur einen einzigen Zweck hatte: zu beweisen, wie klein und unbedeutend ich war. Mein Instinkt schrie nach einem Rückzug, aber ich war innerlich wie unter Strom; nichts konnte mich aufhalten. Der Rest der Welt verschwand. Ich fühlte mich gleichzeitig winzig und grenzenlos.

Das war mein größter Wunsch. Mein einziger Albtraum.

Das war die Welle, die mich töten würde.

Ich erwischte sie zunächst perfekt, hob den Kopf, sprang auf die Füße und fühlte den Schub unter meinem Board. Auf die Geschwindigkeit war ich vorbereitet, nicht aber auf die dahinter liegende Kraft. Ich dachte, ich hätte es im Griff, aber sie raubte mir völlig den Atem und stieß mich mit solcher Wucht in das Wellental, dass ich beinahe den Halt verlor. Riesenfäuste hämmerten von unten gegen mein Brett und die Gischt besaß scharfe Zähne. Aber ich weigerte mich abzuhauen, auch dann noch, als ich das Weißwasser hinter mir hörte; eine krachende Gewitterwolke, größer als der Mond. Ich wendete in den offenen Rücken der Welle und blieb in dieser Position. Keine Chance für Tricks. Das war alles, was ich tun konnte, um nicht von ihr gefickt zu werden. Dann kam der Moment, für den ich lebte (ironischerweise auch der Moment, für den ich starb): Die Oberkante der Welle baute sich in hohem Bogen über mir auf, schraubte sich vor mir in die Höhe und plötzlich glitt ich durch einen perfekt gerundeten Zylinder aus Wasser. Der Tunnel. Das Glashaus. Der grüne Raum. Eine surreale und heftige Erfahrung. So nah am Traum, wie man im Wachzustand nur träumen kann. Ich ballte die Fäuste und brüllte es heraus.

Am Ende des Tunnels sah ich das Tageslicht als winzigen Kreis, der von Gischt und einem mandarinenfarbenen Himmel erfüllt war. Ich hielt auf diesen Kreis zu, aber die Welle verengte sich rasch um mich. Ich würde es auf keinen Fall rechtzeitig schaffen. Ich überlegte, ob ich einen Rückzieher machen sollte, verlagerte den hinteren Fuß nur millimeterweit, aber dieses winzige Zögern war alles, was die Welle brauchte. Sie hob das hintere Ende meines Boards in die Höhe und warf mich ab. Weniger als eine Sekunde lang hing ich in der Luft, dann wurde ich zerkaut und verschluckt. Die Gewalt war jenseits allen Fassungsvermögens. Ich hatte Tausende von Wellen herausgefordert und viele von ihnen hatten mich überwältigt, aber so etwas hatte ich noch nie erlebt. Eine Atombombe im Ozean. Ein schwarzes Loch des Meeres. Mein Körper wurde in den Abgrund geschleudert, in die Höhe gezerrt, herumgeworfen. Nur ein weiteres Stück Seetang, das gleich schlaff am Ufer angespült werden würde. Ich versuchte mich zu schützen – mich zu einer Kugel zusammenzurollen und meinen Kopf mit beiden Händen zu bedecken –, aber ich hatte keinerlei Kontrolle über meinen Körper. Ich wurde tief hinabgestoßen, über den sandigen Untergrund geschleift, bis mir die Haut von Gesicht und Händen geschürft wurde. Mein Herz drosch einen wilden, zuckenden Takt und meine Lunge sehnte sich schmerzlich nach Luft. Mein Verstand erblasste vor dem, was mit mir geschah, und als ich für eine weitere Achterbahnfahrt nach oben gerissen wurde, peitschte mein Board an der Leash, schnitt durchs Wasser wie ein Rochen und schlug mir mitten auf die Stirn.

In jenem Augenblick sah ich Nadia, wie sie in unserem Bett lag, die zerknüllten Laken zwischen ihren Beinen. Eine Strähne ihrer Haare war wie ein welkes Blatt an ihre linke Wange gepresst, die Spitze gewellt. Das Licht, das durch die Jalousien drang, war jetzt wilder. Sie blinzelte mit ihren riesigen Augen wie ein Waldtier aus einem Disney-Cartoon, und ich schrie nach ihr. Ich wollte diese Welle nicht mehr. Diesen Ozean. Ich wollte meine wunderschöne Freundin, wollte mich in ihre Umarmung hineinfallen lassen, wie ich es noch vor weniger als einer Stunde getan hatte. Wollte Sterne um ihre Brustwarzen zeichnen und tief in sie eindringen. Ich rief ihren Namen, aber es kam kein Laut aus meiner Kehle. Nicht einmal ein Flirren in der Luft. Meine Hand, die sich nach ihr ausstreckte, gab es nur in meiner Vorstellung. Die Vertiefung, die mein Kopf im Kissen hinterlassen hatte, war immer noch da. Als läge dort mein Geist. Näher konnte ich ihr nicht kommen.

Jimis Gitarre, laut und rau. »Little Wing« waberte aus dem Radio in Darryls Zimmer. Auch ich waberte, entfernte mich von Nadia, schwebte durch zwei Wände und erblickte Darryl mit seinem Mädchen, ihre Beine über seinen Schultern, beide keuchend, schwitzend, die Geräusche ihrer Leidenschaft eingehüllt in die Musik. Das war es, was mein bester Freund tat, während ich im Meer ertrank. Man sollte meinen, es gäbe einen Sinn für Vorahnungen. Irgendeinen Instinkt. Nichts Gravierendes, nur ein Innehalten bei dem, was er da gerade machte. Ein komisches Gefühl, das ihm sagte, dass etwas nicht stimmte. Ich kannte ihn immerhin seit sechzehn Jahren. Aber nein, er ahnte nichts, war vollkommen selbstvergessen, viel zu beschäftigt damit, sich gehenzulassen. Get down on it, wie Kool & the Gang. Er konnte mich nicht hören, mich nicht spüren, egal wie laut ich schrie.

Ich katapultierte mich mit einem Rückwärtssalto aus dem Zimmer und schwebte in der kalten Luft über Vancouver Island, hörte Jimi Gitarre spielen, während mein Körper starb. Du hast sicher schon Berichte von Menschen gelesen, die Nahtoderfahrungen beschreiben. Der innere Friede. Das helle Licht. So ist es nicht … Es ist verdammt furchterregend. Ich wollte mich nur noch in meinen Körper zurückschleppen und irgendwo im Meer auftauchen, mit nichts weiter als Kopfschmerzen und einem Knacks in meinem Ego. Ich schrie, aber niemand hörte mich. Ich streckte die Hände aus, konnte jedoch nichts berühren. Die Insel lag unter mir; sie hatte die Form eines gebrochenen Flügels. Ich sah die Brandung der Wellen von hier oben, einen Pinselstrich Sand. Aber all das gehörte mir nicht mehr. Was auch immer mich auf der Erde festgehalten hatte, war zerrissen, und nun schwebte ich davon … in einen Himmel, der schmerzhaft blau war, auf eine Sonne zu, die eher einem heulenden Gesicht glich.

Draußen: Mein Körper wurde ans Ufer gezerrt, von dem Mann, der das Frisbee geworfen hatte. Sein Hund rannte in aufgeregten Kreisen um mich herum, die Scheibe fest zwischen die Kiefer geklemmt. Der Mann versuchte, mich mit einer Herzdruckmassage wiederzubeleben, aber als es ihm endlich gelang, mein Herz wieder in Gang zu bringen, war mein Hirn bereits ganze acht Minuten und vierundvierzig Sekunden ohne Sauerstoff gewesen.

Drinnen: Ich duellierte mich zum allerersten Mal mit ihm. Zum ersten Mal von vielen. Mit meinem Erzfeind. Jeder Superheld hat einen. Batman hat den Joker. Superman hat Lex Luthor. Spiderman hat den Green Goblin. Und ich … Ich habe den Imperator der Finsternis.

Ich habe Dr. Quietus.