Für meine Söhne

Noah und Jonas

und das Leben,

das mich tagtäglich das Träumen lehrt …

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Nicky Gehrmann

Lektorat: Lektorat Bücherseele, Natalie Röllig

Grafik: Jica/ Pattern image/ Shutterstock.com

Coverdesign, Satz, Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH

ISBN 9783749441419

Inhalt

Traumreise

Dunkle Nacht,

eine Sternschnuppe fällt.

Jetzt wünschen sich viele

in eine andere, verträumte Welt.

Du suchst die Tür,

den Weg dorthin,

er liegt tief verborgen in dir,

mittendrin.

Deine Träume, Hoffnung, Phantasie

weisen dir den Weg.

Deine Sehnsüchte öffnen dir das Tor,

lassen dich herein.

Für einen Augenblick der Stille

begibst du dich auf eine Reise

durch deine Welt,

einfach so, wie es dir gefällt.

Ein Regenbogen steht fest

am Himmel.

Mitten in der Nacht

blühen sonnengelbe Primeln

in wunderschöner Pracht.

Der Wind flüstert leise

ein zartes Lied.

Es begleitet dich

auf Schritt und Tritt.

In deiner Welt der Phantasie

kannst du über Regenbogen steigen,

auf Einhörnern durch die Lüfte schweben.

Dort findest du das Land der Harmonie,

wo schillernde Pflanzen aus dem Wüstensand treiben …

Komm, Träumer,

komm herein …

Kapitel 1 – Prolog

Hier, Frau Bergmann, sehen Sie sich das an!«, leitete Frau Erhard, Annas Klassenlehrerin, das Gespräch ein und legte Annas Mutter mit einer entrüsteten Geste die handgeschriebenen Zeilen vor. »Sie hat dieses Gedicht während des Mathematikunterrichts verfasst! So etwas geht doch nicht! Da braucht man sich über ihre schwachen schulischen Leistungen nicht zu wundern!«

Anna, die neben ihrer Mutter im Klassenzimmer Platz genommen hatte, fühlte sich zunehmend unwohl. Nur mit großer Mühe gelang es ihr, ruhig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. Angespannt wartete sie die Reaktion ihrer Mutter ab. Bevor sich diese aber zu Wort melden konnte, sprach Frau Erhard ungebremst weiter.

»Die Versetzung Ihrer Tochter in die neunte Jahrgangsstufe ist leider gefährdet, Frau Bergmann. Sie müsste sich in den nächsten Wochen deutlich verbessern, damit ich Ihnen eine positivere Perspektive geben könnte. Insbesondere in den Fächern Mathematik und Englisch hat sie erhebliche Schwierigkeiten. Ihre Leistungen in Deutsch wären ganz passabel, wenn sie sich bei den Aufsätzen nicht immer in den Details verlieren würde«, seufzte Frau Erhard und schob ihre Hornbrille, die ihr ständig von der Nase rutschte, wieder nach oben.

Annas Mutter räusperte sich und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht, Anna ist so bemüht, sie bekommt mehrmals pro Woche Nachhilfe und wiederholt regelmäßig den gesamten Unterrichtsstoff der letzten Tage. Ihre Aufsätze finde ich immer sehr phantasievoll.«

»Ja, das ist natürlich sehr anerkennenswert, aber im Moment reicht das nicht aus. Ich habe mich mit ihrem Mathelehrer, Herrn Radec, unterhalten und ihn um seine Meinung gebeten. Wir sind beide zu dem Schluss gekommen, dass Anna deutlich hinterherhinkt«, konterte Frau Erhard und begann etwas in ihren Aufzeichnungen zu suchen. »Da, sehen Sie, hier habe ich einen Eintrag von Herrn Radec:

Anna hat sich heute nicht für den Mathematikunterricht interessiert und diesen durch ihr Benehmen nachhaltig gestört. Sie blickte ständig aus dem Fenster und erzählte etwas von einem Regenbogen. Daraufhin sprangen die anderen Mädchen alle auf, um nach draußen zu sehen. Sie waren nur sehr schwer wieder auf ihre Plätze zurückzubringen. Der Unterricht konnte nicht wie geplant weitergeführt werden.«

Frau Erhard las diesen Zwischenfall vor, als käme er einem Verbrechen gleich. Entrüstung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Annas Mutter schmunzelte. »Nun ja, Frau Erhard, Anna hat eben einen besonderen Blick für die vielen kleinen und großen Dinge, die das Leben schöner machen.«

»Aber ein Regenbogen hat nichts im Mathematikunterricht zu suchen!«, unterbrach sie Frau Erhard streng.

Anna hielt das Schweigen, das von ihr gefordert wurde, nicht länger aus. »Es waren drei Regenbogen, drei und nicht einer!«, sagte sie trotzig. »Und es war wundervoll! Wann sieht man schon drei strahlende Regenbogen auf einmal?«

Frau Erhard starrte Anna fassungslos an. Ohne auch nur mit einem Wort auf sie einzugehen, wandte sie sich erneut an ihre Mutter. »Ich glaube, Sie nehmen das nicht ernst, Frau Bergmann. Das ist ja nur ein Moment von vielen, in denen uns Ihre Tochter unkonzentriert und abwesend erscheint. Sie wirkt regelrecht verträumt – Sie sollten mit ihr mal zu einer psychologischen Beratungsstelle gehen und sie testen lassen!«

Die rechte Augenbraue ihrer Mutter zuckte; Anna wusste, was das bedeutete: Sie war kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Ich finde, Sie betrachten Anna zu einseitig, und wie mir scheint, haben Sie sie bereits in eine Schublade gesteckt, aus der es schwer sein wird, wieder herauszukommen. Natürlich spreche ich mit ihr und bitte sie, ihre Klasse in Zukunft nicht mehr zu stören, indem sie so etwas Profanes wie einen Regenbogen bewundert. Aber vielleicht könnten Sie auch einmal darüber nachdenken, wie es für ein 14-jähriges Mädchen ist, das sich bald von ihrem gewohnten Zuhause trennen muss, da sich die Eltern scheiden lassen. Noch dazu ist es gerade erst ein Jahr her, dass Annas geliebter Großvater gestorben ist, an dem sie sehr hing. Vielleicht, Frau Erhard, ist es in so einer Situation normal, dass sich Kinder auffällig und nicht konform verhalten!«

Annas Mutter griff dabei nach den Händen ihrer Tochter und drückte sie liebevoll. Diese kämpfte bereits mit den Tränen. Sie hatte beschlossen, aus dem Erwachsenengespräch auszusteigen und die vielen vorbeiziehenden watteartigen Wolken am Himmel zu beobachten.

»Sehen Sie! So verhält sich Ihre Tochter häufig im Unterricht!«, zischte Frau Erhard daraufhin. »Außerdem ist das noch nicht alles, warum ich Sie heute einbestellt habe.«

»Ach ja? Was hat denn meine Tochter außerdem verbrochen? Hat sie noch von anderen Naturschauspielen geschwärmt?«

Frau Erhard kramte in ihrer Ledertasche, die so steif und altmodisch wirkte wie die Lehrerin selbst. Die Zeit schien für sie vor Ewigkeiten stehen geblieben zu sein.

»Da, sehen Sie! So etwas bei uns zu verbreiten – unmöglich! Die Schule ist doch keine politische Organisation und darf sich auch keiner anschließen!« Mit diesem Satz klatschte Frau Erhard mehrere farbige Flugzettel auf den Tisch, auf denen mit großen roten Buchstaben stand:

Rettet die Robbenbabys und die Delfine! Lasst nicht zu, dass sie sterben müssen, und unterschreibt auf dieser Liste!

Annas Mutter blickte ihre Tochter verwundert an. Die versuchte, ihr mittlerweile hochrotes Gesicht hinter den langen dunkelblonden Haaren zu verstecken.

»Anna, was hast du dir dabei gedacht?«

Sie verstand diese Frage nicht. Es war doch klar, was sie sich dabei gedacht hatte. Vor Kurzem hatte sie in einem Zeitungsbericht von dem grausamen, sinnlosen Tod dieser wunderbaren Lebewesen erfahren. Sie wollte helfen, dass die Menschen darüber nachdachten, was sie taten, und endlich damit aufhörten.

Anna ahnte, dass sie in diesem Gespräch nur verlieren konnte. Mit ihren 1,50 Metern und als Kleinste in der Klasse fühlte sie sich erstmals tatsächlich winzig und machtlos.

Als ihre Mutter Frau Erhard versprach, dass so etwas nicht mehr vorkommen werde, beschloss sie, für den Rest des Gesprächs still auszuharren.

Erst als sie zusammen auf dem Heimweg im Auto saßen, brach Anna ihr Schweigen.

»Was ist daran so schlimm? Ich wollte helfen und etwas gegen dieses gemeine Abschlachten der Robbenbabys und Delfine tun. Ich hätte versucht, genug Unterschriften zusammenzubekommen, und sie dann an die jeweiligen Regierungen der Länder geschickt, die das zulassen.«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Du glaubst, du hättest damit etwas bewirken können?«

Anna nickte und spürte, wie ihr die Tränen kamen, da sie in der Stimme ihrer Mutter Zweifel wahrnahm. Es war klar und deutlich herauszuhören, dass sie ihr das nicht zutraute. Betrübt sank sie auf ihrem Platz im Auto zusammen.

»Anna, du musst endlich mal die Realität akzeptieren! Morgen kommen die Möbelpacker und wir ziehen aus, und alles, was du tust, ist dich mit Dingen zu beschäftigen, die du nicht ändern kannst! Du hast deine Sachen immer noch nicht vollständig gepackt, ganz zu schweigen von den vielen Postern von diesem Jungen, mit denen du deine Wände tapeziert hast … Wie heißt er noch mal? Na ja, ist auch egal, jedenfalls solltest du endlich alles abnehmen. Die neuen Eigentümer wären davon nicht begeistert. Ach Anna, wann hörst du endlich auf, dich da in was hineinzuspinnen?«

»Er heißt Noah!«, flüsterte Anna leise. Mehr brachte sie nicht heraus. Die Tränen erstickten ihre Stimme. Warum verstanden ihre Mutter und auch ihr Vater sie nicht? Ihre große Schwester war schon lange ausgezogen und führte längst ihr eigenes Leben. Sie hatte das Gefühl, zu keinem zu gehören. Anna war einfach total anders als diese vernünftigen, logisch denkenden Erwachsenen. Warum sollte sie nicht etwas mit ihrer Unterschriftensammlung bewirken können? Nur weil sie noch ein Kind war?

Nachdem sie zu Hause angekommen waren, schlich Anna sofort in ihr Zimmer und verschloss die Tür. Draußen dämmerte es bereits. Das einzige Licht, das Anna einschaltete, war das ihres Weltglobus. Sehnsüchtig drehte sie die Erdkugel ein paarmal, bis sie USA – Kalifornien – erblickte.

»Noah, wenn ich doch nur eine Chance hätte, zu dir zu kommen und dich kennenzulernen«, seufzte Anna. »Vielleicht würdest du mich verstehen und mich hier rausholen, ich halte das alles nicht mehr aus!«

Niedergeschlagen begann sie ganz vorsichtig ein Poster nach dem anderen von den Wänden abzunehmen. Als sie damit fertig war, legte sie sich aufs Bett. Ein Lächeln huschte über ihr trauriges Gesicht, als sie das letzte Poster an der Decke erblickte.

»Hallo Noah, da bist du ja auch noch! – Wie soll ich da nur rankommen?«

Im gleichen Moment riss die Türklingel Anna aus ihren Träumereien. Sie lief in den Flur und öffnete die Haustür. »Hallo Sofie!«, begrüßte sie ihre Freundin erleichtert und zog sie an der Hand sogleich mit in ihr Zimmer. Kurz danach lagen sich die beiden Freundinnen in den Armen.

»Ich bin so froh, dass du da bist!«, schluchzte Anna und vergrub ihr Gesicht in Sofies Haaren, die fast einen Kopf größer als sie war. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich der Termin bei Frau Erhard heute Nachmittag war! Wenn ich doch wenigstens so eine gute Schülerin wie du wäre, dann hätte sie mir meine Tierrettungsaktion auch nicht so nachgetragen!«

»Ach, mach dir nichts draus!«, versuchte sie Sofie zu trösten. Du musst nur noch dieses eine Schuljahr halbwegs überstehen, dann bist du diese doofe, zickige Kuh los, da sie ja in der 9. Jahrgangstufe nicht unterrichtet.«

»Ja, bei dir klingt das alles so einfach und logisch. Wenn ich doch nur so denken könnte«, antwortete Anna traurig und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Anna, egal was passiert, ich werde immer da sein! Nur weil du Probleme in der Schule hast, hier ausziehst und deine Eltern sich trennen, verlieren wir uns doch nicht! Und außerdem darf ich heute bei dir übernachten!«

»Echt? Das ist ja super! Meine Mutter meinte schon, dass sie heute die halbe Nacht in unserer neuen Wohnung soweit alles herrichten muss, damit morgen beim Umzug alles klappt. Eigentlich sollte meine Schwester noch vorbeikommen, damit ich nicht alleine bin, nur die ist auf einer Party eingeladen und hat mich gebeten, dass ich es nicht unserer Mutter verrate.«

»Na dann machen wir uns eben einen schönen Abend! Es soll richtig viele Sternschnuppen geben, habe ich im Radio gehört!«, erwiderte Sofie.

»Wirklich?«, fragte Anna und ihre blauen Augen begannen zu strahlen. Sie liebte es, bis spät nachts draußen in dem wunderschönen Garten zu sitzen und die Sterne zu beobachten.

»Das wird die Nacht der Nächte!«, schwärmte Sofie und strich sich die langen dunklen Locken aus dem Gesicht. »Wen interessiert da schon, was morgen ist!«

»Ja, Sofie, das wird unsere Nacht!«, kicherte Anna, die für einen Augenblick ihren Kummer vergessen hatte.

Kapitel 2 – Sternschnuppennacht

Es war fünf Minuten vor Mitternacht. Der Abend war bereits vor vielen Stunden über den kleinen Ort am Rande der beeindruckenden und wunderschönen Alpen hereingebrochen. Die beiden 14-jährigen Mädchen saßen in ihren Nachthemden und in warme weiße Decken gehüllt draußen auf der Terrasse. Sie blickten in den samtblauen Himmel, der mit goldgelb funkelnden Sternen übersät war. Der Mond legte über alles einen zauberhaften silbrigen Glanz.

Wehmütig betrachtete Anna noch einmal die verschiedenen Bäume, auf die sie früher oft geklettert war, die Büsche, unter denen sie sich besonders gut verstecken konnte, und die Kletterrosen, die einen angenehmen und süßlichen Duft verströmten.

Warum wollten alle Erwachsenen um sie herum, dass sie mit dem Träumen aufhörte? Weshalb waren sie so sicher, dass es keinen Sinn machte, sich für etwas einzusetzen, nur weil man noch nicht wusste, wie das Ganze ausging? Erneut spürte sie den starken Wunsch, dieser erwachsenen Welt der Kälte und des ständigen Leistungsdruckes zu entfliehen. So wollte sie auf keinen Fall werden, dachte sie trotzig und schüttelte dabei den Kopf.

»Was ist?«, fragte Sofie, der nicht entgangen war, dass Anna gerade mit ihren Gefühlen kämpfte.

»Nichts, es ist nur, dass ich immer wieder daran zweifle, ob ich hierhergehöre, ich denke und fühle doch so anders als die meisten um mich herum … Du bist die Einzige, die mich versteht.«

Sofie nickte. »Wie schön wäre es, in eine andere Welt zu fliegen?«, fragte sie und starrte unentwegt in den tiefen Nachthimmel.

»Wunderschön!«, antwortete Anna. »Stell dir vor, dort wäre dein Liebling Joshua, der nur auf dich wartet, und Noah, und wir könnten machen, was wir wollen, frei sein, kein doofer Schulalltag mehr.«

»Ich bin sicher, irgendwo da draußen gibt es Leben in einer Weise, die für uns unbegreiflich ist«, erwiderte Anna leise und sank noch tiefer in die wärmende Wolldecke neben Sofie.

»Sieh nur, Anna! Da oben am Himmel stehen Sterne, die funkeln so stark, dass man denken könnte, sie wären ganz nah, und andere strahlen so schwach, dass man sie kaum sehen kann«, sagte Sofie mit gedämpfter Stimme.

Anna blickte nachdenklich auf den mitternächtlichen Himmel. »Ja, und schau mal, da links, genau über der Spitze des Berges! Die Sterne, die so hell leuchten! Wenn man sie verbindet, bilden sie einen richtigen Bogen. Wie ein Regenbogen.«

»Es könnte aber auch ein großes Tor sein, das in eine andere Welt führt, Anna!«

Kaum hatte sie das ausgesprochen, fiel eine Sternschnuppe von einem Stern in der Mitte des Bogens. Anna sah diesen kleinen, so weit entfernten goldenen Funken. Sie schloss die Augen und wünschte sich ganz fest, dass ihre Träume in Erfüllung gingen. Als sie langsam die Augen wieder öffnete, war die Sternschnuppe immer noch zu sehen.

»Das gibt es doch gar nicht«, wunderte sich Sofie. Denn anstatt dass diese Schnuppe, die mit unendlich vielen Wünschen behaftet war, kleiner wurde und sich im tiefen Schwarz des Universums verlor, wurde sie immer größer, und es machte den Anschein, als näherte sie sich. Anna traute ihren Augen nicht und auch in Sofies Blick spiegelte sich die Verwunderung und zugleich Hoffnung auf Erfüllung ihrer Träume. Anna war zu erstaunt, um noch ein Wort zu sagen. Die Sternschnuppe war gar nicht das, wofür Anna sie gehalten hatte, sondern ein großes leuchtendes Etwas, und dieses geheimnisvolle Etwas schwebte direkt über ihnen. Anna konnte es nicht glauben. Was war das? Sie fasste ihre Freundin aufgeregt an der Hand. Ihre Knie zitterten, als sie beide barfuß über das kühle, feuchte Gras auf das unbekannte Wesen zuliefen. Dort setzten sie sich erwartungsvoll auf den weichen Boden, den Blick unverwandt auf das fremde Wesen gerichtet, das nun, da sie ihm so nahe gekommen waren, sonderbare Töne von sich gab. Es klang wie ein helles, zartes Glockenspiel, das Anna in einen geheimnisvollen Bann zog. Das Wesen wirkte friedlich und diese Musik empfand Anna als wunderschön, obwohl sie etwas Vergleichbares noch nie gehört hatte.

Das Wesen landete ganz sanft, ohne große Anstrengung, und das helle Licht, das von ihm ausging, nahm langsam an Intensität ab, bis es schließlich erlosch. Anna konnte nun teilweise im Mondlicht die Umrisse erkennen. Es war kein Ufo, keine Raumfähre oder irgendetwas Ähnliches. Kein Roboter oder eine Dampfmaschine, kein abgestürzter Satellit, sondern es war ganz eindeutig ein Lebewesen. Es war mindestens fünfzehn Meter lang und zwei bis drei Meter breit. Es glich von seinen Formen denen einer riesigen Robbe. Das weiße Fell glänzte im silbernen Mondschein, der Kopf war sehr groß und die gutmütig wirkenden Augen glitzerten und funkelten in den Farben des Regenbogens.

»Wer bist du?«, fragte Sofie stockend und blickte das riesengroße Tier ernst an.

»Ich werde in meiner Welt Flinka genannt«, ertönte eine glockenklare Stimme, und jeder Ton, der aus Flinkas Mund erklang, verhallte geheimnisvoll im Nichts.

»Du kannst sprechen?«, fragte Anna, die sich aufmerksam zu den Häusern ihrer Nachbarn umdrehte und überrascht feststellte, dass wohl niemand außer ihnen von Flinka Notiz nahm.

»Nicht jeder Mensch kann mich verstehen, es liegt an ihm, ob er mich sieht, mich hört oder mit mir spricht«, antwortete Flinka sanft. »Dort, wo ich herkomme, verständigen wir uns alle durch eine Sprache, es ist die Sprache des Herzens und der Gefühle, nur Menschen, die das nicht verlernt haben, können uns verstehen.«

Die Mädchen nickten und Anna war gespannt, was wohl geschehen würde.

»Ich habe die Aufgabe, euch mitzunehmen, um euch näher an eure Träume heranzuführen. Ihr habt nun die Wahl, mir zu vertrauen und Dinge in Bewegung zu setzen, die ihr nicht für möglich gehalten habt, oder aber hierzubleiben und euren Verstand über euer Herz siegen zu lassen. Das ist dann der sicherste Weg … aber auch der, der euch bestimmt nicht zu euch selbst führen wird …«

»Ist das wirklich wahr? Oder alles nur ein wunderschöner Traum?«, fragte Sofie.

»Das müsst ihr schon selbst herausfinden. Hört auf eure innere Stimme, sie ist niemals falsch. Nur auf eines müsst ihr achten: Vergesst niemals eure Träume und Wünsche, verliert nie eure Phantasie, denn dann gibt es kein Zurück mehr für euch.«

»Unsere Träume vergessen? Nie könnte ich Noah vergessen, ich wäre der glücklichste Mensch, hätte ich nur die Chance, ihn kennenzulernen!«, rief Anna in die Stille der Nacht.

Sofie stimmte ihr nickend zu.

»Dann steigt auf meinen Rücken und ich bringe euch in meine Heimat, man nennt es das Traumland.«

Sofie und Anna zögerten nicht lange und kletterten auf Flinkas weichen, warmen Rücken. Die kindliche Neugierde siegte über jegliche aufkommende Angst vor dem Unbekannten.

»Haltet euch fest!«, rief die Robbe und ihre Stimme klang wieder wie viele helle Glocken, die langsam in der unendlichen Weite der Nacht verhallten.

Mit einem Ruck hob Flinka ab und flog höher und höher. In Annas Bauch kribbelte es, sie konnte noch immer nicht fassen, was gerade geschah. Jegliche Höhenangst, die sie bisher von sich kannte, wich der wachsenden Neugier nach dem Neuen, das vor ihr lag. Sie fühlte sich vollkommen sicher auf Flinkas Rücken, die stolz und würdevoll flog. Trotz ihres großen und schweren Körpers glitt sie elegant und schnell durch die Lüfte, ohne jegliche Anstrengung. Anna überkam ein irrsinniges Glücksgefühl. Leicht und losgelöst von allen Ängsten und geborgen auf Flinkas Rücken, der sie behutsam durch das samtene Dunkel trug, lächelte sie Sofie an, deren Gesicht vor Freude strahlte. Plötzlich wurde es taghell und Anna musste die Augen schließen, bis sie sich an das grelle Licht gewöhnt hatte. Flinka flog jetzt langsamer, aber immer noch würdevoll. Auf einmal tauchten wunderschöne Farben auf, sie leuchteten, glitzerten, schillerten, und verschwammen dann wieder vor Annas Augen. Es schien, als durchflögen sie einen Tunnel, der sich um die eigene Achse drehte. Und in diesem fanden Farbenspiele statt, die Anna mit keiner ihr bekannten Farbe vergleichen konnte. Sie leuchteten wie Juwelen, Smaragde, wie warme, helle Sonnenstrahlen. Alles um sie herum begann sich zu drehen, begleitet von einer zauberhaften, beruhigenden Musik.

Das musste sie unbedingt erzählen, wenn sie wieder zurück war, das würde ihr niemand glauben. Die Farbenspiele und die wunderschöne Melodie ließen sie immer schläfriger werden. Trotz aller Bemühungen war es Anna nicht mehr möglich, die Augen offen zu halten. Eine tiefe Schwere und angenehme Wärme durchdrangen ihren Körper, ließen sie in das weiche Fell sinken und für die restliche Reise in das Traumland schlafen.

Kapitel 3 – Ankunft

Langsam öffnete Anna die Augen. Hatte sie geschlafen? Daran, wann und wie sie eingeschlummert war, konnte sie sich gar nicht mehr erinnern.

Seltsam, dachte sie und nahm erst jetzt die Umgebung wahr. Auf einmal erschrak sie fürchterlich. Ein großer Vogel von mindestens zwei Meter Höhe, mit einem weißen Hackschnabel und einem elfenbeinfarben schimmernden Horn auf dem Kopf, starrte ihr unverhohlen entgegen. Anna raffte sich etwas verwirrt von dem sandigen Boden auf. Sie stand in einer kleinen Senke zwischen grasbewachsenen Hügeln und musterte die weite grüne Landschaft, deren hohes Gras von unzähligen blauen Kornblumen durchsetzt war und von einem leichten, warmen Wind wellengleich hin und her gewiegt wurde. Der eigenartige Riesenvogel blickte ihr noch immer neugierig ins Gesicht. Er saß neben ihr, blinzelte, und da fiel ihr auf, dass seine Augen sehr groß waren und sich in ihnen ein strahlender Regenbogen spiegelte. Für einen kurzen Moment meinte Anna, so etwas schon irgendwann einmal gesehen zu haben, verlor diesen Gedanken jedoch noch in derselben Minute.

»Ich bin Poalbo! Und wie heißt du?«, hörte sie die Stimme des sonderbaren Vogels sprechen, ohne dass dieser seinen Schnabel bewegte. Es wunderte Anna nicht im Geringsten, dass der Vogel sprechen konnte. Jedoch machte sich in ihr eine immer größer werdende Beunruhigung breit, als ihr nicht einmal mehr ihr eigener Name einfiel. Was war nur passiert?

Poalbo sah sie durchdringend an. Sein Blick schien bis in die Tiefe ihrer Seele vorzudringen und sie komplett zu durchleuchten. »Du weißt nicht mehr, wer du bist und wie dein Name ist, oder?«, fragte er ernst. »Überleg doch bitte noch mal ganz fest. Es ist so wahnsinnig wichtig!«, bat er und warf Anna einen aufmunternden Blick zu.

»Tut mir leid, P-Poalbo, ich weiß es wirklich nicht mehr. Irgendwie habe ich das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein, andererseits ist diese Welt völlig fremd für mich. Kannst du mir da weiterhelfen?«, stammelte Anna unsicher.

»Ein klein wenig vielleicht«, antwortete Poalbo ruhig. »Du kommst von der Erde und wirst dort von den Menschen Kind genannt. Du und deine Freundin Sofie seid zu uns gebracht worden. Soweit ich weiß, ist dein Name Anna.«

»Was? Ich bin mit einer Freundin hier?«, unterbrach sie ihn erstaunt.

»Ja, aber bevor ich weitererzähle, bringe ich dich erst mal zu ihr. Sie badet nicht weit entfernt im Regenbogenfluss. Sofie lag neben dir, hier unter diesem Baum, sie ist früher erwacht und hat mich bereits kennengelernt. Sie hat leider genauso ihr Gedächtnis verloren wie du«, erwiderte Poalbo und machte mit seinem rechten Flügel eine Bewegung, die sie aufforderte, ihm zu folgen. Anna fasste sofort zu dem väterlich wirkenden Vogelmännchen Vertrauen und folgte ihm. Noch einmal betrachtete sie den Platz, an dem sie geschlafen hatte, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie dort hingekommen war. Poalbo hinterließ, während er auf seinen langen, dünnen Beinen vor ihr her stakste, für Sekunden viele kleine Regenbogen in der Luft, die verblassten und dann für Anna nicht mehr sichtbar waren.

Plötzlich sprengte ein pferdeähnliches Wesen in einer irrsinnigen Geschwindigkeit an ihr vorbei. Anna blieb erschrocken, aber auch geblendet von dessen Anmut und Schönheit für einen kurzen Augenblick stehen.

»Was war das?«, fragte sie stockend.

»Das war Keran«, antwortete Poalbo und legte seinen gefiederten Kopf nachdenklich schief. »Er ist sehr geachtet in unserem Land und bis auf die Flug-Robben das schnellste und würdevollste Tier. Jedoch weiß er das auch selbst und macht auf mich einen eingebildeten und arroganten Eindruck, denn niemand außer ihm kann zugleich fliegen und ist zu Land und Wasser so flink. Es scheint so, als wäre er auch noch unverletzbar, denn er kann Dinge tun, die manch anderen das Leben kosten würden.«

»Was meinst du damit?«, fragte Anna neugierig.

»Ach das wirst du selbst noch erfahren. So viel kann ich dir aber sagen: Keran kommt über Monate ohne jegliche Nahrung aus. Er ist ein sehr stolzes Tier.«

Anna staunte und hätte zu gern mit Keran Bekanntschaft gemacht, aber da hörte sie bereits ein erst sehr leises Gluckern und dann ein immer lauter werdendes Rauschen aus der Richtung, in die sie liefen. Es musste der Regenbogenfluss sein, und es dauerte nicht lange, da stand sie vor einem breiten Gewässer. Auf einem riesigen Felsen, der wie so vieles hier in Regenbogenfarben erstrahlte, saß eine junge, schlanke Frau mit dunkelbraunem, lockigem Haar, die Anna nicht kannte, aber laut Poalbo eine Freundin von ihr war. Sie trug ein dünnes, wunderschönes Kleid; es schillerte in den bunten Farben des Regenbogens. Anna trug im Gegensatz zu ihrer Freundin ein einfaches weißes Nachthemd. Poalbo stellte sie einander vor. Sofort empfand Anna ein Gefühl der Verbundenheit für die junge Frau.

»Hallo!«, wurde sie von Sofie freundlich lächelnd begrüßt. »Wenn du in den Fluss springst, wird dein Nachthemd genauso schön wie meines.«

»Wirklich?« Anna wartete nicht lange und stürzte sich geradewegs in das herrlich erfrischende Wasser. Als sie sich wieder ans Ufer begab, hatte auch sie sich verändert. Sie sah an sich hinunter. Das Kleid, das sie trug, war kaum wiederzuerkennen und hatte große Ähnlichkeit mit Sofies. Es war elfenbeinweiß, und wenn die Sonnenstrahlen es beschienen, brach sich das weiße Licht in viele bunte Farben.

»Du siehst wunderschön aus, irgendwie älter! Das Bad im Regenbogenfluss hat wohl eine magische Wirkung!«, äußerte Sofie begeistert.

Anna begab sich ein Stück flussabwärts und blickte neugierig in ihr Spiegelbild, das sie in einem ruhiger fließenden Ausläufer erkennen konnte. Ihre Haut schimmerte genauso strahlend wie Sofies, ihre Augen spiegelten Wärme und Liebe wider und ihre schulterlangen Haare hatten einen goldenen Schimmer. »Das bin also ich?«, fragte sie erstaunt.

»Im Traumland ist es ein bisschen anders mit dem Alter als bei euch zu Hause«, erklärte Poalbo. »Jeder, der hier lebt, nimmt die Gestalt an, die der Reife seiner Seele entspricht. Durch verschiedenste Lebenserfahrungen gewinnen die Wesen hier an Tiefe und erscheinen äußerlich damit älter.«

»Dann sind wir beide nun Wesen dieses Landes?«, fragte Sofie verwundert und ließ sich neben Anna in das weiche Gras am Rande des Flusses sinken.

»Poalbo, kannst du uns nicht ein bisschen von diesem Land hier erzählen?«, bat Sofie.

Der setzte sich ihnen gegenüber und räusperte sich. »Ihr befindet euch im Regenbogenland, es gehört zu einem riesigen Gebiet, das sich Traumland nennt. Dieses existiert schon sehr lange, von dem Tag an, als Menschen begannen auf dem Planeten Erde zu leben, also seit vielen Tausenden von Jahren. Das Traumland wurde mit der Phantasie der ersten Menschen in ihren nächtlichen Träumen erschaffen. Wenn sie schliefen, befanden sie sich in der Traumwelt, die sich mit jedem ihrer Wünsche und Gedanken ausdehnte. Zuerst war es winzig, doch im Laufe der Jahre wuchs es zu einer unendlichen Größe heran. Jedoch veränderten sich die Menschen besonders im letzten Jahrhundert und alles, was das Traumland betraf, verlor an Wichtigkeit für sie. Vielleicht dachten sie, eine Welt ohne Träume und Phantasie wäre besser und sie sollten andere Ziele verfolgen, die ihnen mehr wert waren. Es ist eigentlich eine sehr traurige Geschichte, denn die Menschen gaben über Generationen hinweg den Glauben an eine andere Welt auf, eine Welt der Träume und der Liebe. Sie verdrängten jeden Gedanken daran, als würden sie Schaden davontragen, Gefühle zu zeigen, die guten wie die schlechten, und diese zu durchleben. Deshalb hat sich das Traumland immer mehr von der Erde entfernt. Es ist so manch Schlimmes geschehen, seit die Menschen ihre Träume aufgaben und sich anstatt Liebe in ihren Herzen Hass und Selbstsucht ausbreitete. Es entwickelte sich eine andere Art von Phantasie, die des Machtstrebens und der Kälte, und so entstanden auch hier Länder, die dies widerspiegeln und sehr gefährlich sind. Das Traumland kann für sich allein nicht existieren, es lebt von der Phantasie der Menschen und wurde zusammen mit ihnen geschaffen.«

»Aber warum sind wir denn hier, wenn sich die Menschen von euch abgewandt haben?«, fragte Anna ungeduldig. Sie konnte sich das alles nicht erklären und empfand die zunehmende innere Anspannung als unerträglich.

»Weil ihr noch nicht so seid wie die meisten Erwachsenen. Ihr habt noch Träume und glaubt an das Unmögliche. Wir haben euch geholt, um euch die Chance zu geben, sie zu verwirklichen, damit ihr wisst, dass es kein Unsinn ist, an Dinge zu glauben, die anders sind als das, was in eurer Welt als ›normal und richtig‹ angesehen wird. Denn wir haben unseren Glauben an euch noch nicht verloren und wollten in Kontakt mit Menschen treten, die noch Liebe und Hoffnung in ihren Herzen tragen. Solltet ihr beide es schaffen, eure Träume in unserem Land zu finden und zu verwirklichen, so wird das Traumland weiterhin bestehen und für Menschen, denen das Träumen wichtig ist, zugänglich sein. Denn ihr müsst wissen, ohne unser Land könnt auch ihr auf Dauer nicht überleben. Es ist wie ein ungleiches Zwillingspaar, das ohne Kontakt zu dem anderen leidet und deshalb schwer krank wird und schließlich zugrunde geht. Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, alles ist so neu für euch.«

Anna und Sofie blickten einander traurig an. »Es ist sehr schade und furchtbar, dass es so weit gekommen ist«, unterbrach Sofie Poalbo, der ein ganz ernstes Gesicht machte. »Aber wie konntet ihr denn nur vergessen werden? Es ist so schön hier, ich kann mir nichts Aufregenderes vorstellen als ein Leben im Traumland«, fragte Sofie ungläubig.

»Ja, das wundert mich auch«, fügte Anna hinzu.

»Nun, auch wenn ihr es momentan nicht mehr wisst, es hat schon immer Geschichten oder Sagen über uns gegeben. Ihr findet in eurer Welt unzählige Bücher, die in vielfältiger Weise von uns berichten. Aber wir sind in der heutigen Zeit, in der ihr lebt, in Vergessenheit geraten. Wir waren einst, als Friede und Freundschaft noch eine Bedeutung hatte, im Einklang mit euch. Aber das ist sehr, sehr lange her und bald wird sich auch kein einziges Wesen des Traumlandes mehr an diese wundervolle Zeit der Verbundenheit erinnern. Damit dies nie geschieht und vielleicht irgendwann einmal die Hoffnung besteht, dass unsere beiden Welten wieder eins werden, haben wir euch hierherholen lassen.«

»Aber warum denn gerade uns beide?«, unterbrach ihn Anna. In ihrem Kopf kreisten zahllose Fragen und Gedanken, die sie nur schwer einordnen konnte. Ja, sie wollte so gerne an eine Welt wie diese hier glauben, wo so vieles möglich war. Das, wovon sie immer geträumt hatte. Aber was war das noch mal? Sie konnte sich vage an ihre Familie und das Leben auf der Erde erinnern, wusste aber weder, was ihre Vorlieben, Wünsche und Sehnsüchte, noch, was ihre größten Ängste waren. Alles, was sie als Person ausmachte, sogar ihren Namen und ihre Freundin Sofie, hatte sie vergessen. Ein flaues Gefühl in der Magengegend riss sie aus den Gedanken und ließ ihre Aufmerksamkeit wieder zu Poalbo und Sofie zurückkehren.

»Warum holt ihr nicht irgendein hohes Tier wie die Bundeskanzlerin oder den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika?«, setzte Anna fort.

Poalbo schüttelte heftig den Kopf. »Dazu ist kein Mensch, der eine gehobene Stellung hat und Macht ausüben kann, geeignet. Gerade weil ihr noch nicht seid wie die meisten Erwachsenen, haben wir euch ausgesucht. Ihr habt noch so viel gemeinsam mit den Menschen von früher, mit denen wir Verbindung hatten. Wir wussten, dass eure Phantasie grenzenlos ist. Ihr habt Träume, die für die meisten von euch schon zu absurd wären. Ihr Verstand lässt nicht zu, dass sie der Phantasie Raum geben. Nun habt ihr die Möglichkeit, in unserem Land euren Träumen zu begegnen und sie wahr werden zu lassen. Dadurch werden sich unsere Welten wieder einen großen Schritt näher kommen.«

»Aber Poalbo, ich weiß schon gar nicht mehr, was denn mein Traum war, weshalb ich mich hierhergewünscht habe«, bedauerte Sofie.

Anna stimmte ihr zu und blickte den großen Regenbogenvogel fragend an.

»Das habe ich mir schon gedacht, als ich euch beide fand und ihr sogar eure Namen vergessen hattet. Leider ist das bisher allen Menschen passiert, die wir hierhergebracht haben, sie vergaßen auf der Reise in unser Land das, warum sie hier waren. Die meisten interessierten sich auch nicht mehr besonders dafür. Begeistert von dem, was sie im Traumland vorfanden, wollten sie von ihrer eigenen Vergangenheit nichts mehr wissen und das Leben in dieser phantastischen Welt nur genießen. Sie gaben die Suche nach ihrer verlorenen Erinnerung rasch auf.«

»Das finde ich sehr traurig«, sagte Anna und spürte, wie sich das unbehagliche Gefühl verstärkte.

»Ja, es ist nicht nur sehr traurig, sondern auch sehr gefährlich. Denn alle Menschen, die bislang hierhergekommen sind und ihre Suche nach ihrer Erinnerung an ihre Träume aufgaben, erkrankten schwer und starben nach einer gewissen Zeit.«

»Was? Ist das wirklich passiert?«, schreckte Sofie auf und auch Anna, die nun mittlerweile gegen eine starke Übelkeit kämpfte, wurde sich bewusst, wie schwerwiegend das war.

»Es ist tatsächlich so geschehen«, antwortete Poalbo. »Ihr wisst nun, dass ihr in ernster Gefahr schwebt, wenn ihr keinen Weg findet, euren Träumen zu begegnen. Deshalb müsst ihr eure Erinnerung wiederfinden, denn nicht nur euer Leben steht auf dem Spiel, das, was eure Träume beinhaltet, wird auch jämmerlich zugrunde gehen.«

»Oh nein!«, rief Anna entsetzt und sprang augenblicklich von dem weichen Boden auf. Die immense innere Anspannung konnte sie nicht mehr unterdrücken. Sie wollte laufen, rennen, einfach los, um nicht in einer für sie bedrohlichen Hilflosigkeit zu verharren. »Wir müssen was unternehmen, Sofie, bevor es zu spät ist.«

Sofie nickte und erhob sich zögernd. »Aber was sollen wir nur machen, Anna? Ich habe so vieles vergessen!«

»Ich bin sicher, Mädchen, irgendwo im Traumland befinden sich genau eure Träume«, versuchte Poalbo sie zu beruhigen. »Ihr werdet sie finden und wiedererkennen, wenn ihr nicht wie die anderen die Hoffnung aufgebt. Ihr müsst so bald wie möglich aufbrechen und euch auf die Suche machen. Am besten gleich morgen früh. Ich kann euch bis an die Grenzen des Regenbogenlandes fliegen, weiter nicht, denn sobald ich in ein Gebiet außerhalb gelange, löse ich mich in Luft auf. Jedoch glaube ich, dies ist ein guter Ausgangspunkt für euren Weg in all die anderen Regionen, die allein von der Phantasie der Menschen geschaffen wurden. Ich komme morgen wieder an diesen Ort und bringe euch so viel Proviant wie möglich mit, denn es wird sicher eine lange Reise.« Mit diesen Worten tippte er Anna und Sofie mit seinen beiden Flügelspitzen behutsam auf die Schultern, drehte sich um und flog davon.

Kapitel 4 – Antiqua

Die beiden Mädchen, die nicht einmal mehr wussten, wer sie waren, standen sich ratlos gegenüber.

»Vielleicht kann uns jemand aus dem Regenbogenland weiterhelfen«, sagte Anna hoffnungsvoll, nahm Sofie an der Hand und lud sie ein, ihr zu folgen. Diese machte ein recht ernstes und zugleich trauriges Gesicht. Anna versuchte ihre eigenen Ängste zu verdrängen, denn sie war sicher, wenn sie diesen Gefühlen freien Lauf ließ, wäre jede Anstrengung, ihre Träume zu finden, vergebens. Gerade eben hatte sie erfolgreich die aufkommende Übelkeit besiegt, als ihr der Ernst der Lage, aber auch die Möglichkeit, dass alles ein gutes Ende nehmen konnte, klar wurde.

»Komm schon!«, forderte sie Sofie auf, die völlig erstarrt war. »Du darfst doch jetzt nicht schon aufgeben! Wir sehen uns hier mal um, wahrscheinlich ist alles gar nicht so schlimm, wie wir denken«, versuchte sie ihre Freundin aufzumuntern.

Sofie nickte und folgte schließlich Anna durch das saftig grüne, sich im Wind wiegende Gras, zunächst am Flussufer entlang und dann in Richtung eines kleinen Mischwaldes. Zarter Vogelgesang und die sanften grünen Hügel, die den Waldrand säumten, wirkten so friedlich und idyllisch, dass Anna für kurze Zeit ihre Probleme vergaß.

Die Sonne schien warm vom Himmel und tauchte die Landschaft in ein goldenes Licht. Beschwingt von deren Schönheit beschleunigten Anna und Sofie ihre Schritte. Sie konnten gar nichts dagegen tun. Es geschah einfach von selbst. Schließlich liefen sie mit weit ausgestreckten Armen, ausgelassen in kleinen Bögen durch das hohe Gras mit den unzähligen blauen Kornblumen, entdeckten kleine Bachläufe und übersprangen diese lachend.

Außer Atem von ihrem vergnügten Spiel ließen sich die beiden Mädchen auf den sandigen Boden vor einem kleinen See, der in Regenbogenfacetten schillerte, nieder. Dort trafen sie auf die sonderbarsten Tiere. Enten, die lange, mit Fell besetzte Ohren hatten, schwammen, tauchten unter und kamen nach ein paar Minuten wieder an die Wasseroberfläche. Rehähnliche Wesen, deren Körper ganz und gar mit Fischschuppen bedeckt waren, tranken am gegenüberliegenden Ufer aus dem See. Doch das Schönste von alledem war der große Regenbogen, der über dem kleinen Gewässer prangte. Alle Tiere wirkten auf eine ganz bestimmte Art glücklich und friedlich. Anna konnte sich nicht vorstellen, dass Hass und Gewalt hier jemals einen Platz hatten. Ihr fiel auf, dass alle Lebewesen des Regenbogenlandes Zufriedenheit und Harmonie ausstrahlten, außerdem hatten sie bestimmte Merkmale gemeinsam: Ihre Augen glitzerten einem Meer von Juwelen gleich, in dem zarte Regenbogen funkelten. Trugen diese Tiere Fell, Stacheln, Schuppen oder Sonstiges, so schimmerte ein leuchtender Regenbogen darauf. Lange beobachteten Sofie und Anna dieses Schauspiel, bis sich eine kleine Libelle auf Sofies Fuß setzte. Sie schreckte zunächst auf, doch da begann die kleine Libelle so stark zu kichern, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor.

»Die hat gut lachen«, bemerkte Anna etwas mürrisch.

»Ich heiße Antiqua«, stellte sich dieses kleine Wesen bei den Mädchen vor, und ihre Stimme war so zart und hell, als würde sie jeden Moment zerbrechen. »Ich bin zu euch gekommen, weil ich euch helfen möchte. Im Regenbogenland spricht sich alles sehr schnell herum, müsst ihr wissen.«

»Du willst uns helfen?«, zweifelte Sofie.

»Ja!«, wiederholte Antiqua etwas bestimmter. »Ihr wisst doch nicht einmal mehr, wie ihr hierhergekommen seid?!«, begann sie erneut und putzte sich die kristallklaren Flügelchen, ohne dabei die Balance auf Sofies großer Zehe zu verlieren.

»Leider wissen wir so gut wie gar nichts mehr«, erwiderte Sofie traurig.

»Na dann kann ich eurem Gedächtnis ein klein bisschen weiterhelfen«, sagte Antiqua keck. »Sicherlich hat Poalbo euch schon eine ganze Menge über unser Land erzählt und warum ihr zu uns gekommen seid. Das tut er immer, wenn Menschen hierhergebracht werden, um die Möglichkeit zu bekommen, ihre Träume zu verwirklichen. Poalbo hat damals bei der Versammlung, bei der ihr auserwählt wurdet, teilgenommen und bekam die Aufgabe, euch in Empfang zu nehmen. Ich selbst war bei dem Treffen der höchsten und mächtigsten Wesen des Traumlandes nicht dabei, aber ich bin sehr neugierig und habe Einblick in viele Dinge, die nur den wenigsten von uns bekannt sind. Ich weiß, wer euch hierhergebracht hat, und wenn ihr dieses Wesen findet, dann seid ihr euren Träumen schon einen großen Schritt näher gekommen.«

»Und kannst du uns sagen, wer das ist? Wer war das, Antiqua?«, fragte Anna aufgeregt. Ihr Herz schien plötzlich schneller zu schlagen. Als sie Sofies Blick sah, wusste sie, dass es ihr genauso erging.

»Flinka, eine gute Freundin von mir, hatte die Aufgabe, zwei Mädchen, wie ihr es seid, zu uns zu holen. Sie ist den Robben auf eurer Erde sehr ähnlich, nur ist sie ein Riese dagegen. Flinka ist ein gutmütiges und mütterliches Tier. Sie holte euch und muss etwas von euren Wünschen und Träumen gewusst haben«, erklärte Antiqua.

»Ja, dann gehen wir eben zu dieser Flinka und fragen sie danach«, schlug Sofie vor. Ihr Tonfall verriet ihre aufkommende Hoffnung.

»Hm, wenn das so leicht wäre«, setzte Antiqua fort. »Mit dem Vergessen eurer Träume ist ja auch Flinka großer Gefahr ausgesetzt. Sie ist ein Teil eurer Erinnerung. Keine Erinnerung, keine Flinka! So einfach ist das.«

Anna glaubte für einen Moment keine Luft mehr zu bekommen. Ein starker Druck lastete auf ihrer Brust. Nur mit Mühe gelang ihr ein Atemzug und gleichzeitig die Kontrolle über die verstärkt auftretende Panik.

»Aber du weißt, wo sie ist, oder?«, fragte Anna und versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Besorgt stellte sie fest, dass Sofie in sich zusammengesunken war und erneut reglos dasaß.

»Bitte sag uns doch, wo wir Flinka finden können, damit wir morgen gleich ein Ziel vor Augen haben, wenn uns Poalbo an die Grenzen des Regenbogenlandes fliegt. Wir haben keine Ahnung, wo wir anfangen sollen.«

Antiqua schwieg eine Weile und blickte Sofie und Anna durchdringend an. »Ich weiß wirklich nicht, wo genau Flinka ist, aber nach den alten Überlieferungen, die ich kenne, werden sämtliche vergessenen Träume in das Land des ewigen Eises verbannt«, antwortete Antiqua leise. »Es ist eure einzige Chance, eure Erinnerung, euch selbst und alles, was damit verbunden ist, zu retten. Dort liegen eure Erinnerungen vereist.«

»Wieso vereist?«, fragte Sofie erstaunt.

»Es ist eben so!«, wisperte Antiqua kurz. »Keiner weiß die genauen Gründe. Bis jetzt war es immer so, dass die Träume und Wünsche aller Menschen, die vom Planeten Erde stammen, vereist in diesem kalten, toten Land verborgen liegen. Die Träume ruhen dort Ewigkeiten und warten darauf, zum Leben erweckt zu werden. Diese Träume und Wünsche könnten hier im Traumland aufleben, aber die Menschen schließen sie selbst in das kalte dunkle Eis ein. Sie haben gar keine Hoffnung und keinen Glauben daran. Es fehlt ihnen der Wille, den Weg zu vollenden, der sie zu ihren Träumen führt. Das Eis tötet über die Jahre hinweg alles, was es einschließt. Und so wird es auch euren Träumen ergehen, wenn ihr sie nicht findet.«

»Und Flinka ist auch im Land des ewigen Eises?«, fragte Anna nachdenklich.

»Ja«, antwortete Antiqua und begann erneut ihre kristallklaren Flügelchen zu putzen. »Auch sie gehört zu eurer Erinnerung und ist in dem Eis gefangen, bis ihr sie findet. Ansonsten wird sie in der ewigen Kälte erfrieren und für euch wird es keine Hoffnung mehr geben!«

»Das ist ja schrecklich!«, unterbrach Anna die kleine Libelle. »Was sollen wir nur tun, damit es uns nicht so ergeht wie all den anderen Menschen, die ins Traumland kamen?«

»Ihr habt keine Zeit zu verlieren, macht euch sobald wie möglich auf die Suche in Richtung Norden. Dort liegt das Land des ewigen Eises. Es ist allein von euch abhängig, ob ihr es finden werdet, ob euer Glaube an euch groß, eure Kraft stark genug ist und beides nicht auf dieser langen Reise schwindet. Tut mir leid, mehr weiß ich auch nicht. Ich wünschte, ich könnte euch mehr sagen. Aber nun ist es schon spät geworden, ich werde weiterfliegen und wünsche euch viel Glück! Ich glaube, dass ihr es schaffen könnt«, versuchte Antiqua, Sofie und Anna zum Abschluss zu beruhigen, bevor sie leise surrend über den See hinwegflog und allmählich im goldenen Abendlicht der untergehenden Sonne verschwand.

»Na dann gehen wir mal zurück zum Regenbogenfluss«, schlug Anna vor, erleichtert, nun erstmals ein Ziel vor Augen zu haben. Das Land des ewigen Eises klang zwar furchteinflößend, jedoch keimte in ihr die Hoffnung, dort ihre vergessenen Träume wiederzufinden. Gedankenversunken standen Anna und Sofie vom Seeufer auf und liefen zurück an den Platz, wo sie zuletzt mit Poalbo gesprochen hatten. Erschöpft von all den verwirrenden Neuigkeiten legten sie sich seitlich Rücken an Rücken in eine Senke zwischen zwei Grashügeln. Anna hing ihren Gedanken nach, bis letztendlich die Müdigkeit über die innere Unruhe und die vielen Fragen siegte und sie in einen tiefen, festen Schlaf fiel.

Kapitel 5 – Keran

Die ersten Sonnenstrahlen erreichten gerade die weich geformten Hügel des Regenbogenlandes, als am Himmel ein großer bunter Vogel erschien. Es war Poalbo. Mit verschiedensten Früchten und zwei Decken bepackt, landete er beinahe lautlos vor Sofie und Anna. Kaum waren sie richtig wach, erzählten sie ihm aufgeregt und durcheinander, was sich am letzten Abend ereignet hatte.

»Wie kommen wir in das Land des ewigen Eises?«, fragte Anna wissbegierig.

Poalbo blickte die beiden ernst an und legte dabei seinen großen gefiederten Kopf schräg, wie er es bisher immer tat, wenn er einen Augenblick überlegte. Anna kam es wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich antwortete.

»Es ist ein langer und harter Weg dorthin. Diese düstere Gegend liegt ganz am Ende des Traumlandes, weit weg von hier, unerreichbar für euch, denn bis ihr dort seid, ist viel zu viel Zeit vergangen«, seufzte der große Regenbogenvogel und ließ für einen Moment den Kopf und die Flügel traurig hängen.

»Es muss doch einen Weg geben, wie wir möglichst rasch in den Norden dieses Landes kommen?«, fragte Sofie und blickte Anna durchdringend an.

»Ja, dann brauchen wir eben Hilfe auf unserem Weg, ein Wesen, das uns dort hinbringt, das blitzartig von einem Ort zum anderen reisen kann«, beschrieb Anna hoffnungsvoll den einzigen Ausweg, der ihr einfiel. Im gleichen Moment schoss es ihr durch den Kopf: »Keran! Poalbo, du hast mir doch erzählt, dass er das schnellste Tier des Regenbogenlandes ist.«

»Keran?«, fragte Sofie verwirrt. »Wer ist das?«

»Keran ist ein wunderschönes pferdeähnliches Wesen«, erklärte Anna begeistert. »Von seiner Anmut und seinem Stolz bist du geblendet, wenn er dir gegenübersteht. Er ist in jedem Element dieser Welt zu Hause. Nichts ist für ihn ein Hindernis, er kann sogar lange Zeit ohne jegliche Nahrung auskommen.« Anna geriet richtig ins Schwärmen, sie hatte Keran kaum gesehen, da empfand sie doch auf unerklärbare Weise Zuneigung zu ihm.

»Wie hast du ihn kennengelernt?«, fragte Sofie erstaunt.

»Als mich Poalbo zu dir zum Regenbogenfluss geführt hat, galoppierte er an uns vorbei. Ich habe aber kein Wort mit ihm gesprochen, denn er war wie ein Blitz verschwunden. Poalbo hat mir das alles erzählt.«