über den Autor




Walter Roth_170

Walter Roth wurde 1957 in Freiburg geboren und trat 1975 in den Polizeidienst ein.

Als Kriminalbeamter in den Bereichen Raub, Diebstahl und Drogenkriminalität sowie Kriminaltechnik eingesetzt, folgte nach dem Studium der Eintritt in den gehobenen Dienst und eine langjährige Tätigkeit in der polizeilichen Prävention.

Seit dieser Zeit war er stellvertretender Pressesprecher, später Leiter der Öffentlichkeitsarbeit für den Landkreis Emmendingen und mit der Polizeireform 2014 Pressesprecher beim Polizeipräsidium Freiburg.


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Walter Roth


SOKO Erle


Der Mordfall Carolin G.





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IMPRESSUM



2. neubearbeitete Auflage 2020

© 2020 by hansanord Verlag


Alle Rechte vorbehalten

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ISBN E-Book: 978-3-947145-37-9

ISBN Buch: 978-3-941745-36-2


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Von zwei Personen stammt eine Bemerkung, die am selben Tag und am gleichen Ort inhaltlich identisch, aber völlig unabhängig voneinander geäußert wurde:


»Eigentlich müsste man das alles aufschreiben.«


(Der Leiter der Ermittlungen und der Polizeipräsident, am Rande der Soko-Abschlussveranstaltung)




Inhaltsverzeichnis




Vorwort

Erstes Kapitel

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10

Zweites Kapitel

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29

Drittes Kapitel

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12

Viertes Kapitel

1
2
3
4
5
6
7
8
9

Fünftes Kapitel

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10

Carolin


 

 

 

 

 


plan




Erstes Kapitel


Vermisst


1


Wenn frühmorgens, kurz vor sechs, das Telefon klingelt, hat das meistens nichts Gutes zu bedeuten. So auch bei mir.
Es war Montagmorgen. Der 7. November 2016.

Der erste Gedanke, der mir zu dieser Unzeit in den Kopf schoss, war die Befürchtung, es könnte jemandem aus meinem Familien- oder Freundeskreis etwas passiert sein.
Mein zweiter Gedanke, nahezu zeitgleich mit dem ersten, galt meinem Beruf. Als Pressesprecher eines Polizeipräsidiums muss man zu jeder Tages- und Nachtzeit damit rechnen, angerufen zu werden.
Ich nahm ab. Am anderen Ende vernahm ich die Stimme meines Sohnes. Sein Anruf konnte beides bedeuten, Privates oder Berufliches. Er war Dienstgruppenleiter beim Polizeirevier in Emmendingen, das zur Zuständigkeit meines Polizeipräsidiums gehört.
„Bist du wach?“ fragte er.
„Was gibt’s so früh am Morgen?“
„Wir brauchen dich dienstlich“, gab er zur Antwort. „Gut, dass ich dich erreicht habe.“
„Tut mir leid“, entgegnete ich, „das wird nichts. Ich bin seit einer Woche krankgeschrieben und gehe nachher wieder zum Doc. Ich bin noch nicht fit.“
Seit einiger Zeit schleppte ich einen hartnäckigen Infekt mit mir herum, eine heftige Bronchitis, die sich kaum besserte.  
„Du kannst nicht zum Doc gehen, du musst sofort nach Endingen!“
Die forsche Stimme meines dienstgruppenleitenden Sohnes ließ keinen Einwand zu. Zumal er hinzufügte: „Da fehlt eine Frau. Presse ist auch schon dort. Sieht überhaupt nicht gut aus, das Ganze.“

Endingen im südwestlichen Zipfel Deutschlands ist ein kleines, sehr beschauliches, charmebeladenes Städtchen mit weniger als 10.000 Einwohnern am Rande des Kaiserstuhls, eines sehr kleinen Mittelgebirges vulkanischen Ursprungs – und Nachbarort des Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin. Wenn irgendwo die Welt noch in Ordnung schien, dann war es bis zu diesem Montagmorgen der friedliche Kaiserstuhl mit seinen bisweilen zwar eigenwilligen, aber überwiegend liebenswürdigen Menschen.
‚Ich kann ja auch später noch zum Arzt‘, dachte ich mir und ließ mich von meinem Sohn in knappen Worten auf den aktuellen Sachstand bringen.
„Frau aus Endingen. Joggerin. Gestern Nachmittag daheim losgejoggt und nicht zurückgekommen. Ihr Mann hat uns gestern, spätabends, verständigt. Hat überall gesucht und nachgefragt. Hat keine Ahnung, wo sie sein könnte.“
„Wie alt?“ fragte ich dazwischen.
„27. Ganz normale Familie. Echt komische Sache.“

Vermisstenanzeigen gehören bei der Polizei durchaus zu den Routineaufgaben. Wenn Eltern ihre halbwüchsigen Kinder als vermisst melden – meist sind es die Töchter, weil man sich bei den Jungs nicht so schnell Sorgen macht –, dann geht die Sache in aller Regel gut aus. Für die Eltern. Die Töchter sind meist nicht so begeistert davon, von der Polizeistreife, die sie bei irgendeiner Freundin aufgespürt hat, nach Hause gebracht zu werden.
Ältere Menschen, die meist wegen einer Verwirrtheit nicht mehr nach Hause finden, werden häufig von ihren Angehörigen als vermisst gemeldet. In den meisten Fällen werden auch sie wohlbehalten wieder aufgefunden.
Laut Statistik tauchen zwei Drittel der Vermissten innerhalb der ersten drei Tage wieder auf. Von den in Baden-Württemberg etwa 6.500 als vermisst gemeldeten Personen innerhalb eines Jahres wurden zwei Prozent tot aufgefunden. In 0,1 Prozent der Fälle wurden die Vermissten Opfer einer Straftat.
Eigentlich also kein Grund zur Beunruhigung. Zumindest statistisch gesehen.
Die Vermisstenanzeige bezüglich der verschwundenen Joggerin brachte bei uns allerdings sofort alle Alarmglocken zum Läuten. Wir spürten irgendwie gleich, dass das kein Routinefall sein würde, ohne es zu diesem Zeitpunkt konkret in Worte fassen zu können.

Nach Beendigung des Telefonates mit meinem Sohn, schrieb ich meinen Kollegen der Pressestelle eine kurze Handy-Nachricht in die Gruppe, trank im Stehen eine Tasse Kaffee und fuhr anschließend direkt in Richtung Endingen am Kaiserstuhl, etwa zwanzig Autominuten von meinem Wohnort entfernt.
Mit dem frühmorgendlichen Anruf begannen für mich die Ereignisse jener Tage.
Um jedoch alles der Reihe nach zu erzählen, muss man fast drei Jahre zurückblicken. Und rund 500 Kilometer nach Osten, in unser Nachbarland Österreich.
Genauer gesagt: nach Kufstein in Tirol.


2



Dort unterhielt sich eine junge französische Studentin am späten Samstagabend mit ihrer Freundin, mit der sie im Rahmen eines Austauschprogramms der Fachhochschule Kufstein gemeinsam eine Unterkunft in der Münchner Straße, unweit des Inns, bewohnte.
Es war der 11. Januar 2014.
„Ich habe gerade eine SMS bekommen. Bei den anderen gibt es noch eine Party. Hast du Lust?“
Die beiden Französinnen unterhielten sich mitunter in Deutsch, um die Sprache noch besser erlernen zu können. Seit gut drei Monaten waren sie in Österreich, hatten sich gut eingelebt und zahlreiche Bekanntschaften gemacht. Vor allem an den Wochenenden traf man sich in Studentenkreisen auf Partys oder zu sonstigen Unternehmungen. Oft verabredete man sich kurzfristig und zwanglos.
Ihre Freundin hatte es sich an diesem Abend jedoch schon im Bett bequem gemacht.    
„Ach, nein, ich geh lieber schlafen. Ich bin müde. Bitte sei nicht böse. Es ist schon spät.“

Zur gleichen Zeit parkte auf einem Stellplatz des Inntaler Logistik-Parks ein Lkw.
Kufstein, an der vielbefahrenen Brenner-Transitstrecke, bot wegen des Wochenendfahrverbots vielen Schwerlastfahrern notgedrungen eine Bleibe.
Ein Wochenende kann lange dauern, wenn man gezwungen ist, es auf diese Weise in einer fremden Stadt zu verbringen.
Spätabends am Samstag machte sich ein Mann zu Fuß auf den Weg zur Inn-Promenade.   

Die junge Studentin ging ebenfalls zu Fuß durch die kühle Januarnacht. Sie war alleine unterwegs. Inzwischen war es etwa Mitternacht. Nach der Absage ihrer Freundin hatte sie bei einer anderen befreundeten Studienkollegin angerufen, aber auch diese wollte nicht zur Party. Stattdessen hatten sie vereinbart, sich trotz vorgerückter Stunde im Studentenwohnheim zu treffen, das etwa fünfzehn Gehminuten von der Wohnung in der Münchner Straße entfernt lag. Den Weg kannte die junge Studentin nicht, aber die beiden Freundinnen hielten per Kurznachrichten Kontakt.
Es ist sehr dunkel hier“, tippte sie unterwegs in ihr Handy. Sie hatte Angst. Für sie war alles fremd um diese dunkle Zeit, und sie wollte so schnell es ging im Studentenheim sein. Ihre Freundin dirigierte sie über das Handy Richtung Wendlinger Brücke und danach zum Kreisverkehr an der Hauptstraße. Aber aus ihrem Unbehagen heraus entschloss sie sich für den Weg entlang der Inn-Promenade. Dort waren um diese Zeit zwar so gut wie keine Menschen mehr unterwegs, aber die Strecke war kürzer und sie wollte sie so rasch wie möglich hinter sich bringen.

Vermisstenanzeigen gehören auch bei der Polizei in Österreich allgemein zu den Routineaufgaben. Man nennt sie dort „Abgängigkeitsanzeigen“.
Bei der Polizeiinspektion Kufstein wurde am Morgen des 12. Januar 2014, einem Sonntag, eine 20-jährige französische Austauschstudentin als vermisst gemeldet. 
Auch dort bestand sofort die Befürchtung, dass es sich um keinen Routinefall handelte.


3



Zu diesem Zeitpunkt war die Polizeireform in Baden-Württemberg gerade einmal zwölf Tage alt. Vieldiskutiert und teilweise kritisiert brachte sie immerhin für den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit eine überaus vorteilhafte Neuerung: Es gab jetzt richtige Pressestellen. Vom Begriff her gab es diese zwar früher schon, aber sie waren vor der Reform, mit Ausnahme der größeren Städte, nur mit einem einzigen Sprecher besetzt.
Am 1. Januar 2014 starteten wir beim Polizeipräsidium Freiburg mit sechs Beamten und drei Assistenzen aus dem Tarifbereich die neue Pressestelle.
Fünf Jahre später war die Zahl der Mitarbeitenden zweistellig und unsere illustre Truppe bestand aus einer wohltuenden Mischung aus Uniformierten und Kriminalpolizisten, Männlein und Weiblein, Jung und Alt, Beamten und Tarifbeschäftigten und einem Team-im-Team für die Bedienung und Betreuung sozialer Medien. Und wir hatten sogar einen ausgebildeten Journalisten in unseren Reihen, der eine zusätzliche, neue Perspektive in unser Team einbrachte. Durch diese Vielfältigkeit konnten wir nicht nur unterschiedliche Arbeitsbereiche abdecken, sondern auch jedem Mitarbeiter der Pressestelle die Chance bieten, sich schwerpunktmäßig gemäß der eigenen Stärken und Interessen einzubringen.
Mein bevorzugtes Tätigkeitsfeld waren spontane Einsätze und Pressearbeit am Ort des Geschehens. Daher fuhr ich an jenem Morgen Anfang November 2016 recht entspannt in Richtung Kaiserstuhl, während ich mich gedanklich mit den Möglichkeiten beschäftigte, wohin sich dieser Fall entwickeln könnte.        


4



Der 6. November 2016 war ein trüber, typischer Herbsttag. Ein Sonntag. Schmuddelwetter würde man in Norddeutschland vermutlich sagen, Säuwätter am Kaiserstuhl, mit dem typischen und für nicht aus der Region stammende Menschen schwer verständlichen, breiten Dialekt. Über Mittag sollte noch ein heftiger Regen über der Region niedergehen. Am Morgen war es bereits stark bewölkt und ziemlich kühl.

Genau um 9:45 Uhr fuhr ein schwarzer VW Tiguan auf das Gelände der Esso-Tankstelle am Endinger Ortsrand. Auf dem Video der Überwachungskamera ist zu sehen, dass der Fahrer ausstieg und sich im Bereich der abgestellten Lkw bewegte. Die Tankstelle an der direkten Verbindungsstraße zum benachbarten französischen Elsaß galt als Treffpunkt für Lkw-Fahrer, insbesondere an Feiertagen und Wochenenden. Der Mann ging ein paar Schritte, stieg nach wenigen Minuten wieder in sein Fahrzeug ein und fuhr davon.
Die Kamera-Uhr zeigte jetzt 9:53 Uhr.
Exakt dreiundzwanzig Minuten später fuhr der schwarze Tiguan erneut auf das Tankstellengelände. Kurz danach betrat dessen Fahrer den Verkaufsraum durch die seitliche Bistro-Tür, wo er auf eine kleine Gruppe von Lkw-Fahrern traf. Er bestellte sich einen Kaffee und zwei süße Stückchen und unterhielt sich an einem der hinteren Tische mit seinen Berufskollegen. Um 10:53 Uhr verließ er das Bistro, stieg in den schwarzen Tiguan und fuhr in Richtung Endinger Ortsmitte davon.
Etwa um diese Zeit traf die junge Frau zusammen mit ihrem Mann in einem kleinen Saal der Turnhalle der benachbarten Kaiserstuhlgemeinde Wyhl zum Brunch ein. Eine Verwandte hatte anlässlich ihres Geburtstages dazu eingeladen. Die Stimmung war gut, man unterhielt sich und genoss das Büffet.
Später würden Zeugen aussagen, dass die junge Frau etwa um 12:30 Uhr noch etwas gegessen hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits entschieden, am Nachmittag joggen zu gehen. Ihr Ehemann hatte kurz davor mit seinem Vater vereinbart, ein Amateurfußballspiel in dem etwa zwanzig Kilometer entfernten Holzhausen zu besuchen, einem Teilort der Gemeinde March, nahe bei Freiburg. Ihr Schwager hütete dort das Tor der Reservemannschaft des Endinger Sportvereins.
Um ungefähr 14:15 Uhr brachte der Ehemann zusammen mit seinem Vater seine Frau zurück zu der gemeinsamen Wohnung in Endingen. Er ging noch kurz mit ins Haus, um wärmere Kleidung anzuziehen, während sein Vater im Auto wartete. Etwa um 14:30 Uhr verließ der Ehemann die Wohnung und fuhr mit seinem Vater zum Fußballspiel, das um kurz nach 15:00 Uhr, mit etwas Verspätung, begann.
Mehrere Zeugen bestätigten später, dass er tatsächlich während des gesamten Spiels als Zuschauer auf dem Sportgelände anwesend war.   
Die junge Frau hielt sich noch ein wenig in ihrer Wohnung auf und schlüpfte dann in ihre Joggingkleidung.
Um 14:58 Uhr schickte sie unmittelbar vor Verlassen des Hauses ein Selfie an einen Bekannten.
Zu genau dieser Zeit stand neben einer Parkbank an einem Aussichtspunkt im Bereich eines Bestattungswaldes zwischen Endingen und Bahlingen ein schwarzer Tiguan.    


5



„Der Ö kommt!“ hieß es auf dem von Polizisten gesäumten Parkplatz, als ich eine gute Stunde nach dem Anruf meines Sohnes dort eintraf.
Ö ist die betriebsinterne Abkürzung für den polizeilichen Pressesprecher. Nicht P, wie man vielleicht vermuten würde, sondern Ö. Die offizielle Bezeichnung des Polizeisprechers lautet seit jeher Öffentlichkeitssachbearbeiter. Klar, dass man einen solch sperrigen Begriff abkürzt. Zumal Abkürzen bei der Polizei ein äußerst beliebter Sport ist und die Gelegenheit dazu, ohne jegliche Ausnahme, beim allerersten Schopf gepackt wird. Das P ist jemand anderem vorbehalten, nämlich dem Präsidenten. Während das Ö und das P noch zu keinen falschen Deutungen verleiten, sollte man schon wissen, dass KOST nichts zu essen, sondern eine Koordinierungsstelle ist, man TEE nicht trinken kann, weil eine Technische Einsatzeinheit kulinarisch ungenießbar ist, und dass beim FEST üblicherweise nicht gefeiert wird, sondern dort die Fäden des Führungs- und Einsatzstabes zusammenlaufen. Gefühlt gibt es im Polizeijargon mehr Abkürzungen als ausgeschriebene Wörter. KHK, eine allgemein gültige Abkürzung aus der Medizin, bedeutet bei uns aber nicht Koronare Herzkrankheit, sondern Kriminalhauptkommissar. Das ist mein Dienstgrad.

Schon auf dem Parkplatz vor dem Polizeiposten sprach mich der Journalist einer Lokalredaktion mit Notizblock und Stift in der Hand an. Es war nicht verwunderlich, dass er schon da war, bevor wir eine offizielle Pressemeldung herausgegeben hatten. Er wohnte in Endingen und erfuhr durch eigene Quellen praktisch alles Interessante, was dort und in der Umgebung passierte. Obwohl ich ihn schon seit Jahren als vertrauenswürdigen Medienvertreter kannte, konnte ich ihm keine Auskünfte geben, da ich mich selbst erst bei meinen Kollegen kundig machen musste.
Als ich später die notwendigen Informationen hatte und sie an den örtlichen Redakteur, zwei weitere inzwischen eingetroffene Medienleute sowie offiziell in Form einer ersten schriftlichen Pressemitteilung weitergab, erschien die erste mediale Online-Meldung:

„Nicht heimgekehrt.
In Endingen sucht ein Großaufgebot an Polizei
nach der 27-jährigen Carolin G. Die Frau war
zu einer Joggingtour aufgebrochen – und nicht
zurückgekommen.“
(Quelle: Badische Zeitung, 7.11.2016)

Nach unserer ersten Pressemitteilung an diesem frühen Montagmorgen und dem Hinweis, dass eine Suchaktion mit Rettungskräften, Suchhunden und Polizeihubschrauber im Gange war, trafen in erstaunlicher Kürze zahlreiche Medienvertreter, vor allem auch aus überregionalen Standorten, in Endingen ein. Unter der Federführung des Polizeireviers Emmendingen wurde im Untergeschoss des Bürgerhauses, das idealerweise unmittelbar an den Polizeiposten angrenzt, die KOST für die Suchmaßnahmen eingerichtet.
Der Schwerpunkt wurde auf die bis dahin bekannten und bevorzugten Laufstrecken der vermissten Frau gelegt. Umfangreiches Karten- und Bildmaterial wurde an die holzgetäfelten Wände eines stattlichen Besprechungs- und Veranstaltungsraumes geheftet.
Hier trafen sich auch die Suchkräfte und erhielten ihre Aufträge. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt, des Roten Kreuzes, der Feuerwehr und der örtlichen Vereine richteten einen Tisch mit heißem Kaffee her, der sich im Laufe der nächsten Tage zu einer reich gedeckten Tafel entwickeln sollte. Denn nicht nur die eingeteilten Ehrenamtlichen versorgten unsere Einsatzkräfte dauerhaft mit Speis und Trank, sondern nach und nach brachten auch Endinger Bürgerinnen und Bürger Kuchen, belegte Brötchen, Süßigkeiten und anderes Essbares vorbei. Es entwickelte sich schon in dieser Phase eine spürbare Solidarität unter allen Menschen, die sich Sorgen um die verschwundene junge Frau machten.
Systematisch wurden Suchregionen eingeteilt und Anweisungen an die Leiter der Suchtrupps gegeben. Es herrschte eine betriebsame, aber von einer eigenartigen Anspannung getragene Atmosphäre. In den Augen meiner Kolleginnen und Kollegen las ich professionellen und entschlossenen Umgang mit der Situation. In den Augen der freiwilligen Helfer und der Bürger erkannte ich Sorge und Befürchtungen.
Dann blickte ich unvermittelt in zwei Augen, die einfach nur blanke Angst verrieten. Der Vater der Vermissten wollte sich nach dem Stand der Suchmaßnahmen erkundigen.

Im Laufe von über vierzig Dienstjahren bei der Polizei entwickelt man ein bestimmtes Gespür, eine Ahnung für das, was passiert sein könnte, auch wenn die Wahrheit noch völlig im Ungewissen liegt. Rational ist es vermutlich nicht erklärbar, aber es ist offensichtlich. Das geht allen im Polizeidienst so. Sie sammeln über die vielen Jahre hinweg Eindrücke von verschiedenen Ereignissen, Schicksalen, Tragödien, auch viele schöne Momente. Diese Erfahrung hilft ihnen bei den täglichen Einsätzen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Als ich an jenem Montagvormittag alle Fakten in Endingen für mich zusammengetragen und eine Einschätzung der Situation vorgenommen hatte, beschlich mich ein unheilvolles Gefühl. Oder etwas, das man eine solche Ahnung nennen könnte? Ich hoffte sehr, dass sie nicht zur Gewissheit werden würde.
Meine Gedanken schweiften einen Tag zurück, zum Sonntag. Ich versuchte mir vorzustellen, was passiert sein könnte. Das beklemmende Gefühl wurde dabei nicht besser.
Es sah wirklich nicht gut aus.  


6



Die beiden Frauen kannten Carolin G. persönlich. Daher konnten sie später mit Gewissheit zu Protokoll geben, dass die junge Frau kurz nach 15 Uhr an der Endinger Stadthalle an ihnen vorbeigejoggt war.

Den schwarzen Tiguan neben der Rastbank beim Bestattungswald sahen um diese Zeit mindestens zwei Zeugen. Das Auto war dort geparkt, aber es gab keine Insassen dazu.

Früher war das zwischen den Ortschaften Bahlingen und Schelingen gelegene Gasthaus „Bad Silberbrunnen“, von den Einheimischen kurz ‘s Bad genannt, ein sehr beliebter Ausflugsort. Tagsüber konnte man die traditionsbeladene Gaststätte mit ihrer gut-bürgerlichen Küche als Startort oder Endpunkt oder beides für Spaziergänge und Wanderungen auswählen. Nachts gab es dort über viele Jahre hinweg im angrenzenden Gebäude eine gutbesuchte Diskothek, die passend zur weithin bekannten Weinregion des Kaiserstuhls „Reblaus“ getauft wurde, im ortsüblichen Dialekt Räblüs.
Am Tag, als eine kleine Gruppe, bestehend aus sechs Personen, ihren Spaziergang startete, waren die Räumlichkeiten der ehemaligen Gaststätte und der Diskothek längst verlassen, verwahrlost und dem Zerfall preisgegeben.
Die Gruppe hatte zuvor im Ort gemeinsam zu Mittag gegessen und war anschließend mit zwei Autos von Bahlingen aus hinauf zum „Silberbrunnen“ gefahren. Nach 15 Uhr startete sie zu Fuß zu einer kleinen Runde.
Weshalb die anderen Fünf den markerschütternden Schrei nicht wahrgenommen hatten, sondern erst durch ihren Begleiter darauf aufmerksam gemacht wurden, blieb letztlich ungeklärt. Womöglich hatte sich der Mann, Mitte sechzig, zum Zeitpunkt, als er den Schrei vernahm, etwas abseits der Gruppe aufgehalten. Etwas weiter weg von seinen Begleitern, aber etwas näher hin zum Bestattungswald.

Von einem roten Passat berichtete ein anderer Zeuge. Das Auto, das ihm aufgefallen war, stand neben der schmalen Teerstraße auf der Grasfläche am Rande eines größeren Rebstücks. Ohne Insassen. Zwischen den langgezogenen Rebzeilen stand ein Mann, Alter unbekannt, das Gesicht weggedreht. So, als würde er sich mit den Trauben beschäftigen. Mit Trauben, die längst geerntet waren.

Dem Mann in den Reben, zu dem der rote Passat gehörte, fiel der Zeuge, der ihn beobachtete, nicht auf. Er hatte Anderes im Sinn. Seine ganze Aufmerksamkeit widmete er seinem Müller-Thurgau. Er war am Abwägen und überlegte. Sollte er beim alljährlichen Rebschnitt in diesem Jahr nur sechs oder sieben Augen an der Gerte stehen lassen, statt bisher immer zehn? Damit hätte er zwar weniger Ertrag, dafür aber mehr Qualität.  

Die Pilzsammlerin im Bereich des Bestattungswaldes war stets alleine unterwegs, abgesehen von ihrem Hund, der sie begleitete. So auch an diesem Sonntagnachmittag. Seit die Frau mittleren Alters einmal bei der Pilzsuche die Zeit vergessen und dadurch einen wichtigen Termin versäumt hatte, behielt sie ihre Uhr sorgsam im Auge. So versicherte sie bei ihrer späteren Befragung, dass es kurz nach 16 Uhr gewesen sei, als sie zwei knapp aufeinanderfolgende Schreie aus Richtung des kleinen Wäldchens neben dem Begräbniswald gehört habe.


7



Der folgende Montag verstrich ohne ein Lebenszeichen von Carolin G.
Nachdem sie von ihrem Ehemann am Sonntagabend um 20:53 Uhr bei unserer Einsatzzentrale als vermisst gemeldet worden war, hatte sich eine Streifenbesatzung des Polizeireviers Emmendingen unverzüglich auf den Weg nach Endingen gemacht und am vereinbarten Treffpunkt, dem Feuerwehrgerätehaus, die ersten Suchmaßnahmen eingeleitet. Dazu gehörten die Überprüfung von Krankenhäusern sowie die Abfrage anderer Rettungsleitstellen.
Die Umstände deuteten schon früh darauf hin, dass der Vermissten etwas zugestoßen sein könnte, wobei auch ein Unfallgeschehen als denkbar angesehen wurde. 
Am Abend wurde der Leiter des Polizeireviers verständigt, der am Ort als sogenannter „Polizeiführer“ die Koordination weiterer Maßnahmen übernahm. Noch vor Mitternacht suchten weitere Polizeibeamte mit Unterstützung der Freiwilligen Feuerwehr nach der vermissten Frau. Dies allerdings, ohne in der aktuellen Situation konkrete Aufenthaltsmöglichkeiten zu kennen. Mögliche Orte, an denen sich die Vermisste aufhalten könnte, waren bereits vor Verständigung der Polizei durch die Angehörigen erfolglos überprüft worden. Der angeforderte Polizeihubschrauber, ausgestattet mit einer Wärmebildkamera, überflog Endingen und Umgebung. Das Donnern seiner Rotoren war zwar unüberhörbar, aber die meisten Endinger kannten zu diesem Zeitpunkt noch nicht den Grund dafür.  
Neben der nochmaligen und dieses Mal polizeilichen Überprüfung von Anlaufadressen wurden Polizeisuchhunde sowie sogenannte Mantrailer-Hunde zum Aufspüren der Vermissten eingesetzt. Jagdpächter wurden verständigt und Taxidienste überprüft.
Unsere Befehlsstelle zur Koordination der Suchmaßnahmen im Bürgerhaus befand sich mitten im Ortskern. Abstellmöglichkeiten für die zahlreichen Einsatzfahrzeuge waren nur in begrenztem Maße vorhanden. Daher beließen wir unsere Sammelstelle für die Suchkräfte beim Feuerwehrgerätehaus, das, von der nahen Autobahn aus angefahren, direkt am Ortseingang von Endingen liegt. Das Feuerwehrhaus und vor allem dessen großer Vorplatz waren auch schon in der ersten Nacht zentraler Treffpunkt für alle gewesen. Noch bevor ich meine mobile Pressestelle beim Bürgerhaus einrichtete, hatten wir auch die Medienleute, die auf aktuelle Informationen warteten, zur Feuerwehr dirigiert.
Als ich mich am Montagnachmittag auf dem dortigen Vorplatz mit zwei Reportern einer überregionalen Boulevardzeitung unterhielt, kam der örtlich zuständige Notfallseelsorger des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) zu uns herüber und nahm mich zur Seite. Die Räumlichkeiten des DRK-Ortsvereins befinden sich direkt neben den Gebäuden der Feuerwehr. Er sagte mir, dass sich die ganze Familie und nahe Verwandte beim DRK versammelt hatten und auf eine aktuelle Information von der Polizei über den Stand der Suchmaßnahmen warteten. 
Ich sah mich um, entdeckte aber nur eine Streifenbesatzung des örtlichen Polizeipostens. Ich telefonierte mit der Einsatzleitung, erhielt aber die Information, dass der Ansprechpartner für die Familie, der polizeiliche Betreuer, gerade in Freiburg und bald unterwegs nach Endingen sei. Es wäre aber kein Problem, wenn ich selbst mit den Angehörigen sprechen würde. Mit dem Notfallseelsorger ging ich hinüber ins DRK-Gebäude.
In meiner auffälligen Pressesprecher-Weste erkennbar, betrat ich den geräumigen Besprechungsraum, wo mich eine von Ungewissheit, Sorge und bösen Ahnungen gezeichnete Schar von schätzungsweise fünfzehn bis zwanzig Menschen erwartete. Auch Kinder waren dabei. Ob sie alle Angehörige waren, wusste ich nicht.
Ich schaute in die verzweifelten Gesichter und mir wurde bewusst, dass ich auf diese Situation nicht vorbereitet war. In ein vorgehaltenes Mikrofon oder in eine Kamera zu sprechen, das war ich gewohnt. Ich erkannte den Vater der Vermissten wieder. Er war vom Bürgerhaus herüber gekommen, wo ich ihn kurz zuvor gesehen hatte. Er stammt aus meinem Heimatort, einem Nachbardorf von Endingen. Seine Frau war auch da. Vom Sehen her kannte ich noch zwei, drei andere Personen.
Ich sammelte mich und erklärte, dass es aktuell noch nichts Neues gebe und wir noch nicht wüssten, wo Carolin sich aufhalten könnte. Bewusst vermied ich, von einer möglichen Straftat zu sprechen. Die Suchmaßnahmen im Gelände seien erforderlich, um alle denkbaren Möglichkeiten ausschließen zu können. Wir hätten große Hoffnung, dass sie unversehrt wieder zurückkehren werde. Ich versprach, die Familie auf dem Laufenden zu halten, und wies darauf hin, dass ein Kollege von mir unterwegs nach Endingen sei. Er werde dann direkten Kontakt zu ihnen halten.
Ein allgemeines, zustimmendes Nicken verriet mir, dass ich im Großen und Ganzen offenbar die richtigen Worte gefunden hatte. Wohl war mir dabei aber dennoch nicht. Ich versuchte eine aufmunternde Geste und ging zurück zum Vorplatz zu den beiden Reportern.

Es gab nach unseren Erkenntnissen nur drei Personen, die wussten, dass Carolin G. am Sonntagnachmittag zum Joggen gehen würde, denn den Entschluss dazu hatte sie erst kurzfristig gefasst. Neben ihrem Ehemann und dessen Vater konnte es lediglich noch der Bekannte wissen, dem sie kurz vor Verlassen ihrer Wohnung, bereits in voller Joggingkleidung, von ihrem Handy ein Selfie geschickt hatte. Ein junger Mann, etwa in ihrem Alter.
Carolin G. war seit Jahren beim Badischen Winzerkeller im knapp zwanzig Kilometer von Endingen entfernten Grenzstädtchen Breisach im Büro beschäftigt. Mit ihren Arbeitskollegen hatte die aufgeschlossene Frau ein sehr gutes Verhältnis und pflegte auch außerhalb der Arbeitszeiten die Kontakte. Mit einigen Kolleginnen und Kollegen war sie überdies hin und wieder in der Freizeit aktiv. Noch zwei Tage vor ihrem Verschwinden war sie mit ein paar Mitarbeitern in einem nahegelegenen Freizeitpark gewesen. Lebensfroh, gesellig und als Person geschätzt hatte sie einen durchaus großen Bekanntenkreis, sodass es nicht ungewöhnlich war, dass sie ein Bild von sich verschickte. 
Der junge Mann, dem sie das Selfie geschickt hatte, geriet natürlich dennoch in den Fokus meiner Kollegen. Es stellte sich trotz der Unverfänglichkeit die Frage, warum sie gerade ihm kurz vor Verlassen des Hauses das Bild geschickt hatte. War es unter Umständen ein zuvor vereinbartes Signal, um sich zu treffen? Dem Bild war lediglich der schriftliche Hinweis beigefügt, dass sie jetzt joggen gehe.
Die gute alte Alibiüberprüfung als traditionelle Art der Wahrheitsfindung wird in der heutigen Zeit durch die bemerkenswerten Möglichkeiten der Auswertung digitaler Spuren unterstützt. Die Bedeutung der Informationen aus dieser sprudelnden Quelle hat in den letzten Jahren den Stellenwert klassischer Spuren längst erreicht.
Die Antwort auf die Frage an den Bekannten, wo er denn am Sonntag ab 15 Uhr gewesen sei, wurde daher selbstverständlich über die Mobildaten seines Handys überprüft. Für uns relevant war zunächst der Zeitraum bis etwa 21 Uhr – kurz zuvor hatte der Ehemann seine Frau als vermisst gemeldet.
Das Alibi war nicht lückenlos. Wir behielten den jungen Mann im Auge.         

Nach der intensiven Befragung von Angehörigen konzentrierte sich die Suche durch die „Taktischen Einsatzzüge des Polizeipräsidiums Einsatz“ zunächst auf die Laufstrecken, die bekannt waren. Demnach lief die junge Frau meist in nördliche oder nordöstliche Richtung, also nicht in Richtung Bahlingen, sondern entgegengesetzt, eher in Richtung der Ortschaft Riegel.
Meine Kollegen hatten bis zum Montagabend schon so viele Befragungen im Umfeld der Vermissten durchgeführt, dass sich ein erstes Bild ergab, auf dessen Grundlage man zaghafte Bewertungen vornehmen konnte. Die typischen Umstände dafür, dass die junge Frau unversehrt wieder auftauchen könnte, fehlten. Nach Auskünften aus ihrem Umfeld hatte es zuvor keine vergleichbare Situation gegeben, die sich dann in Wohlgefallen aufgelöst hätte. Carolin G. war zuvor nie längere Zeit irgendwo gewesen, ohne jemandem Bescheid zu geben. Sie galt als zuverlässig, nicht schwermütig oder gar depressiv, im Gegenteil. Auch die rein theoretisch angenommene Zuordnung zum Personenkreis Potenzielle Tatopfer, die zur Erstellung einer möglichen Hypothese eine Rolle spielen könnte, scheiterte mangels einschlägiger Kriterien. Sie war kein Opfertyp, kriminologisch formuliert. Aus Fotos und Beschreibungen ergab sich für uns sehr früh der Eindruck einer lebenslustigen, verlässlichen, offenen, gutaussehenden und liebenswerten jungen Frau mit starker Persönlichkeit - keinesfalls unvorsichtig, gutgläubig oder naiv.
Alle denkbar möglichen Hinwendungsorte waren bereits überprüft worden, ohne dass sich dabei auch nur der geringste Hinweis auf den Verbleib der Vermissten ergeben hätte. Die junge Ehe – man hatte erst etwa ein Jahr zuvor geheiratet – wurde als unauffällig und intakt beschrieben. Ein gemeinsamer Hausbau stand in Planung. 
Dennoch weiß zumindest jeder Polizist, dass rein statistisch in etwa neunzig Prozent aller Tötungen eine Beziehung zwischen Täter und Opfer vorliegt. Durch diese Kenntnis legitimiert sich ein möglichst verborgen gehaltenes grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Partner eines Tötungsopfers – auch ohne dass zunächst überhaupt ein konkretes Verdachtsmoment vorliegen muss.
Der Ehemann machte schon bei den ersten polizeilichen Befragungen Bekanntschaft mit möglichen Überlegungen dieser Art. Dabei fielen anfangs die Fragen noch eher harmlos aus:
„Wie lange sind Sie schon ein Paar?“
„Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Frau?“
„Hatten Sie Streit mit Ihrer Frau?“
„Hat Ihre Frau einen Freund?“
„Halten Sie es für möglich, dass Ihre Frau ein Verhältnis haben könnte, das Sie Ihnen verschweigt?“
„Ist es bei Ihnen jemals zu Handgreiflichkeiten gekommen?“   
„Würden Sie sich als eifersüchtig bezeichnen?“
Letztere Fragen überschritten bereits leicht die Grenze der Harmlosigkeit.

Zum Ende des ersten Tages nach dem Verschwinden der Joggerin kündigten sich weitere überregionale Medienvertreter für den nächsten Morgen an. 
Wir hatten über den Tag verteilt vier schriftliche Pressemitteilungen herausgegeben, die sich im Wesentlichen darauf beschränken mussten, dass es bislang keine Hinweise über den Verbleib der Frau gab und die Suchmaßnahmen andauern würden.
In Interviews, sogenannten O-Tönen (Original), wurde ich natürlich nach möglichen Hintergründen gefragt und mit ersten wilden Spekulationen konfrontiert.
Auf den ersten Blick ist die Intention von Medien und polizeilichen Pressestellen gleich: Beide wollen die Öffentlichkeit informieren. Auf den zweiten und dritten Blick jedoch scheren die Motivlagen auseinander. Während die Polizei faktenbasiert informiert und aus ermittlungstaktischen Gründen bestimmte Dinge nicht veröffentlicht, müssen Nachrichten visueller und akustischer Medien bis zu einem gewissen Grad spektakulär sein. Um entsprechende Informationen zu erhalten, fragen Reporter daher stets, teilweise hartnäckig, nach.
„Kann es sein, dass die vermisste Frau ein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte und durchgebrannt ist?“
„Könnte es sein, dass es in der Ehe kriselte?“
„Hatte die Joggerin ein Handy bei sich, das man orten und ihren Aufenthaltsort feststellen könnte?“
Mit Fragen dieser Art hatte ich wiederholt zu tun und bemühte mich, den Fragenden Antwort zu geben, ohne die Ermittlungen zu gefährden.
Die Frage nach dem Handy der vermissten Joggerin war natürlich höchst interessant und berechtigt. Hypothetisch davon ausgehend, dass ein Gewaltverbrechen vorliegen könnte, stellte sie jedoch die klassische Variante dar, bei der sich eine Beantwortung aus kriminaltaktischen Gründen verbietet. Das Handy kam als wichtiger Spurenträger in Betracht: Es könnte Aufschluss über den Aufenthaltsort der Vermissten geben. Es könnte Hinweise auf den Aufenthalt eines möglichen Tatverdächtigen liefern. Es bot Möglichkeiten, ein Bewegungsbild zu erstellen. Auf alle Fälle beinhaltete es Aufzeichnungen über Gesprächsverläufe und Kommunikation. Daher konnte die Antwort auf diese Frage nur lauten, dass wir derzeit dazu nichts sagen könnten.
Was wir zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits wussten: Das Handy ließ sich aus uns bislang unbekannten Gründen nicht orten.
 

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Für den Dienstag hatte ich mich auf acht Uhr mit drei Journalisten für ein morgendliches Update verabredet. Das bedeutete, dass ich mich gleich nach dem Aufstehen beim Polizeirevier telefonisch nach dem aktuellen Stand erkundigte. Eine Überraschung erwartete ich nicht, weil vereinbart war, dass ich auch in der Nacht verständigt würde, falls sich etwas Neues ergeben sollte. Niemand hatte angerufen.
„Es gibt leider keine neuen Erkenntnisse“, diktierte ich bald darauf in den Schreibblock des regional zuständigen Redakteurs der bekanntesten und am meisten gelesenen Tageszeitung in der Region.
Wir standen auf der Straße vor dem Bürgerhaus. Ich war wieder auf direktem Wege von zuhause nach Endingen gefahren. Dort sollte auch in den nächsten Tagen mein Dienstort sein.
„Vermutet die Polizei ein Verbrechen?“ 
„Wir ermitteln in alle Richtungen.“ Ein Standardsatz, der so platt klang, dass weitere Erläuterungen zwingend erforderlich waren, um den Umgangston respektvoll zu halten. „Es gibt aktuell keine Hinweise auf ihren derzeitigen Aufenthaltsort. Wir gehen davon aus, dass sie tatsächlich alleine zum Joggen aufgebrochen ist. Allerdings kennen wir die von ihr gewählte Laufstrecke nicht. In Vergangenheit ist sie meist so etwa in Richtung Nachbarort Riegel gelaufen. Darauf konzentrieren sich nun unsere Suchmaßnahmen. Ein Unfall ist genauso denkbar wie alles Andere. Sie fehlt, und wir wissen momentan nicht warum.“
Den fragenden Redakteur kannte ich schon sehr lange. Ohne dass wir uns jemals privat getroffen hatten, pflegten wir seit vielen Jahren ein vertrauensvolles und wertschätzendes Verhältnis. Sein gesundes Misstrauen und seine journalistische Neugier hatten stets das richtige Maß.  Daher ging das Gespräch mit ihm auch weiter, nachdem er Block und Stift weggesteckt hatte.
„Ich habe kein gutes Gefühl“, sagte ich.
„Sie meinen, es ist ihr etwas zugestoßen?“
„Es passt überhaupt nicht, dass sie einfach so fehlt. Sie war nie länger weg, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Nun fehlt sie schon zwei Nächte.“
„Was ist mit ihrem Handy?“
Ich überlegte kurz. „Sie hatte eins bei sich, aber meine Kollegen ermitteln noch.“ Ich musste an dieser Stelle taktieren, denn ich wusste tatsächlich schon mehr. „Ich kann leider jetzt gerade nicht mehr darüber sagen“, ergänzte ich in Erwartung, dass er den leisen Wink verstehen und nicht weiter nachhaken würde.
„Alles klar“, sagte er nur.

Später sollte sich herausstellen, dass Carolin G.s Handy zwei Tage zuvor, also am Sonntag, dem Tag ihres Verschwindens, um 15:48 Uhr abrupt vom Netz ging – oder, wie es die Insider nennen, gecrasht wurde. Von einem Handy-Crash ist die Rede, wenn sich das Gerät nicht ordnungsgemäß durch einen Ausschaltvorgang aus dem Mobilfunknetz abgemeldet hat. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn der Akku des Handys ohne vorherige Abmeldung herausgenommen wird oder wenn man in eine Tiefgarage einfährt oder wenn das Handy ins Wasser fällt. 
Oder wenn es mutwillig zerstört wird.    

Immer mehr Einsatzkräfte wurden als Sucheinheiten an den Kaiserstuhl berufen und erhielten aus unserer am Ort eingerichteten Einsatzzentrale im Bürgerhaus ihre Aufträge. Das Kriminalkommissariat Emmendingen war als zuständige Kripo-Dienststelle wegen der im Raume stehenden Befürchtungen und Gesamtumstände bereits früh einbezogen worden. Als Teil der übergeordneten Kriminalpolizeidirektion Freiburg, zuständig für den Landkreis Emmendingen, wurde am Dienstagvormittag die „Ermittlungsgruppe Erle“ gegründet, benannt nach dem Gewann, in dem Carolin G. zuletzt gesehen wurde. Die Suchmaßnahmen wurden weiterhin vom Polizeirevier, also der uniformierten Schutzpolizei, in Absprache mit der Kripo koordiniert. Sie konzentrierten sich auf Grundlage der Aussagen von Angehörigen weiter auf mögliche Laufstrecken. 
Die Aussage der beiden Zeuginnen, wonach sie Carolin G. kurz nach 15 Uhr in Trainingskleidung laufend in der Nähe der Stadthalle gesehen hatten, galt inzwischen als gesichert. Allerdings gabelt sich im dortigen Bereich die Straße in nahezu alle möglichen Richtungen, weshalb sich unsere Erkenntnisse darauf reduzierten, dass sie tatsächlich zum Joggen aufgebrochen war. Welche Richtung sie nach der Stadthalle gewählt hatte, wussten wir nicht.
Zur Unterstützung unserer Vermisstenfahndung hatte ich bereits am Montag das Selfie, das die junge Frau an einen Bekannten verschickt hatte, mit Zustimmung der Angehörigen veröffentlicht.