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MICHAEL OPOCZYNSKI

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Sind unsere Jobs
noch zu retten?

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2020 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Redaktion: Christine Laudahn

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Geogrotesque, FagoOfficeSerif

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagmotiv: Shutterstock

ISBN 978-3-7109-0088-4

eISBN 978-3-7109-5097-1

»Arbeit ist seit so langer Zeit eine Quelle der Identität, dass der Gedanke, nicht mehr gebraucht zu werden, ein furchtbarer ist.«

Robert Skidelsky

INHALT

Vorwort

Die brauchen euch nicht mehr

Wie IBM seine Zukunft ohne feste Mitarbeiter plant

Es geht auch anders:

»Mittags geh ich heim!«

Wie Detlef Lohmann seine Leute behandelt

No risk – no fun!

Wie Speditionen ihre Fahrer abschaffen

Es geht auch anders:

»Das ist der Vorteil, wenn man Chef ist«

Günter Faltin gründet eine Firma – mitten hinein in eine alte und traditionelle Branche

Es war einmal ein Bankier …

Wie aus der Deutschen Bank ein Do-it-yourself-Ratgeber wird

Es geht auch anders:

»Wir wollen wachsen!«

Die ING-Bank macht vor, wie Banking geht

Riecht es da vielleicht muffig?

Achtung, es kommt der Versicherungsvertreter

Es geht auch anders:

»Für die Transformation braucht man andere Leute«

Daniel Schreiber greift mit Lemonade die Versicherungen an

Tanke können wir auch

Warum Rewe und Co. bald ohne Verkäufer verkaufen

Es geht auch anders:

»Wir erzählen einfach zu wenig«

Oscar Farinetti mischt mit Eataly den Lebensmittelhandel auf

Wo kocht denn noch der Koch?

Systemgastronomie auf dem Vormarsch

Es geht auch anders:

Hallo frech!

Wie Dominik Richter mit HelloFresh zum Gewinner wurde

Nichts ist unmöglich…

Autohersteller brauchen keine großen Hallen mehr

Es geht auch anders:

»Es gilt auch in unserer Branche: Survival of the fittest!«

Antje von Dewitz gibt Nachhilfe in zukunftsfähigem Wirtschaften

You are my hero

Ausbeutung statt Topjob

Es geht auch anders:

»Halbe Arbeit, ganzes Leben«

Axel Mengewein beweist, dass es ein selbstbestimmtes Arbeiten gibt

Das Monster heißt Altersarmut

Nicht nur Firmen ändern sich. Auch Berufe ändern sich. Der Arbeitsalltag ändert sich. Alles ändert sich

Es geht auch anders: entfällt!

Auslaufmodelle mit Tradition

Machtloser Staat, armes Finanzamt, bröckelnde Rentenkasse

Es geht auch anders:

»Selbstständigkeit erfordert Selbstdisziplin«

Tanja Lenke ist solo-selbstständig und sorgt dennoch vor

Die Letzten ihrer Art

Was waren noch mal Gewerkschaften?

Es geht auch anders:

»Für Crowdworker gilt vieles nicht, was wir in unserer Geschichte erstritten haben«

Der Gewerkschaftsmann Robert Fuß versucht, die Crowd zu organisieren

Nachwort: Wie die neue Revolution unsere Arbeitswelt verändert

Quellen

VORWORT

»Das Virus hat uns wie ein Asteroid getroffen und in der Wirtschaft ein kraterartiges Loch hinterlassen.« So die Europäische Kommission im Wortlaut. Fehlt der Zusatz, dass in diesem Krater unglaublich viele Jobs verschwunden sind – ohne Wiederkehr.

Keiner von uns hat das je erlebt. Wie nach einem Donnerschlag stand die Welt, wie wir sie kannten, still. Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger mussten an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gehen und manchmal auch darüber hinaus, Zehntausende erkrankten und viel zu viele Menschen starben an den Folgen dieser Pandemie. Während die Kliniken ihre Bewährungsprobe erlebten und die Versorgung mit Lebensmitteln irgendwie weiterlief, stand der Rest des alltäglichen Lebens still. Universität, Schule und Kita, Büro und Fabrik. Bleibt zu Hause, hieß die Parole. Distanziert euch voneinander, wurde uns gesagt. Das Leben, wie wir es kannten, war vorüber.

Vorüber war es auch mit der Welt der Arbeit. Jene Wirtschaftswelt, die mit ihrem prallen Leben und ihrer Betriebsamkeit die Quelle unseres Wohlstands war. Wir erlebten eine Vollbremsung bis zum völligen Stillstand. Bankenhochhäuser in Frankfurt? Stillgelegt und von Security bewacht. Flughäfen? Licht aus, leer, die Rollbahnen wurden Parkplätze für Flugzeuge. Autofabriken in München, Stuttgart oder Wolfsburg? Sie wurden zu stummen Hallen mit leeren Fließbändern. Und so wie in Deutschland war es in allen anderen entwickelten Ländern.

Aber: Die Arbeitswelt befand sich schon vor Corona in einem radikalen Umbruch. Immer mehr Berufsbereiche – die Industrie, der Dienstleistungssektor, der öffentliche Dienst – verzichten auf den Faktor Mensch und übergeben Verantwortung an künstliche Intelligenz. Ein Großteil unserer Alltagsjobs – Verkäufer, Lastwagenfahrer, Bankmitarbeiter und viele mehr – ist dabei wegzubrechen. Der Staat ist machtlos, und wir Menschen werden immer mehr zu Zeitarbeitern, Freelancern und digitalen Tagelöhnern. Zu Restposten in der Welt der Arbeit. Corona funktionierte da wie ein Brandbeschleuniger, der die dramatische Lage erst recht entzündete und sogar beschleunigte. Angesichts dessen wir uns fragen müssen: Sind unsere Jobs überhaupt noch zu retten?

Deutschland lebt stärker als andere Nationen von seinen Industriearbeitsplätzen, von den vielen mittelständischen Unternehmen, die ihrerseits mit den großen Industrieunternehmen verflochten sind. Innerhalb dieser Unternehmen hat das Fließband Symbolkraft. Wenn es läuft, heißt das: Der Firma geht es gut, es gibt genug Arbeit für alle. Das Fließband gibt vor, der Mensch folgt.

Ich kenne aus meiner jahrzehntelangen TV-Berichterstattung das Innenleben fast aller Autohersteller dieser Welt. Ich war immer beeindruckt von den komplexen Abläufen in den Werkshallen. Für mich waren das Produktionsanlagen mit Symbolgehalt: Sie standen für Ingenieursleistung, Geldverdienen und für Arbeit, für die Mobilität und den Wohlstand. Jahrzehntelang sind in unserem Land diese Fließbänder gelaufen. Es gab immer genug Arbeit. Oft war sogar ein Drei-Schicht-Betrieb notwendig, Tag und Nacht, pausenlos. Manchmal mussten die Bänder sogar am Wochenende laufen, weil so viel Arbeit anfiel. Die Arbeiter hatten ein sicheres Einkommen, die Ingenieure und Manager erst recht. Jahrzehntelang ging alles gut, regelmäßig, ohne Höhe- oder Tiefpunkte. Das wird immer so weitergehen, dachten alle. Ich auch.

Wobei in den letzten Jahren erste Warnzeichen aufschienen: Die Autoindustrie, diese Schlüsselindustrie mit ihren Millionen Arbeitsplätzen, geriet ins Zwielicht. Der Dieselskandal kratzte am Image. Die Umstellung auf neue Technik, Elektroantrieb oder Wasserstofftechnologie machten uns andere vor. Was war denn aus dem vielbeworbenen »Vorsprung durch Technik« geworden? Das schier endlose Wachstum der deutschen Industrie geriet ins Stocken. Zweifel machten sich breit.

Und dann auch noch die gewaltsame Vollbremsung in der Corona-Krise. Sie standen abrupt still, die deutschen Fabriken. Wochenlang. Leere Werkshallen. Ein vorher in Industrieländern nie erlebter regierungsamtlich angeordneter Stillstand. Unternehmen schlossen die Pforten. Menschen wurden nach Hause geschickt. Städte waren plötzlich menschenleer. Politiker versuchten mit Finanzspritzen das Schlimmste zu verhindern. Von allen wurde ein Neustart herbeigesehnt, in der Hoffnung, dies sei nur ein kurzer Albtraum gewesen. Dann werde es weitergehen wie bisher. Dann werden die Arbeiter aus der Kurzarbeit zurückkehren in die Vollbeschäftigung. Dann werde es wieder volle Büros geben und vor Betriebsamkeit summende Konferenzräume. Dann werde die Lufthansa Tausende Menschen wieder in die weite Welt transportieren. Alles wie früher.

Mir scheint, die meisten von uns glauben auch jetzt noch an einen kurzen schlechten Traum. Sie erwarten, dass in der Arbeitswelt bald alles irgendwie weiter seinen Gang gehen wird. Oder dass Veränderungen so langsam kommen, dass sie uns nicht wehtun. Oder dass wir genug Zeit haben werden, uns auf Veränderungen einzustellen. Ob das nun die körperliche Arbeit am Fließband ist oder die Büroarbeit am Schreibtisch. Die Arbeit erlebte zwar auch früher schon Modernisierungsschübe, aber im Prinzip ging es immer weiter. Also wird es jetzt auch weitergehen.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Mit der Corona-Krise kommt eine neue Zeitrechnung. Die Krise ist eine Initialzündung für eine neue Revolution. Wer sich ihr entgegenstellt, wird überrollt. Wer im alten Modus verharrt, wird zum Restposten.

Ich berichte hier über den unaufhaltsamen Schwund der Arbeit, wie wir sie kennen. Aber auch über neue zukunftsträchtige Formen der Arbeit. Dieses Buch richtet sich zum einen an die jungen Leute, die sich jetzt oder bald für eine Ausbildung oder einen Berufseinstieg entscheiden. Die vielleicht hoffen, dass sie trotz aller Hindernisse bei einem der großen Konzerne einen Arbeitsplatz fürs Leben finden, dass sie dort aufsteigen und mehr verdienen als bei den kleinen oder mittleren Betrieben. Und vor allem: dass sie dort nicht permanent um ihrem Arbeitsplatz fürchten müssen. Zum anderen geht es aber auch um die Älteren, die seit Langem fleißig in »ihren« Betrieben arbeiten und die noch eine längere Strecke vor sich haben. Die sich zudem sicher sind, dass nach kurzer Unterbrechung alles seinen gewohnten Gang gehen wird. Ohne allzu große Neuerungen.

Doch unsere vertraute Arbeitswelt verändert sich. Politiker versprechen Kontinuität, ohne das Versprechen einlösen zu können. Firmenbosse sprechen von neuen Herausforderungen. Aber so formulieren sie immer, wenn sie nicht genau wissen, wie es weitergehen soll. Gewerkschaftsfunktionäre geben sich stark und kündigen Widerstand an. Aber Widerstand gegen was oder wen? Und ist nicht ihr eigene Zukunft ungewisser denn je? Rentenversicherungen, Banken- oder Fondsmanager tönen von sicherer Zukunft und ertragreicher Geldanlage, während die öffentliche Verschuldung jedes bisher gekannte Maß übersteigt, während notwendige Investitionen nicht mehr finanzierbar sind.

Schauen Sie genau hin. Auch wenn der Anblick wehtut. Das Verhältnis der Dinge zueinander ändert sich in rasantem Tempo. Ich will die Veränderungen sichtbar machen und zeigen, inwiefern sie uns alle angehen. Wir müssen uns verändern, um mithalten zu können. Wenn sich die Arbeitswelt verändert, trifft es fast alle. Für viele wird es schmerzhaft, für manche nicht, betroffen sind wir alle.

Wer berufstätig ist, als Angestellter oder Arbeiter sein Gehalt bezieht und noch ein paar Jahre vor sich hat, der wird mit einer veränderten Arbeitsumgebung, einer veränderten Arbeitsweise und neuen Einkommensquellen konfrontiert werden. Nur wer sich auf diese Veränderungen vorbereitet, wird weiter erfolgreich arbeiten können.

Doch nicht nur Berufstätige, auch Rentner werden die Veränderungen der Arbeitswelt zu spüren bekommen. Könnte sein, dass die zu erwartende Revolution auch die sozialen Systeme einschließlich der gesetzlichen Rentenkasse und der privaten Versicherungen erschüttert.

Die Jungen unter uns, die vor der Berufswahl stehen oder vor einer Ausbildung oder schon mittendrin stecken, sollten sich darauf einstellen, dass sie sich immer wieder verändern und weiterbilden müssen oder dürfen (je nach Einstellung), wenn sie im Job glücklich und erfolgreich sein wollen.

Ich möchte mit diesem Buch verdeutlichen, dass es nur dann positiv für uns weitergehen wird, wenn wir uns mit den Neuerungen auseinandersetzen und Strategien entwickeln, um in einer veränderten Arbeitswelt zurechtzukommen. Mit dem oft dahergesagten Spruch »Alles wird gut!« kommen wir diesmal nicht durch.

Michael Opoczynski, Mainz im Juli 2020

PS: Noch ein Hinweis: Wann immer ich in diesem Buch eine genaue geschlechtliche Zuschreibung verwende, was bestimmte Berufe oder Arbeitsformen anbelangt, also zum Beispiel »den Arbeiter«, »die Pflegerin« oder »der Freelancer«, sind jeweils auch die anderen Geschlechtszuschreibungen intendiert, also, um bei dem Beispiel zu bleiben, »die Arbeiterin«, »der Pfleger« oder »die Freelancerin«. Die Nichterwähnung im jeweiligen Fall ist allein der Lesbarkeit des Textes geschuldet.

DIE BRAUCHEN EUCH NICHT MEHR

WIE IBM SEINE ZUKUNFT OHNE FESTE MITARBEITER PLANT

Die Zukunft eines großen Unternehmens ohne Angestellte, mit vielen freien Mitarbeitern? Darüber wird mehr oder weniger laut nachgedacht. Die neuen scheinbar freien Mitarbeiter können dann die Roboter einschalten, die sie ersetzen sollen. Alles ist möglich, aber möglichst ohne Menschen.

Unternehmen der IT-Branche wie IBM sind nicht nur innovativ bei der Entwicklung neuer Produkte, sondern manchmal auch, wenn es um die eigene Arbeitsorganisation geht. Deswegen hat IBM, einer der Großen der Branche, schon mal über die Abschaffung der eigenen Leute nachgedacht.

Die schöne neue Welt von IBM sollte so aussehen: Nur noch wenige feste Mitarbeiter lenken die Geschicke des großen Konzerns. Wie Steuerleute auf der Brücke eines Supertankers. Weil es aber notwendig ist, Produkte und Dienstleistungen mithilfe vieler Menschen anzubieten, sollten diese auch weiterhin beschäftigt werden – nur auf einer anderen Basis als bisher. Die meisten von ihnen sollten als Externe arbeiten. Mit Honorarverträgen. Gut bezahlt, aber nicht fest angestellt. Klingt zunächst einmal recht harmlos. Aber nur, wenn man mit dem Namen des Unternehmens IBM nicht allzu viel verbindet.

Hier ein paar Fakten: IBM hatte früher 400 000 Mitarbeiter. Dann ging es abwärts, aber immerhin: Es waren im Frühjahr 2020 noch etwa 350 000 Mitarbeiter. Fest angestellt, weltweit. In Deutschland waren es in den besten Zeiten 25 000 Beschäftigte, dann gab es immer wieder Entlassungswellen. Heute sind es noch an die 15 000 Mitarbeiter. Jetzt – im Corona-Krisenmodus – hat das Management einen weltweiten Stellenabbau angekündigt, von dem nicht bekannt ist, wie schlimm er ausfallen wird.

IBM ist – trotz des deutlichen Abstands zu Amazon, Google und Microsoft – ein Großunternehmen aus der Welt der Internettechnologie und der künstlichen Intelligenz. Mit achtzig Milliarden Dollar Umsatz im Jahr und ordentlichem Gewinn. Und dennoch gab es schon lange vor der Pandemie diesen Plan, der weltweit aufhorchen ließ und der bei manchen Erschrecken auslöste. Es ging um die extreme Reduktion der Belegschaft. Die festen Verträge fast aller Mitarbeiter sollten aufgelöst werden. Ein kleiner harter Kern ausgenommen. Dieser sollte dann alles leiten, über Projekte entscheiden und Aufträge vergeben. Alle anderen würden nicht mehr auf der Payroll stehen, jedenfalls nicht als feste Mitarbeiter. Das war der Plan. Eine Revolution. Ein Großkonzern mit großem Umsatz, großem Gewinn – und fast ohne Beschäftigte?

Wie schön, denkt sich der Personalchef, endlich ist Schluss mit dem Verwaltungskram, den Lohnüberweisungen, den Krankmeldungen, den Fortbildungen, den Zahlungen an die sozialen Sicherungssysteme (letzteres ist ja besonders in Deutschland extrem lästig). Schluss mit dem dauernden Ärger mit dem Betriebsrat oder den Gewerkschaften (die sind ja in Deutschland besonders stark). Schluss mit der mühsamen Disposition, wenn Leute krank werden, wenn sie Urlaub beantragen, wenn die Frauen schwanger werden. All diese anstrengenden menschlichen Dinge, die das erfolgreiche Führen eines Unternehmens behindern – weg damit!

Für IBM in Deutschland würden damit herrliche Zeiten anbrechen, denn Gesetzgebung hier ist so viel strenger als im Mutterland USA. In Deutschland dürfen die gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter mitreden. Kaum zu glauben, was die Deutschen alles zulassen, das ist ja fast schon Kommunismus!

So sagte das zwar niemand wörtlich bei IBM. Aber vielleicht hat man es gedacht, als man diese Idee zum Laufen bringen wollte. Jedenfalls wäre es für die deutsche IBM-Bilanz verlockend, wenn Umsatz und Gewinn nicht mehr belastet würden von den Kosten einer großen fest angestellten Belegschaft. Aus Management- und Aktionärssicht wäre es schlichtweg wunderbar, wenn der Gewinn von freien Mitarbeitern erwirtschaftet würde.

Als IBM vor einiger Zeit dieses Projekt mit dem schönen Namen »Liquid« munter und mutig ankündigte, rechnete man wohl mit einer begeisterten Aufnahme in der Öffentlichkeit, mit dem Neid der Konkurrenz, vielleicht sogar mit der Zustimmung der Belegschaft. Den allgemeinen Aufschrei? Den erwartete man nicht. Es gab ihn aber, diesen Aufschrei.

In den Medien wurde über den Liquid-Plan mit deutlicher Missbilligung berichtet. Es gab öffentliche Empörung, die weit über die übliche Aufregung bei Konflikten zwischen Management und Belegschaft hinausging: Die wollen ihr Stammpersonal davonjagen! Die wollen die Alten loswerden und nur noch die Besten und Jüngsten mit Werkverträgen beschäftigen! Die wollen jeden einzelnen Auftrag benoten wie einen Schulaufsatz, und wer zweimal, dreimal eine Vier oder gar eine Fünf bekommen hat, der soll für immer draußen bleiben. Dagegen formierte sich ein breiter Widerstand, der den Ruf des Konzerns zu beschädigen drohte. Das hatte das Management vollkommen unterschätzt. Wer will schon Dienstleistungen in Anspruch nehmen von einer Firma, die als unmenschlich gilt?

Was tat IBM daraufhin? IBM tat einfach – nichts! Was sehr geschickt war. Das Programm Liquid wurde nicht in Angriff genommen, obwohl mittlerweile ein paar Jahre vergangen sind. Aber es wurde auch nichts widerrufen, nichts abgesetzt, nichts dementiert. Bis heute wurde Personal zwar langsam abgebaut (in etwa minus 10 000 Arbeitsplätze pro Jahr), aber längst nicht so radikal, wie einst angekündigt. Von dem großen Ziel hat man sich zwar nie ausdrücklich verabschiedet. Von der Umsetzung im Hier und Jetzt aber schon. Wenn aktuell ein Stellenabbau als Folge der Corona-Krise angekündigt wird, bleibt offen, ob es eine krisentypische Entlassungswelle ist oder ob man unter dem Vorwand der Krise Liquid aufleben lässt.

Auf eine aktuelle Nachfrage des Autors bei der deutschen IBM-Zentrale wird so reagiert: »Lieber Herr Opoczynski, vielen Dank für Ihre Anfrage. Ihre E-Mail haben wir an die zuständigen Kollegen weitergeleitet. Wir bedanken uns für Ihre Geduld und verbleiben …« Die »zuständigen Kollegen« haben nie reagiert. Entweder weil es auch sie nicht mehr gibt. Oder weil ihnen keine vernünftige Antwort eingefallen ist.

Wenn man sich heute unter deutschen Ex-IBM-Mitarbeitern umhört, dann erfährt man wenig Positives. Ein paar Stimmen gefällig?

»Totalversagen und Eiseskälte. Innerhalb der nächsten Jahre sollen vier von fünf Jobs entfallen.«

»Wenn ich erzählte, ich arbeitete bei IBM, gab es immer wieder anerkennende Kommentare. IBM hat meines Erachtens nach außen einen guten Ruf – umso erschreckender ist es dann, die internen Zustände kennenzulernen … Mir scheint, das Unternehmen zehrt von seinem Ruhm aus früheren Tagen, kriegt heute aber nicht mehr allzu viel auf die Reihe.«

»Management mit Empathielosigkeit und Kadavergehorsam.«

»Das war mal ´ne gute Firma, und alle Mitarbeiter waren stolz, dabei zu sein.«

»Schwätzer und Blender sind hoch angesehen.«

»Strohmänner für die amerikanische Firmenleitung.«

»Der Leidensdruck wird durch die Unternehmensleitung erhöht, um die Mitarbeiter zum Jobwechsel zu motivieren und die Verlagerung von Jobs in Billiglohnländer zu beschleunigen.«

Und schließlich, quasi als Bestätigung für die Gesamtentwicklung: »Die gute alte IBM – das war mal und ist schon lange vorbei.«

Die gute alte IBM? Wovon redet der?

IBM: Die drei Buchstaben stehen für einen der ganz großen Namen der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte. Es begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem aus einer deutschstämmigen Familie kommenden Herman Hollerith. Er war ein genialer Erfinder, der die Firma Tabulating Machine Company gründete und die nach ihm benannten Hollerithmaschinen entwickelte, mit denen man systematisiert zählen und rechnen konnte. Aus dieser Firma wurde in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts IBM, kurz für International Business Machines.

Mit Büromaschinen und Schreibmaschinen begründete IBM seinen Ruf, entwickelte sich zum Computerhersteller, zum Hardware- und schließlich zum Software- und Beratungsunternehmen. Der Konzern wuchs, gedieh und machte gute Gewinne. Doch manchmal lag man in der langen Unternehmensgeschichte auch ziemlich daneben. Bis heute lacht man intern über den Satz des Vorstandschefs Thomas Watson, der 1943 sagte: »Ich denke, es gibt weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer.« Man bemerkte im Unternehmen gerade noch rechtzeitig, dass der Chef damit nicht ganz richtig lag. IBM stieg schließlich doch entschlossen in den Bau von Großrechnern ein, jene raumfüllenden Riesenmaschinen mit den charakteristischen Spulen und Magnetbändern. Auch der Personal Computer wurde später als Erfolg versprechende Geschäftsidee entdeckt, als Antwort auf die Macs aus dem Hause Apple. Die IBM-Laptops, die sogenannten ThinkPads, eroberten erfolgreich den Massenmarkt.

Irgendwann entschied das IBM-Management, sich von der Hardware, den Business Machines, den Großrechnern und den PCs, ganz abzuwenden und sein Glück mit dem Beratungsgeschäft und Dienstleistungen zu versuchen. Ganze Produktlinien wurden eingestellt. Das ThinkPad-Geschäft wurde an Chinesen verkauft, heute kommen die Laptops von Lenovo.

Dabei steht der Konzern immer noch und immer wieder für außergewöhnliche Produkte und Leistungen. Stichwort Watson. Der legendäre IBM-Chef Thomas J. Watson, der seinerzeit so falsch lag mit seiner Einschätzung zur Zukunft des Computers: Er lenkte den Konzern vierzig Jahre lang, bis zum Jahr 1955. Watson ist für IBM eine Legende. Und so benennt man heute bei IBM eine rechnende Roboterintelligenz nach ihm. Ein Programm, das geeignet ist, die Welt der Arbeit radikal zu verändern.

Dieser künstlich-intelligente Watson macht Menschenarbeit überflüssig. Zum Beispiel so: Sie rufen bei einer Fluggesellschaft an, weil Sie einen Flug von hier nach da buchen wollen. Und dann? Sie glauben, am Telefon hätten Sie es jetzt mit einem Kundenberater zu tun? Einem Menschen? Oder Ihre schriftliche Anfrage werde von einem Angestellten der Linie bearbeitet? Das war einmal!

Heutzutage kommunizieren Sie mit einem sogenannten Chatbot, einem Roboter, der mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Watson-Familie abstammt. Er kennt die Flugverbindungen perfekt, er weiß ganz aktuell, wo noch freie Plätze sind, vielleicht weiß er auch, dass Sie schon mehrfach nach Flügen gesucht haben, dass viele Menschen gerade Flüge zu diesem Ziel buchen, weil dort, wo Sie hinwollen, eine große Messe ansteht. Er schließt daraus, dass Sie diesen Flug dringend brauchen und zieht somit die für seinen Auftraggeber relevanten Rückschlüsse: Es darf für Sie ruhig ein bisschen teurer werden, denn Sie benötigen diese Verbindung sehr dringend. Das alles kann dieser IBM-Rechner, weil er mit sogenannter künstlicher Intelligenz ausgestattet ist. Er kann es besser als ein Mensch. Er kann es Tag und Nacht, sieben Tage in der Woche, er wird nicht krank, ist nie unpässlich und nie unhöflich. Perfekt! Jedenfalls für die Fluggesellschaft. Pech für die Mitarbeiter, die diesen Job bisher machten. Und schließlich auch Pech für Sie, den Endkunden. Denn der Roboter ist schlauer als Sie, schneller als Sie und beim Verhandeln härter als Sie.

Ein anderes Beispiel: Beim Fußballspielen mit den Nachbarskindern hat Ihr Kind nicht das Tor, sondern die Fensterscheibe des Nachbarn getroffen. Wenig später kommt dieser mit der Reparaturrechnung zu Ihnen. Sie reichen die Rechnung des Glasers bei Ihrer Haftpflichtversicherung ein und warten auf die Erstattung des Rechnungsbetrags. Die Versicherung jedoch hat aufgerüstet. Statt eines Sachbearbeiters kommt ein Roboter zum Zuge. Es schlägt die Stunde der künstlichen Intelligenz à la Watson. Während bisher Fachleute die Rechnung und die Schadensmeldung auf ihre Plausibilität überprüften, die Police anschauten und Rechtstexte wälzten und dabei mal mehr oder mal weniger gut waren, vielleicht manchmal auch kulant, entscheidet Watson (der viel mehr als die Menschen im Speicher hat) in kürzester Zeit: Alles stimmt. Rechnung überweisen. Fall abgeschlossen. Oder vielleicht auch nicht. Das ist ja schon die dritte ähnliche Rechnung innerhalb weniger Monate. Watson merkt das und entscheidet: Die Rechnung wird bezahlt, aber anschließend wird der Versicherungsvertrag umgehend gekündigt. Darf der das? Ja, er darf. Er kann. Er hat die Rechtslage und die Präzedenzurteile alle parat. Er erwartet, dass das fußballbegeisterte Kind des Kunden für weitere Haftpflichtschäden sorgen wird. Das wird zu teuer, denkt Watson. Er ist nun mal ein alleswissender Streber. Kein Mensch kann da mithalten. Für die Versicherung ist das natürlich gut. Sie spart Zeit, Geld und Personal. Während zuvor qualifizierte und damit teure Sachbearbeiter die Versicherungsfälle prüften, übernimmt das nun alles der Roboter.

Und nicht nur für die Versicherungsangestellten ist diese Entwicklung von Nachteil, auch für uns als Versicherte. Denn es wird nicht leicht sein, nach dem Rauswurf aus der Haftpflichtversicherung einen neuen Versicherer zu finden. Der Roboter hat sich kollegial mit den anderen Versicherungen vernetzt. Gemeinsam führt man eine schwarze Liste. Wer bei einer Versicherung rausfliegt, kann dies den neuen Versicherern also nicht verheimlichen. Unter diesen Umständen einen Versicherer zu finden, wird somit schwer und teuer.

Der künstlichen Intelligenz haben wir bisher wenig entgegenzusetzen. Vielleicht wird es irgendwann auch ein Hilfsprogramm für die Versicherten geben, das der Gegenseite rechtzeitig vorhält, dass andere Versicherungen billiger und kundenfreundlicher sind. Dann könnten sich die Programme gegenseitig beharken … noch ist so etwas aber eine bloße Träumerei.

Neben den Versicherungen arbeiten auch andere Branchen bereits mit Programmen, die Menschen ersetzen können. Jedoch nicht immer zu deren Nachteil, wie ein kurzer Blick in die Gesundheitsbranche verdeutlicht: Wer zu einem Arzt geht, hofft, dass dieser seine Patienten auf Grundlage des neuesten medizinischen Forschungsstands behandelt. Aber selbst ein bestens informierter erfahrener Arzt ist der medizinisch geschulten künstlichen Intelligenz unterlegen. Denn die versammelt das ständig aktualisierte Wissen vieler Forscher und Mediziner und ist damit stets auf dem neuesten Stand. So kann zum Beispiel eine Blutanalyse entweder von einer medizinischen Fachkraft ausgeführt werden oder inzwischen vereinzelt bereits von einem Rechner. Der Rechner ist dem Menschen überlegen. Denn er ist penibler und korrekter, er verschätzt sich nie, er hat keine guten oder schlechten Tage. Er ist einfach immer bestens präpariert. Ihm gehört die Zukunft, und wir Patienten profitieren davon. Die medizinische Fachkraft aber verliert ihren Job.

So wirkt sich also die schiere Existenz des Großkonzerns IBM doppelt negativ auf die Entwicklung des Arbeitsmarkts aus. Zum einen, indem auf längere Sicht das eigene fest angestellte Personal weitgehend abgeschafft werden soll, um dann mit Freelancern über die Runden zu kommen. Zum anderen, indem diesen freien Mitarbeitern aufgetragen wird, künstliche Intelligenz fortlaufend weiterzuentwickeln, damit andere menschliche Arbeitskräfte bei anderen Unternehmen abgeschafft werden können. Das große Ziel ist es, Kosten zu sparen, wenn auch zulasten der eigenen Belegschaft. Na, wenn das nicht schön ist. Für IBM.

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»MITTAGS GEH ICH HEIM!«

WIE DETLEF LOHMANN SEINE LEUTE BEHANDELT

Es geht auch anders. Der von Managern mit Eifer betriebene Abbau von fest angestelltem Personal ist keineswegs unumgänglich. Firmen können auch erfolgreich sein und Gewinn machen und gleichzeitig mit den Mitarbeitern sorgsam umgehen. Das sind dann allerdings Unternehmen, die sich deutlich von den Betrieben der »Kostenkiller« unterscheiden. Sie werden anders geführt, setzen sich andere Ziele. Folglich herrscht dort auch ein anderes Klima. Die Mitarbeiter werden wertgeschätzt und bringen sich mit ihrem Wissen engagiert und motiviert in den Betriebsablauf ein. Hier ein Beispiel:

Detlef Lohmann ist Geschäftsführer von allsafe, einem mittelständischen Unternehmen der Metallindustrie. 300 Mitarbeiter. Firmensitz in Engen am Bodensee. Die Firma ist seit vielen Jahren sehr erfolgreich, mit jährlich wachsenden zweistelligen Umsatzrenditen, mit hohen Exportquoten und gesundem Wachstum.

allsafe stellt Sicherungssysteme für Ladegut in Lastwagen und Flugzeugen her, auch Befestigungs- und Sicherungssysteme für Sitze in Flugzeugen. allsafe ist also im buchstäblichen Sinne ein Produktversprechen, denn würden sich Kästen oder Container während einer Fahrt oder eines Fluges ungewollt in Bewegung setzen, würde es schnell gefährlich – nicht nur für den Lkw oder das Flugzeug, sondern für die Allgemeinheit. allsafe garantiert, dass dieses Risiko nicht eintritt. Und damit ist man Marktführer geworden, ein sogenannter »Hidden Champion«, ein in seinem Bereich führendes Unternehmen, das man in der Öffentlichkeit nicht kennt.

Lohmann, heute Anfang sechzig, kam aus der Automobilindustrie, wo er als Abteilungsleiter in einem Weltkonzern gearbeitet hatte. Aufstiegschancen sah er dort nicht. Ohnehin war ihm die Welt der strengen Hierarchien zu eng. Er wollte es in seinem Betrieb besser machen und verzichtete deshalb auf ein statisches, konventionelles Managementsystem. Stattdessen führte er die Demokratie im Unternehmen ein. Demokratie? Heißt das, jeder kann machen, was er will und wann er will? Keineswegs! Das, so sieht es Lohmann, wäre Anarchie und vermutlich bald das Ende des Unternehmens. Demokratie im Betrieb ist – ähnlich wie in unserer demokratischen Gesellschaft – die etwas anstrengendere, aber letztlich bessere, lohnendere und befriedigendere Organisationsform, bei der alle mitmachen können und sollen.

Ist Demokratie im Betrieb also tatsächlich eine neue zukunftsträchtige Form der Arbeit? Wie läuft das genau ab und wie geht es den Angestellten damit?

Lohmann berichtet über seine Anfänge als Firmenchef von allsafe: »Ich kam vor zwanzig Jahren in den Betrieb und hatte keine Ahnung. Jeder einzelne Mitarbeiter wusste mehr über die Abläufe und die Produkte als ich.« Deshalb entschied er sich dafür, einen Teil seiner Macht an seine erfahrenen Mitarbeiter abzugeben. Im Gegenzug forderte er verstärktes Engagement. Zu Beginn sorgte dieser neue Führungsstil für große Unruhe unter den Mitarbeitern. Lohmanns Demokratiebestreben traf auf Unverständnis: »Es ist doch alles gut bei uns! Das Unternehmen läuft! Was will der neue Chef eigentlich?«